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29. April 1992
Lieber Freund,
ich wünschte, ich könnte Dir schreiben, dass es mir wieder besser geht. Aber das tut es nicht. Schon deshalb, weil wir wieder Schule haben und ich nicht mehr an dieselben Plätze gehen kann wie früher. Nichts kann mehr sein wie früher. Und ich war noch nicht so weit, Lebewohl zu sagen.
Um ehrlich zu sein, bin ich einfach allem aus dem Weg gegangen.
In der Schule wandere ich durch die Gänge und beobachte die Leute. Ich beobachte die Lehrer und frage mich, weshalb sie hier sind. Ob sie ihre Jobs mögen. Oder uns. Und ich frage mich, wie schlau sie eigentlich mit fünfzehn gewesen sind. Nur so aus Neugierde. Ich beobachte die Schüler und frage mich, wer von ihnen gerade Liebeskummer hat und wie sie damit klarkommen, dazu noch drei Hausarbeiten und einen Aufsatz am Hals zu haben. Ich frage mich, wer an dem Liebeskummer Schuld hat. Weil ich weiß, dass die Leute mit Liebeskummer, wenn sie auf eine andere Schule gehen würden, wegen jemand anderem Liebeskummer hätten. Warum muss das alles immer so persönlich sein? Wenn ich auf eine andere Schule gehen würde, hätte ich nie Sam oder Patrick oder Mary Elizabeth oder irgendwen sonst außer meiner Familie kennengelernt.
Neulich war ich im Einkaufszentrum. Tatsächlich bin ich die letzten zwei Wochen jeden Tag dorthin, um zu verstehen, warum Menschen da eigentlich hingehen. Das ist so eine Art privates Projekt von mir.
Jedenfalls, da war dieser kleine Junge. Vielleicht vier Jahre alt. Und er weinte ganz schlimm und rief immer wieder nach seiner Mutter – er musste sie verloren haben. Dann war da dieser andere Junge, vielleicht siebzehn. Er ist wohl auf einer anderen Schule, denn ich hatte ihn noch nie gesehen. Und dieser ältere Junge – der wirklich tough aussah, mit Lederjacke, langem Haar und allem – ging zu dem kleinen Jungen und fragte ihn nach seinem Namen. Der kleine Junge antwortete und hörte zu weinen auf.
Dann ging der ältere Junge mit dem kleinen Jungen weg.
Kurz darauf kam aus den Lautsprechern die Mitteilung, dass die Mutter ihren Jungen am Infoschalter abholen könne. Also bin ich hin, um zu sehen, wie es weiterging.
Ich vermute, dass die Mutter schon eine ganze Weile nach dem Kleinen gesucht hat, denn sie kam zum Infoschalter gerannt und fing an zu weinen, als sie ihn sah. Dann drückte sie ihn ganz fest und sagte, dass er nie wieder weglaufen dürfe. Und dann bedankte sie sich bei dem älteren Jungen für dessen Hilfe. Doch alles, was der ältere Junge sagte, war: »Pass künftig halt besser auf ihn auf, verdammte Scheiße!«
Und dann ging er weg.
Der bärtige Mann am Infoschalter war völlig perplex, genau wie die Mutter. Der kleine Junge aber putzte sich nur die Nase, sah zu seiner Mutter hoch und rief:
»Ich will Pommes!«
Die Mutter sah den kleinen Jungen an und nickte. Dann zogen sie los, und ich folgte ihnen. Sie gingen zu einem der Imbissstände und kauften eine Portion Pommes. Der kleine Junge lächelte und bekleckerte sich mit Ketchup, und die Mutter wischte ihm immer wieder das Gesicht ab, während sie hektisch ihre Zigarette rauchte.
Ich beobachtete die Mutter und dachte darüber nach, wie sie wohl ausgesehen hatte, als sie noch jung war. Und ob sie verheiratet war. Und ob ihr Junge ein Unfall oder geplant gewesen war. Und ob das alles überhaupt einen Unterschied machte.
Dann beobachtete ich andere Leute: Alte Männer, die allein dasaßen. Mädchen mit blauem Lidschatten und komischen Mündern. Kleine Kinder, die müde wirkten. Väter in teuren Anzügen, die noch müder wirkten. Junge Bedienungen an den Imbissständen, die aussahen, als hätten sie jeglichen Lebenswillen verloren … Die Kassen öffneten und schlossen sich, die Leute gaben ihre Scheine her und erhielten ihr Wechselgeld dafür … Und das alles fühlte sich wirklich sehr beunruhigend an.
Also beschloss ich, woanders hinzugehen, um zu verstehen, warum die Leute dort hingingen. Leider gibt es nicht allzu viele solcher Orte … Ich weiß nicht, wie lange ich ohne einen Freund noch durchhalte. Früher fiel mir das leicht, aber das war, bevor ich wusste, wie es ist, einen Freund zu haben. Manchmal ist es wirklich besser, wenn man keine Ahnung hat. Wenn es reicht, mit seiner Mutter eine Portion Pommes zu essen.
Der einzige Mensch außer meiner Familie, mit dem ich die letzten zwei Wochen geredet habe, war Susan, die früher mal mit Michael »ging«, als sie noch ihre Zahnspange hatte. Ich sah sie in der Schule, umringt von einer Gruppe Jungs, die ich nicht kannte, und sie lachten und rissen schmutzige Witze, und Susan gab sich große Mühe, mitzuhalten. Als sie mich bemerkte, wurde ihr Gesicht ganz fahl. Es war fast, als wollte sie sich nicht daran erinnern, wie sie vor zwölf Monaten gewesen war, und ganz sicher wollte sie nicht, dass die Jungs mitbekamen, dass sie mich kannte, ja, dass sie einmal mit mir befreundet gewesen war. Die Jungs um sie herum verstummten und starrten mich an, aber ich nahm sie gar nicht wahr. Ich sah nur Susan an und sagte:
»Vermisst du ihn manchmal?«
Ich meinte es nicht böse oder vorwurfsvoll. Ich wollte einfach nur wissen, ob irgendjemand außer mir Michael vermisste. Ehrlich gesagt war ich ziemlich stoned, und die Frage ging mir nicht aus dem Kopf.
Susan war völlig von der Rolle. Es waren die ersten Worte, die wir dieses Jahr gewechselt hatten, und es war vermutlich nicht fair von mir, sie das vor der ganzen Gruppe zu fragen, aber ich traf sie praktisch nie allein, und ich musste es einfach wissen.
Zuerst dachte ich, die Leere in ihrem Gesicht wäre ein Ausdruck der Überraschung, aber als sie dann gar nicht mehr wegging, wurde mir klar, dass ich mich geirrt hatte. Mir wurde klar, dass Susan, wenn Michael noch hier wäre, vermutlich gar nicht mehr mit ihm »gehen« würde. Nicht, weil sie ein schlechter Mensch war oder oberflächlich oder gemein. Sondern weil sich die Dinge eben ändern. Weil Freunde einen verlassen. Weil das Leben für niemanden eine Ausnahme macht.
»Tut mir leid, dass ich dich gestört habe, Susan. Es geht mir nicht so besonders, das ist alles. Mach’s gut«, sagte ich und ging.
»Mann, der Typ ist ja dermaßen gestört«, hörte ich einen der Jungs flüstern, als ich schon halb den Gang runter war. Er sagte es eher sachlich als gemein, und Susan widersprach ihm nicht. Ich weiß selbst nicht, ob ich ihm widersprochen hätte.
Alles Liebe,
Charlie
2. Mai 1992
Lieber Freund,
vor ein paar Tagen bin ich zu Bob, um noch mehr Gras zu kaufen. Ich vergesse immer wieder, dass Bob nicht auf unsere Schule geht. Vielleicht weil er mehr fernsieht als irgendwer sonst, den ich kenne. Unglaublich, was er so alles weiß. Du solltest ihn mal über Sitcoms reden hören – das ist fast schon unheimlich.
Bob lebt auf seine ganz eigene Weise. Er sagt, dass er nur jeden zweiten Tag duscht und dass er seinen »Vorrat« jeden Tag wiegt. Er sagt, wenn man mit jemandem eine Zigarette raucht und ein Feuerzeug hat, sollte man zuerst dem anderen Feuer geben, wenn man aber Streichhölzer hat, sollte man zuerst seine eigene Zigarette anzünden, damit man der ist, der den »schädlichen Schwefel« einatmet. Er sagt, das sei eine Frage der Höflichkeit. Er sagt auch, dass es Unglück bringt, wenn man drei Zigaretten mit dem gleichen Streichholz anzündet. Das hat ihm sein Onkel erzählt, der im Vietnamkrieg war, und es bringt deshalb Unglück, weil drei Zigaretten dem Feind genug Zeit geben, einen zu entdecken.
Bob sagt, wenn man sich allein eine Zigarette anzündet und die dann nur halb an ist, heißt das, dass jemand gerade an einen denkt. Er sagt auch, wenn man einen Penny findet, bringt der einem nur Glück, wenn er mit der richtigen Seite nach oben liegt. Er sagt, das Beste überhaupt ist, einen Glückspenny mit jemandem zusammen zu finden und dann dem anderen sein Glück abzugeben. Bob glaubt an Karma. Er spielt auch gerne Karten.
Bob geht halbtags auf die Berufsschule – er will später einmal Koch werden. Er ist ein Einzelkind, und seine Eltern sind nie daheim. Er sagt, früher hat ihm das etwas ausgemacht, aber jetzt nicht mehr.
Das Problem mit Bob ist, dass er total interessant wirkt, wenn man ihn die ersten paar Male trifft, weil er sich mit Zigarettenregeln und Pennys und Sitcoms auskennt, aber wenn man ihn einmal eine Weile kennt, beginnt er, sich zu wiederholen. Die letzten Wochen hat er nichts erzählt, das ich nicht schon einmal gehört hätte. Deshalb war es so ein Schock für mich, als er mir erzählte, was passiert war.
Brads Vater hatte Brad und Patrick erwischt, als sie gerade zusammen waren.
Offenbar hat Brads Vater das von seinem Sohn nicht gewusst, denn er hat angefangen, Brad zu schlagen. Nicht nur Ohrfeigen, sondern mit dem Gürtel. Und richtig fest. Patrick sagte Sam – und die sagte es Bob –, dass er so etwas noch nie erlebt hatte. Er wollte »Aufhören!« rufen und »Sie bringen ihn ja um!« und dazwischen gehen – aber irgendetwas hielt ihn zurück. Und Brad rief die ganze Zeit: »Patrick, hau ab!« Und schließlich hat Patrick genau das getan.
Das war letzte Woche. Brad ist seither nicht mehr zur Schule gekommen. Einige meinen, dass er vielleicht auf eine Militärschule geschickt wurde oder so etwas, aber niemand weiß Genaueres. Patrick hat versucht, ihn anzurufen, aber aufgelegt, als Brads Vater an den Apparat ging.
Bob sagte, Patrick sei »in schlechter Verfassung«. Und ich kann Dir gar nicht sagen, wie traurig ich da wurde, weil ich Patrick anrufen und sein Freund sein und ihm helfen wollte, aber ich wusste nicht, ob ich das wirklich tun sollte, denn er hatte ja gesagt, ich solle mich fernhalten, bis sich alles geklärt hatte. Das Problem war nur, dass ich an gar nichts anderes mehr denken konnte.
Also bin ich am Freitag in die Rocky Horror Picture Show gegangen. Ich bin erst rein, als der Film schon lief. Ich wollte niemandem den Abend verderben, ich wollte einfach nur sehen, wie Patrick Frank N. Furter spielt, denn ich wusste, wenn er das noch tat, dann würde wieder alles gut werden. So wie bei meiner Schwester – als sie wütend wurde, weil ich rauchte.
Ich saß in der letzten Reihe. Es waren noch ein paar Szenen, bis Frank N. Furter auftrat. Da sah ich Sam, wie sie Janet spielte. Und ich vermisste sie so sehr. Und es tat mir so leid, dass ich alles kaputtgemacht hatte. Besonders, als ich dann Mary Elizabeth sah, die Magenta spielte. Es war wirklich schlimm, ihnen zuzusehen. Doch dann kam Patrick als Frank N. Furter auf die Bühne, und er war toll. Ja, eigentlich war er noch besser als sonst. Und plötzlich fühlte es sich wunderschön an, all meine Freunde zu sehen. Ich ging allerdings, bevor der Film vorbei war.
Auf der Fahrt nach Hause hörte ich mir einige der Lieder von jenem Abend an, als wir grenzenlos gewesen waren. Und ich tat, als säßen meine Freunde bei mir im Auto. Ich unterhielt mich sogar laut mit ihnen. Ich sagte Patrick, wie toll ich ihn fand. Ich fragte Sam nach Craig. Ich sagte Mary Elizabeth, dass es mir leidtat und wie gut mir das Buch von E. E. Cummings gefallen hatte und dass ich sie gerne ein paar Sachen dazu fragen würde. Und dann hörte ich wieder auf damit, weil es mich zu traurig machte. Und weil, wenn mich irgendwelche Leute allein im Auto Selbstgespräche führen sahen, mich ihre Gesichter womöglich davon überzeugen würden, dass das, was mit mir nicht stimmte, noch schlimmer war, als ich ohnehin dachte.
Zu Hause sahen sich meine Schwester und ihr neuer Freund gerade einen Film an. Allzu viel fällt mir zu ihm nicht ein, außer dass er Erik heißt, kurzes Haar hat und in die Elfte geht. Erik hatte den Film ausgeliehen. Nachdem wir uns die Hand geschüttelt hatten, fragte ich, was sie sich da ansahen, denn ich kannte den Film nicht, nur einen der Schauspieler, der hatte einmal in einer Fernsehserie mitgespielt, aber ich kam nicht mehr drauf, wie er hieß.
Meine Schwester sagte: »Der Film ist ziemlich blöd. Würde dir nicht gefallen.«
Ich sagte: »Worum geht’s denn?«
Sie sagte: »Er ist schon fast vorbei.«
Ich sagte: »Kann ich nicht das Ende mit euch sehen?«
Sie sagte: »Du kannst sogar den ganzen Film sehen, wenn wir fertig sind.«
Ich sagte: »Aber ich kann doch das Ende mit euch sehen, dann zurückspulen und bis dahin sehen, ab wo ich ihn mit euch gesehen habe.«
Sie drückte auf Pause und sagte: »Charlie, weißt du eigentlich, was ein Wink mit dem Zaunpfahl ist?«
»Was?«
»Wir würden gerne allein sein.«
»Oh. Tut mir leid.«
Natürlich wusste ich, dass sie mit Erik allein sein wollte – ich wollte einfach nicht allein sein. Schließlich sah ich aber ein, dass es unfair war, ihr den Abend zu verderben, nur weil ich alle so vermisste, also sagte ich Gute Nacht.
Ich bin auf mein Zimmer und habe Bills neues Buch angefangen. Es heißt »Der Fremde«. Bill sagte, es zu lesen, sei leicht, aber es »richtig« zu lesen, sei schwer. Ich habe keine Ahnung, was er damit meint – bisher jedenfalls gefällt es mir.
Alles Liebe,
Charlie
8. Mai 1992
Lieber Freund,
es ist schon komisch, wie schnell die Dinge wieder wie vorher sein können. Etwas passiert – und auf einmal ist alles wieder normal.
Am Montag kam Brad zurück in die Schule.
Er wirkte völlig verändert. Nicht, dass er blaue Flecken oder so gehabt hätte, sein Gesicht sah eigentlich wie immer aus. Aber vorher war Brad immer mit federndem Schritt gelaufen – besser kann ich es einfach nicht beschreiben. Manche Leute laufen ständig mit gesenktem Blick herum und sehen anderen nicht in die Augen. Brad war nie so gewesen. Jetzt aber schon. Vor allem Patrick gegenüber.
Ich sah, wie sie sich leise auf dem Gang unterhielten. Ich war zu weit weg, um sie zu verstehen, aber es war klar, dass Brad Patrick ignorierte. Und als Patrick sich darüber aufzuregen begann, schloss Brad einfach seinen Spind und ließ Patrick stehen. Eigentlich war das ja nicht einmal so ungewöhnlich – Patrick und Brad sprachen in der Schule nie miteinander, weil Brad ja alles geheim halten wollte. Das Komische war also, dass Patrick Brad überhaupt ansprach. Offenbar brauchten sie jetzt keine Golfplätze mehr.
Am Nachmittag rauchte ich draußen eine Zigarette und bemerkte Patrick, der auch alleine dastand und rauchte. Ich wollte mich nicht in seine persönlichen Angelegenheiten einmischen, also bin ich nicht zu ihm rüber. Aber ich konnte sehen, dass er weinte. Ziemlich schlimm sogar. Und immer wenn ich ihn danach irgendwo traf, schien er gar nicht richtig da zu sein. Er wirkte, als wäre er ganz weit weg. Das fiel mir deshalb auf, weil die Leute ja immer mich so beschrieben haben. Vielleicht tun sie das immer noch, keine Ahnung.
