Jahr Zwei, 17. Oktober, Mittag

»Das ist wirklich starker Tobak. Hast du gesehen, Igor?«

»Vor allem habe ich es gehört. Dieser Marschall ist von Sinnen. Er will seine Soldaten zu Zombies machen. Und, als wäre das nicht genug, sich selbst auch. Der Mann hat nicht das geringste Interesse daran, die Menschheit zu retten, Oleg. Er hat etwas völlig anderes vor.«

Oleg drehte sich in seinem Bürostuhl um und sah Igor nachdenklich an.

»Wie meinst du das?«

Igor steckte sich eine Filterzigarette an. Nachdem er einige Züge tief inhaliert hatte, sprach er weiter. »Der Marschall träumt den Traum aller Faschisten. Er will eine Herrenrasse erschaffen. Was Hitler mit seinen Ariern nicht schaffte, will er mit den Zombies realisieren. Die Wissenschaftler da in diesem Video sollen das Virus für ihn umbauen, und zwar so, dass er seine Soldaten in willfährige Zombiekrieger verwandeln kann. Wenn das gelingt, wird er das Virus weiter verändern lassen, und zwar so, dass er die übermenschlichen Eigenschaften dieser Struggler auf sich und seine Leute übertragen kann, ohne jedoch zu Strugglern zu werden. Er will eine unsterbliche, mächtige Kriegerrasse erschaffen, deren Individuen zwar biologisch nicht mehr am Leben sind, jedoch trotzdem in Kenntnis der vorherigen Person ein Dasein haben. Er will die Nephilim erschaffen.«

»Aber wovon wollen die dann leben? Auch die Struggler müssen fressen, das ist doch für Gärtners – wie sagst du? – Nephilim auch nicht anders, oder?«

Igor nickte, rauchend, bedächtig.

»Das ist der Punkt. Ich glaube, dieser Irre will da in seiner Festung mit dieser Superrasse toter Mensch-Zombie-Mutanten siedeln, und sie werden Menschen züchten wie Vieh, um sie zu fressen. Und die Struggler müssen dann mit den Walkern vorliebnehmen, bis es zum entscheidenden Kampf kommt, den Gärtner aber gewinnen wird, weil seine Nephilim-Armee die Zeds besiegen wird. Und dann herrschen seine Bene Ha’ Elohim über die Erde, die Söhne Gottes, die Nephilim. Zumindest, wenn es nach ihm geht.«

»Das ist grausam, Igor. Das kann Gott nicht gefallen. Warum lässt der Herr das alles zu?«

»Ich habe es dir doch schon erklärt, Junge. Der Herr prüft uns. So, wie er die Menschen, seine Kinder, schon immer geprüft hat. Auch diesmal will der Herr wissen, wer zu ihm steht, deshalb legt er die Macht in die Hände der Dämonen und der bösen Geister. Menschen wie wir, die wir reinen Herzens und guten Glaubens sind, müssen uns bewähren in der Stunde der Not, Oleg. Es ist unsere Aufgabe vor Gott, dem Bösen entgegenzutreten und es zu bekämpfen. Und wenn unsere Gebete und Predigten nicht reichen, dann greifen wir im Namen des Herrn eben zur Kalaschnikow.«

Oleg wirkte verunsichert.

Er kaute nervös auf seiner Unterlippe herum, während er die Datensicherung durchführte. Dann meinte er: »Dann steht uns das letzte Gefecht nun bevor?«

»So sieht es aus, mein Lieber. Wenn die Mächte der Finsternis sich vereinen, um die Menschen in große Bedrängnis zu bringen, dann werden die wahrhaft Gläubigen ihren Gott und Vater verteidigen; wenn es sein muss, bis zum letzten Blutstropfen. So werden wir es auch tun, mein Oleg. Und ich werde mich direkt in das Zentrum der Finsternis begeben, um den Diener des Satans in die Knie zu zwingen vor dem Antlitz Gottes. Dies ist meine Bestimmung, der ich folgen muss.«

»Ja, Igor. Das verstehe ich.«

Oleg verstand nur zu gut. Er wusste, Igor hatte nicht vor, aus diesem Kampf gegen den Unheiligen zurückzukehren. Ohne weiter zu fragen, vollendete er die Datensicherung. Als er fast fertig war, fragte Igor:

