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7. November 1991

Lieber Freund,

heute war einer jener Tage, an denen es mir nichts ausmacht, zur Schule zu gehen, weil das Wetter so schön war. Wolken flogen über den Himmel, und die Luft fühlte sich an wie ein warmes Bad. Ich glaube nicht, dass ich mich je so sauber gefühlt habe. Als ich heimkam, musste ich für mein Taschengeld den Rasen mähen, aber auch das machte mir nichts aus. Ich lauschte einfach der Musik, atmete den Tag ein und erinnerte mich. Daran, wie es war, durch die Nachbarschaft zu schlendern und die Häuser und Gärten und bunten Bäume zu betrachten, und man gar nicht mehr brauchte.

Ich weiß nichts über Zen oder darüber, wie die Chinesen und Inder ihre Religion ausüben, aber eines der Mädchen von der Party – mit dem Tattoo und dem Bauchnabelpiercing – ist seit Juli Buddhistin. Sie redet über kaum etwas anderes, außer vielleicht darüber, wie teuer Zigaretten sind. Ich sehe sie manchmal in der Mittagspause, wenn sie mit Patrick und Sam eine raucht. Sie heißt Mary Elizabeth.

Das Tolle an Zen ist, hat mir Mary Elizabeth erklärt, dass es einen mit der ganzen Welt verbindet. Du bist Teil der Bäume und des Grases und der Hunde. So in etwa. Sie hat mir auch erklärt, wie ihr Tattoo das alles symbolisiert, aber das habe ich vergessen. Also denke ich einfach, dass Zen ein Tag wie heute ist, wenn man Teil der Luft ist und sich erinnert.

Eine Sache, an die ich mich erinnere, ist, dass die Kinder hier in der Nachbarschaft immer ein bestimmtes Spiel spielten. Einer hat einen Football oder so etwas, und die anderen versuchen, ihm den Ball abzunehmen. Dann rennt der Nächste mit dem Ball los, wer immer ihn gekriegt hat, und die anderen versuchen wieder, ihm den Ball abzunehmen. Das konnte stundenlang so gehen. Ich habe nie so ganz den Sinn dieses Spiels verstanden, aber mein Bruder war ganz verrückt danach. Allerdings machte ihm mit dem Ball rumzurennen nicht so viel Spaß wie jemandem nachzujagen. Die Kinder nannten das Spiel »Fang die Schwuchtel«. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, bis jetzt.

Patrick hat mir von sich und Brad erzählt, und jetzt verstehe ich, warum er nicht wütend auf Brad war, als der beim Ball mit einem Mädchen getanzt hat. Vor einigen Jahren waren Patrick und Brad gemeinsam mit den anderen beliebten Schülern auf einer Party gewesen. Tatsächlich war Patrick damals ziemlich beliebt – bis Sam ihm irgendwann zeigte, was gute Musik war.

Jedenfalls, auf dieser Party waren Patrick und Brad ziemlich betrunken. Wobei Brad laut Patrick sehr viel betrunkener tat, als er wirklich war. Sie hingen mit einem Mädchen namens Heather im Keller rum, und als Heather ins Bad ging, waren Brad und Patrick allein. Patrick meint, es war für sie beide unangenehm und aufregend zugleich.

»Du bist doch im Kurs von Mr. Brosnahan, oder?«

»Warst du eigentlich schon mal auf einer Pink-Floyd-Lasershow? «

»Bier auf Wein – das mag kein Schwein.«

Als ihnen der Smalltalk ausging, sahen sie sich einfach an. Und dann begannen sie rumzumachen, dort im Keller. Patrick sagt, es wäre gewesen, als hätte man ihnen die ganze Last der Welt von den Schultern genommen.

Am Montag darauf in der Schule aber sagte Brad nur immer wieder:

»Mann, war ich besoffen! Ich erinnere mich an überhaupt nichts mehr.«

Er sagte das jedem, der auf der Party gewesen war. Mehrmals, denselben Leuten. Und er sagte es auch Patrick. Niemand hatte gesehen, wie Patrick und Brad rumgemacht hatten, aber Brad bestand darauf, sich an nichts zu erinnern. Am folgenden Freitag gab es wieder eine Party. Und diesmal bekifften sich Patrick und Brad, wobei Brad laut Patrick sehr viel bekiffter tat, als er wirklich war. Und irgendwann machten sie wieder rum. Und montags in der Schule sagte Brad wieder genau das Gleiche:

»Mann, war ich dicht. Ich erinnere mich an gar nichts mehr.«

So ging das sieben Monate lang.

Es ging so weit, dass sich Brad vor Schulbeginn betrank oder bekiffte. Nicht, dass er und Patrick in der Schule rumgemacht hätten – sie machten nur freitags auf Partys rum –, aber Patrick sagt, dass Brad ihn in der Schule nicht mal mehr ansehen konnte, geschweige denn mit ihm reden. Und das war ziemlich hart für Patrick, weil er Brad wirklich mochte.

Dann wurde es Sommer, und Brad musste sich keine Gedanken mehr um die Schule machen, und die Trinkerei und die Kifferei wurden noch schlimmer. In diesem Sommer gab es eine Party bei Patrick und Sam, mit den viel weniger beliebten Leuten. Brad kam auch, was für einiges Aufsehen sorgte, doch Patrick machte ein Geheimnis daraus, wieso er da war. Als die meisten Gäste weg waren, gingen Brad und Patrick auf Patricks Zimmer.

In dieser Nacht hatten sie zum ersten Mal Sex.

Ich will nicht zu sehr in die Details gehen, weil es ja ziemlich persönlich ist, ich sage nur, dass Brad die Rolle des Mädchens spielte, was die Frage nach dem was und wohin anbelangt. Ich denke, es ist wichtig, dass Du das weißt. Und als sie fertig waren, begann Brad, ziemlich heftig zu weinen. Er hatte eine Menge getrunken. Und er war wirklich, wirklich stoned.

Egal, was Patrick machte, Brad weinte einfach weiter. Er ließ sich von Patrick nicht mal in den Arm nehmen, was ich wirklich traurig finde, denn wenn ich mal mit jemandem Sex habe, würde ich ihn danach schon in den Arm nehmen wollen.

Schließlich zog Patrick Brads Hose hoch und sagte:

»Tu einfach so, als hättest du ’nen Filmriss gehabt.«

Dann zog sich Patrick ebenfalls an und ging ums Haus herum zur Party zurück (um nicht aus der Richtung des Schlafzimmers zu kommen). Er hatte auch geweint, und falls ihn irgendwer danach gefragt hätte, hätte er gesagt, dass seine Augen vom vielen Kiffen so rot waren. Den Betrunkenen spielend, ging er zu Sam.

»Hast du Brad gesehen?«

Sam sah den Ausdruck in Patricks Gesicht. Sie rief laut: »Hey, hat jemand Brad gesehen?«

Niemand auf der Party hatte Brad gesehen, also gingen ein paar Leute ihn suchen. Und fanden ihn schließlich auf Patricks Zimmer. Schlafend.

Irgendwann später rief Patrick Brads Eltern an, weil er sich wirklich Sorgen um ihn machte. Er sagte ihnen nicht, wieso, nur dass es Brad auf der Party schlecht geworden sei und er abgeholt werden müsse. Brads Eltern kamen tatsächlich, und Brads Vater trug seinen Sohn zusammen mit ein paar anderen Jungs, darunter Patrick, zum Auto.

Patrick weiß bis heute nicht, ob Brad zu dem Zeitpunkt wirklich noch schlief, aber wenn nicht, dann war es eine exzellente schauspielerische Leistung. Jedenfalls schickten Brads Eltern ihn zur Entziehungskur, weil sie seine Chancen auf ein Footballstipendium nicht aufs Spiel setzen wollten. Patrick sah Brad den ganzen Sommer über nicht.

Brads Eltern haben nie herausgefunden, warum sich ihr Sohn die ganze Zeit betrank und bekiffte. Und sonst auch niemand. Außer den Leuten, die Bescheid wussten.

Als das neue Schuljahr anfing, ging Brad Patrick aus dem Weg. Besuchte nicht mehr dieselben Partys wie Patrick. Bis vor etwa einem Monat. Da warf Brad eines Abends Steine an Patricks Fenster und sagte, dass niemand je davon erfahren dürfe, und Patrick versprach es ihm. Sie treffen sich jetzt nachts auf Golfplätzen und so. Und auf Partys wie der von Bob, wo die Leute den Mund halten und solche Dinge verstehen.

Ich habe Patrick gefragt, ob es ihn traurig macht, dass er es geheim halten muss, aber Patrick meint Nein, denn zumindest muss Brad sich jetzt nicht mehr erst betrinken oder bekiffen, bevor er mit ihm schläft.

 

Alles Liebe,
Charlie

8. November 1991

Lieber Freund,

Bill hat mir für meinen »Peter Pan«-Aufsatz meine erste Zwei in Englisch gegeben! Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was ich anders als bei den anderen Aufsätzen gemacht habe. Bill meint, dass sich mein Sprachgefühl und meine Satzkonstruktionen verbessern. Ich finde es großartig, dass ich mich verbessere, ohne es zu bemerken. Übrigens gibt mir Bill im Unterricht und im Zeugnis immer Einser, die Noten für die Aufsätze bleiben unter uns.

Jedenfalls, ich habe mir überlegt, dass ich vielleicht schreiben will, wenn ich erwachsen bin. Ich weiß nur noch nicht, was.

Vielleicht für Magazine oder so, einfach damit ich mal einen Artikel sehe, in dem nicht so etwas steht wie:

»Während _________ sich den Honigsenf von den Lippen tupfte, redete sie über ihren dritten Mann und die heilende Kraft von Kristallen.«

Aber ich glaube, ich wäre ein ziemlich schlechter Magazinjournalist, weil ich mir gar nicht vorstellen kann, einem Politiker oder Schauspieler richtige Fragen zu stellen – vermutlich würde ich ihn nur um ein Autogramm für meine Mutter bitten, und vermutlich würde man mich dafür rausschmeißen. Also dachte ich, dass ich stattdessen vielleicht für eine Zeitung schreibe, weil ich da ganz normalen Leuten Fragen stellen könnte, aber meine Schwester meint, Zeitungen würden ohnehin nur lügen. Keine Ahnung, ob das stimmt – also muss ich wohl noch ein paar Jahre warten.

Ich arbeite allerdings inzwischen bei einem Fanzine namens Punk Rocky mit. Das ist ein fotokopiertes Heft über Punk-Rock und die Rocky Horror Picture Show. Ich schreibe zwar nicht dafür, aber ich helfe hier und da aus.

Mary Elizabeth kümmert sich vor allem um dieses Fanzine, so wie sie sich um die örtlichen Aufführungen der Rocky Horror Picture Show kümmert. Mary Elizabeth ist echt interessant – sie hat ein Tattoo, das den Buddhismus symbolisiert, ein Bauchnabelpiercing und eine Frisur, mit der sie die Leute verrückt macht, aber wenn sie sich für etwas zuständig fühlt, benimmt sie sich genau wie mein Vater, wenn er von einem »langen Tag« nach Hause kommt. Sie ist ein Senior, und sie behauptet, dass meine Schwester eine Zicke und eine Streberin ist. Ich habe ihr gesagt, dass sie nicht so über meine Schwester reden soll.

Ich glaube, von all den Dingen, die ich dieses Jahr gemacht habe, war die Rocky Horror Picture Show bisher das Beste. Patrick und Sam haben mich an Halloween mit ins Kino genommen, und das ist wirklich ein großer Spaß, weil einige Zuschauer sich wie die Schauspieler anziehen und den Film, während er läuft, vor der Leinwand nachspielen. Und an bestimmten Stellen grölt das ganze Publikum mit. Vermutlich kennst Du das alles, aber ich dachte, ich erwähne es trotzdem, falls nicht.

Patrick spielt »Frank N. Furter«. Sam spielt »Janet«. Und das lenkt ganz schön vom eigentlichen Film ab, weil Sam in Unterwäsche rumläuft, wenn sie Janet spielt. Ich versuche wirklich, nicht auf die Art an sie zu denken, aber es fällt mir immer schwerer.

Um ehrlich zu sein, ich liebe Sam. Aber nicht die Art von Liebe wie in Filmen. Ich sehe sie einfach an und denke, dass sie der hübscheste und netteste Mensch auf der ganzen Welt ist. Sie ist auch klug und lustig. Ich habe ein Gedicht für sie geschrieben, nachdem wir in der Rocky Horror Picture Show waren, aber ich habe es ihr nicht gezeigt, weil ich mich zu sehr geschämt habe. Hier beifügen möchte ich es auch nicht, denn das fände ich unhöflich gegenüber Sam.

Das wirklich Dumme ist, dass Sam jetzt mit einem Jungen namens Craig ausgeht.

Craig ist älter als mein Bruder. Ja, er könnte schon einundzwanzig sein, weil er nämlich Rotwein trinkt. Craig spielt »Rocky« in der Rocky Horror Picture Show, und Patrick meint, er sei ein »heißes Schnittchen«. Keine Ahnung, wo Patrick immer solche Ausdrücke hernimmt.

Aber ich schätze, er hat Recht – Craig ist schon ein heißes Schnittchen. Er ist auch ziemlich kreativ. Um die Kunsthochschule bezahlen zu können, modelt er für JC-Penney-Kataloge und so was. Und er macht selbst Fotos. Ich habe ein paar gesehen, die waren wirklich gut. Dieses eine Bild von Sam ist wunderschön. Es ist eigentlich unmöglich, zu beschreiben, wie schön, aber ich versuche es mal.

Wenn Du Dir »Asleep« anhörst und an diese Sonnentage denkst, an denen man sich an bestimmte Sachen erinnert, und an die schönsten Augen denkst, die Du je gesehen hast, und weinst und von genau dem Menschen getröstet wirst, dann hast Du eine ungefähre Vorstellung davon, wie schön.

Ich wünschte, Sam würde Craig nicht so gern haben.

Jetzt glaubst Du wahrscheinlich, dass ich eifersüchtig bin. Bin ich nicht. Ganz ehrlich. Es ist nur so, dass Craig einfach nicht richtig zuhört, wenn Sam ihm etwas erzählt. Ich behaupte nicht, dass er ein schlechter Kerl ist – er wirkt einfach immer nur abgelenkt.

Zum Beispiel wenn er ein Foto von Sam macht, und das Foto ist wunderschön, denkt er, das liegt an der Art und Weise, wie er das Foto aufgenommen hat. Wenn ich ein Foto von Sam machen würde, wüsste ich, dass es einzig und allein wegen Sam wunderschön ist.