Jedenfalls, am Donnerstag ist dann etwas wirklich Schlimmes passiert.
Ich war gerade allein beim Lunch, als ich sah, wie Patrick rüber zu Brad ging, der bei seinen Footballkumpeln saß und Patrick genauso ignorierte wie vor einigen Tagen auf dem Gang. Und ich sah, wie Patrick sich ziemlich aufregte, aber Brad ignorierte ihn noch immer. Patrick sagte etwas zu ihm und sah wirklich wütend dabei aus, und dann entfernte er sich wieder von Brads Tisch. Brad saß einen Moment lang still da, dann wandte er sich seinen Kumpeln zu. Und da hörte ich es. Es war laut genug, dass man es noch ein paar Tische weiter verstehen konnte.
»Schwuchtel!«
Brads Kumpel brachen in Gelächter aus. An den anderen Tischen verstummten alle. Patrick blieb stehen und drehte sich um. Er zitterte vor Wut. Kein Scherz – er zitterte. Und dann stürmte er zurück zu Brads Tisch.
»Wie hast du mich gerade genannt?«
Mann, war er wütend! Ich hatte ihn noch nie so erlebt.
Zuerst gab Brad keine Antwort, aber seine Kumpel stachelten ihn an, also sah er schließlich Patrick an und sagte, leiser und gemeiner als beim ersten Mal:
»Ich habe dich eine Schwuchtel genannt.«
Brads Kumpel johlten noch lauter. Das heißt, bis Patrick den ersten Treffer landete. Es ist schon unheimlich, wenn ein ganzer Raum auf einmal verstummt – und dann der Lärm erst so richtig anfängt.
Es war ein harter Kampf. Viel härter als der, den ich letztes Jahr mit Sean hatte. Keine ordentlichen Boxhiebe oder was man so in Filmen sieht. Sie hielten sich einfach umklammert und schlugen aufeinander ein. Der Aggressivere oder Wütendere landete bei so etwas üblicherweise die meisten Treffer, doch in diesem Fall war es ziemlich ausgeglichen – bis sich Brads Kumpel einmischten und es fünf gegen einen ging.
Und das war dann der Punkt, an dem auch ich mich einmischte. Ich konnte einfach nicht zusehen, wie sie Patrick wehtaten, auch wenn sich die Sache zwischen uns noch nicht geklärt hatte.
Wer mich kennt, hätte vermutlich erstaunt reagiert oder sich Sorgen gemacht. Außer mein Bruder – immerhin hat er mir ja beigebracht, was man in solchen Situationen tut. Ich will jetzt nicht in die Details gehen, es endete jedenfalls damit, dass Brad und zwei seiner Kumpel aufhörten und mich fassungslos anstarrten. Seine anderen beiden Kumpel lagen am Boden. Einer hielt sich das Knie, auf das ich mit einem dieser Metallstühle geschlagen hatte. Der andere hielt sich die Hände vors Gesicht. Ich bin mehr oder weniger auf seine Augen losgegangen, aber nicht schlimm. Ich wollte ihm nicht allzu sehr wehtun.
Ich sah Patrick an. Sein Gesicht war übel zugerichtet. Er weinte. Ich half ihm auf, und dann sah ich Brad an. Ich glaube nicht, dass wir bisher mehr als zwei Worte gewechselt hatten, aber ich dachte, das wäre ein guter Zeitpunkt, damit anzufangen. Ich sagte:
»Wenn du das noch einmal tust, werde ich es allen erzählen. Und wenn das nicht hilft, mache ich das da mit dir.«
Ich zeigte auf seinen Freund, der sich die Hände vors Gesicht hielt, und wusste, dass Brad mich verstanden hatte. In diesem Moment kamen die Sicherheitsleute und brachten uns alle erst ins Krankenzimmer und dann zu Mr. Small. Patrick hatte angefangen, also wurde er eine Woche vom Unterricht ausgeschlossen. Brads Kumpel kriegten jeweils drei Tage, weil sie auf Patrick losgegangen waren, statt die Streithähne voneinander zu trennen. Brad wurde gar nicht suspendiert, weil es Notwehr gewesen war. Und ich auch nicht, weil ich lediglich einem Freund geholfen hatte, der allein gegen fünf stand.
Allerdings mussten Brad und ich einen Monat lang nachsitzen.
Beim Nachsitzen stellte Mr. Harris keine Regeln auf. Er ließ uns einfach lesen oder Hausaufgaben machen oder reden. Es ist wirklich keine schlimme Strafe, wenn man nicht gerade auf das Nachmittagsprogramm im Fernsehen steht oder sich Gedanken um die Einträge in seiner Akte macht. Wobei ich mich frage, ob es die wirklich gibt – ich meine eine Akte, in der alles über einen steht.
Jedenfalls, am ersten Tag setzte sich Brad neben mich, und er wirkte sehr traurig. Ich glaube, nach dem ersten Schock war ihm inzwischen klar geworden, was er da gemacht hatte.
»Charlie?«
»Ja?«
»Danke. Danke, dass du eingegriffen hast.«
»Schon okay.«
Und das war’s. Seither habe ich nicht mehr mit ihm geredet. Und er hat sich auch nicht wieder neben mich gesetzt. Zuerst hatte mich das, was er gesagt hatte, verwirrt, aber dann habe ich es verstanden: Ich würde auch nicht wollen, dass meine Freunde Sam zusammenschlagen, auch wenn ich sie nicht mehr gern haben dürfte.
Als wir heute vom Nachsitzen kamen, wartete Sam draußen auf mich. Und sie lächelte. Ich war wie betäubt. Ich konnte nicht glauben, dass sie wirklich da war. Dann sah sie Brad mit eisigem Blick an.
»Sag ihm, dass es mir leid tut«, sagte Brad.
»Sag ihm das selbst«, erwiderte Sam.
Brad senkte den Blick und ging zu seinem Auto. Und dann kam Sam zu mir und strich mir durchs Haar.
»Du bist also dieser Ninja, was?«
Ich glaube, ich habe genickt.
Sam fuhr mich mit ihrem Pick-up nach Hause. Unterwegs sagte sie mir, dass sie wirklich sauer auf mich war wegen dem, was ich Mary Elizabeth angetan hatte. Sie sagte, dass Mary Elizabeth eine sehr gute Freundin von ihr war und dass Mary Elizabeth für sie da gewesen war, als sie diese schlimme Zeit durchgemacht hatte – die, von der sie mir erzählt hatte, als sie mir die Schreibmaschine geschenkt hatte. Sie sagte, dass mein Kuss bei Craig einen Keil zwischen sie und ihre Freundin getrieben hatte. Offenbar weil Mary Elizabeth mich wirklich sehr gemocht hatte. Das machte mich traurig, weil ich nicht gewusst hatte, wie sehr. Ich hatte gedacht, sie wollte mir lediglich ihre »großartigen Sachen näherbringen«. Da sagte Sam:
»Manchmal bist du einfach wirklich dämlich, Charlie. Weißt du das?«
»Ja. Das stimmt. Ich meine, weiß ich. Ehrlich.«
Dann sagte sie, dass Mary Elizabeth und sie darüber weg seien und es sei gut gewesen, dass ich Patricks Rat befolgt und mich so lange ferngehalten hatte, weil das alles einfacher gemacht hätte. Also sagte ich:
»Können wir jetzt wieder Freunde sein?«
»Natürlich.«
»Auch Patrick?«
»Auch Patrick.«
»Und alle anderen?«
»Und alle anderen.«
Da musste ich weinen. Aber Sam sagte, ich solle bloß damit aufhören.
»Weißt du noch, was ich eben Brad gesagt habe?«
»Ja. Du hast ihm gesagt, er soll Patrick persönlich sagen, dass es ihm leid tut.«
»Ganz genau. Und das gilt auch für Mary Elizabeth.«
»Ich habe es ja versucht, aber sie …«
»Ich weiß, dass du es versucht hast. Ich will aber, dass du es noch einmal versuchst.«
»Okay.«
Sam setzte mich zu Hause ab, und als sie um die Ecke bog, fing ich wieder an zu weinen. Weil wir wieder Freunde waren. Und ich schwor mir, das nie wieder aufs Spiel zu setzen – und das werde ich auch nicht, das kannst Du mir wirklich glauben.
Heute in der Rocky Horror Picture Show war die Stimmung ziemlich angespannt. Gar nicht mal wegen Mary Elizabeth – das war eigentlich ganz in Ordnung. Ich sagte ihr, dass es mir leid tat, und dann fragte ich, ob sie mir etwas sagen wolle. Und genau wie früher erhielt ich eine sehr lange Antwort. Als ich fertig mit Zuhören war – ich habe ihr wirklich zugehört –, sagte ich noch einmal, dass es mir leid tat. Und sie sagte, es sei gut, dass ich nicht versuchte, irgendwelche Ausflüchte zu finden. Und dann war eigentlich alles wieder wie früher, außer dass wir nur noch »Freunde« waren.
Um ehrlich zu sein, ich glaube, dass vor allem deshalb wieder alles im Lot ist, weil Mary Elizabeth jetzt mit einem von Craigs Freunden ausgeht. Er heißt Peter und geht aufs College, was Mary Elizabeth sehr freut. Auf der Party später bei Craig bekam ich mit, wie sie zu Alice sagte, sie sei viel glücklicher mit Peter, weil er eine »klare Meinung« habe und sie über so vieles diskutierten. Sie sagte, ich sei ja wirklich nett und verständnisvoll, aber unsere Beziehung sei zu einseitig gewesen. Sie wolle jemanden, der etwas gesprächiger ist und keine Erlaubnis braucht, bevor er den Mund aufmacht.
Da wusste ich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Darüber, wie seltsam wir alle doch waren, vor allem ich. Aber ich war auf einer Party mit meinen Freunden, also spielte es in diesem Moment keine große Rolle. Ich trank bloß eine Menge, weil es höchste Zeit wurde, das Grasrauchen etwas einzuschränken.
Was die Stimmung vorher allerdings so angespannt machte, war, dass Patrick seine Rolle als Frank N. Furter aufgegeben hat. Er sagte, er wolle ihn nicht mehr spielen, nie wieder. Und er setzte sich neben mich ins Publikum, und während die Show lief, sagte er ein paar wirklich traurige Sachen, die so gar nicht zu ihm passten.
»Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Charlie, dass unser Freundeskreis genau wie jeder andere ist? Und dass der einzige Unterschied zwischen uns darin besteht, was wir für Sachen anziehen und wieso?«
»Glaubst du wirklich?«
Wir schwiegen einen Moment.
»Das ist doch alles scheiße, wenn du mich fragst.«
Und so meinte er es auch. Es tat wirklich weh, ihn so zu erleben.
Frank N. Furter wurde von einem Jungen gespielt, den ich nicht näher kannte. Er war schon länger der Ersatz für Patrick gewesen und bekam nun seine große Chance. Und er war ziemlich gut. Nicht so gut wie Patrick, aber ziemlich gut.
Alles Liebe,
Charlie
11. Mai 1992
Lieber Freund,
ich verbringe viel Zeit mit Patrick. Nicht, dass ich dabei allzu viel reden würde – ich höre ihm eigentlich nur zu und nicke hin und wieder, weil Patrick gerade wirklich jemanden zum Reden braucht. Es ist allerdings auch nicht so wie mit Mary Elizabeth. Es ist anders.
Samstagmorgen nach der Show und der Party fing es an. Ich lag noch im Bett und dachte gerade darüber nach, wieso man manchmal aufwachen und wieder einschlafen kann und manchmal nicht, als Mom an die Tür klopfte.
»Dein Freund Patrick ist am Telefon.«
Ich stand auf und schüttelte den Schlaf ab.
»Hallo?«
»Zieh dich an. Ich bin schon auf dem Weg zu dir.«
Klick. Ende der Durchsage. Eigentlich hatte ich ja jede Menge zu tun, weil es auf das Ende des Schuljahrs zuging, aber es klang, als gäbe es hier ein Abenteuer zu erleben, also zog ich mich an, und zehn Minuten später hielt Patrick vor dem Haus. Er trug dieselben Kleider wie am Abend zuvor. Er hatte auch nicht geduscht oder so, und ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er überhaupt geschlafen hatte. Er hielt sich mit Kaffee und Zigaretten wach. Und mit diesen kleinen Pillen, die man im Quick Mart und an Raststätten bekommt. Die halten einen wirklich wach und sind nicht einmal illegal – sie machen einen nur sehr durstig.
Ich stieg zu Patrick ins Auto, in dem dichte Rauchwolken hingen, und er bot mir eine Zigarette an, aber ich sagte, nicht vor meinem Haus.
»Deine Eltern wissen nicht, dass du rauchst?«
»Nein. Sollten sie denn?«
»Hm. Vermutlich nicht.«
Und dann fuhren wir los – und zwar richtig schnell.
Zuerst redete Patrick nicht viel. Wir hörten einfach nur Musik. Als dann der zweite Song anfing, fragte ich ihn, ob das der Mix war, den ich ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
»Ja. Ich habe ihn die ganze Nacht gehört.«
Er grinste über das ganze Gesicht, aber es war kein gesundes Grinsen – es wirkte starr und betäubt. Er drehte die Musik lauter. Und gab noch mehr Gas.
»Ich sag dir was, Charlie. Es geht mir gut. Weißt du, was ich meine? Richtig gut. Als ob ich frei wäre oder so. Mich nicht mehr verstellen müsste. Ich gehe bald aufs College, und da wird alles anders. Weißt du, was ich meine?«
»Klar doch.«
»Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht, was für Poster ich in meinem Zimmer im College aufhänge. Oder ob mein Zimmer vielleicht so eine Wand hat, wo man die Ziegelsteine sieht. Ich wollte immer schon mal so eine Wand anstreichen. Weißt du, was ich meine?«
Diesmal nickte ich nur, denn er ließ mir nicht genug Zeit für ein »Klar doch«.
»Dort wird alles anders sein. Es muss einfach anders sein.«
»Das wird es auch.«
»Glaubst du wirklich?«
»Klar doch.«
»Danke, Charlie.«
Und so ging es den ganzen Tag weiter. Wir gingen ins Kino. Wir gingen Pizza essen. Und immer wenn Patrick müde zu werden begann, holten wir Kaffe, und er schluckte ein oder zwei Pillen. Dann, als es allmählich dunkel wurde, zeigte er mir die ganzen Plätze, wo Brad und er sich getroffen hatten. Er sagte aber nicht viel dazu. Er starrte bloß ins Leere.
Schließlich landeten wir auf dem Golfplatz.
Wir saßen auf dem achtzehnten Grün, das ziemlich hoch auf einem Hügel lag, sahen der Sonne beim Untergehen zu, tranken den Rotwein, den Patrick mit seinem gefälschten Ausweis gekauft hatte, und redeten über alles Mögliche.
»Kennst du eigentlich diese Geschichte von Lily?«, fragte er mich.
»Vom wem?«
»Lily Miller. Keine Ahnung, was ihr echter Vorname war, aber jeder nannte sie Lily. Sie war zwei Jahre über mir.«
»Ich glaube nicht.«
»Ich dachte, dein Bruder hätte dir die Geschichte vielleicht mal erzählt. Ist ein Klassiker.«
»Ja, vielleicht.«
»Okay. Unterbrich mich einfach, wenn du sie schon kennst.«
»Okay.«
»Lily kommt also mit diesem Typen hierher, der die Hauptrollen in den ganzen Highschool-Stücken spielt …«
»Parker?«
»Parker, ganz genau. Woher kennst du den?«
»Meine Schwester war mal in ihn verknallt.«
»Abgefahren!« Wir waren beide schon ziemlich betrunken. »Also, Parker und Lily kommen eines Nachts hier hoch. Und sie sind ja so verliebt. Er hat ihr sogar seine Anstecknadel geschenkt, dieses Ding von der Schauspielervereinigung. «
Patrick verschüttete Wein, weil er zwischen den Sätzen immer wieder lachen musste.
»Und sie hatten auch einen gemeinsamen Song. So was wie ›Broken Wings‹ von Mr. Mister. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ›Broken Wings‹ würde die Geschichte einfach perfekt machen.«
»Erzähl schon weiter.«
»Okay, okay.« Er schluckte. »Also, sie gingen schon eine Weile zusammen aus und hatten, glaube ich, auch schon miteinander geschlafen, aber das hier sollte eine ganz besondere Nacht werden. Lily hat ein kleines Picknick eingepackt, in Frischhaltebeuteln, und Parker hat seinen Ghettoblaster dabei, damit sie ›Broken Wings‹ hören können.«
Über den Song kam Patrick einfach nicht weg. Er lachte fast zehn Minuten lang.