»Können wir eine gesicherte Leitung zu General Pjotrew aufbauen, Oleg?«

»Das dauert ein Weilchen, ich muss erst das sichere Netz aufbauen und ihn um Kommunikation bitten. Leg dich doch noch ein wenig hin. Ich sende die Textnachricht ab und komme noch etwas zu dir, dann können wir es noch schön haben, bis das Netz steht, ja?«

Igor nickte und ging ins Schlafzimmer. Er legte noch Holz im Ofen nach, zog sich aus und legte sich ins Bett. Kurz darauf kam Oleg zu ihm und auch er ließ seine Kleidungsstücke fallen. Die jugendlich wirkende Pracht seines Körpers wollte er seinem Igor noch so oft es ging schenken, bevor ihm der Geliebte vom unmenschlichen Krieg genommen wurde.

Nachdem die beiden Männer eine gute Stunde lang schwitzend und keuchend im leidenschaftlichen Sexspiel miteinander um die Höhepunkte der Lust gerungen hatten, zeigte ein heller Piepton im Computerraum an, dass die installierte Leitung stand und dass am anderen Ende ein Gesprächspartner wartete.

Igor sprang aus dem Bett und bekleidete sich schnell, dann ging er ins Computerzimmer hinüber und aktivierte den VPN-Kanal. Oleg hingegen blieb noch einen Moment im Bett liegen und genoss die Schlaffheit seiner Muskeln, nachdem Igor sich gründlich am Fleisch des Jungen vergangen hatte.

Oleg hoffte und betete inbrünstig darum, dass Gott wirklich alle Menschen liebte, auch die Männer, welche Männer liebten. Denn welchen Sinn sollte es haben, wenn er einen Mann wie Igor auserkor, für den rechten Glauben zu kämpfen, wenn er ihn wegen seiner Liebe zu Oleg verachtete. Und war nicht Jesus, der Sohn Gottes, auch stets von Männern umgeben gewesen, mit denen er lebte? Oleg schloss daraus, dass es keine Sünde sein konnte, was sie beide hier taten.

Er zog sich ebenfalls an und ging zu Igor hinüber, der in diesem Moment seinen Gesprächspartner auf dem Monitor zu Gesicht bekam.

»Ich grüße Sie, Genosse General!«

General Pjotrew, dessen Gesicht etwas verzerrt auf dem Monitor zu sehen war, grinste. Offenbar saß er vor einem Laptop mit integrierter Kamera, daher die Bildverzerrungen.

»Na, das mit dem Genossen ist wohl vorbei. Tarassow. Was gibt es?«

Igor nickte in die Kamera.

»Ja, sicher. Also, wir haben vorhin die Videomitschnitte aus der Festung gesehen. Ich bin sehr beunruhigt. Ich muss sagen, dass der Marschall den Begriff Nephilim benutzte, bereitet mir ziemliche Sorgen. Ich sehe eine große Gefahr in dem, was er tut und was er noch vorhat.«

»Da stimme ich Ihnen zu, Towarischtsch. Auch mir bereitet das zunehmend Sorge.«

»Wenn man alles Material überschlägt, das uns vorliegt, dann würde ich unterstellen, dass es für eine Öffentlichkeitskampagne reichen sollte.«

Der General sagte einen Moment lang nichts. Er schien zu überlegen. Dann fragte er:

»Wie viele Leute haben Sie hier oben, Tarrassow?«

»Vierzig Mann. Nächste Woche gehen noch einmal zwanzig Mann hoch.«

»Wie lange können Ihre Leute es noch im Versteck aushalten?«

»Wenn es sein muss noch Monate. Sie haben konzentrierte Vorräte dabei und verstehen sich auf Selbstversorgung im Eismeer. Wenn sie nicht entdeckt wurden und es keine Verluste gab, können die Männer jederzeit zuschlagen. Es sind gute Leute.«

»Ohne Zweifel«, antwortete die Stimme des Generals aus den Lautsprechern, »aber wir sind noch nicht so weit. Der Marschall wird uns noch weitere Einzelheiten zu seinem Projekt Nephilim liefern, es ist mir wichtig zu erfahren, was er vorhat. Gedulden Sie sich und warten Sie auf das Signal. Die Struggler sind jetzt auf dem Vormarsch, Sie sollten langsam daran denken, das Lager dort aufzulösen.«