Ich finde es einfach nicht richtig, wenn ein Junge ein Mädchen ansieht und denkt, dass die Art und Weise, wie er es sieht, besser ist als das Mädchen in Wirklichkeit. Und ich finde es nicht richtig, wenn der Blick durch eine Kamera die ehrlichste Art und Weise ist, wie ein Junge ein Mädchen ansehen kann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Sam ein gutes Gefühl gibt, wenn ein älterer Junge sie auf diese Weise sieht.

Ich habe meine Schwester danach gefragt, und sie sagt, Sam hätte kein Selbstwertgefühl. Meine Schwester sagt auch, Sam hätte in der Zehnten einen gewissen Ruf gehabt. Sie sagt, Sam war damals die »Blasekönigin«. Ich hoffe, Du weißt, was damit gemeint ist, denn ich kann es Dir wirklich nicht erklären und gleichzeitig dabei an Sam denken.

Ich bin sehr verliebt in Sam, und es tut sehr weh.

Ich habe meine Schwester auch nach dem Jungen gefragt, dem mit den langen, braunen Haaren, mit dem sie auf dem Ball getanzt hat. Sie wollte nicht darüber reden, ehe ich nicht versprach, dass ich es keinem verrate, nicht einmal Bill. Also habe ich es versprochen. Und sie hat gesagt, dass sie den Jungen nun heimlich trifft, nachdem Dad es ihr verboten hat. Und dass sie ständig an ihn denkt, wenn er nicht da ist. Und dass sie beide heiraten werden, sobald sie mit dem College fertig sind und er Anwalt ist.

Sie sagte, ich solle mir keine Sorgen machen – er hätte sie seit dieser Nacht nie wieder geschlagen. Und er würde es auch nie wieder tun. Sonst hat sie eigentlich nichts gesagt, obwohl sie noch eine ganze Weile geredet hat.

Es war schön, diesen Abend mit meiner Schwester zu verbringen, weil sie sich sonst nie mit mir unterhält. Ich war überrascht, dass sie mir überhaupt so viel erzählt hat, aber ich nehme an, dass sie mit niemandem sonst darüber reden kann, weil es ja ein Geheimnis ist, und dass sie einfach mit jemandem darüber reden musste.

Doch so oft sie auch sagt, dass ich mir keine Sorgen machen soll, ich mache mir trotzdem welche. Immerhin ist sie meine Schwester.

 

Alles Liebe,
Charlie

12. November 1991

Lieber Freund,

ich esse für mein Leben gern Twinkies. Ich sage das, weil wir uns als Hausaufgabe überlegen sollten, was das Leben für uns lebenswert macht. Im Biologieunterricht erzählte Mr. Z von einem Experiment mit einer Ratte oder Maus. Die Wissenschaftler setzten die Ratte oder Maus auf die eine Seite eines Käfigs, und auf die andere Seite legten sie etwas zu essen. Und die Ratte oder Maus lief zum Essen rüber und fraß. Dann setzten sie die Ratte oder Maus wieder zurück auf ihre Seite und schlossen den ganzen Weg, den die Ratte oder Maus zum Essen laufen musste, an eine Stromleitung an. Sie erhöhten die Spannung Schritt für Schritt, und ab einem bestimmten Punkt lief die Ratte oder Maus nicht mehr zum Essen. Dann wiederholten sie das Experiment, ersetzten das Essen diesmal aber mit etwas, das der Ratte oder Maus äußerstes Wohlbehagen verschaffte. Ich weiß nicht mehr, was es war, wahrscheinlich so eine Art Ratten- oder Mäuseminze. Jedenfalls, was die Wissenschaftler herausfanden, war, dass die Ratte oder Maus für ihr Wohlbehagen eine sehr viel höhere Stromspannung in Kauf nahm. Viel höher als für das Essen.

Ich weiß zwar nicht, was das wirklich bedeutet, ich finde es aber sehr interessant.

 

Alles Liebe,
Charlie

15. November 1991

Lieber Freund,

langsam wird es hier kalt und frostig. Das schöne Herbstwetter ist mehr oder weniger vorüber. Die gute Nachricht ist, dass bald die Feiertage kommen, worauf ich mich jetzt schon freue, weil mein Bruder da nach Hause kommt. Vielleicht sogar rechtzeitig zu Thanksgiving! Jedenfalls wünsche ich das meiner Mutter.

Mein Bruder hat jetzt schon einige Wochen nicht mehr angerufen, und Mom redet nur noch über seine Noten und Schlafgewohnheiten und das Essen, das er isst, und mein Vater sagt immer nur: »Es wird ihm schon nichts passieren.«

Ich für meinen Teil stelle mir gern vor, wie mein Bruder Collegeerfahrungen sammelt, so wie in den Filmen. Aber nicht die mit den wilden Verbindungspartys, sondern die, in denen der Junge ein kluges Mädchen kennenlernt, das Pullis trägt und gern Kakao trinkt. Sie reden über Bücher und Probleme und küssen sich im Regen. Ich denke, so etwas täte ihm wirklich gut, vor allem wenn das Mädchen auf ihre ganz eigene Art und Weise schön ist. Solche Mädchen gefallen mir am besten – »Supermodels« und so etwas finde ich eher seltsam, warum auch immer.

Andererseits hängen im Zimmer meines Bruders jede Menge Poster von »Supermodels« und von Autos und von Bierdosen und solchen Dingen, und wenn man sich dazu noch einen schmutzigen Boden vorstellt, weiß man vermutlich, wie sein Zimmer im Wohnheim aussieht. Mein Bruder hat es immer gehasst, sein Bett zu machen, aber in seinem Kleiderschrank hat er immer sorgfältig Ordnung gehalten. Werde da einer schlau daraus.

Wenn mein Bruder mal anruft, erzählt er eigentlich nie sonderlich viel. Er redet ein bisschen über seine Kurse, vor allem aber über das Footballteam. Das Team ist überhaupt eine große Sache, weil sie ziemlich gut sind und ein paar wirkliche Talente haben. Mein Bruder sagt, dass ein bestimmter Spieler eines Tages wohl Millionär sein wird, obwohl er »dumm wie Brot« ist. Das ist schon ziemlich dumm, nehme ich mal an.

Mein Bruder hat mir erzählt, wie einmal alle Spieler in der Umkleidekabine saßen und darüber redeten, was sie alles hatten machen müssen, um ins Collegeteam zu kommen. Und irgendwann kamen sie auf die Ergebnisse ihrer Einstufungstests (so einen habe ich bisher nie machen müssen).

Und dieser eine Spieler sagte: »Ich hatte 710 Punkte.«

Und mein Bruder fragte: »In Mathe oder Sprachen?«

Und der Spieler sagte: »Häh?«

Und das ganze Team lachte.

Ich wollte immer in so einem Team sein. Ich weiß nicht genau, wieso, aber irgendwie muss es toll sein, »goldene Zeiten« zu durchleben. Dann hätte ich Geschichten, die ich meinen Enkelkindern und Golffreunden erzählen könnte. Nun, ich könnte ihnen von Punk Rocky und vom Heimlaufen nach der Schule und so erzählen. Vielleicht sind das ja meine goldenen Zeiten, und ich bemerke es gar nicht, weil kein Ball darin vorkommt.

Als ich jünger war, habe ich jede Menge Sport gemacht, und ich war sogar ziemlich gut, doch das Problem war, dass es mich »zu aggressiv« machte, deshalb sagten die Ärzte Mom, ich müsse damit aufhören.

Mein Vater hatte einmal goldene Zeiten. Ich habe Fotos von ihm gesehen, als er noch jung war. Er sah damals wirklich gut aus. Das ist oft so bei alten Fotos – Menschen auf alten Fotos haben immer so markante Gesichter und wirken viel glücklicher als man selbst.

Meine Mutter sieht auf alten Fotos wunderschön aus. Schöner als irgendwer sonst, außer vielleicht Sam. Manchmal sehe ich meine Eltern an und frage mich, was geschehen ist, dass sie zu den Menschen wurden, die sie heute sind. Und dann frage ich mich, was mit meiner Schwester geschehen wird, wenn ihr Freund erst mal Anwalt ist. Und wie das Gesicht meines Bruders auf einer Football-Sammelkarte aussehen wird – oder wie es aussehen wird, wenn es nie auf einer Football-Sammelkarte auftaucht. Dad hat auf dem College zwei Jahre lang Baseball gespielt, aber er musste damit aufhören, als Mom mit meinem Bruder schwanger wurde. Da begann er dann, in einem Büro zu arbeiten. Um ehrlich zu sein, ich habe keine Ahnung, was mein Vater macht.

Manchmal erzählt er eine Geschichte von früher. Eine wirklich tolle Geschichte. Es war die Baseball-Landesmeisterschaft, als er noch auf der Highschool war. Das Ende des letzten Innings, und sie hatten einen Runner auf der ersten Base. Dads Team lag einen Run zurück, und offenbar gab es die große Sorge, dass er das Spiel vergeigen würde, weil er jünger als die meisten anderen und erst in der Zehnten war. Er war also wirklich nervös. Und hatte sogar richtig Angst. Nach ein paar Würfen jedoch, erzählte er uns, wurde er auf einmal ruhig. Und als der Pitcher ausholte und den nächsten Ball warf, wusste er ganz genau, wo der Ball hingehen würde. Und er traf ihn fester als jeden anderen Ball, den er je in seinem Leben getroffen hatte. Und er schlug einen Homerun, und sein Team gewann die Meisterschaft. Das Beste an der Geschichte ist, dass es immer die gleiche ist. Dad ist keiner, der bei solchen Sachen irgendetwas dazuerfindet.

Manchmal, wenn ich mir mit Patrick und Sam ein Footballspiel ansehe, denke ich an all das. Und ich denke über den Jungen nach, der gerade den Touchdown gemacht hat. Das sind die goldenen Zeiten für ihn. Eines Tages wird dieser Moment eine Geschichte sein, weil alle, die Touchdowns machen und Homeruns schlagen, eines Tages Väter sein werden. Und wenn seine Kinder sich dann das Foto ihres Vaters im Schuljahrbuch ansehen, werden sie denken, dass ihr Vater echt gut aussah und ein markantes Gesicht hatte und dass er auf dem Foto viel glücklicher wirkt als sie selbst.

Hoffentlich vergesse ich nicht, meinen Kindern einmal zu sagen, dass sie genauso glücklich sind, wie ich auf den alten Fotos aussehe. Und hoffentlich werden sie mir das glauben.

 

Alles Liebe,
Charlie

18. November 1991

Lieber Freund,

gestern hat mein Bruder endlich angerufen. Er schafft es dieses Thanksgiving nicht nach Hause, weil er vor lauter Football mit der Schule hintendran ist. Meine Mutter hat sich darüber so aufgeregt, dass sie mit mir Anziehsachen kaufen ging.

Du glaubst jetzt bestimmt, dass ich übertreibe, aber ich schwöre Dir, dass von dem Moment an, als wir ins Auto stiegen, bis zu dem Moment, als wir wieder nach Hause kamen, meine Mutter keine Sekunde aufgehört hat zu reden. Nicht ein Mal. Auch nicht, als ich in der Umkleidekabine war und Hosen anprobiert habe.

Sie stand vor der Kabine und machte sich laut Sorgen. Jeder konnte sie hören. Sie sagte, mein Vater hätte darauf bestehen sollen, dass mein Bruder nach Hause kommt, und sei es nur für einen Nachmittag. Sie sagte, meine Schwester solle lieber anfangen, sich Gedanken über ihre Zukunft zu machen und sich »Ausweichschulen« zu suchen, sollte es mit der Bewerbung bei den besseren Schulen nichts werden. Und dann sagte sie, Grau würde mir als Farbe wirklich gut stehen.

Ich verstehe meine Mutter. Wirklich.

Früher, wenn wir einkaufen gingen, stritten meine Schwester und mein Bruder immer miteinander, und ich saß unten im Einkaufswagen, und meine Mutter regte sich immer so über die Streiterei auf, dass sie den Wagen immer schneller schob und ich mir wie in einem U-Boot vorkam.

Gestern war es genau dasselbe, nur dass ich inzwischen vorne sitzen darf.

Als ich Sam und Patrick heute in der Schule traf, waren sie sich einig, dass meine Mutter einen wirklich guten Geschmack hat, was Anziehsachen betrifft. Ich habe das Mom nach der Schule erzählt, und sie hat gelächelt und mich gefragt, ob ich Sam und Patrick nicht mal zum Abendessen einladen wolle, aber am besten erst nach den Feiertagen, denn jetzt sei sie schon nervös genug. Ich habe Sam und Patrick angerufen, und sie haben Ja gesagt.

Ich bin ziemlich aufgeregt!

Das letzte Mal, dass ein Freund von mir zum Essen vorbeigekommen war, war letztes Jahr gewesen. Michael. Es gab Tacos, und das Tolle an dem Abend war, dass Michael über Nacht blieb. Geschlafen haben wir allerdings nicht viel. Wir haben uns über Mädchen und Filme und Musik unterhalten, und dann sind wir nachts durch die Nachbarschaft gelaufen. Meine Eltern und die Bewohner der anderen Häuser schliefen fest, und Michael sah in die dunklen, stillen Fenster hinein.

»Findest du die Leute hier nett?«, fragte er.

»Die Andersons? Eigentlich schon. Sie sind ziemlich alt«, sagte ich.

»Und die dort?«

»Na ja, Mrs. Lambert mag es nicht so, wenn unsere Bälle in ihrem Garten landen.«

»Und die?«

»Mrs. Tanner ist seit drei Monaten ihre Mutter besuchen, und Mr. Tanner sitzt das ganze Wochenende über auf der Veranda und hört Baseball. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob sie nett sind oder nicht, weil sie keine Kinder haben.«

»Ist sie krank?«

»Ist wer krank?«

»Die Mutter von Mrs. Tanner.«

»Ich glaube nicht. Meine Mutter hat jedenfalls nichts gesagt. «

Michael nickte. »Dann lassen sie sich scheiden.«

»Glaubst du wirklich?«

»Klar.«

Wir gingen weiter, und Michael sagte nichts mehr. Er schwieg meistens, wenn er ging. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass meine Mutter gehört hat, Michaels Eltern seien jetzt geschieden. Und sie sagte, dass nur siebzig Prozent aller Ehen halten, wenn ein Kind stirbt. Ich glaube, das hat sie in irgendeinem Magazin gelesen.