»Mann, Mann, tut mir Leid … Sie machen also ihr Picknick, mit Sandwiches und allem. Und dann fangen sie an zu fummeln. Die Musik spielt, und sie sind fast so weit, ›es‹ zu machen, als Parker auffällt, dass er die Kondome vergessen hat. Sie liegen aber beide schon nackt auf dem Grün, und beide wollen es unbedingt. Und sie haben keine Kondome. Und was glaubst du, haben sie getan?«
»Keine Ahnung.«
»Sie haben es mit einem Frischhaltebeutel gemacht!«
»NEIN!«
»JA!«
»MEIN GOTT!«
»JA!«
Nachdem wir zu lachen aufgehört und den größten Teil des Weins verschüttet hatten, sah Patrick mich an.
»Und weißt du, was das Beste ist?«
»Was?«
»Lily hielt die Abschlussrede bei der Zeugnisvergabe. Und als sie nach vorne ging … wussten alle Bescheid!«
Wenn man dermaßen lachen muss, gibt es nichts Schöneres, als wieder Luft zu kriegen. Es war wirklich so abgefahren.
Dann, als wir uns wieder beruhigt hatten, erzählten wir uns alle Geschichten, die uns einfielen:
Da war dieser Junge, Barry, der im Kunstunterricht immer Drachen baute. Nach der Schule klebte er Feuerwerkskörper an sie dran, ließ sie steigen und jagte sie in die Luft. Heute macht er eine Ausbildung zum Fluglotsen.
Patrick, Geschichte von Sam
Dieser Junge namens Chip, der seine kompletten Ersparnisse für Kammerjägerzubehör ausgab. Er ging von Tür zu Tür und bat die Leute, ihn ihr Ungeziefer vernichten zu lassen – kostenlos, versteht sich.
Ich, Geschichte von meiner Schwester
Ein Typ namens Carl Burns, den alle nur C. B. nannten, war auf einer Party mal so breit, dass er versuchte, den Hund des Gastgebers zu »besteigen«.
Patrick
Und ein anderer mit dem Spitznamen »Action Jack«, weil man ihn auf einer Party, auf der alle total besoffen waren, erwischt hatte, wie er sich einen runterholte. Und auf den großen Sportfesten feuerten ihn immer alle an und klatschten dabei in die Hände: »Action Jack, klatsch klatsch klatsch, Action Jack!«
Ich, Geschichte von meinem Bruder
Es gab noch mehr Geschichten und peinliche Spitznamen: »Second Base Stace«, die in der Vierten schon Brüste hatte und die Jungs gerne mal fühlen ließ … Vincent, der auf Acid versucht hatte, ein Sofa das Klo runterzuspülen … Sheila, die angeblich mit einem Hot Dog masturbiert hatte und in die Notaufnahme gebracht werden musste … und so weiter.
Irgendwann konnte ich nur noch daran denken, wie es all diesen Leuten wohl auf ihren Jahrgangstreffen ging. Ich fragte mich, ob sie sich schämten. Und ob das nicht ein geringer Preis dafür war, eine lebende Legende zu sein.
Nachdem wir dank Kaffee und Patricks Pillen wieder etwas nüchterner waren, fuhr er mich heim. Das Mixtape, das ich ihm aufgenommen hatte, war inzwischen bei den Winterliedern angekommen.
»Danke, Charlie.«
»Klar doch.«
»Nein. Ich meine, das in der Schule.«
»Klar doch.«
Schließlich hielten wir vor unserem Haus. Wir umarmten uns und sagten Gute Nacht, aber als ich loslassen wollte, umarmte er mich noch ein bisschen fester. Und er bewegte sein Gesicht auf meines zu. Und dann küsste er mich. Ein richtiger Kuss. Dann ließ er mich langsam wieder los.
»Tut mir Leid.«
»Ist schon okay.«
»Im Ernst. Es tut mir leid.«
»Nein, wirklich. Das war okay.«
Also sagte er »Danke« und umarmte mich noch einmal. Und beugte sich vor, um mich noch einmal zu küssen. Und ich ließ ihn einfach – keine Ahnung, wieso. Wir blieben ziemlich lange im Auto.
Außer Küssen haben wir aber nichts gemacht. Und auch das nicht sonderlich lange. Nach einer Weile verloren Patricks Augen diesen starren, betäubten Blick vom Wein oder dem Kaffee oder der durchgemachten Nacht. Und dann fing er an zu weinen. Und dann fing er an, über Brad zu reden.
Und ich ließ ihn einfach. Denn dafür sind Freunde ja da.
Alles Liebe,
Charlie
17. Mai 1992
Lieber Freund,
seit diesem Abend mit Patrick bin ich morgens immer ganz erschlagen. Mein Kopf tut weh, und ich bekomme kaum Luft. Patrick und ich verbringen nämlich viel Zeit miteinander, und wir trinken ziemlich viel, wobei es eigentlich vor allem Patrick ist, der trinkt. Ich nippe nur.
Es ist wirklich schlimm, einen Freund so leiden zu sehen. Besonders, wenn man nichts tun kann, außer »da zu sein«. Dabei will ich doch, dass es ihm wieder besser geht. Also begleite ich ihn einfach, wenn er mir etwas von »seiner Welt«, wie er sagt, zeigen will.
Eines Abends nahm er mich mit in diesen Park, in dem sich Männer heimlich treffen. Er sagte, wenn ich nicht belästigt werden wollte, sollte ich einfach jeglichen Blickkontakt vermeiden. Per Blickkontakt vereinbart man nämlich, miteinander rumzumachen – ganz anonym. Niemand sagt ein Wort, man sucht sich einfach irgendwo einen Platz. Nach einer Weile fand Patrick jemanden, der ihm gefiel, und fragte mich, ob ich Zigaretten brauchte, und als ich Nein sagte, klopfte er mir auf die Schulter und ging mit dem Typen weg.
Ich setzte mich auf eine Bank und sah mich um. Ich konnte Schatten von Leuten erkennen – einige im Gras, einige bei einem Baum, einige wanderten einfach nur herum. Es war alles ganz still. Irgendwann zündete ich mir eine Zigarette an, und da hörte ich auf einmal jemanden neben mir flüstern.
»Hast du noch eine Zigarette?«
Ich drehte mich um und sah einen Mann im Dunkeln.
»Klar.«
Ich gab ihm eine Zigarette.
»Hast du Feuer?«
»Klar.«
Ich zündete ein Streichholz an, und statt sich einfach mit der Zigarette vorzubeugen, streckte der Mann die Hand aus, um die Flamme mit unseren beiden Händen zu schützen – wie man es macht, wenn es windig ist. Es war aber nicht windig. Ich glaube, er wollte einfach nur meine Hände berühren, denn er tat es viel länger als nötig, während er die Zigarette anzündete. Vielleicht wollte er auch, dass ich im Schein des Streichholzes sein Gesicht sah. Keine Ahnung. Irgendwie kam er mir bekannt vor, ich wusste aber nicht, woher.
Er blies das Streichholz aus. »Danke.«
»Kein Problem.«
»Macht es dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?«
»Nein.«
Also setzte er sich zu mir, und erzählte ein wenig. Und auf einmal dachte ich: Seine Stimme – ich kenne diese Stimme! Ich zündete mir noch eine Zigarette an, sah ihn mir noch einmal an, dachte angestrengt nach – und dann kam ich drauf: Er war dieser Typ, der im Fernsehen die Sportnachrichten moderierte! Unglaublich!
»Ein schöner Abend, nicht wahr?«, sagte er.
Ich bekam wohl irgendwie ein Nicken hin, denn er redete weiter – über Sport! Er redete davon, dass der neue Schlagmann beim Baseball nichts taugte und wieso Baseketball so ein kommerzieller Erfolg war und welche Teams im Collegefootball vielversprechend waren. Er erwähnte sogar meinen Bruder. Ganz ehrlich! Und dann sagte ich: »Und wie ist das so, im Fernsehen zu sein?«
Das hätte ich wohl nicht sagen sollen, denn er stand wortlos auf und ging, und das war wirklich schade, denn ich wollte ihn noch fragen, ob er meinte, dass mein Bruder es mal unter die Profis schafft.
An einem anderen Abend nahm mich Patrick in einen Laden mit, in dem man Poppers kaufen konnte. Das sind diese Drogen, die man einatmet. Sie hatten gerade keine Poppers da, aber der Typ hinter der Theke sagte, er hätte etwas, das genauso gut sei. Also kaufte Patrick etwas davon. Es war in einer Art Spraydose. Wir nahmen beide einen kurzen Atemzug, und ich schwöre, wir dachten, wir würden einen Herzinfarkt kriegen.
Ich glaube, Patrick nahm mich einfach überall mit hin, wo ich sonst nie hingekommen wäre. Wie diese Karaoke-Bar in Downtown. Oder dieser Tanzclub. Oder die Umkleide von diesem Fitnessstudio … Manchmal schleppte Patrick jemanden ab, manchmal nicht. Er sagte, man könnte nie wirklich wissen, ob es »sicher« war.
Die Abende, an denen er jemanden abschleppte, war er hinterher immer traurig, und das fand ich schlimm, denn am Anfang war Patrick immer ziemlich gut gelaunt. Er sagte dann, er fühle sich frei, und heute Abend finde er seine Bestimmung. Solche Sachen. Aber am Ende des Abends wirkte er nur noch traurig. Manchmal redete er über Brad, manchmal nicht. Und nach einiger Zeit war die ganze Sache für ihn nicht mehr interessant genug, und er hatte auch nichts mehr, womit er sich betäuben konnte.
Heute Abend waren wir noch einmal in dem Park, in dem sich die Männer treffen. Und Patrick hat Brad dort mit einem anderen Typen gesehen. Brad war zu beschäftigt, um uns zu bemerken. Und Patrick hat nichts gesagt. Und nichts gemacht. Er ist einfach nur zurück zum Auto. Auf dem Heimweg warf er die Weinflasche aus dem Fenster, und sie zerbrach mit einem lautem Knall. Und als er mich absetzte, gab er mir keinen Kuss, wie er es sonst immer gemacht hatte. Er bedankte sich nur bei mir, dass ich sein Freund war, und dann fuhr er davon.
Alles Liebe,
Charlie
21. Mai 1992
Lieber Freund,
das Schuljahr ist fast vorbei. Nur ein guter Monat noch für mich, und nur wenige Wochen für die Leute im letzten Jahr wie Sam und Patrick. Dann sind Prom Night und die Abschlussfeier, und alle sind jetzt schon mit den Vorbereitungen beschäftigt.
Mary Elizabeth geht mit ihrem neuen Freund Peter zur Prom Night. Meine Schwester geht mit Erik, und Patrick mit Alice. Und Craig hat Sam versprochen, diesmal mitzukommen. Sie haben sogar eine Limousine und alles gemietet. Meine Schwester fährt allerdings in Eriks Wagen mit, einem Buick.
Bill war in letzter Zeit ziemlich wehmütig, weil sein erstes Jahr als Lehrer zu Ende geht. Zumindest hat er mir das so gesagt. Er hatte ja vorgehabt, nach New York zu ziehen und Stücke zu schreiben, aber jetzt sagt er, er sei sich nicht mehr sicher, ob er das auch will. Er unterrichtet wirklich gerne Englisch und denkt, dass er nächstes Jahr vielleicht auch den Schauspielkurs übernehmen kann.
Ich vermute, dass er viel darüber nachgedacht hatte, denn nach »Der Fremde« hatte er mir länger nichts mehr zu lesen gegeben. Er wollte aber, dass ich mir einige Filme ansehe und dann einen Aufsatz darüber schreibe, wie ich sie finde. Es waren Die Reifeprüfung, Harold und Maude, Mein Leben als Hund (mit Untertiteln!), Der Club der toten Dichter und Verdacht auf Liebe (ein Film, der ziemlich schwer zu kriegen ist).
Ich habe mir sie alle an einem einzigen Tag angesehen. Das war ziemlich cool.
Der Aufsatz, den ich darüber schrieb, ähnelte allerdings ziemlich meinen letzten Aufsätzen, denn was mir Bill zu lesen oder sehen aufgab, ähnelte sich ja auch immer ziemlich. Bis auf »Naked Lunch«.
Als er mir dieses Buch gegeben hatte, hatte er sich gerade von seiner Freundin getrennt und sich »philosophisch« gefühlt, wie er es ausdrückte, und als wir vor Kurzem über »Unterwegs« sprachen, entschuldigte er sich dafür, dass er sein Privatleben seinen Job hatte beeinträchtigen lassen. Und ich nahm die Entschuldigung an, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Es ist schon komisch, seine Lehrer als Menschen zu sehen. Offenbar hat er sich inzwischen mit seiner Freundin wieder versöhnt – sie wohnen jetzt nämlich zusammen. Zumindest hat er das erzählt.
In der Schule hat mir Bill schließlich dann das letzte Buch für dieses Schuljahr gegeben. Es heißt »Der ewige Quell« und ist ziemlich dick.
Er gab es mir und sagte: »Sei vorsichtig beim Lesen. Es ist ein tolles Buch. Aber versuche, ein Sieb zu sein und kein Schwamm.«
Manchmal vergisst Bill offenbar, dass ich erst sechzehn bin. Ich bin aber ganz froh darüber.
Ich habe das Buch noch nicht angefangen. In meinen anderen Kursen hinke ich nämlich ziemlich hinterher, weil ich so viel Zeit mit Patrick verbracht habe. Wenn ich aber noch aufholen kann, werde ich mein erstes Jahr auf der Highschool mit glatten Einsern abschließen, was mich sehr freut. In Mathe hätte es beinahe nicht geklappt, aber dann sagte Mr. Carlo, ich solle aufhören, die ganze Zeit nach dem Warum zu fragen, und mich einfach an die Formeln halten. Das habe ich dann auch, und jetzt kriege ich in den Tests immer die volle Punktzahl. Ich wünschte nur, ich wüsste, was die Formeln eigentlich wirklich bedeuten.
Ich musste gerade daran denken, dass ich Dir das erste Mal geschrieben habe, weil ich Angst vor der Highschool hatte. Jetzt geht es mir ganz gut dabei, und irgendwie ist das schon komisch.
Patrick hat übrigens nach der Nacht, in der wir Brad im Park gesehen haben, mit dem Trinken aufgehört, und ich glaube, dass es ihm jetzt besser geht. Er will einfach nur noch seinen Abschluss machen und dann aufs College.
Brad habe ich am Montag nach der Nacht im Park beim Nachsitzen getroffen. Er sah aus wie immer.
Alles Liebe,
Charlie
27. Mai 1992
Lieber Freund,
in den letzten Tagen habe ich »Der ewige Quell« gelesen, und es ist ein wirklich großartiges Buch. Auf der Rückseite steht, dass die Autorin Ayn Rand in Russland geboren wurde und nach Amerika kam, als sie noch sehr jung war. Sie sprach kaum Englisch, wollte aber eine große Schriftstellerin werden. Ich fand das sehr bewundernswert, also habe ich mich hingesetzt und versucht, eine Geschichte zu schreiben.
»Ian MacArthur ist ein richtig feiner Kerl, der durch seine Brillengläser freudig in die Welt hinausspäht.«
Das war der erste Satz. Das Problem war, dass mir einfach nicht der zweite einfallen wollte, und nachdem ich dreimal mein Zimmer aufgeräumt hatte, beschloss ich, Ian eine Weile in Ruhe zu lassen, denn ich wurde langsam wütend auf ihn.
Ich hatte die letzte Woche viel Zeit zum Schreiben und Lesen und Nachdenken, weil alle mit der Prom Night und der Abschlussfeier und der ganzen Planung beschäftigt sind. Freitag nächste Woche ist ihr letzter Schultag, und am Dienstag ist Prom Night, was ich erst etwas seltsam fand. Ich hatte gedacht, dass man so etwas am Wochenende macht, aber Sam sagte, dass nicht alle Schulen ihre Prom Night am selben Tag haben konnten, schon weil es gar nicht genug Anzüge und Restaurants dafür gab, und das klang logisch. Und am Sonntag ist dann die Abschlussfeier. Und ich wünschte, es wäre auch meine Prom Night. Und meine Abschlussfeier.
Ich frage mich, wie es sein wird, wenn ich einmal ausziehe. Wenn ich einen Mitbewohner habe und Shampoo kaufen muss. Und wie toll wäre es, in drei Jahren mit Sam auf meine Prom Night zu gehen. Ich hoffe, dass sie auf einen Freitag fällt und dass ich auf der Abschlussfeier eine Rede halten kann. Ich frage mich, worüber ich reden werde und ob Bill mir mit der Rede helfen wird, wenn er doch nicht nach New York geht und Stücke schreibt. Vielleicht hilft er mir ja, auch wenn er in New York ist und Stücke schreibt. Das wäre dann wirklich ganz besonders nett.