»Ja, Herr General. Entsprechende Evakuierungspläne sind ausgearbeitet worden. Ich halte mich mit dem letzten Kontingent der SpezNas-Truppen dann auf Abruf bereit. Mein Kamerad hier wird mir eine Kommunikationsanlage einrichten, damit wir in Verbindung bleiben können.«

Das Gesicht des Generals verfinsterte sich etwas und auf seiner breiten Stirn zeichneten sich einige Sorgenfalten ab. Dann sagte er:

»Hören Sie zu, Tarassow. Ich will Ihnen nichts vormachen. Wenn Sie hier eintreffen und der Tanz beginnt, wird es ein hartes Unterfangen. Gärtner hat ausgesuchte Leute um sich, die Besten der Besten. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir es schaffen, liegt vielleicht bei fünfzig Prozent, maximal. Und selbst wenn wir es schaffen, das Ruder herumzureißen, dann sind da immer noch die Zed-Armeen und die Struggler, die wir besiegen müssen.«

Igor wurde gerade im Kreuz und antwortete.

»Was immer nötig ist und getan werden muss, General, Sie können sich voll und ganz auf mich und meine Männer verlassen. Wir werden nicht zurückweichen und bis zum letzten Mann für die Freiheit kämpfen. Darauf haben Sie mein Wort.«

Pjotrew nickte.

»Ja, das weiß ich.«

In Igors Hintergrund piepte es und er drehte sich zu Oleg um, der hinter ihm stand.

»Okay«, meinte der sichtlich erregt, »ich habe Sniffer-Programme im Netzwerk ausgemacht. Wir müssen die Verbindung trennen, sofort

Er schlug mit der flachen Hand auf einen Bumper, der sofort sämtliche Netzverbindungen trennte und die Anlage im Quick Shutdown herunterfuhr. Einschließlich des Routers an der Fernstraße, über den sich Wissarion in das ARPAII-Netz einwählte, herrschte Totenstille auf den Leitungen. Die Sniffer-Programme der New World Sicherheitsdienste rauschten nun wie aufgebrachte Hornissen durch die Kabel und Funkverbindungen auf der Suche nach unautorisierten Aktionen.

»Haben sie uns erwischt?«, fragte Igor.

Oleg horchte.

»Ich weiß nicht. Noch nicht.«

Igor sprang auf, griff zur Waffe und schnappte sich einen Feldstecher mit großer Brennweite. Er trat aus dem Haus und suchte den Himmel Richtung Norden und Westen ab. Nach einigen Minuten kam er wieder herein.

»Nichts zu sehen, scheinbar haben wir Glück gehabt.«

Oleg war gerade dabei, einige durchgeschmorte Sicherungen zu ersetzen, denn der Quick Shutdown belastete die Netzteile enorm. Die Maschinen wurden nicht einfach vom Stromnetz getrennt, sondern binnen einer Viertelsekunde heruntergefahren. Das kostete stets Hardware, denn gerade die moderneren Bauteile machten so was nicht allzu oft mit.

»Ich konnte uns früh genug rausbringen, wie es aussieht. Aber es war knapp.«

*

Eine Stunde später saßen Igor und Oleg in der Küche beim Tee. Igor hatte die Öfen befeuert und im Haus wurde es überall angenehm warm.

Oleg hatte im Küchenofen gedünsteten Fisch und Schmorrübchen zubereitet. Ein Hauch von Wacholderduft zog aus dem Ofen durch das Haus. Oleg schenkte frischen Tee ein und stellte eine Wodkaflasche auf den Tisch. Er wusste, wie gern Igor Tee mit Umdrehungen hatte. Igor bereitete sich seinen Tee, nippte daran und sagte zu Oleg:

»Ich habe mit Oberst Ryschkow gesprochen. Er bereitet eure Abreise vor. In zwei Tagen geht es los. Südwestlich von Odessa liegt ein Hochseefischerboot in eisfreien Gewässern. Ryschkow hat sechs Leute mit, alles erfahrene Seemänner. Sie werden dich sicher ans Ziel bringen.«