 

Alles Liebe,
Charlie

23. November 1991

Lieber Freund,

verbringst Du die Feiertage eigentlich gerne mit Deiner Familie? Ich meine, nicht nur mit Deiner Mutter und Deinem Vater, sondern mit Deinen Onkeln und Tanten und Cousins und so. Ich schon. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Zum einen finde ich es sehr interessant und faszinierend, dass sich alle so lieb haben, obwohl niemand den anderen wirklich ausstehen kann. Zum anderen laufen die Streitereien immer ähnlich ab.

Es fängt normalerweise an, sobald Moms Vater (also mein Großvater) seinen dritten Drink intus hat und gesprächig wird. Dann beschwert er sich, dass immer mehr Schwarze in die alten Viertel der Stadt ziehen, und meine Schwester regt sich furchtbar über ihn auf, und mein Großvater sagt, dass sie nicht weiß, wovon sie redet, weil sie ja hier in einem Vorort wohnt. Und dann behauptet er, dass ihn niemand im Altenheim besucht. Und schließlich fängt er an, die ganzen Familiengeheimnisse auszuplaudern, zum Beispiel wie damals Cousin Soundso dieser Kellnerin im Big Boy »einen Braten in die Röhre geschoben« hat. Ich sollte erwähnen, dass mein Großvater nicht mehr so gut hört, deshalb erzählt er diese Sachen ziemlich laut.

Meine Schwester versucht jedes Mal, es mit ihm aufzunehmen, aber sie gewinnt nie. Mein Großvater ist definitiv sturer als sie. Mom hilft für gewöhnlich ihrer Tante, das Essen zu machen, das mein Großvater immer »zu trocken« findet, selbst wenn es Suppe ist. Und Moms Tante weint dann immer und schließt sich im Badezimmer ein.

Es gibt nur ein Bad im Haus meiner Großtante, und das wird zum Problem, wenn bei meinen Cousins das Bier zu wirken beginnt. Dann stehen sie verkrampft und x-beinig vor der Badezimmertür und hämmern dagegen, bis sie meine Großtante beinahe so weit haben, dass sie wieder herauskommt. Doch dann flucht mein Großvater erneut über irgendetwas, und das Spiel beginnt wieder von vorn. Mit Ausnahme dieses einen Thanksgivings, als mein Großvater direkt nach dem Essen umgekippt ist, mussten meine Cousins immer in die Büsche pinkeln. Ich sehe sie dann durch das Fenster, und es sieht aus, als ob sie auf einem ihrer Jagdausflüge wären. Für meine Cousinen und meine anderen Großtanten tut es mir allerdings echt leid, weil sie ja schlecht auch die Büsche benutzen können, vor allem, wenn es sehr kalt ist.

Vielleicht sollte ich noch sagen, dass mein Vater an Thanksgiving die meiste Zeit schweigend am Tisch sitzt und trinkt. Eigentlich trinkt Dad nie besonders viel, aber wenn er die Feiertage mit Moms Familie verbringen muss, lässt er sich »volllaufen«, wie mein Cousin Tommy es ausdrückt. Ich glaube, mein Vater würde die Feiertage viel lieber mit seiner eigenen Familie in Ohio verbringen. So könnte er auch meinem Großvater aus dem Weg gehen. Er mag meinen Großvater nämlich nicht sehr, aber das sagt er nie so. Auch nicht auf dem Heimweg. Er denkt wohl, dass ihm das nicht zusteht.

Wenn das Fest zu Ende geht, ist mein Großvater meistens zu betrunken, um noch überhaupt irgendetwas zu tun. Dad und mein Bruder und meine Cousins tragen ihn dann raus zum Auto desjenigen, der am wenigsten sauer auf ihn ist. Meine Aufgabe dabei ist, ihnen die Türen aufzuhalten. Mein Großvater ist ziemlich dick.

Einmal hat mein Bruder meinen Großvater zurück ins Altenheim gebracht, und ich bin mitgefahren. Mein Bruder hat meinen Großvater immer verstanden. Er war fast nie sauer auf ihn, außer mein Großvater hatte etwas Gemeines über meine Mutter oder meine Schwester gesagt oder vor allen Leuten eine Szene gemacht. Ich weiß noch, dass es damals stark geschneit hat und sehr still war, beinahe friedlich. Und mein Großvater hat sich etwas beruhigt und auf einmal ganz anders mit uns geredet.

Er erzählte uns, wie er mit sechzehn die Schule verlassen hatte, weil sein Vater gestorben war und jemand die Familie ernähren musste. Und wie er damals dreimal am Tag in die Fabrik ging, um nach Arbeit zu fragen. Und wie kalt es war. Und wie hungrig er war, weil er immer erst die Familie essen ließ. Und wir würden das nie verstehen, weil wir keine Ahnung von einem solchen Leben hätten. Und dann sprach er über seine Töchter, über Mom und Tante Helen.

»Ich weiß genau, was eure Mutter von mir hält. Und Helen – das weiß ich auch ganz genau. Einmal, da bin ich wieder zur Fabrik … Keine Arbeit, nichts … Um zwei Uhr morgens bin ich heimgekommen, völlig fertig … Deine Großmutter hat mir die Zeugnisse der beiden gezeigt … Eine Drei im Durchschnitt, und dabei waren es schlaue Mädchen … Also bin ich auf ihr Zimmer und hab ihnen etwas Verstand eingebläut … Und als das erledigt war und beide heulten, hab ich ihre Zeugnisse hochgehalten und gesagt: ›Das kommt mir nie wieder vor!‹ … Sie redet heute noch davon, deine Mutter … Aber wisst ihr was? Es ist nie wieder vorgekommen … Sie sind aufs College, alle beide … Ich wünschte, ich hätte es ihnen zahlen können … Ich wünschte, Helen hätte das alles kapiert … Eure Mutter hat es kapiert, glaube ich … Sie ist eine gute Frau, tief in ihrem Inneren … Ihr solltet stolz auf sie sein …«

Als ich meiner Mutter das erzählte, wurde sie sehr traurig, weil er es nie über sich gebracht hatte, ihr diese Dinge persönlich zu sagen. Nie. Nicht einmal damals, als er sie zum Altar geführt hatte.

Dieses Jahr verlief Thanksgiving jedoch anders. Das lag am Footballspiel meines Bruders, das wir auf Video aufgenommen hatten. Die ganze Familie war um den Fernseher herum versammelt, sogar meine Großtanten, die sich sonst nie ein Spiel ansahen. Und ich werde nie den Ausdruck auf ihren Gesichtern vergessen, als mein Bruder aufs Feld lief. Es war eine Mischung aus allem Möglichen. Einer meiner Cousins arbeitet an einer Tankstelle. Der andere ist seit seiner Handverletzung vor zwei Jahren arbeitslos. Und der dritte hat seit etwa sieben Jahren vor, zurück aufs College zu gehen. Und mein Vater sagte einmal, dass sie ziemlich eifersüchtig auf meinen Bruder sind, weil sich ihm eine Chance geboten und er etwas daraus gemacht hat.

Aber als mein Bruder aufs Spielfeld lief, war das alles egal – die ganze Familie war stolz auf ihn. Und alle jubelten, wenn ihm ein guter Spielzug gelang, und das, obwohl einige von uns das Spiel ja schon gesehen hatten. Ich sah zu meinem Vater, und er lächelte. Ich sah zu meiner Mutter, und sie lächelte, auch wenn sie sich Sorgen machte, dass mein Bruder sich verletzen könnte, was ziemlich komisch war, weil es ja eine Aufzeichnung war und sie wusste, dass er sich nicht verletzt hatte. Meine Großtanten und meine Cousins und deren Kinder und alle anderen lächelten ebenfalls. Sogar meine Schwester. Nur zwei Leute im Raum lächelten nicht. Mein Großvater und ich.

Mein Großvater weinte.

Es war ein stilles, heimliches Weinen, und nur ich bemerkte es. Ich stellte ihn mir vor, wie er zu Mom aufs Zimmer ging – damals, als sie noch klein war – und sie schlug und dann ihr Zeugnis mit den schlechten Noten hochhielt und sagte, dass das nie wieder vorkommen dürfe. Und ich überlegte, ob er dabei vielleicht meinen älteren Bruder im Sinn gehabt hatte. Oder meine Schwester. Oder mich. Vielleicht wollte er sicherstellen, dass er der Letzte war, der in einer Fabrik arbeiten musste.

Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist. Ich weiß nicht, ob es besser ist, seine Kinder einfach gut zu behandeln und sie selbst entscheiden zu lassen, was sie mit ihrem Leben anfangen. Ich weiß nicht, ob es besser ist, sich mit seiner Tochter einfach gut zu verstehen, statt sie dazu zu zwingen, ein besseres Leben zu führen als man selbst. Ich weiß es nicht. Ich saß einfach still da und beobachtete ihn.

Als das Spiel vorbei war und wir gegessen hatten, sagte jeder, wofür er dankbar war. Das meiste hatte mit meinem Bruder oder der Familie oder den Kindern oder Gott zu tun. Und jeder meinte es genau so, wie er es sagte, egal, was morgen sein würde. Als ich an der Reihe war, dachte ich lange nach, denn es war das erste Mal, dass ich am großen Tisch bei den Erwachsenen saß, weil mein Bruder ja nicht da war.

»Ich bin dankbar, dass mein Bruder im Fernsehen Football gespielt hat, weil es deshalb keinen Streit gab.«

Die meisten am Tisch sahen ziemlich betreten drein, ein paar von ihnen waren aber auch richtig verärgert. Mein Vater sah aus, als ob er wüsste, dass ich Recht hatte, aber nichts dazu sagen wollte, weil es nicht seine Familie war. Meine Mutter blickte sich nervös um und fragte sich ganz offensichtlich, wie wohl ihr Vater reagieren würde. Nur einer sagte etwas. Das war meine Großtante, die sich sonst immer im Bad einschließt.

»Amen.«

Und irgendwie war damit alles okay.

Als wir uns zum Aufbruch fertig machten, ging ich noch einmal zu meinem Großvater und umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er wischte sich die Stelle mit der Hand ab und sah mich komisch an. Er mag es nicht, wenn die Jungs in der Familie ihn anfassen. Sollte er aber sterben, bin ich froh, dass ich es trotzdem getan habe. Bei Tante Helen konnte ich es nämlich nicht mehr tun.

 

Alles Liebe,
Charlie

7. Dezember 1991

Lieber Freund,

hast du schon mal etwas von »Secret Santa« gehört? Ein paar Freunde ziehen jeder einen Namen aus einem Hut und kaufen dann Weihnachtsgeschenke für die Person, die sie gezogen haben. Die Geschenke werden heimlich in den jeweiligen Spinden deponiert. Und am Ende gibt es dann eine Party, auf der sich die Weihnachtsmänner zu erkennen geben und ihre letzten Geschenke überreichen.

Sam und einige andere fingen vor drei Jahren damit an. Mittlerweile ist es eine Art Tradition. Und die Party am Schluss ist angeblich die beste des ganzen Jahres. Sie findet am Abend des letzten Schultags vor den Ferien statt.

Keine Ahnung, wer mich gezogen hat. Ich jedenfalls habe Patrick gezogen.

Ich bin wirklich froh, dass ich Patrick habe, auch wenn ich mir Sam gewünscht hätte. Außer in Werken habe ich ihn schon einige Wochen lang nicht mehr gesehen, weil er die meiste Zeit mit Brad verbringt, und so kann ich auf gute Weise an ihn denken, wenn ich über die Geschenke für ihn nachdenke.

Das erste Geschenk wird ein Mixtape. Ich weiß einfach, dass es so sein muss. Und ich habe auch schon die Songs und ein Thema ausgesucht: »Ein Winter«. Allerdings werde ich die Hülle nicht selbst bemalen. Auf der ersten Seite sind einige Songs von den Village People und Blondie, weil Patrick die Art von Musik wirklich mag. Außerdem »Smells Like Teen Spirit« von Nirvana, das Sam und Patrick beide toll finden. Die zweite Seite mag ich aber lieber – auf ihr sind nämlich die Winterlieder. Hier sind sie:

»Asleep« von den Smiths
»Vapour Trail« von Ride
»Scarborough Fair« von Simon & Garfunkel
»A Whiter Shade of Pale« von Procol Harum
»Time of No Reply« von Nick Drake
»Dear Prudence« von den Beatles
»Gypsy« von Suzanne Vega
»Nights in White Satin« von den Moody Blues
»Daydream« von den Smashing Pumpkins
»Dusk« von Genesis (noch vor Phil Collins!)
»MLK« von U2
»Blackbird« von den Beatles
»Landslide« von Fleetwood Mac

und …

»Asleep« von den Smiths (nochmal!)

Ich war fast die ganze Nacht mit dem Aufnehmen beschäftigt und hoffe, dass die Kassette Patrick genauso gut gefällt wie mir. Besonders die zweite Seite. Ich hoffe, dass es die Art von Musik ist, die er sich beim Autofahren anhört und die ihm das Gefühl gibt, nicht allein zu sein, wenn er einmal traurig ist. Es wäre schön, wenn es so sein könnte.

Als die Kassette fertig war, hatte ich ein überwältigendes Gefühl. Wie viele Erinnerungen und Freude und Trauer dieses kleine Ding doch enthielt. Hier in meiner Hand. Wie viele Menschen hatten diese Songs wohl schon geliebt. Und wie viele Menschen hatten dank dieser Songs schlechte Zeiten überstanden. Und wie viele Menschen hatten mit diesen Songs gute Zeiten gefeiert. Wie viel diese Songs doch bedeuteten. Es wäre großartig, einen dieser Songs geschrieben zu haben. Ich wette, wenn ich einen davon geschrieben hätte, wäre ich ziemlich stolz darauf. Und ich hoffe, die Menschen, die sie geschrieben haben, sind heute glücklich. Ich hoffe das wirklich, weil sie mich nämlich glücklich gemacht haben. Und ich bin nur einer von vielen.

Ich kann es kaum erwarten, meinen Führerschein zu kriegen. Bald ist es so weit!

Übrigens habe ich Dir schon eine Weile nichts mehr von Bill erzählt. Es gibt auch nicht viel Neues, außer dass er mir nach wie vor Bücher zu lesen gibt, die er den anderen Schülern nicht gibt, und mich bittet, Aufsätze darüber zu schreiben. Die letzten Wochen habe ich »Der große Gatsby« und »Ein anderer Frieden« gelesen. Ich meine, einen gewissen Trend in den Büchern zu erkennen, die Bill mir zu lesen gibt. Und genau wie bei dem Mixtape ist es einfach überwältigend, diese Bücher in der Hand zu halten. Es sind jetzt alle meine Lieblingsbücher. Jedes einzelne davon.