Keine Ahnung. »Der ewige Quell« ist jedenfalls ein sehr gutes Buch. Ich hoffe nur, dass ich auch wirklich ein Sieb bin.
Alles Liebe,
Charlie
2. Juni 1992
Lieber Freund,
habt ihr zum Schulabschluss auch einen Streich gemacht? Ich vermute es mal, denn meine Schwester sagte, das sei an etlichen Schulen Tradition. Bei uns ging dieses Jahr der Streich so: Ein paar Seniors haben den Swimmingpool mit etwa sechstausend Packungen Kirschkonzentrat gefüllt. Keine Ahnung, wer sich so etwas ausdenkt und wieso, außer dass der Streich das Ende des Schuljahrs markiert. Was das mit einem Kirschpool zu tun haben soll, ist mir zwar schleierhaft, aber ich war ganz froh, dass Sport deswegen ausfiel.
Es sind aufregende Tage. Am Freitag ist für meine Freunde und meine Schwester der letzte Schultag. Und sie reden unablässig von ihrer Prom Night – selbst die Leute, die das »lachhaft« finden, so wie Mary Elizabeth, können nicht aufhören, darüber zu reden, wie »lachhaft« es ist. Das ist wirklich sehr lustig, mit anzuhören.
Inzwischen wissen auch alle, wohin sie nächstes Schuljahr gehen. Patrick geht an die University of Washington, weil er in die Nähe der Musikindustrie will. Er sagt, er will vielleicht einmal für eine Plattenfirma arbeiten, als Pressesprecher oder jemand, der neue Bands entdeckt. Sam hat beschlossen, schon etwas früher zu gehen, um das Sommerprogramm am College ihrer Wahl mitzumachen. Ich liebe diesen Ausdruck: »College ihrer Wahl«. Fast so sehr wie »Ausweichschule«.
Das Problem nämlich ist, dass Sam von zwei Schulen akzeptiert wurde: dem College ihrer Wahl und einer Ausweichschule. Im Herbst hätte sie an der Ausweichschule anfangen können, doch um ans College ihrer Wahl zu kommen, muss sie dieses besondere Sommerprogramm mitmachen – so wie damals mein Bruder. Ja, genau: Sie geht an die Penn State, was wirklich toll ist, weil ich dann meinen Bruder und Sam gemeinsam besuchen kann. Ich will eigentlich noch gar nicht darüber nachdenken, dass Sam weggehen wird, aber ich habe mich gefragt, was wäre, wenn sie und mein Bruder miteinander ausgehen würden … doch das ist ein ziemlich blöder Gedanke, weil sie sich doch gar nicht ähnlich sind und Sam ja in Craig verliebt ist. Ich muss wirklich damit aufhören.
Jedenfalls, meine Schwester geht aufs Sarah Lawrence College, eine »kleine liberale Hochschule im Osten«. Fast hätte es nicht geklappt, weil es eine Menge Geld kostet, aber dann bekam sie ein Stipendium vom Rotary Club oder so etwas, was ich ziemlich großzügig finde. Meine Schwester ist die Zweitbeste des Jahrgangs geworden. Sie wäre beinahe die Beste geworden, aber sie hat einmal eine Zwei gekriegt, als sie diese schlimme Zeit mit ihrem Exfreund hatte.
Mary Elizabeth geht nach Berkeley. Und Alice will Filmwissenschaft an der New York University studieren. Ich wusste nicht einmal, dass sie Filme mag – sie sagt immer »Streifen« dazu.
Ich habe übrigens »Der ewige Quell« fertig gelesen, und es war eine wirklich tolle Erfahrung. Es ist seltsam, Lesen als »tolle Erfahrung« zu bezeichnen, aber irgendwie hat es sich so angefühlt. Es war anders als die anderen Bücher, weil es nicht darum ging, jung zu sein. Und es war auch nicht wie »Der Fremde« oder »Naked Lunch«, obwohl ich schon fand, dass es philosophisch war – aber nicht so, dass man erst danach suchen musste. Ich fand, es war ziemlich direkt, und ich habe das, worüber die Autorin schrieb, auf mein eigenes Leben übertragen. Vielleicht heißt das ja, ein Sieb zu sein – ich weiß es nicht.
Da ist zum Beispiel diese Stelle, wo die Hauptfigur, ein Architekt, mit seinem besten Freund, einem Medienmogul, auf einem Schiff ist. Und der Medienmogul sagt, dass der Architekt ein ziemlich kühler Mensch sei. Und der Architekt erwidert, wenn das Schiff jetzt sänke und im Rettungsboot nur Platz für einen Menschen wäre, würde er mit Freuden sein Leben für den Medienmogul geben. Und dann sagt er:
»Ich würde für dich sterben. Aber ich würde nie für dich leben.«
Oder so ähnlich. Ich glaube, der Gedanke dahinter ist, dass jeder Mensch sich um sein eigenes Leben kümmern muss – erst dann kann er es mit anderen teilen. Vielleicht ist es das ja, was Menschen »teilnehmen« lässt, aber ich bin mir nicht sicher. Weil ich nämlich nicht weiß, ob es mir wirklich etwas ausmachen würde, eine Weile für Sam zu leben. Allerdings würde sie das wohl gar nicht wollen, also ist es ja vielleicht gar kein so großes Problem. Hoffe ich jedenfalls.
Ich habe meinem Psychiater von dem Buch und von Bill und Sam und Patrick und ihren Colleges erzählt, aber er stellt mir immer nur Fragen über »früher«, und ich habe das Gefühl, dass wir uns im Kreis drehen. Doch er meint, es wäre wichtig, also werden wir es wohl herausfinden müssen.
Ich würde ja gerne noch mehr schreiben, aber ich muss die Formeln für die Mathearbeit am Donnerstag lernen. Drück mir die Daumen!
Alles Liebe,
Charlie
5. Juni 1992
Lieber Freund,
ich muss Dir einfach davon erzählen, wie wir gerannt sind. Da war dieser herrliche Sonnenuntergang auf dem Golfplatz. Wir standen auf dem Hügel des achtzehnten Grüns, wo Patrick und ich damals vor lauter Lachen den Wein verschüttet hatten. Einige Stunden zuvor hatten Sam und Patrick und alle meine Freunde – alle, die ich kenne – ihren letzten Schultag. Und ich war so glücklich, weil sie glücklich waren. Meine Schwester ließ sich sogar umarmen, als ich sie in der Schule traf. »Glückwunsch« war das Wort des Tages. Am Nachmittag sind Sam und Patrick und ich ins Big Boy und haben Zigaretten geraucht. Später sind wir spazieren gegangen, haben darauf gewartet, dass es Zeit für die Rocky Horror Picture Show wurde, und über alles Mögliche geredet, was uns gerade wichtig erschien. Und dann standen wir auf diesem Hügel … und auf einmal begann Patrick, dem Sonnenuntergang nachzulaufen. Und Sam lief Patrick nach. Ich sah ihre Silhouetten, wie sie die Sonne jagten, und dann fing ich auch an zu laufen. Und alles war so gut, wie es nur sein konnte.
Heute Abend beschloss Patrick, doch noch ein letztes Mal Frank N. Furter zu spielen. Er freute sich, noch einmal das Kostüm anzuziehen, und alle anderen freuten sich, dass er sich dazu entschlossen hatte. Es war wirklich bewegend – denn er lieferte die beste Vorstellung, die ich ihn je hatte geben sehen. Vielleicht war ich voreingenommen, aber das ist mir egal. Es war jedenfalls die Show, an die ich mich immer erinnern werde. Besonders der letzte Song.
Dieser Song heißt »I’m Going Home«. Tim Curry, der im Film Frank N. Furter spielt, weint bei diesem Song. Patrick aber lächelte – und es fühlte sich genau richtig an.
Ich konnte sogar meine Schwester überreden, mit ihrem Freund zur Show zu kommen. Seit dem ersten Mal hatte ich das immer wieder versucht, aber sie wollte nie. Diesmal jedoch kam sie. Und weil sie und ihr Freund die Show noch nie gesehen hatten, waren sie »Jungfrauen« und mussten vor der Show diese ganzen peinlichen Sachen machen, ehe sie richtig dazugehörten. Ich hatte meiner Schwester vorher lieber nichts davon gesagt, und so mussten sie und ihr Freund auf die Bühne und den Time Warp tanzen.
Wer beim Tanzen verlor, musste danach so tun, als ob er oder sie Sex mit einer großen grünen Plastikpuppe hätte. Also brachte ich meiner Schwester und ihrem Freund schnell den Time Warp bei, denn das wollte ich nicht – meiner Schwester auf der Bühne beim Tanzen zuzusehen, machte Spaß, aber ich glaube nicht, dass ich es verkraftet hätte, sie mit einer großen grünen Plastikpuppe rummachen zu sehen.
Ich fragte meine Schwester auch, ob sie später noch mit zu Craig käme, aber sie sagte, dass einer ihrer Freunde ebenfalls eine Party gab und sie dorthin gehen würden. Das war okay für mich, denn immerhin war sie zur Show gekommen. Und bevor sie ging, umarmte sie mich nochmal. Zweimal am gleichen Tag! Ich habe meine Schwester wirklich lieb. Vor allem, wenn sie nett zu mir ist.
Die Party bei Craig war toll. Craig und Peter hatten Champagner gekauft, um mit allen anzustoßen, die ihren Abschluss gemacht hatten. Und wir haben getanzt und uns unterhalten. Und ich habe Mary Elizabeth Peter küssen und sich freuen sehen. Und ich habe Sam Craig küssen und sich freuen sehen. Und ich habe Patrick und Alice gesehen, denen es nichts ausgemacht hat, dass sie niemanden zum Küssen hatten, weil sie viel zu beschäftigt damit waren, über ihre Zukunft zu reden.
Und ich saß einfach mit einer Flasche Champagner neben dem CD-Spieler und spielte Songs, die gerade zur Stimmung passten. Craig hatte eine wirklich gute Sammlung, und immer wenn die Leute müde wirkten, spielte ich etwas Schnelles, und wenn sie wirkten, als wollten sie sich unterhalten, spielte ich etwas Ruhiges. Es war eine schöne Methode, auf einer Party allein zu sein und sich gleichzeitig als Teil des Ganzen zu fühlen.
Später bedankten sich alle bei mir und sagten, es sei die »perfekte Untermalung« gewesen. Craig sagte sogar, ich solle mir doch etwas Geld als DJ verdienen, solange ich noch auf die Schule ging – so wie er als Model arbeitete –, und ich fand das eine gute Idee. Vielleicht schaffe ich es ja, mir genug Geld für das College zurückzulegen, sollte es bei mir mit dem Rotary Club nichts werden.
Mein Bruder sagte allerdings neulich am Telefon, dass ich mir um meine Collegegebühren keine Sorgen zu machen bräuchte, wenn er es unter die Profis schafft. Er würde sich dann darum kümmern. Ich kann es kaum erwarten, meinen Bruder wiederzusehen. Er kommt zur Abschlussfeier meiner Schwester nach Hause, was wirklich nett von ihm ist.
Alles Liebe,
Charlie
9. Juni 1992
Lieber Freund,
heute Abend ist Prom Night. Die Schule gestern war nicht leicht – jetzt, wo meine Schwester und meine ganzen Freunde nicht mehr kommen, kenne ich dort fast niemanden mehr.
Am schlimmsten war die Mittagspause, denn sie erinnerte mich an die Zeit, als alle wütend auf mich waren wegen Mary Elizabeth. Ich bekam nicht einmal mein Sandwich runter, und dabei hatte Mom mir mein Lieblingssandwich gemacht, vermutlich weil sie wusste, wie traurig ich so ganz allein sein würde.
Die Gänge kamen mir ganz anders vor. Und die Schüler aus der Elften benahmen sich ganz anders, weil sie ja jetzt die Ältesten waren. Sie hatten sich sogar T-Shirts drucken lassen. Keine Ahnung, wer sich so etwas ausdenkt.
Und ich musste immer wieder daran denken, dass Sam in zwei Wochen zur Penn State fährt. Und Mary Elizabeth wird mit ihrem Freund beschäftigt sein. Und meine Schwester mit ihrem. Und Alice und ich haben nicht so viel miteinander zu tun. Patrick wird zwar noch eine Weile da sein, aber ich vermute, dass er nicht mehr so viel Zeit mit mir verbringen will, jetzt, wo er nicht mehr so traurig ist. Ich weiß, dass ich mir das vielleicht nur einbilde, aber manchmal kommt es mir eben so vor. Damit bliebe mir nur noch mein Psychiater zum Reden, und diese Vorstellung gefällt mir gar nicht, weil er mir immer noch Fragen über die Zeit stellt, als ich klein war, und das alles wirklich etwas seltsam zu werden beginnt.
Also habe ich Glück, dass ich so viel für die Schule zu tun habe und nicht zum Nachdenken komme.
Ich hoffe einfach, dass heute Abend toll für alle wird, für die es toll sein soll. Der Freund meiner Schwester fuhr in seinem Buick vor. Er trug einen weißen Frack und darunter Schwarz, was irgendwie verkehrt aussah. Sein Kummerbund (keine Ahnung, wieso das so heißt) passte farblich zum Kleid meiner Schwester, das taubenblau war und einen tiefen Ausschnitt hatte. Was mich an diese Magazincover erinnerte … aber ich sollte wirklich beim Thema bleiben.
Ich hoffe einfach, dass meine Schwester sich schön fühlt und ihr neuer Freund ihr das Gefühl gibt, schön zu sein. Und ich hoffe, Craig gibt Sam nicht das Gefühl, dass ihre Prom Night nichts Besonderes ist, nur weil er schon älter ist. Dasselbe hoffe ich für Mary Elizabeth und Peter. Ich hoffe, dass Brad und Patrick sich wieder versöhnen und vor aller Augen miteinander tanzen. Und dass Alice eine heimliche Lesbe ist und sich in Brads Freundin Nancy verliebt (und umgekehrt), damit sich niemand allein fühlt. Ich hoffe, dass der DJ so gut ist, wie ich angeblich letzten Freitag war. Und ich hoffe, dass die Bilder, die sie voneinander machen, ganz wunderschön und nie zu alten Fotos werden und niemand einen Autounfall hat.
Das ist es, was ich wirklich hoffe.
Alles Liebe,
Charlie
10. Juni 1992
Lieber Freund,
ich bin gerade von der Schule heimgekommen, und meine Schwester schläft noch immer wegen der Party, die nach der Prom Night stattfand. Ich habe bei Patrick und Sam angerufen, aber sie schlafen auch noch. Patrick und Sam haben ein schnurloses Telefon, bei dem die Batterien ständig leer sind, und Sams Mutter klang wie eine der Mütter in den Peanuts-Cartoons: »Wäh wäh … wah!«
Ich habe heute zwei Abschlussarbeiten geschrieben. Eine in Biologie, in der ich, glaube ich, die volle Punktzahl kriege. Die andere bei Bill. Die Arbeit ging über »Der große Gatsby«, und das einzig Schwierige daran war, dass es schon so lange her war, dass ich das Buch gelesen hatte – ich konnte mich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern.
Jedenfalls, danach fragte ich Bill, ob ich ihm einen Aufsatz zu »Der ewige Quell« schreiben solle, da ich ja mittlerweile damit durch war und er noch nichts dazu gesagt hatte. Er sagte, es sei nicht fair, mich auch noch einen Aufsatz schreiben zu lassen, wo ich diese Woche doch schon so viele Arbeiten hätte. Stattdessen lud er mich für Samstagnachmittag zu sich und seiner Freundin ein, was nach einer tollen Sache klingt.
Am Freitag gehe ich in die Rocky Horror Picture Show. Am Samstag zu Bill. Am Sonntag bin ich auf der Abschlussfeier und verbringe etwas Zeit mit meiner Familie – meiner Schwester zuliebe. Dann gehe ich wahrscheinlich zu Sam und Patrick, um deren Abschluss zu feiern. Und dann habe ich noch zwei Tage Schule, was keinen Sinn ergibt, weil da alle Arbeiten ja schon geschrieben sind. Es sind aber noch ein paar Sachen geplant. Habe ich zumindest gehört.
Weshalb ich so im Voraus plane: Es ist in der Schule schrecklich einsam. Ich habe das, glaube ich, schon einmal gesagt, aber es wird jeden Tag schlimmer. Morgen schreibe ich zwei Arbeiten, Geschichte und Maschineschreiben. Am Freitag kommen dann meine ganzen anderen Kurse, wie Sport und Werken, aber ich weiß gar nicht, ob wir da richtige Arbeiten schreiben. Ich glaube, Mr. Callahan wird uns einfach wieder einige seiner alten Platten vorspielen, das hat er jedenfalls letztes Mal so gemacht. Aber ohne Patrick, der Playback dazu singt, wird es einfach nicht dasselbe sein. Übrigens, ich habe in meiner Mathearbeit letzte Woche die volle Punktzahl gekriegt.