Oleg wurde von einer tiefen Traurigkeit übermannt. Sein geliebter Igor sagte solche Dinge stets mit einer nüchternen Sachlichkeit, so ohne jede Emotion, dass Oleg jedes Mal aufs Neue das Herz schwer wurde. Oleg war klar, dass er hier nicht bleiben konnte, und dass er Igor dorthin, wohin der gehen musste, nicht begleiten konnte. Aber trotz aller Vernunft und ungeachtet jeder Notwendigkeit schmerzte die bevorstehende Trennung schon jetzt erheblich. Er wollte Igor nicht verlieren, den Mann, der ihm das Herz mit Liebe und Glauben gefüllt hatte. Ohne ihn würde sein Leben nur noch einen geringen Wert besitzen, die Farben der Erinnerung an sein Gesicht würden verblassen und der Ton seiner rauen, aber herzlichen Stimme langsam verhallen.

Oleg schniefte.

»Ach komm, nun fang nicht an zu heulen, verdammt nochmal. Ich denke, die Sache ist längst geklärt, Junge. Ich will wissen, dass du in Sicherheit bist, dann kann ich in Ruhe meine Aufgabe zu Ende bringen. Also, sei froh, dass wir mächtige Freunde haben, die deinen süßen Arsch aus der Feuerlinie bringen.«

Oleg schniefte noch einmal, trank Tee. Dann stand er auf und sah nach dem Essen, das in der Backröhre des uralten Herdofens vor sich hin schmurgelte. Er unternahm keinen Versuch, Igor seine Gefühle zu erklären. Zum einen wusste er, dass es ein sinnloses Unterfangen war, zum anderen war ihm auch bewusst, dass Igor über seine emotionale Lage im Bilde war, diese nur nicht wahrhaben wollte. Oleg glaubt nicht, dass es Igor leicht fiel, sich von ihm zu trennen. Aber er wollte halt nicht drüber reden, der alte Dickschädel.

Oleg zog den Bräter aus dem Ofen, füllte die Teller mit Fischfilets und gelben Rübchen und die beiden ließen es sich schmecken.

»Ich baue die Anlage nachher um«, bemerkte Oleg schmatzend mit tonloser Stimme, »ich stelle dir hier eine Basisanlage zusammen, mit der du in das sichere Netz gehen kannst, um Pjotrew zu kontaktieren. Die Rechner und alle Daten werde ich mit in die neue Heimat nehmen. Wenn du abreist, um den Diktator zu töten, solltest du hier alles zerstören. Du musst darauf achten, die Festplatten zu zertrümmern und die Teile weit zu verstreuen. Wirf sie in die Eislöcher im See oder verbrenne sie im Ofen. Wenn du sie in die Glut wirfst und den Ofen richtig anheizt, schmelzen sie. Man weiß ja nicht, wie es ausgeht, und wir sollten keine Spuren zurücklassen. Sobald ich angekommen bin, etabliere ich schnellstmöglich eine Netzverbindung. Vielleicht erreiche ich dich ja noch, bevor du aufbrichst.«

Igor sah von seinem Teller auf und legte seine rechte Hand auf Olegs linke, die auf dem Tisch lag.

»Du bist ein guter Junge, Oleg«, murmelte er, »und ich danke Gott dafür, dass ich dich getroffen habe.«

Schweigend aßen sie weiter. Oleg hatte aus Konservenfrüchten, Reis und Milchpulver ein Dessert kreiert, eine Art Fruchtmilchreis. Es schmeckte nicht wirklich wie echter Milchreis, aber es war süß und bildete einen guten Abschluss des Mittagsmahls. Nach dem Essen rauchte Igor noch eine Zigarette, dann verließ er das Haus, um im Materiallager geeignete Kisten für Olegs Computeranlage zu finden.

Oleg räumte den Tisch ab, goss sich einen Wodka ein und stürzte ihn herunter. Der ungewohnte Alkohol in seiner Kehle verursachte einen heftigen Hustenanfall und Oleg brach heulend über dem Küchentisch zusammen. Seine Tränen bildeten einen kleinen Bach auf der Tischplatte und fielen in dicken Tropfen über den Rand zu Boden, wo sie zu Tausend kleinen Perlen zerplatzten.