 

Alles Liebe,
Charlie

11. Dezember 1991

Lieber Freund,

Patrick liebt das Mixtape! Aber ich glaube, er weiß, dass ich sein Secret Santa bin, weil er weiß, dass nur ich so ein Mixtape zusammenstellen würde. Außerdem kennt er meine Schrift. Keine Ahnung, wieso ich nie an so etwas denke – ich hätte das Mixtape wirklich bis zum Schluss aufheben sollen.

Wie auch immer, ich habe mir bereits mein zweites Geschenk für Patrick überlegt: Kühlschrankpoesie. Schon mal davon gehört? Wenn nicht, erkläre ich es Dir: Irgendwer hat einen ganzen Haufen Wörter auf ein Stück Magnetblech geschrieben und dann einzeln ausgeschnitten. Diese Wörter bringt man am Kühlschrank an, und dann kann man damit Gedichte schreiben, während man sich ein Sandwich macht. Das macht wirklich Spaß.

Das Geschenk von meinem Secret Santa war leider nichts Besonderes, was mich ein bisschen traurig macht. Ich gehe jede Wette ein, dass Mary Elizabeth mein Secret Santa ist – nur sie würde mir ein Paar Socken schenken.

 

Alles Liebe,
Charlie

19. Dezember 1991

Lieber Freund,

in den letzten Tagen habe ich eine Hose aus dem Secondhandladen gekriegt, eine Krawatte, ein weißes Hemd, Schuhe und einen alten Gürtel. Vermutlich wird das letzte Geschenk auf der Party ein Jackett sein, weil das das Einzige ist, was noch fehlt. Eine getippte Nachricht hat mir mitgeteilt, dass ich die Sachen für die Party anziehen soll. Ich hoffe, jemand hat sich etwas dabei gedacht.

Jedenfalls haben meine Geschenke Patrick bisher alle sehr gefallen. Geschenk Nummer drei war ein Kasten Wasserfarben und etwas Papier. Ich dachte, dass er sich darüber freut, auch wenn er ihn nie benutzt. Geschenk Nummer vier war eine Mundharmonika und ein Buch, wie man sie spielt. Ich schätze, das ist so wie mit den Wasserfarben, aber ich glaube wirklich, dass jeder Wasserfarben, Kühlschrankpoesie und eine Mundharmonika haben sollte.

Mein letztes Geschenk vor der Party ist ein Buch über Harvey Milk, der in San Francisco eine Art Anführer der Schwulenbewegung war. Nachdem Patrick mir erzählt hatte, dass er schwul ist, bin ich zur Bücherei gegangen und habe etwas recherchiert, weil ich ehrlich gesagt nicht viel darüber wusste. Dabei habe ich einen Artikel zu einem Dokumentarfilm über Harvey Milk entdeckt, und da ich den Film nicht finden konnte, habe ich nach dem Namen gesucht – und dieses Buch gefunden.

Ich habe es selbst nicht gelesen, aber die Beschreibung auf der Rückseite klingt interessant. Ich hoffe, dass es Patrick etwas bedeutet. Und ich kann die Party kaum erwarten, weil ich Patrick dann mein letztes Geschenk geben kann. Übrigens habe ich jetzt alle meine Arbeiten für dieses Halbjahr hinter mir. Ich war ziemlich beschäftigt damit und hätte Dir natürlich davon erzählt, aber es schien mir einfach nicht so interessant wie das, was mit den Ferien zu tun hat.

 

Alles Liebe,
Charlie

21. Dezember 1991

Lieber Freund,

wow! Einfach nur wow! Ich kann Dir ein Bild davon malen, wenn Du möchtest. Wir alle saßen bei Sam und Patrick. Ich hatte ihr Haus zuvor noch nie gesehen. Es ist ein sehr großes Haus. Und sehr sauber. Und wir gaben einander die letzten Geschenke. Die Lichter draußen waren an, es schneite, und es sah aus wie reine Magie. Als ob wir woanders wären. An einem schöneren Ort.

Das war auch das erste Mal, dass ich Sams und Patricks Eltern getroffen habe. Sie sind sehr nett. Sams Mutter ist ziemlich hübsch und erzählt großartige Witze. Sam sagt, dass sie früher mal Schauspielerin war. Patricks Vater ist ziemlich groß und hat einen kräftigen Händedruck. Und er ist ein richtig guter Koch. Bei vielen Eltern kommt man sich seltsam vor, wenn man sie trifft, aber nicht bei Sams und Patricks Eltern. Sie waren das ganze Abendessen über freundlich, und als wir aufgegessen hatten, ließen sie uns allein, damit wir unsere Party feiern konnten. Und sie haben uns nicht kontrolliert oder so. Kein einziges Mal. Sie haben uns einfach machen lassen, als ob es unser Haus wäre. Also beschlossen wir, die Party im »Spielezimmer« zu feiern, in dem es zwar keine Spiele, aber einen tollen Teppich gibt.

Als ich mich als Patricks Secret Santa zu erkennen gab, lachten alle, weil sie es schon wussten, nur Patrick tat so überrascht, wie er konnte, was sehr nett von ihm war. Dann waren alle auf mein letztes Geschenk gespannt, und ich sagte, es sei ein Gedicht, das mir vor langer Zeit Michael gegeben hatte. Und ich habe es seitdem tausendmal gelesen. Ich weiß nicht, wer es geschrieben hat, ob es irgendwo in einem Buch steht oder wie alt der Autor ist. Aber ich weiß, dass ich ihn oder sie gerne kennenlernen würde. Ich möchte sicher sein, dass es ihm oder ihr gut geht.

Jedenfalls baten mich alle, aufzustehen und das Gedicht vorzutragen. Und ich war überhaupt nicht schüchtern, weil wir ja versuchten, uns wie Erwachsene zu benehmen, und Brandy tranken. Mir war ganz warm davon. Mir ist immer noch ein wenig warm, aber ich muss Dir das einfach erzählen. Ich stand also auf und bat darum, mir zu sagen, von wem das Gedicht war, falls es jemand wusste. Dann las ich es vor.

Als ich fertig war, waren alle ganz still. Eine traurige Stille. Aber das Wunderbare war, dass es überhaupt keine unangenehme Stille war. Es war eher etwas, das alle dazu brachte, einander anzusehen, etwas, das uns spüren ließ, dass der andere da war. Sam und Patrick sahen mich an. Und ich sah sie an. Und ich glaube, sie wussten es. Nichts Bestimmtes eigentlich – sie wussten es einfach. Und ich glaube, das ist alles, was man von einem Freund erwarten kann.

Patrick legte dann die B-Seite meines Mixtapes ein und schenkte uns allen Brandy nach. Vermutlich sahen wir ein wenig lächerlich aus, wie wir da tranken, aber wir kamen uns nicht lächerlich vor, kein bisschen.

Wir hörten den Songs zu, und Mary Elizabeth stand auf. Aber sie hatte kein Jackett für mich. Ja, es stellte sich heraus, dass sie überhaupt nicht mein Secret Santa war. Sie war der Secret Santa von dem anderen Mädchen mit Tattoo und Bauchnabelpiercing, das Alice heißt. Mary Elizabeth schenkte Alice einen schwarzen Nagellack, auf den Alice schon länger ein Auge geworfen hatte. Und Alice freute sich sehr darüber. Ich saß da und sah mich um. Hielt nach dem Jackett Ausschau. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer es haben könnte.

Als Nächstes stand Sam auf. Sie schenkte Bob eine handgeschnitzte indianische Marihuanapfeife, was mir völlig angemessen erschien.

Und so ging es weiter: Geschenke und Umarmungen. Und schließlich war keiner mehr übrig außer Patrick. Und Patrick stand auf und ging in die Küche.

»Will irgendwer Chips?«

Alle wollten Chips. Und Patrick kam mit drei Rollen Pringles und einem Jackett zurück. Und ging direkt auf mich zu. Und sagte, dass alle großen Schriftsteller Anzüge getragen hätten.

Also zog ich das Jackett an, auch wenn ich der Meinung war, dass ich es nicht wirklich verdiente, weil ich ja nur diese Aufsätze für Bill schreibe, aber es war trotzdem ein schönes Geschenk, und alle klatschten auch. Sam und Patrick fanden beide, dass ich gut darin aussah. Mary Elizabeth lächelte. Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Gefühl hatte, »gut« auszusehen. Weißt Du, was ich meine? Dieses wunderbare Gefühl, wenn man in den Spiegel schaut, und zum ersten Mal im Leben liegt das Haar so, wie es sein soll. Eigentlich sollten wir ja nicht so viel Wert auf Gewicht, auf Muskeln oder auf den Haarschnitt legen, aber wenn das alles einmal passt, ist es einfach schön.

Der Rest des Abends war etwas ganz Besonderes. Weil einige von uns mit ihren Familien über Weihnachten nach Florida oder Indiana oder sonstwohin fuhren, schenkten wir allen etwas, egal, ob Secret Santa oder nicht.

Bob schenkte Patrick drei Gramm Gras mit einer Weihnachtskarte. Er hatte es sogar eingepackt. Mary Elizabeth schenkte Sam ein Paar Ohrringe. Alice auch. Und Sam schenkte den beiden ebenfalls Ohrringe. Ich glaube, das ist so eine Mädchensache. Ich gebe zu, ich war ein wenig traurig, denn außer Sam und Patrick schenkte mir niemand etwas. Ich bin wohl noch nicht so gut mit allen befreundet, also ist das schon in Ordnung. Ein wenig traurig war ich aber trotzdem.

Schließlich war ich dran. Ich schenkte Bob eine dieser Seifenblasen-Dosen, weil es meiner Meinung nach einfach zu ihm passte. Und irgendwie lag ich damit richtig.

»Mann, das ist wirklich zu viel«, war alles, was er sagte. Den Rest des Abends verbrachte er damit, Seifenblasen an die Decke zu pusten.

Alice schenkte ich ein Buch von Anne Rice, weil sie immer von dieser Autorin redete. Und sie sah mich an, als würde sie das gar nicht glauben – dass ich wusste, wie sehr sie Anne Rice mochte. Vermutlich merkt sie gar nicht, wie viel sie redet und wie gut ich zuhöre. Jedenfalls hat sie sich trotzdem bedankt.

Dann war Mary Elizabeth dran. Ich schenkte ihr vierzig Dollar in einer Karte. Auf der Karte stand schlicht: »Damit Punk Rocky nächstes Mal in Farbe erscheint.« Da hat sie mich komisch angesehen. Alle haben mich komisch angesehen, außer Sam und Patrick. Ich glaube, die meisten von ihnen haben sich geschämt, weil sie nichts für mich mitgebracht hatten. Sie brauchten sich aber nicht zu schämen, weil ich nicht finde, dass es darum geht. Nach einer Weile lächelte Mary Elizabeth und bedankte sich und hörte auf, mich komisch anzusehen.

Als Letzte kam Sam. Ich hatte zuvor lange über ihr Geschenk nachgedacht. Ja, ich glaube, ich habe über ihr Geschenk nachgedacht, seit ich sie das erste Mal richtig gesehen habe. Nicht getroffen, sondern gesehen, wenn Du weißt, was ich meine. Dem Geschenk war eine Karte beigelegt.

Auf der Karte erklärte ich Sam, dass ihr Geschenk ursprünglich mal ein Geschenk von Tante Helen für mich war. Eine Single. »Something« von den Beatles. Als ich klein war und über Erwachsenendinge nachdachte, habe ich das Lied ständig gehört. Ich bin zu meinem Schlafzimmerfenster gegangen, habe meine Spiegelung in der Scheibe und die Bäume dahinter angestarrt und mir dieses Lied angehört. Und damals habe ich beschlossen, dass ich diese Single einmal jemandem schenken wollte, der genauso schön wie das Lied war. Und nicht nur äußerlich schön. Schön in jeder Hinsicht. Also schenkte ich sie Sam.

Sie sah mich berührt an. Und legte die Arme um mich. Und ich schloss die Augen, weil ich nichts außer diesen Armen spüren wollte. Und sie küsste mich auf die Wange und flüsterte so leise, dass niemand außer mir es hören konnte:

»Ich hab dich lieb.«

Natürlich wusste ich, dass sie es »freundschaftlich« meinte, aber das war mir egal, denn das war das dritte Mal, seit Tante Helen gestorben war, dass mir jemand das gesagt hatte. Die beiden anderen Male war es meine Mutter gewesen.

Danach glaubte ich gar nicht, dass Sam mir noch etwas schenken würde, denn ich dachte, »Ich hab dich lieb« wäre schon das Geschenk gewesen. Sie hatte aber noch etwas für mich dabei. Und zum ersten Mal brachte mich etwas so Nettes wie das nicht zum Weinen, sondern zum Lächeln. Ich vermute, Sam und Patrick gehen zu demselben Secondhandladen, denn ihre Geschenke passten perfekt zusammen. Sam nahm mich mit auf ihr Zimmer und schob mich vor die Kommode, auf der ein bunter Kissenbezug lag. Sie zog den Bezug weg – und ich stand, in meinem Anzug, vor einer alten Schreibmaschine mit frischem Farbband. Ein weißes Blatt Papier war eingespannt.

Und auf dieses weiße Blatt Papier tippte Sam:

»Schreib irgendwann mal über mich.«

Und dann tippte ich auch etwas, dort in ihrem Zimmer. Ich tippte:

»Das werde ich.«

Und es fühlte sich gut an, dass das die ersten drei Worte waren, die ich auf meiner neuen alten Schreibmaschine tippte, der Schreibmaschine, die mir Sam geschenkt hatte. Einen Moment lang standen wir einfach still da, und sie lächelte. Dann ging ich wieder zur Schreibmaschine und tippte noch etwas.

»Ich hab dich auch lieb.«

Sam sah erst das Blatt Papier an, dann mich.

»Charlie … hast du schon einmal ein Mädchen geküsst?«

Ich schüttelte den Kopf. Es war auf einmal so still im Zimmer.

»Nicht einmal, als du klein warst?«

Ich schüttelte erneut den Kopf. Und da sah sie sehr traurig aus.