Alles Liebe,
Charlie
13. Juni 1992
Lieber Freund,
ich komme gerade von Bill zurück. Ich hätte Dir ja schon heute früh von gestern Abend geschrieben, aber ich musste zu Bill.
Gestern Abend haben sich Craig und Sam getrennt.
Es war wirklich sehr traurig. In den letzten Tagen habe ich viel über die Prom Night gehört, und dank dieser Fotoshops, die Bilder in vierundzwanzig Stunden entwickeln, habe ich auch gesehen, wie alle aussahen. Sam sah wunderschön aus. Patrick sah ziemlich cool aus. Mary Elizabeth, Alice, Mary Elizabeths Freund – sie alle sahen toll aus. Das einzige Problem war, dass Alice einen weißen Deostift benutzt hatte und ein trägerloses Kleid trug, und man konnte es sehen. Ich finde nicht, dass das so schlimm ist, aber Alice war angeblich den ganzen Abend paranoid deswegen. Craig sah auch gut aus, er trug aber einen Anzug, keinen Frack. Deshalb haben sie sich allerdings nicht getrennt.
Die Prom Night war wohl wirklich schön. Die Limousine war toll, und der Fahrer hat allen etwas zu rauchen gegeben, so dass das superteure Essen sogar noch besser schmeckte. Sein Name war Billy. Für die Musik war zwar eine richtig schlechte Coverband namens The Gypsies of the Allegheny zuständig, ihr Drummer aber war ganz gut, von daher hatten alle Spaß beim Tanzen. Patrick und Brad sahen sich nicht einmal an, Sam sagte aber, das wäre für Patrick schon in Ordnung gewesen.
Danach sind meine Schwester und ihr Freund noch auf diese Party in einem angesagten Club in Downtown. Meine Schwester meinte, es sei wirklich gut gewesen. Alle waren toll angezogen und haben zu guter Musik getanzt, die von einem DJ kam und nicht von den Gypsies of the Allegheny, und sie hatten sogar einen Stand-up-Comedian. Das einzige Problem war, dass man nicht wieder reinkam, wenn man mal rausging. Die Eltern hatten wahrscheinlich gedacht, dass ihre Kinder so nicht auf dumme Gedanken kommen würden. Es schien aber niemandem etwas auszumachen. Dafür hatten sie alle zu viel Spaß, und ohnehin hatten genügend Leute Alkohol mit reingeschmuggelt. Als die Party vorbei war, war es sieben Uhr morgens, und alle gingen ins Big Boy, um dort zu frühstücken.
Ich habe Patrick gefragt, wie ihre Party nach der Prom Night war, und er sagte, sie sei ziemlich cool gewesen. Er sagte, Craig hätte für sie alle eine Suite in einem Hotel gemietet, aber nur er und Sam seien hingegangen. Eigentlich wollte Sam lieber auf die andere Party, aber Craig hat sich ziemlich aufgeregt, weil er für die Suite schon bezahlt hatte. Deshalb haben sie sich allerdings nicht getrennt.
Getrennt haben sie sich gestern nach der Rocky Horror Picture Show bei Craig. Peter, Mary Elizabeths Freund, ist ein guter Freund von Craig, und er ist ihnen gewissermaßen in die Quere gekommen. Ich glaube, er hat Mary Elizabeth wirklich sehr gern, und er versteht sich wohl auch mit Sam ganz gut – denn er war derjenige, der die Sache zur Sprache brachte. Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung.
Die »Sache« war, dass Craig Sam betrog, seit sie zusammen waren. Und wenn ich »betrügen« sage, meine ich nicht, dass er mal betrunken mit einem Mädchen rumgemacht hat und danach ein schlechtes Gewissen hatte. Nein, es hat etliche Mädchen gegeben. Etliche Male. Betrunken. Und nüchtern. Und ich glaube nicht, dass er je ein schlechtes Gewissen deshalb gehabt hatte.
Zuerst hatte Peter nichts gesagt, weil er uns noch nicht kannte. Und er kannte auch Sam noch nicht. Er hielt sie für irgend so eine Highschool-Göre, denn genau so hatte es Craig ihm immer erzählt.
Nachdem Peter dann Sam kennengelernt hatte, drängte er Craig, ihr die Wahrheit zu sagen, weil sie eben nicht nur irgend so eine Highschool-Göre war. Und Craig hat es immer wieder versprochen – hat es aber nie gemacht. Es gab immer irgendeine Ausrede. Craig nannte es »Gründe«.
»Ich will ihr nicht die Prom Night verderben.«
»Ich will ihr nicht die Abschlussfeier verderben.«
»Ich will ihr nicht die ganze Show verderben.«
Schließlich sagte er, es hätte keinen Sinn, ihr überhaupt noch etwas zu sagen, sie ginge ja ohnehin bald aufs College, und dort würde sie schon einen neuen Freund finden. Er habe bei den anderen Mädchen immer »aufgepasst« – deshalb müsse sich niemand Sorgen machen. Und warum Sam nicht alles in guter Erinnerung behalten lassen? Schließlich habe er sie wirklich gern und wolle ihr nicht weh tun.
Peter beugte sich dieser Logik, auch wenn er sie für falsch hielt. Zumindest sagte er das so. Gestern nach der Show aber erzählte ihm Craig, er hätte am Nachmittag vor der Prom Night mit einem Mädchen rumgemacht. Da sagte Peter zu Craig, wenn Craig es Sam nicht sagte, würde er es tun. Craig sagte aber wieder nichts, und Peter fand immer noch, es ginge ihn eigentlich nichts an. Doch dann bekam er mit, wie sich Sam auf der Party mit Mary Elizabeth unterhielt. Sam sagte zu Mary Elizabeth, dass Craig vielleicht »der Richtige« sei und dass sie die ganze Zeit überlege, wie sie die Beziehung weiterführen könnte, wenn sie am College ist. Briefe, Telefongespräche, die Ferien … Und da wurde es Peter dann zu viel.
Er ging zu Craig und sagte: »Du machst jetzt den Mund auf, oder ich erzähle ihr alles.«
Also nahm Craig Sam mit in sein Schlafzimmer. Und sie blieben eine Weile drin. Und dann kam Sam wieder raus und verließ schnurstracks die Wohnung. Und sie weinte. Und Craig lief ihr nicht nach – das war wahrscheinlich das Schlimmste von allem. Nicht, dass er hätte versuchen sollen, wieder mit ihr zusammenzukommen, aber ich finde, er hätte ihr trotzdem nachlaufen sollen.
Sam war völlig am Boden zerstört, und Mary Elizabeth und Alice gingen zu ihr nach draußen. Ich wäre ja auch rausgegangen, aber Patrick fasste mich am Arm und hielt mich zurück. Er wollte wohl wissen, was los war. Oder fand, dass Sam jetzt weibliche Gesellschaft brauchte.
Ich war dann auch ganz froh, dass wir geblieben sind, denn unsere Anwesenheit verhinderte eine Schlägerei zwischen Craig und Peter. Dank uns schrien sie sich einfach nur an, und daher habe ich auch die meisten der Details, die ich Dir erzählt habe.
Craig schrie: »Scheiße, Peter! Scheiß auf dich!«
Und Peter schrie: »Gib mir doch nicht die Schuld, dass du hinter ihrem Rücken rumgefickt hast! Am Tag der Prom Night! Du bist doch einfach nur ein Arschloch, weißt du das? Ein Riesenarschloch!«
Und so weiter.
Als es ganz danach schien, dass die beiden aufeinander losgehen würden, stellte sich Patrick zwischen sie, und gemeinsam brachten wir Peter aus der Wohnung. Als wir rauskamen, waren die Mädchen schon weg. Also nahmen wir Patricks Auto und fuhren Peter heim. Er schäumte immer noch vor Wut und ließ reichlich »Dampf« ab. Daher habe ich die restlichen Details, die ich Dir erzählt habe. Schließlich kamen wir zu seinem Wohnblock, und Peter nahm uns das Versprechen ab, Mary Elizabeth zu sagen, dass er sie nie betrügen würde. Er tat es auch nicht, er hatte aber Angst, dass sie ihn jetzt für »so einen Scheißkerl« hielt wie Craig.
Wir versprachen es, und er ging rein.
Nun waren wir uns nicht ganz sicher, wie sehr Craig die Wahrheit »beschönigt« hatte. Wir hofften jedenfalls, dass er Sam nicht alles erzählt hatte, sondern gerade genug, dass sie Abstand hielt, und nicht so viel, dass sie nie wieder jemandem vertrauen konnte. Vielleicht ist es auch besser, die ganze Wahrheit zu kennen. Ich weiß es nicht.
Auf jeden Fall vereinbarten wir, dass wir ihr nichts sagen würden – es sei denn, wir fanden heraus, dass Craig es wie »keine große Sache« hatte aussehen lassen und Sam bereit war, ihm zu verzeihen. Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt. Ich hoffe, Craig hat genug erzählt, dass sie Abstand hält.
Dann fuhren wir herum und klapperten alle Orte ab, an denen die Mädchen stecken konnten, aber wir fanden sie nicht. Patrick sagte, dass sie vielleicht auch nur so herumfuhren, damit Sam sich ein wenig abregen konnte.
Schließlich setzte mich Patrick zu Hause ab und sagte, er würde mich morgen anrufen, wenn er mehr wusste.
Ich erinnere mich, wie ich gestern ins Bett ging und mir etwas auffiel. Etwas, das ich wichtig finde: Mir fiel auf, dass ich mich den ganzen Abend über nicht darüber gefreut hatte, dass Craig und Sam nicht mehr zusammen waren. Überhaupt nicht.
Ich hatte kein einziges Mal daran gedacht, dass Sam jetzt vielleicht mich mögen würde. Ich hatte nur daran gedacht, dass man ihr sehr weh getan hatte. Und ich glaube, in diesem Moment wurde mir klar, dass ich sie wirklich liebte. Weil es nichts zu gewinnen gab. Und weil es nicht darauf ankam.
Es fiel mir schwer, heute Nachmittag die Stufen zu Bills Haus hochzulaufen, weil Patrick mich den ganzen Morgen nicht anrief. Und ich machte mir solche Sorgen um Sam. Ich rief bei ihr an, aber es ging niemand ran.
Bill sieht ohne Anzug ganz anders aus. Er trug ein altes Uni-T-Shirt. Seine Freundin hatte Sandalen und ein hübsches geblümtes Kleid an. Sie hatte sogar Haare unter den Armen – im Ernst! Sie wirkten sehr glücklich miteinander, und das freute mich für Bill.
Sie hatten nicht viele Möbel in ihrer Wohnung, trotzdem war es sehr gemütlich. Sie hatten viele Bücher, und ich stellte ihnen bestimmt eine halbe Stunde lang Fragen darüber. Es gab auch ein Bild von Bill und seiner Freundin, als sie noch zusammen auf der Uni waren. Bill hatte damals ziemlich lange Haare.
Bills Freundin kochte das Mittagessen, während Bill sich um den Salat kümmerte. Ich saß einfach in der Küche, trank Ginger Ale und sah ihnen zu. Das Essen war eine Art Spaghettigericht, weil Bills Freundin kein Fleisch isst. Bill isst auch kein Fleisch mehr, aber im Salat waren kleine Stückchen Speckersatz – Speck ist das Einzige, was sie beide wirklich vermissen.
Sie hatten eine tolle Sammlung Jazzplatten, und wir hörten einige davon während des Essens. Nach einer Weile machten sie eine Flasche Weißwein auf und gaben mir noch ein Ginger Ale. Dann unterhielten wir uns.
Bill fragte mich nach meiner Meinung zu »Der ewige Quell«, und ich sagte sie ihm und achtete darauf, dass ich ein Sieb war.
Dann fragte er mich, wie mir das erste Jahr auf der Highschool gefallen habe, und ich sagte es ihm und achtete darauf, dass ich alle Gelegenheiten erwähnte, bei denen ich »teilgenommen« hatte.
Dann fragte er mich nach den Mädchen, und ich sagte, mir sei klar geworden, dass ich Sam wirklich liebte, und was die Autorin von »Der ewige Quell« über diese Einsicht wohl zu sagen gehabt hätte.
Als ich fertig war, schwieg Bill für eine Weile. Dann räusperte er sich.
»Charlie … ich möchte mich bei dir bedanken.«
»Wofür?«
»Weil es eine wunderbare Erfahrung war, dich zu unterrichten. «
»Oh. Das freut mich.« Ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte.
Dann machte Bill eine richtig lange Pause, und als er weitersprach, klang er wie mein Vater, wenn er eines seiner »ernsten Gespräche« führt.
»Weißt du, warum ich dir diese ganze Extra-Arbeit aufgegeben habe, Charlie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Ist dir eigentlich klar, wie schlau du bist?«
Ich schüttelte wieder den Kopf. Er meinte es ernst. Es war seltsam.
»Du bist einer der begabtesten Menschen, die ich kenne. Und ich meine nicht im Vergleich zu anderen Schülern. Ich meine im Vergleich zu allen Menschen, die mir je untergekommen sind. Deshalb habe ich dir die ganze Extra-Arbeit aufgegeben, und ich frage mich, ob dir das bewusst ist?«
»Ich glaube schon. Keine Ahnung.« Ich fühlte mich wirklich seltsam. Ich wusste nicht, was er meinte. Ich hatte nur ein paar Aufsätze geschrieben.
»Versteh mich bitte nicht falsch. Ich will dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich will nur, dass du weißt, dass du etwas Besonderes bist, und ich sage dir das einzig und allein deshalb, weil ich nicht weiß, ob dir das jemals jemand gesagt hat.«
Ich sah ihn an … und fühlte mich nicht mehr seltsam. Ich fühlte mich, als ob ich gleich weinen müsste. Er war so nett zu mir, und dem Gesicht seiner Freundin nach zu urteilen, war ihm das wirklich wichtig. Und ich hatte keine Ahnung, wieso.
»Also, jetzt, da das Schuljahr vorbei ist und ich nicht mehr dein Lehrer bin, möchte ich, dass du weißt, dass du jederzeit als Freund zu mir kommen kannst, falls du irgendetwas brauchst oder Fragen zu einem Buch hast oder mir etwas zeigen willst, das du geschrieben hast, oder sonst etwas. Ich sehe dich wirklich als einen Freund, Charlie. «
Und da fing ich wirklich ein bisschen zu weinen an, und es schien, als würde seine Freundin auch weinen. Bill aber nicht. Er sah sehr gefasst aus. Ich wollte ihn umarmen, aber das hatte ich noch nie getan, bei niemanden, und Patrick und Mädchen und Familie zählen hier, glaube ich, nicht. Eine Weile sagte ich also gar nichts, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
Schließlich sagte ich: »Du bist der beste Lehrer, den ich je hatte.«
Und er sagte: »Danke.«
Und das war’s dann. Bill versuchte nicht, mir das Versprechen abzunehmen, dass ich auch wirklich zu ihm kam, falls ich etwas brauchte. Er fragte mich auch nicht, weshalb ich weinte. Er hatte mir gesagt, was er zu sagen hatte, und ließ mich nun damit machen, was ich wollte. Das war wahrscheinlich das Beste daran.
Bald darauf wurde es Zeit für mich, zu gehen. Keine Ahnung, wer so etwas festlegt – man merkt es einfach.
Wir gingen also zur Tür, und Bills Freundin umarmte mich zum Abschied, was sehr nett war, wo ich sie doch erst seit heute kannte. Dann streckte mir Bill die Hand hin, und ich ergriff sie, und wir schüttelten uns die Hand. Und ich brachte sogar noch eine kurze Umarmung unter, ehe ich mich verabschiedete.
Auf dem Weg nach Hause dachte ich über den Ausdruck »etwas Besonderes« nach. Und ich erinnerte mich daran, dass der Letzte, der mir das gesagt hatte, Tante Helen gewesen war. Und ich war sehr dankbar, dass man mich daran erinnert hatte. Denn manchmal vergessen wir das wohl einfach. Und dabei ist doch jeder auf seine Art etwas Besonderes. Das glaube ich wirklich.
Heute Abend kommt mein Bruder nach Hause. Und morgen ist die Abschlussfeier. Patrick hat immer noch nicht angerufen. Ich habe es bei ihm versucht, aber es war wieder niemand da. Also beschloss ich, loszuziehen und ihnen ihre Geschenke zu kaufen. Ich war bisher noch nicht dazu gekommen.
Alles Liebe,
Charlie
16. Juni 1992
Lieber Freund,
eben bin ich mit dem Bus nach Hause gekommen. Heute war mein letzter Schultag. Und es hat geregnet. Wenn ich mit dem Schulbus fahre, setze ich mich normalerweise in die Mitte, weil angeblich vorne die »Streber« und hinten die »Spinner« sitzen, und das macht mich irgendwie nervös. Keine Ahnung, ob sie an anderen Schulen auch »Spinner« zu einem sagen.