Dann erzählte mir Sam von ihrem ersten Kuss. Dass es einer der Freunde ihres Vaters gewesen war. Dass sie damals sieben gewesen war. Und dass sie es niemandem je erzählt hatte außer Mary Elizabeth und letztes Jahr Patrick. Und dann begann sie zu weinen. Und sie sagte etwas, das ich nie vergessen werde. Nie.

»Ich weiß, dass du weißt, dass ich Craig wirklich gern habe. Und ich weiß, dass ich dir gesagt habe, dass du nicht auf die Art an mich denken sollst. Und ich weiß, dass wir nicht auf die Art zusammen sein können. Aber ich will das alles mal für eine Minute vergessen. Okay?«

»Okay.«

»Ich will einfach, dass der erste Mensch, der dich küsst, dich auch lieb hat. Okay?«

»Okay.«

Sie weinte jetzt noch mehr. Und ich weinte auch, denn wenn man mir so etwas sagt, kann ich leider nicht anders.

»Ich will einfach nur sichergehen. Okay?«

»Okay.«

Und dann küsste sie mich. Es war ein Kuss, von dem ich meinen Freunden nie erzählen könnte. Es war ein Kuss, der mich spüren ließ, dass ich noch nie in meinem ganzen Leben so glücklich war.

Einmal schrieb er ein Gedicht
auf ein gelbes Blatt mit grünen Linien
Er nannte es »Chops«
weil das der Name seines Hundes war
Und genau darum ging es
Und sein Lehrer gab ihm eine Eins
mit goldenem Sternchen
Und seine Mutter hängte es an die Küchentür
und las es seinen Tanten vor
Das war das Jahr, als Pfarrer Tracy
alle Kinder in den Zoo mitnahm
Und im Bus ließ er sie singen
Und seine kleine Schwester kam zur Welt
mit winzigen Zehen und ganz ohne Haar
Und seine Eltern küssten sich oft
Und das Mädchen um die Ecke schenkte ihm eine
Valentinskarte mit ganz vielen X
und er fragte seinen Vater, was das bedeutete
Und sein Vater brachte ihn abends immer zu Bett
Und war immer dafür da

 

Einmal schrieb er ein Gedicht
auf ein weißes Blatt mit blauen Linien
Er nannte es »Herbst«
weil das der Name der Jahreszeit war
Und genau darum ging es
Und sein Lehrer gab ihm eine Eins
und bat ihn, etwas leserlicher zu schreiben
Und seine Mutter hängte es nicht an die Küchentür
wegen der neuen Farbe
Und die Kinder erzählten ihm
dass Pfarrer Tracy Zigarren rauchte
Und Stummel auf den Kirchenbänken ließ
Und manchmal brannten sie Löcher hinein
Das war das Jahr, als seine Schwester ihre Brille bekam
mit dicken Gläsern und schwarzen Bügeln
Und das Mädchen um die Ecke lachte
als er mit ihr den Weihnachtsmann sehen wollte
Und die Kinder erklärten ihm, wieso
sich seine Eltern so oft küssten
Und sein Vater brachte ihn abends nicht mehr zu Bett
Und sein Vater wurde wütend
als er deshalb weinte.

 

Einmal schrieb er ein Gedicht
auf einen Zettel aus einem Block
Er nannte es »Unschuld: Eine Frage«
weil das bei seinem Mädchen die Frage war
Und genau darum ging es
Und sein Professor gab ihm eine Eins
und sah ihn lang und seltsam an
Und seine Mutter hängte es nie an die Küchentür
weil er es ihr nie zeigte
Das war das Jahr, als Pfarrer Tracy starb
Und er vergaß, wie das Ende
des Glaubensbekenntnisses ging
Und er erwischte seine Schwester
wie sie auf der Veranda rummachte
Und seine Eltern küssten sich nie
oder redeten auch nur

Und das Mädchen um die Ecke
trug so viel Make-up
Dass er kaum Luft bekam beim Küssen
aber er küsste sie trotzdem
weil man das so tat
Und um drei Uhr morgens ging er zu Bett
während sein Vater lauthals schnarchte

 

Deshalb versuchte er, auf einer Papiertüte
ein weiteres Gedicht zu schreiben
Und er nannte es »Absolut gar nichts«
Denn genau darum ging es doch
Und er gab sich selbst eine Eins
und einen Schnitt in jedes verdammte Handgelenk
Und hängte es an die Badezimmertür
weil er diesmal nicht glaubte
dass er die Küche noch erreichen würde.

 

Dieses Gedicht habe ich für Patrick vorgelesen. Und niemand wusste, wer es geschrieben hatte, aber Bob meinte, er hätte es schon einmal gehört und es sei der Abschiedsbrief eines Jungen gewesen. Ich hoffe sehr, dass das nicht stimmt, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich das Ende dann noch mag.

 

Alles Liebe,
Charlie

23. Dezember 1991

Lieber Freund,

Sam und Patrick sind gestern mit ihrer Familie zum Grand Canyon gefahren. Es macht mir gar nicht so viel aus, weil ich mich noch an Sams Kuss erinnern kann, und es fühlt sich friedlich und richtig an. Ich habe mir sogar überlegt, ob ich mir meine Lippen nicht mehr wasche, so wie die Leute im Fernsehen, fand das dann aber doch zu eklig. Stattdessen bin ich heute durch die Nachbarschaft geschlendert und habe dann meinen alten Schlitten und meinen alten Schal rausgekramt. Das hatte etwas Behagliches.

Mit dem Schlitten bin ich rüber zu dem Hügel, wo wir als Kinder immer gefahren sind. Auch jetzt waren jede Menge Kinder da. Ich sah zu, wie sie dahinglitten, wie sie ihre Sprünge und Wettrennen machten. Und dachte daran, dass all diese kleinen Kinder eines Tages erwachsen sein werden. Und alle werden sie dieselben Sachen machen wie wir. Und alle werden sie eines Tages einmal jemanden küssen. Aber in diesem Moment reichte es, einfach nur Schlitten zu fahren, und ich dachte, es wäre wunderbar, wenn Schlitten fahren immer reichen würde, aber das tut es nicht.

Ich bin froh, dass es nicht mehr lang bis Weihnachten und zu meinem Geburtstag ist, denn dann wird beides bald vorbei sein – denn ich kann spüren, wie ich auf einen bösen Ort zusteuere, an dem ich früher schon einmal gewesen bin. Ich bin an diesen Ort gegangen, als meine Tante Helen gestorben ist, und es wurde so schlimm, dass meine Mutter mich zu einem Arzt brachte, und ich musste ein Schuljahr wiederholen. Jetzt versuche ich, nicht zu viel darüber nachzudenken, weil darüber nachdenken es nur noch schlimmer macht.

Es ist, wie wenn man sich selbst im Spiegel betrachtet und immer wieder seinen Namen sagt. Und irgendwann kommt einem nichts mehr real vor. Genauso geht es mir manchmal, aber ich brauche keine Stunde vor dem Spiegel dafür. Es geht ganz schnell, dass mir die Dinge entgleiten. Ich öffne die Augen und sehe nichts mehr. Und ich atme ganz schwer und versuche, noch irgendetwas zu erkennen, aber ich erkenne nichts. Es passiert nicht sehr häufig, aber wenn, jagt es mir wirklich Angst ein.

Heute Morgen wäre es beinahe passiert, doch dann habe ich an Sams Kuss gedacht, und es ging vorbei.

Wahrscheinlich sollte ich nicht zu viel darüber schreiben, denn dadurch denke ich ja wieder darüber nach. Und dabei versuche ich ja, teilzunehmen. Es ist nur nicht so einfach, weil Sam und Patrick am Grand Canyon sind.

Morgen gehe ich mit meiner Mutter Geschenke kaufen. Und dann feiern wir meinen Geburtstag. Ich bin am 24. Dezember geboren. Habe ich Dir das schon erzählt? Schon komisch, so nahe an Weihnachten Geburtstag zu haben. Jedenfalls, danach feiern wir bei Dads Familie, und mein Bruder wird eine Weile daheim sein. Dann mache ich meine Führerscheinprüfung, und so werde ich gut beschäftigt sein, bis Sam und Patrick wieder da sind.

Heute Abend habe ich mit meiner Schwester ferngesehen, doch sie wollte die Weihnachtsspecials nicht sehen, also bin ich nach oben gegangen und habe gelesen.

Bill hat mir für die Ferien ein neues Buch gegeben. »Der Fänger im Roggen«. Das war Bills Lieblingsbuch, als er in meinem Alter war. Er meint, es ist die Art von Buch, die zu einem Teil von einem werden.

Die ersten zwanzig Seiten habe ich schon gelesen. Ich weiß noch nicht so recht, was ich davon halten soll, aber es passt jedenfalls zur Jahreszeit. Ich hoffe, Sam und Patrick melden sich an meinem Geburtstag. Dann würde es mir schon viel besser gehen.

 

Alles Liebe,
Charlie

25. Dezember 1991

Lieber Freund,

ich sitze in Dads altem Kinderzimmer in Ohio. Der Rest der Familie ist unten. Es geht mir nicht besonders gut. Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber allmählich kriege ich es mit der Angst zu tun. Ich wünschte, wir würden heute Abend zurück nach Hause fahren, aber wir übernachten immer hier, und ich will meiner Mutter nichts sagen, denn sie würde sich nur Sorgen machen. Ich hätte es ja Sam und Patrick erzählt, doch sie haben gestern nicht angerufen. Und heute Morgen nach dem Geschenkeaufmachen sind wir losgefahren. Vielleicht haben sie heute Nachmittag angerufen – ich hoffe es nicht, denn ich war ja nicht da. Ich hoffe, es ist okay, dass ich Dir das alles erzähle. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich werde immer traurig, wenn das mit mir passiert, und ich wünschte, Michael wäre hier. Und ich wünschte, Tante Helen wäre hier. Ich vermisse Tante Helen sehr. Bills Buch zu lesen hilft mir auch nicht. Ich weiß nicht, ich denke einfach zu schnell, viel zu schnell. So wie heute Abend.

Wir haben uns Ist das Leben nicht schön? angesehen, ein wirklich toller Film, aber ich fragte mich die ganze Zeit über, warum eigentlich nicht Onkel Billy im Mittelpunkt steht. George Bailey ist ein wichtiger Mann in seiner Stadt. Dank ihm haben es eine Menge Leute aus den Slums geschafft. Nach dem Tod seines Vaters ist er der Einzige, der die Stadt retten kann, und er tut es. Eigentlich will er ja Abenteuer in der großen, weiten Welt erleben, doch er bleibt zu Hause und opfert seine Träume dem Wohl der Gemeinschaft. Das macht ihn sehr traurig, und er will sich umbringen. Er will sterben, sodass seine Familie das Geld aus seiner Lebensversicherung erhält. Da steigt ein Engel herab und zeigt George Bailey, wie das Leben aussähe, wenn er nie geboren worden wäre. Wie seine Stadt gelitten hätte. Und seine Frau eine »alte Jungfer« geworden wäre. Und meine Schwester machte dieses Jahr nicht mal eine Bemerkung darüber, wie altmodisch sie das fand. Sonst sagt sie immer, dass Mary doch für ihren eigenen Lebensunterhalt aufkommt, und nur weil sie nicht verheiratet ist, heißt das noch lange nicht, dass sie nutzlos wäre. Dieses Jahr sagte sie das nicht. Keine Ahnung, warum. Vielleicht wegen ihrem heimlichen Freund. Oder vielleicht wegen dem, was im Auto auf dem Weg hierher passiert ist. Jedenfalls wollte ich, dass Onkel Billy im Mittelpunkt steht, weil er trinkt und fett ist und das ganze Geld verloren hat. Ich wollte, dass der Engel herabsteigt und uns zeigt, warum auch Onkel Billys Leben einen Sinn hat. Dann würde es mir etwas besser gehen, glaube ich.

Es fing gestern an, zu Hause. Ich mag meinen Geburtstag nicht – überhaupt nicht. Ich bin mit meiner Mutter und meiner Schwester einkaufen gegangen, und meine Mutter hatte schlechte Laune wegen der Parkplätze und der Warteschlangen. Und meine Schwester hatte schlechte Laune, weil sie ihrem heimlichen Freund kein Geschenk kaufen konnte, ohne dass Mom es mitbekam. Sie würde also später noch mal los müssen. Und mir ging es komisch. Wirklich komisch, denn wie ich so durch die Läden ging, hatte ich keine Ahnung, über was für ein Geschenk sich mein Vater freuen würde. Ich wusste, über was sich Sam oder Patrick freuen würden, aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was ich meinem eigenen Vater schenken sollte. Mein Bruder mag Poster von Mädchen und Bierdosen. Meine Schwester mag Friseurgutscheine. Meine Mutter mag alte Filme und Pflanzen. Dad mag nur Golf, aber das ist kein Wintersport, außer in Florida, und da wohnen wir nicht. Er spielt auch nicht mehr Baseball, ja, er will nicht mal mehr daran erinnert werden, außer er erzählt gerade selbst Geschichten von damals. Ich wollte einfach nur wissen, was ich meinem Vater schenken sollte, denn ich habe ihn ja lieb. Und ich kenne ihn nicht einmal. Und er redet auch nicht gern über so etwas.

»Warum legst du nicht mit deiner Schwester zusammen und kaufst ihm diesen Pullover?«

»Nein, ich will ihm selbst etwas kaufen. Was für Musik mag er denn?«

Mein Vater hört nicht mehr so viel Musik, und was er mag, das hat er schon.

»Was für Bücher mag er denn?«

Mein Vater liest nicht mehr so viele Bücher – er hört auf dem Weg zur Arbeit Hörbücher, und die kriegt er umsonst aus der Bücherei.

Was für Filme?

Was überhaupt?

Meine Schwester entschied, den Pullover alleine zu kaufen. Und sie wurde allmählich wütend auf mich, weil es spät wurde und sie ja noch mal losgehen musste, um ein Geschenk für ihren heimlichen Freund zu kaufen.

»Gott, Charlie, kauf ihm doch einfach ein paar Golfbälle! «

»Aber Golf ist ein Sommersport.«

»Mom! Bringst du ihn bitte dazu, etwas zu kaufen!«

»Beruhige dich, Charlie. Es ist alles in Ordnung.«

Ich war so traurig, und ich wusste nicht, warum. Mom versuchte, nett zu sein – sie ist immer diejenige, die sich bemüht, alles im Griff zu haben, wenn es mir so geht.

»Tut mir leid, Mom.«

»Ist schon in Ordnung, Charlie. Du willst einfach nur ein hübsches Geschenk für deinen Vater kaufen. Das ist doch etwas Gutes.«

»Mom!« Meine Schwester begann, sich jetzt wirklich aufzuregen.

Meine Mutter sah meine Schwester aber nicht einmal an.

»Du kannst deinem Vater alles kaufen, was du willst, Charlie. Ich bin ganz sicher, dass es ihm gefallen wird. Aber beruhige dich erst mal. Es ist alles okay.«

Und dann gingen wir in vier verschiedene Läden, und in jedem setzte sich meine Schwester auf den nächstbesten Stuhl und stöhnte. Schließlich fanden wir das richtige Geschäft. Sie hatten Videokassetten, und ich entdeckte die letzte Folge von M*A*S*H – ohne Werbung. Und da ging es mir schon viel besser. Ich erzählte Mom, wie wir alle gemeinsam diese Folge angesehen hatten.

»Sie kennt die Geschichte, Charlie. Sie war dabei. Jetzt mach schon. Wirklich!«

Mom sagte meiner Schwester, sie solle sich da raushalten. Und dann hörte sie zu, wie ich die Geschichte erzählte, die sie schon kannte, aber ohne den Teil, an dem mein Vater weint – das war ja »unser kleines Geheimnis«. Und dann sagte sie, dass ich sehr gut erzählen könne. Ich habe meine Mutter wirklich lieb. Und dieses Mal sagte ich ihr das auch – dass ich sie lieb hatte. Und sie sagte mir, dass sie mich auch lieb hatte. Und für eine Weile war alles in Ordnung.

Später am Abend saßen wir um den Tisch herum und warteten darauf, dass mein Vater mit meinem Bruder vom Flughafen zurückkam. Sie hätten eigentlich längst da sein sollen, und Mom begann, sich Sorgen zu machen, weil es draußen stark schneite. Meine Schwester musste am Nachmittag daheim bleiben, um beim Kochen zu helfen. Mom wollte, dass es etwas ganz Besonderes für meinen Bruder und mich wurde, weil er ja nach Hause kam und ich Geburtstag hatte. Meine Schwester wollte aber ein Geschenk für ihren Freund kaufen gehen, und jetzt hatte sie wirklich schlechte Laune. Sie benahm sich wie diese verzogenen Mädchen in den Achtzigerjahre-Filmen, und meine Mutter sagte die ganze Zeit »junge Dame« zu ihr.

Schließlich rief Dad an und sagte, dass sich das Flugzeug meines Bruders wegen des Schneesturms verspätete. Ich bekam von dem Gespräch nur mit, was Mom sagte.

»Aber es ist doch Charlies Geburtstagsessen … Ich weiß, dass du nichts dafür kannst … Hat er es verpasst? Ich frag ja nur … Ich habe nicht gesagt, dass es deine Schuld ist … Nein, ich kann es nicht warm halten, es wird doch ganz trocken … Was? … Aber es ist doch sein Lieblingsessen … Was soll ich ihnen denn deiner Meinung nach machen? Natürlich haben sie Hunger … Du bist schon eine Stunde zu spät … Du hättest ja mal anrufen können …«

Ich weiß nicht, wie lange meine Mutter am Telefon war, weil ich nach einer Weile nicht mehr am Tisch sitzen und zuhören wollte. Also bin ich in mein Zimmer gegangen und habe gelesen. Ich hatte ohnehin keinen Appetit mehr, ich wollte einfach nur meine Ruhe. Bald darauf kam Mom zu mir und sagte, Dad hätte gerade noch einmal angerufen und sie wären in einer halben Stunde da. Sie fragte mich, ob alles in Ordnung sei, und ich wusste, sie meinte nicht meine Schwester und auch nicht den Streit mit Dad am Telefon, weil so etwas eben manchmal vorkam Sie hatte einfach meine Traurigkeit bemerkt, und sie glaubte nicht, dass es daran lag, dass meine Freunde weg waren, denn als ich gestern vom Schlittenfahren zurückkam, schien es mir noch ganz gut zu gehen.

»Ist es wegen Tante Helen?«

Es war die Art, wie sie es sagte. Es brachte die ganzen Gefühle in mir wieder hoch.

»Bitte tu dir das nicht an, Charlie.«

Ich tat es mir aber an. So wie ich es mir jedes Jahr an meinem Geburtstag antat.

»Es tut mir leid.«

Meine Mutter wollte nicht »darüber reden«. Sie wusste, dass ich ab einer bestimmten Stelle nicht mehr zuhöre und sehr schnell zu atmen beginne. Also legte sie mir einen Finger auf den Mund und wischte mir dann die Augen trocken. Ich beruhigte mich genug, um es nach unten zu schaffen. Und ich beruhigte mich genug, um mich zu freuen, dass mein Bruder nach Hause kam. Und das Essen war auch nicht zu trocken. Und später gingen wir nach draußen, um die Lichter aufzustellen, was alle in der Nachbarschaft jedes Jahr taten. Wir stellen braune Papiertüten mit Sand entlang der Straße auf, dann stecken wir in jede Tüte eine Kerze, und wenn wir die Kerzen anzünden, verwandelt sich die ganze Straße in eine Landebahn für den Weihnachtsmann. Dieses Lichteraufstellen macht großen Spaß, weil es einfach schön und eine Tradition ist und mich von meinem Geburtstag ablenkt.

Ich habe einige wirklich tolle Sachen zum Geburtstag bekommen. Meine Schwester war zwar noch wütend auf mich, trotzdem hat sie mir ein Album von den Smiths geschenkt. Mein Bruder hat mir ein Poster geschenkt, auf dem sein ganzes Footballteam unterschrieben hatte. Mein Vater hat mir einige Platten geschenkt, von denen ihm meine Schwester gesagt hat, dass ich sie mögen würde. Und meine Mutter hat mir einige Bücher geschenkt, die ihr selbst sehr gut gefallen hatten, als sie jung war. Darunter »Der Fänger im Roggen«.

Ich habe in Moms Ausgabe von der Stelle an weitergelesen, an der ich in Bills Ausgabe aufgehört hatte. Und es half mir, nicht mehr über meinen Geburtstag nachzudenken. Stattdessen dachte ich darüber nach, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft meinen Führerschein machen würde, und das war ein wirklich guter Gedanke. Und dann dachte ich an den Fahrkurs, den ich im letzten Halbjahr an der Schule belegt hatte.

Mr. Smith, der ziemlich klein ist und merkwürdig riecht, erlaubte uns nie, beim Fahren das Radio anzustellen. Mit mir waren noch zwei ältere Schüler in dem Kurs, ein Junge und ein Mädchen, und die beiden fassten sich immer heimlich an die Beine, wenn sie nicht gerade fahren mussten. Und wir sahen uns diese Filme über Todesfälle auf dem Highway an. Und da waren diese Polizeibeamten, die sich mit uns unterhielten. Und es war toll, den Führschein auf Probe zu bekommen, aber Mom und Dad wollten nicht, dass ich damit fahre, weil die Versicherung so teuer ist. Und Sam zu bitten, mich ihren Pick-up fahren zu lassen – nein, das könnte ich einfach nicht.

Jedenfalls, über all das nachzudenken, ließ mich meinen Geburtstag irgendwie überstehen.

Am nächsten Tag war Weihnachten, und es fing wirklich gut an. Dad freute sich über M*A*S*H, und das freute mich, vor allem als er seine Version jenes Abends erzählte, an dem wir gemeinsam die Folge gesehen hatten. Den Teil mit der Küche und dem Sandwich und dem Weinen ließ er ebenfalls weg, aber er zwinkerte mir zu, wie um mir zu sagen, dass er es nicht vergessen hatte. Auch die Fahrt nach Ohio war die erste halbe Stunde eigentlich ganz in Ordnung, obwohl ich hinten auf der Ausbuchtung sitzen musste. Dad stellte meinem Bruder eine Menge Fragen übers College, und mein Bruder beantwortete sie. Er geht jetzt mit einer Cheerleaderin aus, die während der Footballspiele Räder schlägt. Sie heißt Kelly. Meinen Vater interessierte das ziemlich. Meine Schwester sagte, Cheerleading sei dumm und sexistisch, und mein Bruder sagte, sie solle den Mund halten – Kelly studiert im Hauptfach Philosophie. Ich fragte meinen Bruder, ob Kelly »auf ihre ganz eigene Art und Weise« schön sei.

»Nein, sie sieht einfach nur umwerfend aus.«

Darauf sagte meine Schwester, dass das Aussehen einer Frau ja wohl nicht das Wichtigste sei. Ich stimmte ihr zu, aber dann sagte mein Bruder, meine Schwester sei eine »blöde Lesbe«, und meine Mutter sagte, er solle solche Ausdrücke nicht in meiner Gegenwart gebrauchen, was schon lustig ist, da ich vermutlich der Einzige in der Familie bin, der einen schwulen Freund hat. Gut, vielleicht auch nicht, zumindest aber einen, der offen darüber redet. Keine Ahnung. Jedenfalls wollte mein Vater dann wissen, wie sich mein Bruder und Kelly kennengelernt hatten.

Mein Bruder und Kelly hatten sich an der Penn State in einem Restaurant namens Ye Olde College Inn oder so ähnlich kennengelernt. Da gibt es offenbar diesen berühmten Nachtisch: »Grilled Stickies«. Auf jeden Fall war Kelly mit ihren Verbindungsfreundinnen da, und als sie gerade aufbrachen, fiel ihr direkt neben dem Tisch meines Bruders eines ihrer Bücher runter, und sie ging einfach weiter. Mein Bruder ist sich sicher, dass sie das Buch absichtlich hat fallen lassen, auch wenn sie das bestreitet. Vor dem Eingang zum Videoladen holte er sie ein, und überall um sie herum blühte es. Zumindest erzählte er das so. Sie verbrachten den Rest des Nachmittags damit, alte Videospiele wie Donkey Kong zu spielen und sich »nostalgisch« zu fühlen, was ich eigentlich sehr süß und auch etwas traurig fand. Ich fragte meinen Bruder, ob Kelly gern Kakao trinkt.

»Sag mal, bist du high, oder was?«

Und wieder sagte meine Mutter, er solle solche Ausdrücke nicht in meiner Gegenwart gebrauchen, was auch wieder lustig ist, weil ich vermutlich der Einzige in der Familie bin, der jemals high gewesen ist. Gut, vielleicht auch mein Bruder, da bin ich mir nicht sicher. Meine Schwester jedenfalls ganz bestimmt nicht. Andererseits, vielleicht war meine ganze Familie schon einmal high, und niemand redete darüber.

Jedenfalls verbrachte meine Schwester die nächsten zehn Minuten damit, das ganze System der Studentenverbindungen mit ihren griechischen Buchstaben in Bausch und Bogen zu verdammen. Diese widerlichen Einführungsrituale! Und es seien schon Studenten unter diesen Schikanen gestorben! Und sie hätte gehört, dass eine dieser Verbindungen alle neuen Mädchen in Unterwäsche antreten ließ und mit rotem Filzstift ihr »Fett« markierte! An diesem Punkt hatte mein Bruder genug.

»So eine verdammte Scheiße!«

Ich kann immer noch nicht glauben, dass mein Bruder im Auto geflucht hat und Dad oder Mom nichts gesagt haben. Offenbar ist es in Ordnung, jetzt, da er aufs College geht. Meiner Schwester machte es auch nichts aus. Sie redete einfach weiter.

»Das ist keine Scheiße, ich habe das so gehört.«

»Achte auf deine Ausdrucksweise, junge Dame«, kam es von Dad.

»Ah ja? Und wo hast du es gehört?«, fragte mein Bruder.

»Im Radio«, sagte meine Schwester.

»Im Radio!« Mein Bruder kann wirklich sehr laut lachen.

»Es stimmt aber!«

Meine Mutter und mein Vater sahen aus, als verfolgten sie durch die Windschutzscheibe ein Tennisspiel – sie schüttelten die ganze Zeit ihre Köpfe, sagten aber kein Wort. Und sahen auch nicht zu uns nach hinten. Allerdings drehte mein Vater die Weihnachtsmusik im Radio immer lauter.

»Du laberst so eine Scheiße. Woher willst du das alles eigentlich wissen? Du hast keine Ahnung vom College. Kelly hat so was nie erlebt.«

»Na klar, als ob sie dir das erzählen würde!«

»Ja, würde sie. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. «

»Oh, du bist ja plötzlich der einfühlsame Typ!«

Ich wollte, dass sie mit der Streiterei aufhörten, weil es mich aufzuregen begann, also stellte ich eine Frage.

»Redet ihr auch über Bücher und Probleme und so etwas? «

»Ja, das tun wir tatsächlich, Charlie. Kellys Lieblingsbuch ist ›Walden‹ von Henry David Thoreau, und sie meinte neulich, dass der Transzendentalismus uns noch immer viel zu sagen hat.«

»Uff! Was für ein Gesülze!« Im Augenverdrehen ist meine Schwester wirklich die Allerbeste.

»Oh, tut mir leid, aber hat irgendjemand mit dir geredet? Ich habe gerade meinem kleinen Bruder von meiner Freundin erzählt. Kelly sagt, sie hofft darauf, dass die Demokraten einen guten Kandidaten gegen Bush aufstellen. Und sie hofft, dass dann endlich der Verfassungszusatz zur Gleichberechtigung in Kraft treten kann. Ganz genau – der Verfassungszusatz, wegen dem du immer so rumjammerst. Auch Cheerleader denken über so was nach. Und dazwischen können sie sogar Spaß haben. «

Meine Schwester verschränkte die Arme vor der Brust und begann zu pfeifen, aber mein Bruder war zu sehr in Fahrt, um jetzt lockerzulassen. Ich bemerkte, wie Dads Hals ziemlich rot wurde.

»Es gibt aber noch einen Unterschied zwischen ihr und dir. Kelly glaubt so fest an die Rechte der Frauen, dass sie sich nie von einem Typen schlagen lassen würde. Und über dich kann man das ja wohl nicht sagen.«

Ich schwöre, wir wären beinahe gestorben. Dad trat so hart auf die Bremse, dass mein Bruder fast über den Sitz geflogen wäre und es leicht nach angesengtem Reifen zu riechen begann. Erst atmete mein Vater tief durch, dann drehte er sich um. Und starrte meinen Bruder an. Er sagte kein Wort – er starrte ihn bloß an.

Mein Bruder starrte zurück wie ein Reh, das meine Cousins gerade erwischt hatten, und nach zwei sehr langen Sekunden entschuldigte er sich bei meiner Schwester. Und so, wie er klang, hatte er ein echt schlechtes Gewissen.