Heute allerdings beschloss ich, mich vorne hinzusetzen und meine Beine über den ganzen Sitz auszustrecken. Als würde ich mich hinlegen – mit dem Rücken zum Fenster, um die anderen im Blick zu behalten. Zum Glück gibt es in Schulbussen keine Gurte, sonst hätte ich das nicht machen können.
Was mir auffiel, war, wie sehr sich alle verändert hatten. Als wir jünger waren, sangen wir am letzten Schultag auf dem Heimweg immer Songs. Meistens »Another Brick in the Wall« von Pink Floyd. Es gab aber einen Song, der uns noch besser gefiel, weil er mit einem Fluch endete. Er ging so:
No more
pencils
No more books
No more teachers’ dirty looks
When the teacher rings the bell
Drop your books and run like hell
Dann blickten wir immer gespannt zum Busfahrer – und brachen in Gelächter aus. Wir wussten, dass wir für das Fluchen Schwierigkeiten kriegen konnten, dass uns unsere zahlenmäßige Übermacht aber vor Strafe schützte. Wir waren zu jung, um zu kapieren, dass dem Busfahrer unser Song völlig egal war. Dass er einfach nur nach Hause wollte und vielleicht ein Schläfchen machen, nach den ganzen Drinks, die er zum Lunch hatte. Damals spielte das alles keine Rolle – »Streber« und »Spinner« gehörten zusammen.
Samstagabend kam mein Bruder nach Hause. Und er hatte sich in der kurzen Zeit noch mehr verändert als die Schüler im Bus: Er trug einen Bart! Er lächelte auch anders und war »zuvorkommender«. Wir setzten uns zum Abendessen hin, und alle stellten ihm Fragen. Dad fragte nach dem Football-Team. Mom nach seinen Kursen. Ich nach irgendwelchen Quatschgeschichten. Und meine Schwester erkundigte sich ganz nervös, wie das College denn nun »wirklich« sei und ob sie die »üblichen fünfzehn« zulegen würde. Ich habe noch nie davon gehört, aber offenbar heißt es, dass man dicker wird.
Ich hatte eigentlich erwartet, dass mein Bruder endlos über sich selbst reden würde. In der Highschool zumindest hatte er das immer gemacht, wenn ein wichtiges Spiel oder ein Ball oder sonst etwas anstand. Doch heute schien er sich viel mehr dafür zu interessieren, wie es uns ging – besonders meiner Schwester mit ihrem Abschluss.
Während wir uns also unterhielten, fiel mir auf einmal der Sportmoderator wieder ein, und dass er meinen Bruder erwähnt hatte. Ich war so begeistert davon, dass ich es gleich erzählte. Und das kam dabei heraus:
Mein Vater sagte: »Hey! Wenn das mal nichts ist!«
Mein Bruder sagte: »Echt?«
Ich sagte: »Ja. Ich habe mit ihm geredet.«
Mein Bruder sagte: »Hat er denn etwas Gutes gesagt?«
Mein Vater sagte: »Jede Presse ist gute Presse.« Keine Ahnung, wo Dad so etwas immer aufschnappt.
Mein Bruder sagte: »Was hat er gesagt?«
Ich sagte: »Na ja, er hat gesagt, dass der Collegesport ziemlich Druck auf die Studenten ausübt.« Mein Bruder nickte ungeduldig. »Aber er meinte, es forme auch den Charakter. Und er sagte, dass die Penn State mit ihren Spielern wirklich gut aufgestellt ist. Und er hat dich erwähnt.«
Mein Vater sagte: »Hey! Wenn das mal nichts ist!«
Mein Bruder sagte: »Echt?«
Ich sagte: »Ja. Ich habe mit ihm geredet.«
Mein Bruder sagte: »Wann hast du mit ihm geredet?«
Ich sagte: »Vor ein paar Wochen.«
Dann hielt ich inne, weil mir auf einmal auch der ganze Rest wieder einfiel. Dass ich den Mann nachts im Park getroffen hatte. Dass ich ihm eine Zigarette gegeben hatte. Dass er versucht hatte, mich anzubaggern … Ich saß einfach nur da und hoffte, dass es vorüberging. Tat es aber nicht.
»Wo hast du ihn denn getroffen, Schatz?«, fragte meine Mutter.
Es wurde so leise im Zimmer, dass man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Ich spielte, so gut es eben ging, mich selbst, wenn mir gerade etwas nicht einfallen will, und das hier spielte sich dabei bei mir im Kopf ab:
Er kam in die Schule, um mit den Schülern zu reden … Nein, meine Schwester wüsste, dass das gelogen ist … Ich habe ihn im Big Boy getroffen … Er war mit seiner Familie da … Nein, mein Vater würde schimpfen, weil ich den »armen Mann« belästigt habe … Es war im Fernsehen … Aber ich habe gesagt, dass ich mit ihm geredet habe … Hey, Moment …
»Im Park. Ich war mit Patrick unterwegs«, sagte ich.
»Im Park? War er mit seiner Familie da?«, fragte mein Vater. »Hast du den armen Mann belästigt?«
»Nein. Er war alleine.«
Das reichte meinem Vater und den anderen auch, und ich musste nicht einmal lügen. Und glücklicherweise wurde die Aufmerksamkeit dann von mir abgelenkt, weil meine Mutter das sagte, was sie am liebsten sagt, wenn wir alle zusammensitzen und etwas feiern:
»Also, wer will jetzt ein Eis?«
Jeder wollte ein Eis, außer meine Schwester. Ich vermute, sie machte sich Sorgen wegen der »üblichen fünfzehn«.
Am nächsten Morgen standen wir ziemlich früh auf. Ich hatte immer noch nichts von Patrick oder Sam oder irgendjemand anderem gehört, aber ich wusste, dass ich sie bei der Abschlussfeier treffen würde, also versuchte ich, mir nicht allzu viele Sorgen zu machen. Gegen zehn Uhr kamen alle meine Verwandten, auch Dads Familie aus Ohio, bei uns an. Ich sollte erwähnen, dass sich die beiden Familien nicht sonderlich mögen – außer wir Jüngeren, weil wir es nicht besser wissen.
Es gab einen großen Brunch mit Sekt, und genau wie letztes Jahr bei der Feier für meinen Bruder schenkte meine Mutter ihrem Vater (meinem Großvater) statt Sekt nur verdünnten Apfelsaft ein, weil sie nicht wollte, dass er sich betrank und eine Szene machte. Und genau wie letztes Jahr sagte mein Großvater:
»Was für ein guter Tropfen!«
Ich glaube aber nicht, dass er den Unterschied bemerkt, weil er für gewöhnlich Bier trinkt – manchmal auch Whiskey.
Gegen halb eins waren wir mit dem Essen fertig. Meine Cousins übernahmen das Fahren, weil die Erwachsenen etwas zu betrunken waren. Außer Dad – er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, alles mit der Kamera zu filmen, die er sich ausgeliehen hatte.
»Wieso eine Kamera kaufen, wenn man sie nur dreimal im Jahr braucht?«
Also mussten meine Schwester, mein Bruder, mein Vater, meine Mutter und ich alle in verschiedenen Autos mitfahren, damit niemand verloren ging. Ich fuhr mit meinen Cousins aus Ohio, die sich prompt einen Joint ansteckten und rumgehen ließen. Ich rauchte nicht mit, weil ich nicht in der Stimmung dazu war, und sie sagten, was sie immer zu mir sagen:
»Charlie, du bist so ein Jammerlappen.«
Dann parkten alle auf dem Parkplatz vor der Schule, und wir stiegen aus. Und meine Schwester schrie meinen Cousin Mike an, weil er während der Fahrt das Fenster aufgemacht und ihr die Frisur ruiniert hatte.
»Ich habe doch nur ’ne Zigarette geraucht.«
»Konntest du nicht zehn Minuten warten, verdammt noch mal?«
»Das Lied war aber gerade so toll.«
Während mein Vater die Kamera aus dem Kofferraum holte und mein Bruder sich mit ein paar älteren Mädchen unterhielt, die »gut aussahen«, schnappte sich meine Schwester die Handtasche meiner Mutter. Das Tolle an Moms Handtasche ist, dass sie immer alles dabeihat – ganz egal, was man gerade braucht. Als ich klein war, nannte ich sie das »Erste-Hilfe-Set«. Ich kapiere immer noch nicht, wie sie das hinkriegt.
Nachdem sie sich »hübsch gemacht« hatte, folgte meine Schwester dem Zug der schwarzen Hüte auf den Sportplatz, während wir anderen auf die Tribüne stiegen. Ich setzte mich zwischen meine Mutter und meinen Bruder, weil mein Vater irgendwo unterwegs war, um einen besseren Winkel für die Kamera zu finden. Und meine Mutter zischte immer wieder meinen Großvater an, der die ganze Zeit davon redete, wie viele Schwarze doch auf dieser Schule waren.
Er wollte aber keine Ruhe geben, also erzählte sie ihm die Geschichte von dem Sportmoderator, der meinen Bruder erwähnt hatte. Das führte dazu, dass mein Großvater meinen Bruder zu sich rief, um sich mit ihm darüber zu unterhalten, was geschickt von meiner Mutter war, denn mein Bruder ist als Einziger in der Lage, meinen Großvater daran zu hindern, eine Szene zu machen, weil er nämlich sehr direkt sein kann. Und genau so kam es dann auch:
»Mein Gott. Schaut euch mal die Tribüne an. Wie viele Schwarze …«
»Okay, Opa. Jetzt pass mal auf. Wenn du uns noch einmal in Verlegenheit bringst, fahre ich dich zurück ins Heim, und du verpaßt, wie deine Enkelin ihre Rede hält.« Mein Bruder kann wirklich ganz schön hart sein.
»Dann verpasst du aber auch die Rede, großer Mann.« Mein Großvater kann ebenfalls ganz schön hart sein.
»Schon, aber Dad nimmt alles auf Video auf. Und ich kann dafür sorgen, dass ich das Video zu sehen kriege und du nicht. Also?«
Mein Großvater hat ein echt seltsames Lächeln – besonders, wenn jemand anders gewinnt. Er fing einfach an, über Football zu reden, und machte dabei nicht einmal eine Bemerkung darüber, dass mein Bruder mit Schwarzen zusammen in einem Team spielte. Ich kann Dir nicht sagen, wie schlimm es letztes Jahr war, als mein Bruder dort unten auf dem Sportplatz war und nicht auf der Tribüne, wo er Großvater in Schach halten konnte.
Während sie sich also über Football unterhielten, hielt ich nach Patrick und Sam Ausschau, doch ich sah nichts außer schwarzen Hüten. Als die Musik einsetzte, begannen die Hüte in Richtung der Klappstühle zu marschieren, die auf dem Platz aufgestellt waren. Und da entdeckte ich dann endlich Patrick. Und hinter ihm Sam. Und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich konnte nicht richtig erkennen, ob Sam fröhlich oder traurig war, aber es reichte schon, zu wissen, dass sie da war.
Als alle Platz genommen hatten, hörte die Musik auf zu spielen und Mr. Small stand auf. Und er ging ans Mikrofon und hielt eine Rede darüber, was für ein wunderbarer Jahrgang dies gewesen sei und was die Schule erreicht hatte und wie viel Unterstützung sie beim diesjährigen Kuchenverkauf bräuchten, um neue Computer anzuschaffen. Und dann stellte er die Vorsitzende der Schülervertretung vor, die auch eine Rede hielt. Ich habe keine Ahnung, was Schülervertreter so machen, aber das Mädchen hielt eine ziemlich gute Rede.
Und dann waren die fünf besten Absolventen dran, auch eine Rede zu halten. Das ist so Tradition an unserer Schule. Meine Schwester war die Zweitbeste des Jahrgangs, also hielt sie die vorletzte Rede. Die Abschlussrede hält der oder die Beste. Und danach teilen Mr. Small und der Konrektor (Patrick schwört, dass er schwul ist) die Zeugnisse aus.
Die ersten drei Reden waren sich ziemlich ähnlich. Sie drehten sich alle um Zitate aus Popsongs, die etwas mit der Zukunft zu tun hatten. Und die ganze Zeit über konnte ich Moms Hände sehen, wie sie sich immer mehr verkrampften.
Dann, als der Name meiner Schwester aufgerufen wurde, brach meine Mutter in Beifall aus. Und tatsächlich: Es war wirklich toll, meine Schwester auf das Podium treten zu sehen, denn mein Bruder war in seinem Jahrgang der 223ste oder so gewesen und hatte keine Rede halten dürfen. Und vielleicht war ich ja voreingenommen – aber als meine Schwester einen Popsong zitierte und über die Zukunft sprach, war das auch toll. Und meine Mutter weinte leise und war richtig aufgelöst, also nahmen mein Bruder und ich sie bei den Händen. Sie sah uns an und lächelte und weinte noch mehr. Da legten wir beide den Kopf auf ihre Schultern, woraufhin sie noch mehr weinte – oder vielleicht erst richtig weinen konnte, ich bin mir nicht sicher. Jedenfalls drückte sie unsere Hände und sagte »Meine Jungs« und weinte noch mehr. Ich habe meine Mutter so lieb, und ich glaube, zu meinem nächsten Geburtstag werde ich ihr etwas schenken. Ich finde, das sollte so üblich sein: Das Geburtstagskind kriegt nicht nur von allen Geschenke, sondern es schenkt seiner Mutter auch etwas, weil sie damals schließlich dabei war. Das fände ich schön.
Als meine Schwester mit ihrer Rede fertig war, klatschten und jubelten wir alle, aber niemand klatschte und jubelte lauter als mein Großvater. Niemand.
An die Abschlussrede erinnere ich mich nicht mehr, außer dass die Rednerin statt eines Popsongs Henry David Thoreau zitierte.
Dann kam Mr. Small wieder nach vorne und bat das Publikum, von weiterem Applaus abzusehen, bis alle Namen verlesen und alle Zeugnisse überreicht waren. Ich sollte erwähnen, dass das schon letztes Jahr nicht funktioniert hatte.
Also sah ich zu, wie meine Schwester ihr Zeugnis bekam und meine Mutter wieder weinen musste. Und dann sah ich Mary Elizabeth. Und Alice. Und ich sah Patrick. Und Sam. Es war ein toller Tag. Selbst als ich Brad sah – irgendwie schien es in Ordnung zu sein.
Mein Großvater war der Erste, der meine Schwester in die Arme schloss, als wir uns auf dem Parkplatz wiedertrafen. Ich glaube, er ist auf seine Art wirklich stolz auf uns. Alle sagten meiner Schwester, wie »brillant« ihre Rede gewesen sei, auch wenn das gar nicht stimmte, und dann kam mein Vater auf uns zu, die Kamera hoch erhoben, und niemand umarmte meine Schwester länger als er. Dann sah ich mich nach Sam und Patrick um, konnte sie aber nirgends entdecken.
Auf dem Rückweg steckten sich meine Cousins aus Ohio noch einen Joint an, und diesmal nahm ich einen Zug, aber sie nannten mich immer noch einen Jammerlappen. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht machen Cousins aus Ohio das einfach – das, und Witze erzählen.
»Was steht in West Virginia, hat zweiunddreißig Beine und nur einen Zahn?«
»Was denn?«
»Die Schlange vorm Arbeitsamt.«
So in der Art.
Als wir zu Hause ankamen, machten sich meine Cousins gleich über die Bar her, denn Abschlussfeiern scheinen der eine Anlass im Jahr zu sein, zu dem jeder trinken darf, so viel er will. Zumindest war es auch letztes Jahr schon so. Ich frage mich wirklich, wie meine Abschlussfeier einmal sein wird. Sie scheint noch so weit weg.
Die erste Stunde der Party brachte meine Schwester damit zu, Geschenke auszupacken, und ihr Lächeln wurde mit jedem Scheck, Pullover oder Fünfzig-Dollar-Schein breiter. Niemand in unserer Familie ist reich, aber offenbar legt sich jeder für solche Gelegenheiten genug Geld zurück, dass wir einen Tag lang so tun können, als ob.
Die Einzigen, die meiner Schwester kein Geld oder einen Pullover schenkten, waren mein Bruder und ich. Mein Bruder versprach, mit ihr einen ganzen Tag lang Sachen fürs College kaufen zu gehen, Seife und so etwas, und dafür zu bezahlen. Und ich schenkte ihr ein kleines buntes Steinhaus, das in England handgefertigt worden war, und erklärte ihr, dass ich ihr etwas schenken wollte, womit sie sich immer wie zu Hause fühlt – selbst wenn sie nicht zu Hause war. Meine Schwester küsste mich dafür auf die Wange.
Aber der beste Moment der Party war der, als meine Mutter zu mir kam und sagte, da wäre ein Anruf für mich. Ich ging ans Telefon.