»Es tut mir leid. Okay? Ganz ehrlich. Na komm schon, hör auf zu weinen.«

Meine Schwester weinte aber so stark, dass es einem Angst machen konnte. Dad wandte sich ihr zu. Und wieder sagte er kein Wort. Er schnippte lediglich mit den Fingern, um auf sich aufmerksam zu machen. Meine Schwester sah ihn an. Zuerst war sie verwirrt, weil Dad nicht gerade mitfühlend aussah. Dann zuckte sie mit den Schultern und entschuldigte sich ihrerseits bei meinem Bruder.

»Tut mir leid, was ich über Kelly gesagt habe. Klingt, als wäre sie ein echt nettes Mädchen.«

Dann wandte sich Dad Mom zu. Und Mom wandte sich uns zu.

»Euer Vater und ich wünschen keinen weiteren Streit. Besonders nicht, wenn wir angekommen sind. Habt ihr das verstanden?«

Erstaunlich, wie Mom und Dad manchmal ein richtiges Team sein können. Mein Bruder und meine Schwester nickten jedenfalls beide und senkten den Blick. Und dann wandte sich Dad mir zu.

»Charlie?«

»Ja, Sir?«

Es ist wichtig, in solchen Momenten »Sir« zu sagen. Und wenn sie einen mit deinem vollen Namen ansprechen, dann sollte man wirklich auf der Hut sein. Ich weiß, wovon ich rede.

»Charlie, ich will, dass du den restlichen Weg zu meiner Mutter fährst.«

Alle im Auto wussten, dass das vermutlich die schlechteste Idee war, die mein Vater je in seinem Leben gehabt hatte. Aber niemand protestierte. Dad stieg aus, ging nach hinten und setzte sich zwischen meinen Bruder und meine Schwester auf die Rückbank. Ich kletterte nach vorne, setzte mich auf den Fahrersitz, legte den Gurt an und würgte den Wagen zweimal ab. Dann fuhr ich den Rest der Strecke. Und ich habe nicht mehr so geschwitzt seit jener Zeit, als ich Sport getrieben habe, und dabei war es draußen wirklich kalt.

Dads Familie ist ein bisschen so wie Moms Familie. Mein Bruder meinte einmal, irgendwie sind es dieselben Cousins, nur mit anderen Namen. Aber einen großen Unterschied gibt es: meine Großmutter. Ich liebe meine Großmutter. Jeder liebt meine Großmutter. Sie wartete in der Einfahrt auf uns, so wie immer. Sie wusste immer, wenn jemand kam.

»Kann Charlie denn schon fahren?«

»Er ist gestern sechzehn geworden.«

»Oh.«

Meine Großmutter ist schon ziemlich alt, und sie vergisst eine Menge, aber dafür macht sie die leckersten Kekse. Als ich noch sehr klein war, war da Moms Mutter, bei der es immer Bonbons gab, und Dads Mutter, bei der es immer Kekse gab, und Mom hat mir einmal erzählt, dass ich die beiden damals »Bonbon-Oma« und »Keks-Oma« genannt habe. Ich habe Pizzarinde auch »Pizzaknochen« genannt. Keine Ahnung, warum mir das gerade einfällt.

So wie meine allererste Erinnerung – als mir wahrscheinlich auch das erste Mal richtig bewusst wurde, dass ich am Leben bin. Mom und Tante Helen nahmen mich mit in den Zoo. Ich glaube, ich war drei damals, aber ich könnte es nicht genau sagen. Jedenfalls sahen wir diesen beiden Kühen zu. Eine Mutterkuh und ihr Kalb. Sie hatten nicht so viel Platz in ihrem Gehege, und das Kalb stand genau unter der Mutter, und plötzlich machte die Mutter ihrem Kalb einen großen Haufen auf den Kopf. Und ich fand, das war das Komischste, das ich auf der ganzen Welt je gesehen hatte, und lachte drei Stunden lang darüber. Erst lachten Mom und Tante Helen mit, weil sie sich freuten, dass ich lachte. Angeblich habe ich als kleines Kind so gut wie nie geredet, und so haben sie sich immer gefreut, wenn ich einmal einen normalen Eindruck machte. Doch als es dann drei Stunden lang so ging, versuchten sie, mich zum Aufhören zu bringen – und darüber musste ich nur noch mehr lachen. Ich glaube nicht, dass es wirklich drei Stunden waren, es kam mir jedenfalls sehr lange vor. Und ich denke immer mal wieder daran. Es scheint mir das zu sein, was man einen »verheißungsvollen Start« nennt.

Wie auch immer, nachdem wir uns alle die Hände geschüttelt und uns umarmt hatten, gingen wir ins Haus, und da wartete Dads restliche Familie auf uns. Großonkel Phil mit seinem künstlichen Gebiss. Und Tante Rebecca, Dads Schwester. Mom hat uns gesagt, dass sich Tante Rebecca gerade wieder hat scheiden lassen und wir nicht darüber reden sollten. Allerdings interessierte ich mich ohnehin nur für die Kekse, doch meine Großmutter hatte dieses Jahr keine gemacht, wegen ihrer schlimmen Hüfte.

Statt Kekse zu essen, setzten wir uns alle hin und sahen fern, und meine Cousins unterhielten sich mit meinem Bruder über Football, und Großonkel Phil trank, und dann aßen wir zu Abend, und ich musste mit den Kleinen am Tisch sitzen, weil es in Dads Familie viel mehr Cousins gibt.

Kleine Kinder unterhalten sich über die seltsamsten Dinge. Wirklich.

Nach dem Abendessen sahen wir uns Ist das Leben nicht schön? an, und ich wurde immer trauriger. Als ich später die Treppe zu Dads früherem Kinderzimmer hinaufging und mir dabei die alten Familienfotos ansah, die an den Wänden hingen, musste ich daran denken, dass diese Fotos irgendwann einmal keine Erinnerungen gewesen waren – dass jemand dieses Foto wirklich gemacht hatte, und die Leute darauf hatten gerade wirklich zu Mittag gegessen.

Der erste Mann meiner Großmutter starb im Koreakrieg, mein Vater und Tante Rebecca waren da noch ganz klein. Meine Großmutter zog darauf mit den beiden Kindern zu ihrem Bruder, Großonkel Phil. Und nach einigen Jahren wurde meine Großmutter sehr, sehr traurig, weil sie ja allein zwei Kinder versorgen musste und müde vom vielen Kellnern war. Eines Tages also, in dem Diner, in dem sie damals arbeitete, fragte sie dieser Lastwagenfahrer, ob sie sich mit ihm treffen wolle, und sie sagte Ja. Meine Großmutter war sehr hübsch – auf diese Art, wie man auf alten Fotos hübsch war. Jedenfalls gingen sie eine Weile miteinander aus, und dann heirateten sie. Aber der Lastwagenfahrer stellte sich als furchtbarer Mensch heraus. Er schlug meinen Vater die ganze Zeit. Und er schlug auch Tante Rebecca die ganze Zeit. Und meine Großmutter schlug er wirklich schlimm – die ganze Zeit. Und sie konnte offenbar nichts dagegen tun, denn das ging sieben Jahre lang so.

Bis Großonkel Phil eines Tages Tante Rebeccas blaue Flecken entdeckte und meine Großmutter dazu brachte, ihm alles zu erzählen. Dann trommelte er einige Freunde aus der Fabrik zusammen, und sie stöberten den Mann meiner Großmutter in einer Bar auf und schlugen ihn wirklich übel zusammen. Großonkel Phil erzählt die Geschichte sehr gerne – wenn meine Großmutter gerade nicht in der Nähe ist. Hier und da verändert sie sich immer mal wieder, aber letztlich läuft sie jedes Mal auf das Gleiche hinaus: Der Lastwagenfahrer starb vier Tage später im Krankenhaus.

Keine Ahnung, warum Großonkel Phil für das, was er getan hatte, nicht ins Gefängnis musste. Ich habe meinen Vater einmal danach gefragt, und er sagte, die Leute aus dem Viertel, in dem sie lebten, seien sich damals einig gewesen, dass bestimmte Dinge die Polizei nichts angingen. Er sagte, wenn jemand deine Schwester oder deine Mutter anrührt, zahlt er eben den Preis dafür, und niemand regt sich groß darüber auf.

Es ist einfach nur schade, dass es sieben Jahre lang andauerte, denn Tante Rebecca machte später dasselbe mit ihren Ehemännern durch. Bei ihr lief es aber anders, denn das Viertel hatte sich verändert. Großonkel Phil war schon zu alt, und mein Vater war weggezogen. Tante Rebecca musste stattdessen die Gerichte einschalten.

Ich frage mich, was einmal aus Tante Rebeccas Kindern werden wird. Sie hat ein Mädchen und zwei Jungs. Darüber nachzudenken macht mich traurig, denn ich glaube, dass das Mädchen wie Tante Rebecca enden wird und der eine Junge wie sein Vater. Der andere Junge könnte so wie mein Vater werden, weil er ziemlich sportlich ist und nicht denselben Vater wie sein Bruder und seine Schwester hat. Dad spricht oft mit ihm und bringt ihm bei, wie man einen Baseball wirft. Früher, als ich klein war, war ich ziemlich eifersüchtig deshalb, jetzt aber nicht mehr. Weil mein Bruder sagt, dass mein Cousin der Einzige in seiner Familie ist, der eine Chance hat. Und dass er meinen Vater braucht. Ich glaube, ich verstehe das.

Dads früheres Kinderzimmer sieht noch ziemlich genau so aus wie damals, als er ausgezogen ist, es ist nur etwas verblasst. Auf dem Schreibtisch steht ein Globus, der offenbar sehr oft gedreht worden war. An den Wänden hängen Poster von ehemaligen Baseballstars. Und alte Zeitungsausschnitte – wie mein Vater damals in der Zehnten dieses wichtige Spiel gewonnen hat. Ich weiß nicht genau wieso, aber plötzlich verstand ich, dass mein Vater aus diesem Haus hatte ausziehen müssen. Als ihm klar wurde, dass meine Großmutter keinen neuen Mann mehr finden würde, weil sie mit den Männern fertig war und weil sie kein Vertrauen mehr hatte und weil sie gar nicht mehr wusste, wie das ging. Und als er sah, wie seine Schwester jüngere Versionen ihres toten Stiefvaters mit nach Hause brachte. Da musste er einfach weg.

Ich legte mich auf sein altes Bett und betrachtete den Baum vor dem Fenster, der viel kleiner gewesen war, als mein Vater ihn betrachtet hatte. Und ich konnte fühlen, was er in jener Nacht gefühlt hatte, als ihm klar wurde, dass er nie sein eigenes Leben würde führen können, wenn er jetzt nicht ging, sondern immer nur das seiner Familie. Zumindest hat er das einmal so gesagt. Vielleicht sieht sich Dads Familie deshalb jedes Jahr den gleichen Film an. Das würde irgendwie Sinn ergeben. Übrigens weint mein Vater am Ende dieses Films nie.

Ich frage mich, ob meine Großmutter oder Tante Rebecca meinem Vater je vergeben werden, dass er sie damals verlassen hat. Nur Großonkel Phil hat es verstanden. Es ist schon sehr seltsam, wie sich mein Vater in Gegenwart seiner Mutter und seiner Schwester verändert. Er macht die ganze Zeit über ein schuldbewusstes Gesicht, und er geht mit seiner Schwester immer lange spazieren. Einmal habe ich durch das Fenster gesehen, wie Dad ihr Geld gab.

Und ich frage mich, was Tante Rebecca im Auto auf dem Weg zurück nach Hause erzählt. Was denken ihre Kinder? Reden sie über uns? Fragen sie sich, wer aus unserer Familie wohl eine Chance hat? Ich wette, dass sie das tun.

 

Alles Liebe,
Charlie

26. Dezember 1991

Lieber Freund,

nach zwei Stunden Fahrt sitze ich wieder zu Hause in meinem eigenen Zimmer. Diesmal haben sich meine Schwester und mein Bruder vertragen, also musste ich nicht ans Steuer.

In der Regel fahren wir auf dem Rückweg immer am Friedhof vorbei und besuchen Tante Helens Grab. Das ist so eine Art Tradition. Mein Bruder und mein Vater wollen zwar nie wirklich, aber Mom und mir zuliebe legen sie keinen Protest ein. Meiner Schwester ist es eigentlich egal, sie ist jedoch bei solchen Dingen äußerst feinfühlig.

Immer, wenn wir an Tante Helens Grab gehen, reden meine Mutter und ich über eine Sache, die wunderbar an ihr gewesen ist. Meistens sage ich, wie wunderbar es war, dass sie mich immer länger aufbleiben und Saturday Night Live ansehen ließ. Und meine Mutter lächelt, denn sie hätte als Kind auch gerne länger aufbleiben und fernsehen wollen.

Wir legen Blumen und manchmal auch eine Karte auf Tante Helens Grab. Ich glaube, wir wollen einfach, dass sie weiß, wie sehr wir sie vermissen. Und was für ein besonderer Mensch sie war. Meine Mutter meint, das hätte man Tante Helen viel zu selten gesagt, als sie noch am Leben war. Und irgendwie fühlt sich meine Mutter schuldig deswegen, so ähnlich wie mein Vater mit seiner Familie. So schuldig, dass Mom Tante Helen damals statt Geld gleich ein ganzes Zu Hause gegeben hat.

Ich denke, Du solltest wissen, warum sich meine Mutter schuldig fühlt. Ich weiß nicht so recht, ob ich es Dir wirklich sagen sollte, aber mit irgendjemandem muss ich darüber reden. Niemand in meiner Familie will darüber reden. Nie. Ich meine diese schlimme Sache, die Tante Helen passiert ist und die man mir nicht sagen wollte, als ich noch klein war.

Jedes Jahr zu Weihnachten kann ich an kaum etwas anderes denken. Es ist das, was mich tief im Inneren so unendlich traurig macht.

Ich sage nicht, wer. Ich sage nicht, wann. Ich sage nur, dass Tante Helen »missbraucht« wurde. Ich hasse dieses Wort. Es war jemand, der ihr sehr nahestand – aber nicht ihr Vater. Sie hat es ihrem Vater erzählt, doch er hat ihr nicht geglaubt, weil er die betreffende Person gut kannte. Ein Freund der Familie. Das machte es nur noch schlimmer. Meine Großmutter sagte auch nie etwas, und der Mann kam einfach immer wieder zu Besuch.