»Hallo.«
»Charlie?«
»Sam!«
»Wann kommst du vorbei?«
»Jetzt!«
Da knurrte mein Vater, der gerade einen Whiskey Sour trank: »Du gehst nirgendwo hin, solange deine Verwandten noch hier sind. Hast du verstanden?«
»Hey, Sam … Ich muss noch warten, bis meine Verwandten gehen.«
»Okay. Wir sind bis um sieben hier. Dann rufen wir dich an, wo wir hingehen.« Sam klang wirklich glücklich.
»Okay, Sam. Herzlichen Glückwunsch!«
»Danke, Charlie. Bis später.«
»Bis später.«
Ich legte auf.
Ich schwöre, ich dachte, meine Verwandten würden nie gehen. Jede Geschichte, die sie erzählten. Jedes Würstchen im Schlafrock, das sie aßen. Jedes Foto, das sie sich ansahen. Jedes »Als du noch so groß warst«, das sie mir sagten … Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Nicht, dass mir die Geschichten etwas ausgemacht hätten, das taten sie nicht, und die Würstchen im Schlafrock waren auch ziemlich gut. Aber ich wollte Sam sehen.
Gegen halb zehn waren endlich alle satt und einigermaßen nüchtern. Um viertel vor zehn waren die Umarmungen vorbei. Und um zehn vor zehn war die Einfahrt wieder frei. Mein Vater gab mir zwanzig Dollar und die Schlüssel zu seinem Wagen und sagte: »Danke fürs Dableiben, Champ. Es hat mir und der Familie viel bedeutet. « Er war etwas betrunken, meinte es aber trotzdem genau so, wie er es sagte. Sam hatte mir Bescheid gegeben, dass sie jetzt in einem Club in Downtown waren. Also packte ich die ganzen Geschenke in den Kofferraum, stieg ein und fuhr los.
Nachts durch den Tunnel nach Downtown zu fahren, hat etwas Überwältigendes. Man fährt auf der einen Seite des Bergs los, und es ist dunkel, und das Radio ist laut. Dann ist man im Tunnel, und der Wind ist auf einen Schlag weg, und die hellen Lichter blenden einen. Sobald man sich daran gewöhnt hat, kann man in der Ferne die andere Seite sehen, während das Radio immer leiser wird, weil die Wellen nicht so weit kommen, bis es schließlich ganz ausgeht. Dann ist man in der Mitte des Tunnels, und alles wird zu einem ruhigen Traum. Und wenn man den Ausgang näher kommen sieht, kann man ihn gar nicht schnell genug erreichen. Und dann, wenn man schon glaubt, dass man nie dort ankommen wird, sieht man den Ausgang endlich direkt vor sich. Und das Radio kommt noch lauter zurück, als man es in Erinnerung hatte. Und der Wind wartet auf einen. Und man fliegt aus dem Tunnel heraus auf die Brücke. Und da ist es dann: Downtown. Eine Million Lichter und Hochhäuser, und alles sieht genauso aufregend aus wie beim ersten Mal, als man es gesehen hat. Es ist ein wirklich großer Auftritt.
Nach etwa einer halben Stunde Herumsuchen im Club fand ich endlich Mary Elizabeth und Peter. Sie tranken beide Scotch, den Peter gekauft hatte, weil er älter ist und einen Stempel auf der Hand hatte. Ich gratulierte Mary Elizabeth und fragte sie nach den anderen. Sie sagte, Alice sei auf der Damentoilette kiffen, und Sam und Patrick seien irgendwo auf der Tanzfläche. Sie sagte, ich solle mich einfach setzen und warten, bis sie wiederkamen, weil sie nicht wusste, wo genau sie gerade steckten. Also setzte ich mich und hörte zu, wie Peter mit Mary Elizabeth über die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten diskutierte. Und wieder schien die Zeit stehen zu bleiben, und ich wollte doch endlich Sam sehen.
Nach drei Liedern oder so kamen Sam und Patrick schweißgebadet zu uns.
»Charlie!«
Ich stand auf, und wir umarmten uns, als hätten wir uns monatelang nicht gesehen. In Anbetracht dessen, was so alles passiert war, leuchtet das, glaube ich, durchaus ein. Dann legte sich Patrick auf Peter und Mary Elizabeth, als ob sie ein Sofa wären, nahm Mary Elizabeth das Glas aus der Hand und trank es aus. »Hey, du Arschloch!«, rief sie. Ich glaube, Patrick war betrunken, obwohl er ja eigentlich nicht mehr trinkt, aber er bringt so etwas auch nüchtern fertig, also war es ganz egal.
Da nahm mich Sam bei der Hand. »Ich liebe diesen Song!«
Und sie führte mich zur Tanzfläche. Und wir tanzten. Es war ein ziemlich schneller Song, von daher war ich nicht gerade toll, aber das schien ihr nichts auszumachen. Wir tanzten einfach, und das war genug. Als der schnelle Song vorbei war, kam ein langsamerer. Sam sah mich an. Ich sah sie an. Dann nahm sie meine Hände und zog mich an sich. Ich tanze auch langsam nicht gerade toll, aber ich kann mich ganz gut hin und her wiegen.
Sams Flüstern roch nach Wodka und Cranberrysaft.
»Ich habe heute auf dem Parkplatz nach dir gesucht.«
Ich hoffte, mein Flüstern roch immer noch nach Zahnpasta.
»Ich habe auch nach dir gesucht.«
Dann blieben wir den Rest des Songs über still. Sie hielt mich ein bisschen fester. Ich hielt sie ein bisschen fester. Und wir tanzten. Von allen Momenten an diesem langen Tag war es der, an dem ich mir wirklich wünschte, die Zeit würde stehen bleiben.
Irgendwann später fuhren wir alle zu Peter, und ich überreichte meine Abschiedsgeschenke. Alice schenkte ich ein Buch über Die Nacht der lebenden Toten, worüber sie sich sehr freute, und Mary Elizabeth schenkte ich Mein Leben als Hund auf Video (mit Untertiteln), worüber sie sich auch sehr freute.
Dann gab ich Patrick und Sam ihre Geschenke. Ich hatte sie sogar eingepackt – mit der Cartoonseite aus der Sonntagszeitung, weil die farbig ist. Patrick riss das Papier auseinander, Sam zupfte nur die Klebestreifen ab. Dann sahen sie nach, was in den Paketen war.
Ich schenkte Patrick »Unterwegs«, »Naked Lunch«, »Der Fremde«, »Diesseits vom Paradies«, »Peter Pan« und »Ein anderer Frieden«.
Ich schenkte Sam »Wer die Nachtigall stört«, »Der Fänger im Roggen«, »Der große Gatsby«, »Hamlet«, »Walden« und »Der ewige Quell«.
Und unter den Büchern lag jeweils eine Karte, die ich mit Sams Schreibmaschine getippt hatte. Auf den Karten stand, dass dies alle meine Lieblingsbücher waren und ich wollte, dass Sam und Patrick sie bekamen, weil sie mir die liebsten Menschen auf der ganzen Welt waren.
Als sie die Karten gelesen hatten, sahen sie mich an. Niemand lächelte oder weinte oder tat sonst etwas. Wir sahen einander einfach nur an. Sie wussten, dass die Karten wirklich so gemeint waren. Und ich wusste, dass es ihnen viel bedeutete.
»Was steht auf den Karten?«, fragte Mary Elizabeth.
»Macht es dir was aus, Charlie?«, fragte Patrick.
Ich schüttelte den Kopf, und sie lasen die Karten vor, während ich mir Rotwein in meine Kaffeetasse füllen ging.
Als ich zurückkam, sahen sie mich wieder alle an, und ich sagte: »Ich werde euch alle sehr vermissen. Ich hoffe, ihr habt viel Spaß am College.« Und dann musste ich weinen, weil mir auf einmal bewusst wurde, dass sie wirklich fortgingen. Peter findet mich jetzt, glaube ich, ein wenig seltsam. Jedenfalls stand Sam auf und brachte mich in die Küche, und auf dem Weg dorthin sagte sie mir, dass alles gut werden würde. Da beruhigte ich mich etwas.
»Du weißt, dass ich in einer Woche weggehe, Charlie?«, sagte Sam.
»Ja. Weiß ich.«
»Fang bitte nicht wieder an zu weinen.«
»Okay.«
»Ich will, dass du mir zuhörst.«
»Okay.«
»Weißt du, ich habe wirklich Angst, am College ganz allein zu sein.«
»Echt?« Der Gedanke war mir noch gar nicht gekommen.
»Genau wie du Angst hast, hier ganz allein zu sein.«
Ich nickte.
»Also schlage ich dir Folgendes vor: Wenn mir am College alles zu viel wird, rufe ich dich an, und wenn dir hier alles zu viel wird, rufst du mich an.«
»Können wir uns Briefe schreiben?«
»Natürlich.«
Da musste ich wieder weinen. Manchmal spielen meine Gefühle einfach verrückt. Aber Sam blieb ganz ruhig.
»Ende des Sommers bin ich wieder da, Charlie. Aber bevor wir uns den Kopf über die Zukunft zerbrechen, lass uns einfach diese letzte gemeinsame Woche genießen. Wir alle zusammen. Okay?«
Ich nickte. Und beruhigte mich.
Den Rest des Abends verbrachten wir mit Trinken und Musik hören, so wie immer, nur waren wir jetzt bei Peter, und eigentlich war es dort besser als bei Craig, weil Peter die bessere CD-Sammlung hat. Und um ein Uhr morgens fiel es mir dann plötzlich ein.
»Mein Gott!«
»Was ist denn, Charlie?«
»Ich habe morgen Schule!«
Ich glaube, die anderen hätten kaum lauter lachen können.
Peter nahm mich mit in die Küche und kochte mir Kaffee, damit ich etwas nüchterner wurde und heimfahren konnte. Ich trank etwa acht Tassen, und nach gut zwanzig Minuten war ich startklar. Das Problem war nur, dass ich zu Hause so wach vom vielen Kaffee war, dass ich nicht einschlafen konnte. Und in der Schule fühlte ich mich dann, als ob ich sterben müsste. Zum Glück waren alle Arbeiten schon geschrieben, und wir taten den ganzen Tag nichts anderes, als Filme sehen. Da habe ich dann richtig gut geschlafen, und ich war auch ganz froh darüber, denn die Schule ist ohne meine Freunde nicht mehr diesselbe.
Heute war es anders, weil ich heute im Unterricht nicht geschlafen und Sam und Patrick gestern auch nicht gesehen habe – sie waren mit ihren Eltern groß essen. Mein Bruder hatte ein Date mit einem der Mädchen, die bei der Abschlussfeier »gut aussahen«, und meine Schwester war mit ihrem Freund beschäftigt. Und Mom und Dad waren immer noch müde von der Familienzusammenkunft.
Nachdem wir heute unsere Bücher abgegeben hatten, ließ fast jeder Lehrer die Schüler nur noch rumsitzen und quatschen. Ich kannte so gut wie niemanden mehr, außer vielleicht Susan, aber seit unserer letzten Begegnung geht sie mir noch mehr aus dem Weg. Also habe ich nicht gerade viel geredet. Die einzige gute Stunde war die bei Bill, weil ich da mit Bill reden konnte. Es fiel mir ziemlich schwer, mich danach von ihm zu verabschieden, aber er sagte, es sei ja nicht für immer und ich könne ihn den ganzen Sommer über anrufen, wenn ich reden oder mir ein Buch leihen wollte, und da ging es mir schon etwas besser.
Dieser Junge mit den krummen Zähnen namens Leonard nannte mich nach Bills Stunde draußen »Strebersau«, aber das machte mir nichts aus, weil er nicht verstanden hat, worum es eigentlich geht.
Mein Mittagessen aß ich draußen auf der Bank, wo wir immer geraucht hatten. Danach steckte ich mir eine Zigarette an, und irgendwie hoffte ich, dass jemand eine von mir haben wollte, aber niemand kam.
Nach der letzten Stunde dann waren alle guter Laune und schmiedeten gemeinsame Pläne für den Sommer. Und alle räumten ihre Spinde aus, indem sie die alten Unterlagen und Zettel und Bücher einfach auf den Boden warfen. Als ich an meinen Spind trat, bemerkte ich diesen dünnen Jungen, der das ganze Jahr über seinen Spind neben meinem gehabt hatte. Ich hatte mich nie wirklich mit ihm unterhalten.
Also räusperte ich mich und sagte: »Hey, ich bin Charlie.«
Und alles, was er sagte, war: »Ich weiß.«
Dann schloss er seinen Spind und ließ mich stehen.
Und so machte ich meinen Spind auf, packte meine ganzen Sachen in den Rucksack und lief über alte Bücher und Unterlagen und Zettel nach draußen. Dann stieg ich in den Schulbus. Und jetzt schreibe ich Dir diesen Brief.
Eigentlich bin ich wirklich froh, dass das Schuljahr vorbei ist, und ich möchte noch viel Zeit mit allen verbringen, ehe sie weggehen. Besonders mit Sam.
Übrigens habe ich tatsächlich durchgehend Einser gekriegt. Mom war ziemlich stolz und hat mein Zeugnis an den Kühlschrank gehängt.
Alles Liebe,
Charlie
22. Juni 1992
Lieber Freund,
Sams letzter Abend hier hat die ganze Woche wie einen Traum erscheinen lassen. Sie war völlig durch den Wind, weil sie nicht nur Zeit mit uns verbringen wollte, sondern auch alles für die Abreise vorbereiten musste. Sachen kaufen, Sachen packen …
Immer, wenn wir uns abends trafen, hatte sie sich gerade von einem Onkel verabschiedet oder war mit ihrer Mutter essen oder irgendwelche Sachen fürs College kaufen gewesen. Sie hatte Angst vor dem Abschied – und erst, wenn sie einen Schluck oder einen Zug von was immer wir gerade tranken oder rauchten genommen hatte, beruhigte sie sich und war wieder die Alte.
Was ihr aber wirklich durch die Woche geholfen hat, war ihr Essen mit Craig. Sie wollte ihn treffen, um eine Art »Abschluss« zu haben, und ich glaube, sie hat ihn auch bekommen, weil Craig den Anstand hatte, ihr zu sagen, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, ihn zu verlassen. Und dass sie etwas Besonderes war. Und dass es ihm leid tat und er ihr alles Gute wünschte. Es ist schon komisch, welchen Zeitpunkt sich die Leute manchmal aussuchen, nett zu einem zu sein.
Sam sagte, sie hätte ihn nicht danach gefragt, ob er mittlerweile mit anderen Mädchen ausging, obwohl sie es eigentlich wissen wollte, und das hat mich gefreut. Sie war nicht verbittert. Sie war traurig. Aber auf eine hoffnungsvolle Art – die Art, die einfach etwas Zeit braucht.
An ihrem letzten Abend dann waren wir alle bei ihr und Patrick: Bob, Alice, Mary Elizabeth (ohne Peter) und ich. Wir saßen auf dem Teppich im »Spielezimmer« und schwelgten in Erinnerungen.
Weißt du noch die Show, als Patrick das gemacht hat … Oder als Bob das gemacht hat … Oder Charlie … Oder Mary Elizabeth … Oder Alice … Oder Sam …
Die Insiderwitze waren keine Witze mehr – sie waren zu Geschichten geworden. Niemand erwähnte die schlechten Dinge. Und niemand war traurig – wir verdrängten das Morgen mit unseren Erinnerungen an das Gestern.
Nach einer Weile gingen Mary Elizabeth und Bob und Alice nach Hause und sagten, sie kämen morgen noch einmal vorbei, um sich von Sam zu verabschieden. Also blieben noch Patrick, Sam und ich. Wir saßen einfach nur da. Wir redeten nicht viel. Bis wir schließlich unser eigenes Weißt-du-noch starteten.
Weißt du noch, wie Charlie beim Footballspiel das erste Mal zu uns kam? Und weißt du noch, wie Charlie beim Homecoming-Ball die Luft aus Daves Reifen ließ … Und weißt du noch das Gedicht … Und das Mixtape … Und Punk Rocky in Farbe … Und wie wir uns grenzenlos fühlten …
Als ich das sagte, wurden wir alle auf einmal still und traurig. Und in dieser Stille erinnerte ich mich an einen Moment, von dem ich nie jemandem erzählt hatte: Wir gingen gerade irgendwohin, nur wir drei, und ich in der Mitte. Ich weiß nicht mehr, wohin wir gingen und woher wir kamen. Ich erinnere mich nicht einmal mehr an die Jahreszeit. Ich weiß nur noch, dass ich zwischen ihnen herlief und zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl hatte, dazuzugehören.
Nach einer Weile stand Patrick auf.
»Leute, ich bin müde. Gute Nacht!«
Er strich uns beiden durchs Haar und ging hoch auf sein Zimmer. Und Sam sah mich an.
»Ich muss noch ein paar Sachen packen, Charlie. Willst du noch ein bisschen bleiben?«
Ich nickte.