Tante Helen hat getrunken. Tante Helen hat Drogen genommen. Tante Helen hat jede Menge Probleme mit Männern gehabt. Meistens war sie unglücklich. Ständig war sie im Krankenhaus – alle möglichen Krankenhäuser. Irgendwann fand sie eines, das ihr half, wieder Mut zu fassen und ihr Leben einigermaßen in den Griff zu kriegen, und dann zog sie bei uns ein. Sie belegte Kurse, um vielleicht einmal einen guten Job zu kriegen. Sie trennte sich von ihrem »Freund«. Sie nahm ab, ohne dass sie irgendwelche Diäten einhielt. Sie kümmerte sich um uns, sodass meine Eltern ausgehen und etwas trinken und Brettspiele spielen konnten. Sie ließ uns lang aufbleiben. Sie war die Einzige außer Mom und Dad und meinem Bruder und meiner Schwester, die mir immer zwei Geschenke kaufte: eines zu meinem Geburtstag, eines zu Weihnachten. Auch als sie bei uns wohnte und kein Geld hatte. Sie kaufte mir immer zwei Geschenke. Und es waren immer die besten Geschenke.

Und dann, am 24. Dezember 1982, stand ein Polizist vor unserer Tür. Es hatte stark geschneit, und Tante Helen hatte einen furchtbaren Unfall gehabt, und der Polizist sagte meiner Mutter, Tante Helen hätte den Unfall nicht überlebt. Er war ein sehr netter Mensch, denn als meine Mutter in Tränen ausbrach, sagte er ihr, dass der Unfall sehr schlimm gewesen sei. Und Tante Helen sei bestimmt gleich tot gewesen. Sie hatte also keine Schmerzen gehabt. Tante Helen hatte keine Schmerzen mehr …

Der Polizist bat Mom, mitzukommen und die Leiche zu identifizieren. Dad war noch im Büro. In diesem Moment kamen mein Bruder, meine Schwester und ich zur Tür. Wir alle trugen Partyhüte – Mom wollte immer, dass sich meine Schwester und mein Bruder auch welche aufsetzten. Meine Schwester sah Mom weinen und fragte sie, was geschehen sei, doch Mom brachte kein Wort heraus. Also ließ sich der Polizist auf die Knie nieder und erzählte uns, was geschehen war. Mein Bruder und meine Schwester weinten. Ich weinte nicht. Ich war mir absolut sicher, dass es sich hier um einen Irrtum handelte.

Mom bat meinen Bruder und meine Schwester, sich um mich zu kümmern, und dann ging sie mit dem Polizisten mit. Ich glaube, wir sahen fern, aber ich bin mir wirklich nicht sicher. Jedenfalls kam Dad nach Hause, bevor Mom wieder zurück war.

»Was macht ihr denn für lange Gesichter?«

Wir sagten es ihm. Er weinte nicht. Er fragte aber, ob es uns gut ginge. Mein Bruder und meine Schwester sagten Nein. Ich sagte Ja. Der Polizist hatte sich doch nur geirrt. Es schneite so stark draußen – wer sollte da noch etwas richtig erkennen … Dann kam meine Mutter nach Hause. Sie weinte. Und sie sah meinen Vater an und nickte. Dad legte die Arme um sie. In diesem Moment begriff ich, dass sich der Polizist nicht geirrt hatte.

Ich weiß nicht mehr genau, was als Nächstes geschehen ist, und ich habe auch nie danach gefragt. Ich erinnere mich daran, dass wir in die Klinik fuhren. Ich erinnere mich daran, dass ich in einem Zimmer mit hellem Licht saß. Ich erinnere mich an einen Arzt, der mir Fragen stellte und dem ich erzählte, dass Tante Helen die Einzige gewesen war, die mich immer in den Arm genommen hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich mit meiner Familie am ersten Weihnachtsfeiertag in einem Wartezimmer saß. Und ich erinnere mich daran, dass ich nicht auf die Beerdigung durfte. Und dass ich Tante Helen nie Lebewohl sagen konnte.

Ich weiß auch nicht mehr, wie lange ich zu dem Arzt musste. Und wie lange sie mich von der Schule nahmen. Ich weiß nur, dass es ziemlich lange war. Das Einzige, woran ich mich ganz genau erinnere, ist der Tag, ab dem es mir wieder besser ging, denn an diesem Tag fiel mir wieder ein, was Tante Helen zu mir gesagt hatte, ehe sie im Schnee verschwunden war.

Sie zog sich ihren Mantel an, und ich reichte ihr die Autoschlüssel, weil ich immer wusste, wo sie waren. Ich fragte sie, wohin sie fuhr. Sie sagte, das sei ein Geheimnis, doch ich fragte immer wieder, und Tante Helen mochte das – sie mochte es, wenn ich ihr Löcher in den Bauch fragte. Nach einer Weile schüttelte sie lächelnd den Kopf und flüsterte mir ins Ohr:

»Ich gehe dein Geburtstagsgeschenk kaufen.«

Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Und ich stelle mir vor, dass Tante Helen jetzt diesen guten Job hat, für den sie immer gelernt hat. Und dass sie einen netten Mann kennengelernt hat. Und dass sie ohne Diät all die Pfunde losgeworden ist, die sie immer loswerden wollte.

Egal, was mir meine Mutter und mein Arzt und mein Vater über Schuld erzählt haben, eines weiß ich ganz sicher: Ich weiß, dass Tante Helen heute noch am Leben wäre, wenn sie mir nur ein Geschenk gekauft hätte, so wie die anderen. Und sie wäre heute noch am Leben, wenn ich nicht im tiefsten Winter geboren worden wäre … Ich wünschte, das wäre alles anders gewesen. Ich vermisse sie so sehr. Und jetzt muss ich mit Schreiben aufhören – ich bin einfach zu traurig.

 

Alles Liebe,
Charlie

30. Dezember 1991

Lieber Freund,

einen Tag nach meinem letzten Brief habe ich »Der Fänger im Roggen« zu Ende gelesen, und seither habe ich es noch zwei weitere Male gelesen. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Sam und Patrick kommen heute nach Hause, aber ich werde sie wohl kaum treffen. Patrick wird sich irgendwo mit Brad treffen, und Sam wird sich mit Craig treffen. Allerdings sehe ich sie beide morgen im Big Boy und dann auf Bobs Silvesterparty.

Das Aufregende ist, dass ich selbst zum Big Boy fahren kann. Dad sagte, ich dürfe nicht selbst fahren, bevor sich nicht das Wetter bessert – und gestern hat es sich endlich gebessert. Ich hatte mir eigens für diesen Anlass ein neues Mixtape aufgenommen. Es heißt »Das erste Mal am Steuer«. Vielleicht bin ich zu sentimental, aber ich stelle mir vor, wie ich, wenn ich einmal alt bin, all diese Mixtapes ansehe und mich an all diese Fahrten erinnere.

Als ich gestern schließlich das erste Mal allein unterwegs war, fuhr ich zu Tante Helen. Das war auch das erste Mal, dass ich ohne meine Mutter bei ihr war. Ich gab mir sehr viel Mühe, um es zu etwas Besonderem zu machen. Ich kaufte von meinem Weihnachtsgeld Blumen. Und ich stellte ihr ein Mixtape zusammen und legte es ihr aufs Grab. Hoffentlich hältst Du mich jetzt nicht für allzu seltsam.

Und ich habe Tante Helen von allem erzählt. Von Sam und Patrick und ihren Freunden. Von meiner ersten Silvesterparty morgen. Von meinem Bruder, der an Neujahr sein letztes Footballspiel in dieser Saison hat. Von meiner Mutter, die geweint hat, als mein Bruder wieder weggefahren ist. Von den Büchern, die ich gelesen habe. Von diesem Lied, »Asleep«. Ich habe ihr erzählt, wie wir uns grenzenlos gefühlt haben. Und wie ich meinen Führerschein gekriegt habe. Dass mich meine Mutter hingefahren hat – und ich sie dann heimgefahren habe. Und dass der Polizist, der die Prüfung abgenommen hat, nicht einmal seltsam ausgesehen hat oder einen komischen Namen trug, weswegen mir das Ganze wie ein großer Schwindel vorkam.

Dann, als ich Tante Helen auf Wiedersehen sagen wollte, musste ich weinen. Und ich weinte wirklich – nicht nur so aus Panik, wie ich es häufig tue. Und da versprach ich Tante Helen, nur noch wegen wichtiger Dinge zu weinen, weil sonst durch meine ganze Weinerei die Tränen für sie weniger wichtig würden.

Und dann sagte ich ihr auf Wiedersehen und fuhr nach Hause.

Am Abend las ich noch einmal »Der Fänger im Roggen«, denn ich wusste, dass ich sonst nur wieder weinen würde – aus Panik. Ich las, bis ich völlig erschöpft einschlief, und am Morgen las ich das Buch zu Ende und fing gleich wieder von vorne an. Nur um nicht wieder weinen zu müssen. Das hatte ich Tante Helen fest versprochen. Und um mir nicht wieder den Kopf zerbrechen zu müssen. So wie ich es letzte Woche getan habe. Ich kann mir einfach nicht wieder den Kopf zerbrechen. Nie wieder.

Hast Du Dich je so gefühlt? Dass Du tausend Jahre lang schlafen willst. Oder gar nicht mehr existieren willst. Oder Dir einfach nicht bewusst sein willst, dass Du existierst … Vermutlich ist es ziemlich krank, sich das zu wünschen, aber wenn es mir so geht wie jetzt, dann wünsche ich es mir. Deshalb versuche ich ja, mir nicht den Kopf zu zerbrechen. Ich will nur, dass sich alles zu drehen aufhört, denn wenn es schlimmer wird, muss ich wieder zum Arzt.

 

Alles Liebe,
Charlie

1. Januar 1992

Lieber Freund,

es ist vier Uhr morgens und damit schon das neue Jahr, auch wenn es für die meisten Leute noch der 31. Dezember ist – das heißt, bis sie alle schlafen gehen. Ich kann aber nicht schlafen. Sonst schlafen alle oder haben Sex. Ich habe ferngesehen und Götterspeise gegessen. Und beobachtet, wie sich alles bewegt. Eigentlich wollte ich Dir von Sam und Patrick und Craig und Brad und Bob und allen anderen erzählen, aber ich kann mich gerade nicht erinnern.

Draußen ist es friedlich. Das jedenfalls weiß ich. Und ich weiß, dass ich am Abend zum Big Boy gefahren bin und Sam und Patrick getroffen habe. Und Brad und Craig waren auch da, und das machte mich sehr traurig, weil ich lieber mit Sam und Patrick allein sein wollte. Das war bisher noch nie so.

Vor einer Stunde etwa war alles noch viel schlimmer. Da habe ich diesen Baum angesehen, und er war ein Drache und dann wieder ein Baum, und ich musste an diesen glänzenden Tag denken, als ich Teil der Luft war. Und mir fiel wieder ein, dass ich an diesem Tag für mein Taschengeld unseren Rasen gemäht hatte, so wie ich jetzt im Winter für mein Taschengeld unsere Einfahrt freischaufle. Also habe ich angefangen, Bobs Einfahrt freizuschaufeln, was wohl etwas seltsam ist auf einer Silvesterparty.

Meine Wangen waren ganz rot vor Kälte, so wie Mr. Zs Trinkergesicht und seine schwarzen Schuhe und seine Stimme, die immer sagt, wenn eine Raupe sich verpuppt, dann leidet sie Qualen, und es dauert sieben Jahre, bis man Kaugummi verdaut. Und dieser eine Junge von der Party, Mark, von dem ich das Zeug hatte, erschien wie aus dem Nichts und blickte zum Himmel und sagte, ich solle mir die Sterne ansehen. Also blickte ich ebenfalls zum Himmel, und wir waren in dieser gigantischen Kuppel wie in einem Schneeglas, und Mark sagte, diese unglaublich weißen Sterne sind in Wahrheit nur Löcher im schwarzen Glas der Kuppel, und wenn man in den Himmel kommt, zerbricht das Glas, und da ist dann nur noch eine riesige Fläche aus Sternenweiß, das heller ist als alles, was es gibt, aber den Augen nicht wehtut, und als er das sagte, kam ich mir ganz winzig vor.

Manchmal sehe ich hinaus und muss daran denken, dass so viele andere Menschen diesen Schnee vor mir gesehen haben. Und dass so viele andere Menschen diese Bücher vor mir gelesen haben. Und diese Lieder gehört haben.

Und ich frage mich, wie es all diesen Menschen heute Nacht geht.

Keine Ahnung, was ich damit sagen will. Ich sollte es wohl auch nicht aufschreiben, weil es nämlich immer noch so wirkt, als ob sich alles um mich herum bewegt. Ich will, dass es aufhört, sich zu bewegen, aber das kann noch einige Stunden dauern. Das hat jedenfalls Bob gesagt, bevor er mit Jill, die ich nicht kannte, auf sein Zimmer gegangen ist.

Ich glaube, was ich sagen will, ist, dass sich das alles sehr vertraut anfühlt. Aber ich bin es nicht, dem es vertraut ist – es ist jemand anders. Jemand anders hat das alles schon einmal gefühlt. Hat diesen Moment gefühlt, in dem es draußen friedlich ist und man sieht, wie sich alles bewegt, und man will das alles nicht, und alle anderen schlafen. Und all die Bücher, die man liest, sind bereits von anderen Leuten gelesen worden. Und all die Lieder, die man hört, sind bereits von anderen Leuten gehört worden. Und dieses Mädchen, das man so schön findet, finden auch andere Leute schön. Und man weiß, dass man sich bei alldem eigentlich ganz großartig fühlen sollte, weil das ja »eins sein« bedeutet, aber man fühlt sich nicht großartig.

So, wie wenn man verliebt ist und ein Pärchen Händchen halten sieht und den beiden Glück wünscht. Und ein andermal sieht man dasselbe Pärchen, und es macht einen wahnsinnig. Und dabei will man ihnen doch eigentlich immer Glück wünschen, weil man weiß, dass man dann auch selbst glücklich ist …

Gerade ist mir wieder eingefallen, wie ich auf das alles gekommen bin. Ich schreibe es auf, dann muss ich vielleicht nicht darüber nachdenken. Und ich rege mich nicht auf. Es ist nur so, dass ich hören kann, wie Sam und Craig miteinander schlafen, und dass ich jetzt das Ende dieses Gedichts verstehe.

Und das wollte ich nie. Das musst Du mir einfach glauben.

 

Alles Liebe,
Charlie