Als wir in ihrem Zimmer standen, fiel mir auf, wie sehr es sich verändert hatte seit dem Abend, an dem sie mich dort geküsst hatte. Die Bilder waren abgehängt und die Schränke leer geräumt, und alles lag in einem großen Haufen auf dem Bett. Ich nahm mir vor, nicht zu weinen, egal, was passierte, denn ich wollte Sam nicht noch mehr Angst vor dem Abschied machen, als sie ohnehin schon hatte.
Also sah ich ihr einfach beim Packen zu und versuchte, mir so viele Details wie möglich zu merken. Ihr langes Haar. Und ihre dünnen Handgelenke. Und ihre grünen Augen. Ich wollte mich später an alles erinnern. Vor allem an den Klang ihrer Stimme.
Sam redete viel, um sich abzulenken. Was für eine lange Fahrt ihnen morgen bevorstand, und dass ihre Eltern einen Van gemietet hatten. Wie die Kurse sein würden, und für welches Hauptfach sie sich entscheiden sollte. Dass sie keiner Verbindung beitreten wolle, sich aber auf die Footballspiele freute … Und dabei wurde sie immer trauriger. Und schließlich sah sie mich an.
»Wieso hast du mich nicht auf ein Date eingeladen, als die Sache mit Craig passiert ist?«
Ich saß nur da. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie sagte das alles ganz sanft.
»Nach der Sache mit Mary Elizabeth auf der Party, und wie wir im Club getanzt haben und allem …«
Ehrlich, ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kapierte gar nichts mehr.
»Okay, Charlie, ich versuche, es dir leicht zu machen. Als die Sache mit Craig passiert ist, was hast du da gedacht? «
Ich überlegte kurz, dann sagte ich: »Na ja … ich habe eine Menge gedacht. Vor allem dachte ich, dass es mir wichtiger ist, dass es dir wieder gut geht, als dass Craig nicht mehr dein Freund ist. Und wenn das bedeutet, nie auf die Art an dich zu denken, ist das schon okay, fand ich, solange es dir wieder gut geht. Und da ist mit klar geworden, dass ich dich wirklich liebe.«
Sam setzte sich zu mir auf den Boden. Sie sprach immer noch ganz leise.
»Aber kapierst du denn nicht, Charlie? Ich kann das nicht fühlen. Es ist süß und alles, aber manchmal kommt es mir vor, als ob du gar nicht wirklich da wärst. Es ist toll, dass du den Leuten zuhörst und für sie eine Schulter zum Ausweinen bist, aber was, wenn jemand gerade keine Schulter braucht? Was, wenn jemand deine Arme braucht? Du kannst nicht einfach nur dasitzen und immer zuerst an die anderen denken und das dann für Liebe halten. Das kannst du einfach nicht. Du musst auch was tun.«
»Was denn?« Mein Mund war ganz trocken.
»Ich weiß nicht. Vielleicht ihre Hand nehmen, wenn der langsame Song beginnt. Oder der sein, der sie auf ein Date einlädt. Oder den Leuten sagen, wie es dir geht oder was du eigentlich willst. Auf der Tanzfläche zum Beispiel, wolltest du mich da küssen?«
»Ja.«
»Warum hast du’s dann nicht?«
»Ich dachte, du willst das nicht.«
»Warum dachtest du das?«
»Wegen dem, was du gesagt hast.«
»Was ich vor neun Monaten gesagt habe? Dass du nicht auf die Art an mich denken sollst?«
Ich nickte.
»Charlie, ich habe auch gesagt, du sollst Mary Elizabeth nicht sagen, dass sie hübsch ist. Und dass du ihr viele Fragen stellen und sie nicht unterbrechen sollst. Jetzt ist sie mit jemandem zusammen, der genau das Gegenteil tut. Und es funktioniert – weil Peter eben einfach so ist. Er ist er selbst. Und er tut etwas.«
»Aber ich mochte Mary Elizabeth doch nicht.«
»Darum geht es nicht. Es geht darum, dass du dich nicht anders verhalten hättest, selbst wenn du Mary Elizabeth gemocht hättest. Du bringst es fertig, Patrick zu Hilfe zu kommen und zwei Typen zu verprügeln, die ihm wehtun wollen. Aber was, wenn Patrick sich selbst wehtut? Wie damals, als ihr beiden im Park wart? Oder als er dich geküsst hat? Wolltest du denn, dass er dich küsst?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum hast du ihn dann gelassen?«
»Ich habe nur versucht, ein Freund zu sein.«
»Das warst du aber nicht, Charlie. In diesen Momenten warst du ganz und gar nicht sein Freund. Weil du nicht ehrlich zu ihm warst.«
Ich saß ganz still. Ich sah den Boden an. Ich sagte nichts. Es war richtig unangenehm.
»Und genau deshalb habe ich dir vor neun Monaten gesagt, dass du nicht auf die Art an mich denken sollst. Nicht wegen Craig. Nicht, weil ich dich nicht toll fand. Sondern weil ich einfach nicht nur der Schwarm von jemandem sein will. Wenn jemand mich mag, dann will ich, dass er die mag, die ich wirklich bin – nicht die, für die er mich hält. Und ich will nicht, dass er es nur in seinem Inneren mit sich herumträgt. Ich will, dass er es mir zeigt, so dass ich es auch fühlen kann. Ich will, dass er in meiner Gegenwart alles tun kann, was er tun will. Und wenn er etwas tut, was ich nicht will, dann werde ich es ihm schon sagen. «
Sam weinte jetzt ein wenig. Sie war aber nicht traurig.
»Du weißt, ich habe Craig vorgeworfen, dass er mich nichts hat machen lassen. Weißt du auch, wie dumm ich mir jetzt deshalb vorkomme? Vielleicht hat er mich nicht gerade dazu ermutigt, was zu machen, er hat mich aber auch nicht daran gehindert. Nach einer Weile habe ich aber gar nichts mehr gemacht, weil ich nicht wollte, dass er seine Meinung von mir ändert. Ich war nicht ehrlich zu ihm, verstehst du? Warum sollte es mir also etwas ausmachen, ob er mich geliebt hat oder nicht, wo er mich doch nicht einmal richtig gekannt hat?«
Ich sah zu ihr auf. Sie hatte aufgehört, zu weinen.
»Morgen gehe ich weg. Und ich lasse nicht zu, dass mir das noch einmal mit jemandem passiert. Ich tue, wozu ich Lust habe. Ich werde die sein, die ich wirklich bin. Und ich werde schon rauskriegen, wer das eigentlich ist … Jetzt aber bin ich hier bei dir. Und ich will wissen, wo du bist. Wie es dir geht. Und was du eigentlich willst.«
Sie wartete geduldig auf eine Antwort. Aber nach allem, was sie gesagt hatte, nahm ich an, dass ich einfach tun sollte, wozu ich Lust hatte. Nicht darüber nachdenken. Es gar nicht laut aussprechen. Und wenn sie es nicht wollte, konnte sie es ja einfach sagen – und wir würden mit dem Packen weitermachen.
Also küsste ich sie. Und sie küsste mich. Und dann legten wir uns auf den Boden und küssten uns weiter, ganz sanft. Wir machten leise Geräusche. Und hielten still. Und machten weiter. Irgendwann gingen wir rüber zum Bett und legten uns auf die ungepackten Sachen. Und wir berührten einander oberhalb der Hüfte auf unseren Kleidern. Und dann unter unseren Kleidern. Und dann ohne die Kleider. Und es war wunderschön. Und sie war wunderschön. Und sie nahm meine Hand und schob sie in ihre Hose. Und ich berührte sie. Und es war, als würde alles plötzlich einen Sinn ergeben … Bis sie ihre Hand in meine Hose schob und mich berührte.
Da hielt ich sie zurück.
»Was ist? Habe ich dir wehgetan?«
Ich schüttelte den Kopf. Nein, es fühlte sich sogar gut an. Ich wusste nicht, was war.
»Tut mir leid. Ich wollte nicht …«
»Nein. Es muss dir nicht leid tun.«
»Tut es aber.«
»Bitte, wirklich. Es war sehr schön.« Ich wurde fast wütend.
»Bist du noch nicht so weit?«
Ich nickte. Aber das war es nicht. Ich wusste nicht, was es war.
»Es ist okay, wenn du noch nicht so weit bist.« Sie war wirklich nett zu mir, und trotzdem fühlte ich mich einfach nur elend.
»Möchtest du heim?«
Ich habe wohl genickt, denn sie half mir, mich anzuziehen. Und dann zog sie ihre Bluse an. Und ich wollte mich dafür treten, dass ich mich wie ein kleines Kind verhielt. Weil ich Sam doch liebte. Und wir zusammen waren. Und ich machte es kaputt, machte es einfach kaputt. Es ging mir wirklich elend.
Schließlich brachte sie mich nach unten und fragte: »Soll ich dich fahren?«
Ich war mit Dads Wagen da. Ich war nicht betrunken. Aber sie sah wirklich besorgt aus.
»Nein, ist schon okay.«
»In diesem Zustand lasse ich dich nicht fahren.«
»Tut mir leid. Dann laufe ich.«
»Es ist zwei Uhr morgens. Komm, ich fahr dich heim.«
Sie ging die Autoschlüssel holen. Ich blieb an der Tür stehen. Ich fühlte mich, als würde ich sterben.
»Charlie, du bist ja so weiß wie die Wand. Willst du ein Glas Wasser?«
»Nein. Ich weiß nicht.« Ich musste weinen.
»Komm, leg dich einfach aufs Sofa.«
Sie legte mich aufs Sofa. Sie holte einen feuchten Lappen und tupfte mir damit die Stirn ab.
»Du kannst heute Nacht hierbleiben. Okay?«
»Okay.«
»Beruhige dich einfach. Atme tief durch.«
Das tat ich. Und kurz bevor ich einschlief, sagte ich noch etwas.
»Ich kann das einfach nicht mehr«, sagte ich.
»Ist okay, Charlie. Schlaf jetzt einfach«, sagte Sam, aber ich redete schon nicht mehr mit Sam. Ich redete mit jemand anderem.
Und dann schlief ich ein und hatte diesen Traum. Mein Bruder und meine Schwester und ich sahen mit Tante Helen fern. Alles war wie in Zeitlupe. Die Geräusche waren ganz zäh. Und Tante Helen machte das, was Sam gemacht hatte …
Da wachte ich auf. Und hatte nicht den leisesten Schimmer, was eigentlich los war. Sam und Patrick standen über mich gebeugt, und Patrick fragte mich, ob ich Frühstück wolle. Ich habe wohl genickt, denn wir gingen in die Küche. Sam sah immer noch besorgt aus. Patrick sah aus wie immer. Ihre Eltern waren da, und wir aßen Speck mit Eiern, und jeder machte Smalltalk. Ich weiß nicht, warum ich Dir von dem Speck mit Eiern erzähle. Es ist nicht wichtig, überhaupt nicht wichtig. Mary Elizabeth und die anderen kamen vorbei, und während Sams Mutter noch damit beschäftigt war, alles zweimal zu kontrollieren, gingen wir schon mal nach draußen. Sams und Patricks Eltern stiegen in den Van. Patrick setzte sich ans Steuer von Sams Pick-up und sagte, er werde uns ja dann in ein paar Tagen sehen. Dann umarmte Sam alle und verabschiedete sich. Da sie Ende des Sommers noch einmal für ein paar Tage kommen wollte, war es mehr ein »Bis bald« als ein Lebewohl.
Ich kam als Letzter dran. Sam ging zu mir und drückte mich. Und dann flüsterte sie mir ins Ohr und sagte viele wunderbare Sachen – dass es okay sei, dass ich letzte Nacht noch nicht so weit war, und dass sie mich vermissen würde und dass sie wolle, dass ich auf mich achtgab, während sie fort war.
»Du bist mein bester Freund«, war alles, was ich darauf erwidern konnte.
Sie lächelte und küsste mich auf die Wange, und für einen Moment schien es, als wäre das Schlimme von letzter Nacht verschwunden. Aber es fühlte sich trotzdem mehr wie ein Lebewohl als ein »Bis bald« an.
Die Sache war, dass ich gar nicht weinte. Ich wusste einfach nicht, was ich fühlen sollte.
Schließlich kletterte Sam in den Pick-up, und Patrick startete den Motor. Ein toller Song lief. Und alle lächelten. Auch ich. Aber ich war schon gar nicht mehr da.
Erst als ich die Autos nicht mehr sehen konnte, kam ich wieder zu mir – und begann mich wieder elend zu fühlen. Und diesmal war es noch schlimmer. Mary Elizabeth und die anderen weinten ein bisschen, und sie fragte mich, ob ich mit ins Big Boy wolle. Ich sagte, ich müsse nach Hause.
»Alles okay, Charlie?«, fragte Mary Elizabeth dann. Ich muss wohl wieder ziemlich schlecht ausgesehen haben.
»Es geht mir gut. Ich bin nur müde«, log ich. Dann stieg ich in Dads Wagen und fuhr los. Und ich konnte diese ganzen Songs im Radio hören – dabei war das Radio gar nicht an. Und als ich in der Einfahrt hielt, vergaß ich, den Motor abzustellen. Ich legte mich einfach auf das Sofa im Wohnzimmer. Und ich konnte diese ganzen Fernsehshows sehen – dabei war der Fernseher gar nicht an.
Ich habe keine Ahnung, was mit mir nicht stimmt. Es ist, als ob ich nichts anderes tun könnte, als diesen Unsinn zu schreiben, damit ich nicht auseinanderbreche. Sam ist fort. Und Patrick wird ein paar Tage lang nicht daheim sein. Und mit Mary Elizabeth oder sonst jemandem von meinen Freunden oder meinem Bruder oder sonst jemandem von meiner Familie kann ich einfach nicht reden. Außer mit meiner Tante Helen. Aber sie ist fort. Und wenn sie hier wäre, könnte ich mit ihr auch nicht reden – denn allmählich kommt es mir so vor, als ob das, was ich letzte Nacht von ihr geträumt habe, wirklich geschehen ist. Und die Fragen meines Psychiaters vielleicht doch nicht so seltsam waren.
Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll. Ich weiß, dass manche Menschen es viel schwerer haben. Ich weiß das, aber es bricht trotzdem über mich herein, und ich muss die ganze Zeit daran denken, dass der kleine Junge, der mit seiner Mutter Pommes in der Mall aß, eines Tages groß ist und meine Schwester schlägt. Ich gäbe alles, nicht daran zu denken. Ich weiß, dass ich wieder zu schnell denke und alles nur in meinem Kopf ist, so wie die Trance, es ist aber da, und es will nicht mehr weggehen. Ich sehe ihn einfach immerzu, und immerzu schlägt er meine Schwester, er hört einfach nicht auf, ich will aber, dass er aufhört, weil er es doch nicht so meint, aber er hört einfach nicht auf, und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll …
Es tut mir leid, aber ich kann nicht mehr weiterschreiben.
Trotzdem will ich Dir noch danken, dass Du einer dieser Menschen bist, die zuhören und verstehen und nicht versuchen, mit Leuten zu schlafen, auch wenn sie das könnten. Ich meine es wirklich so, und es tut mir leid, dass Du das alles hast mitmachen müssen, wo Du doch nicht einmal weißt, wer ich bin, und wir uns nie persönlich getroffen haben und ich Dir auch nicht sagen kann, wer ich bin, weil ich versprochen habe, all die kleinen Geheimnisse für mich zu behalten. Ich möchte nur nicht, dass Du denkst, ich hätte Deinen Namen einfach aus dem Telefonbuch – ich könnte es nicht ertragen, wenn Du das denkst. Bitte glaub mir also, wenn ich sage, dass es mir furchtbar ging, als Michael gestorben ist. Und dass ich in der Schule dieses Mädchen mit ihrer Freundin gesehen habe – sie hat mich gar nicht bemerkt, denn sie hat die ganze Zeit nur von Dir geredet. Und obwohl ich Dich nicht kannte, kam es mir so vor, als ob ich es doch täte – weil es nämlich so schien, als ob Du ein wirklich netter Mensch wärst. Ein Mensch, dem es nichts ausmacht, Briefe von irgendeinem Jungen zu bekommen. Ein Mensch, der versteht, wieso das besser ist als ein Tagebuch – weil so Verbundenheit entsteht, und außerdem können Tagebücher gefunden werden. Aber ich will nicht, dass Du Dir Gedanken wegen mir machst oder glaubst, Du würdest mich kennen, oder weiter Deine Zeit mit mir verschwendest. Es tut mir so leid, dass ich Deine Zeit verschwendet habe, denn Du bedeutest mir wirklich sehr viel, und ich hoffe, dass Du ein schönes Leben hast, weil ich finde, dass Du das verdienst. Und ich hoffe, Du findest das auch. Also – Lebwohl.
Alles Liebe,
Charlie