|417|ZEHN
Der Wächter unter der Esche drehte sich zu uns um und sprach uns an. «Sie verschwenden ihre Zeit», sagte er, und es verstand sich, dass er Ragnars Leute meinte. Der Wächter hegte keinen Verdacht gegen uns, er gähnte sogar, als wir uns näherten, doch dann erschien ihm irgendetwas merkwürdig. Vielleicht war es Steapa, denn es gab in Dunholm bestimmt keinen zweiten Mann, der so groß war wie dieser Westsachse. Was es auch war, mit einem Mal wurde dem Mann klar, dass wir Fremde waren, und er trat sofort zurück und zog sein Schwert. Gerade wollte er zu einem Warnruf ansetzen, da traf ihn Steapas Pfeil in die rechte Schulter und warf ihn nach hinten, und sofort danach rammte ihm Rypere seinen Speer mit solcher Gewalt in den Bauch, dass der Mann festgenagelt an der kränklichen Esche stehen blieb. Dann brachte Rypere den Wächter mit dem Schwert endgültig zum Schweigen, und als das Blut strömte, tauchten zwei Männer hinter dem kleineren Gebäude zu unserer Linken auf und begannen sofort zu rufen, dass Feinde in der Festung waren. Einer drehte sich um und rannte weg, der andere zog sein Schwert, und das war ein Fehler, denn Finan täuschte mit seinem Speer einen niedrigen Stoß an, und als der Mann seine Klinge senkte, um den Angriff abzuwehren, zuckte der Speer nach oben und traf den Mann in das weiche Fleisch unter seinem Kiefer. Blut lief ihm blasig aus dem Mund und in den Bart, als Finan zu ihm trat und ihm sein Kurzschwert in seinen Bauch stieß.
Zwei weitere Leichen. Es regnete wieder stärker, die |418|Tropfen hämmerten auf den Schlamm und verdünnten das frische Blut, und ich überlegte, ob uns die Zeit reichte, um über den weiten offenen Platz zu der Leiter am Festungswall zu laufen, und in demselben Moment wurde alles noch schlimmer, denn die Tür zu Kjartans Palas wurde geöffnet, und drei Männer drängten sich hindurch, und ich rief Steapa zu, er solle sie ins Haus zurücktreiben. Er benutzte seine Axt, tötete den ersten mit einem Aufwärtshieb von grausiger Wirkung, schob den ausgeweideten Mann in den Weg des zweiten, den er mit dem Kopf der Axt mitten ins Gesicht traf, dann drückte Steapa die beiden Männer zur Seite, um den dritten zu verfolgen, der ins Innere des Gebäudes geflüchtet war. Ich schickte Clapa los, um Steapa zu helfen. «Und hole ihn, so schnell es geht, dort heraus», sagte ich zu Clapa, denn die Reiter an dem großen Tor hatten mitbekommen, dass etwas vorging, und jetzt sahen sie auch die Toten und unsere gezogenen Schwerter und waren schon dabei, ihre Pferde zu uns umzuwenden.
Da wusste ich, dass wir verloren hatten. Alles hatte von der Überraschung abgehangen, und jetzt waren wir entdeckt und hatten keinerlei Aussicht mehr, den nördlichen Festungswall zu erreichen. Die Männer auf dem Umgang hatten sich zu uns herumgedreht, und einige waren von dem Wall herunterbefohlen worden und bildeten nun hinter dem Tor einen Schildwall. Die Reiter, es waren etwa dreißig, sprengten auf uns zu. Wir waren nicht nur gescheitert, sondern wir konnten uns glücklich schätzen, wenn wir überhaupt am Leben blieben. «Zurück!», rief ich. «Zurück!» Wir konnten nur noch hoffen, dass es uns gelang, uns in die engen Gassen zurückzuziehen, irgendwie die Reiter abzuwehren und das Brunnentor zu erreichen. Dann müssten wir Gisela vom Brunnen holen, und daran würde sich ein hastiger Rückzug den Berg hinunter anschließen, |419|die rachsüchtigen Verfolger dicht auf den Fersen. Vielleicht, überlegte ich, würde es uns gelingen, über den Fluss zu kommen. Wenn wir durch den angeschwollenen Wiire waten könnten, würden sie die Verfolgung möglicherweise einstellen, doch das war bestenfalls eine schwache Hoffnung. «Steapa!», rief ich. «Steapa! Clapa!», und die beiden tauchten aus dem Gebäude auf, Steapa mit einer blutüberströmten Axt in der Hand. «Zusammenbleiben», brüllte ich. Die Reiter hatten uns schon fast erreicht, doch wir rannten zurück zu den Ställen, und den Berittenen schienen die düsteren Winkel und unübersichtlichen Ecken zwischen den Gebäuden zu gefährlich, denn sie zügelten ihre Pferde neben der Esche, an deren Stamm immer noch der Tote von dem Speer aufrecht gehalten wurde, und ich dachte, ihre Vorsicht würde uns lange genug Zeit geben, um aus der Festung zu kommen. Die Hoffnung kehrte zurück, nicht auf den Sieg, aber auf das Leben. Und dann hörte ich den Lärm.
Es war Hundegebell. Die Reiter hatten nicht angehalten, weil sie sich fürchteten uns anzugreifen, sondern weil Kjartan seine Hunde losgelassen hatte, und ich starrte entsetzt hin, als die Meute um die Ecke des kleineren Palas herum auf uns zuraste. Wie viele es waren? Fünfzig? Wenigstens fünfzig. Sie waren unmöglich zu zählen. Ein Jäger trieb sie mit kläffenden Rufen an, und sie sahen mehr nach Wölfen als nach Hunden aus. Sie hatten ein raues Fell, waren riesenhaft groß, und sie jaulten so schreckenerregend, dass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktat. Das war die Höllenmeute der wilden Jagd, es waren die Geisterhunde, die in der Finsternis ihr Unwesen treiben und ihre Beute über die Grenzen der Schattenwelt jagen, wenn es Nacht wird. Wir konnten das Tor nicht mehr erreichen. Die Hunde würden uns einkreisen, uns zu Boden zerren, uns zerfleischen, und |420|ich dachte, das müsse meine Strafe dafür sein, dass ich den wehrlosen Bruder Jænberht in Cetreht getötet hatte, und dann ergriff mich das kalte, weibische Zittern verächtlicher Angst. Stirb gut, mahnte ich mich, stirb gut, aber wie konnte man zwischen den Reißzähnen von Hunden gut sterben? Unsere Kettenhemden würden ihren wilden Angriff verlangsamen, aber nicht sehr. Außerdem rochen die Hunde unsere Angst. Sie gierten nach unserem Blut und stürzten in einem jaulenden, klauenbewehrten Wirbel aus Morast und Fängen auf uns zu, und ich senkte Schlangenhauch, um ihn der ersten zähnefletschenden Bestie ins Maul zu rammen, und da wurden sie unvermittelt von einer neuen Stimme gerufen.
Es war die Stimme einer Jägerin. Sie war klar und laut, und es erklangen keine Worte, sondern ein seltsamer, kreischender Ruf, der die Morgenluft durchschnitt wie ein Jagdhorn, und die Hunde erstarrten augenblicklich, dann drehten sie sich um sich selbst und winselten erbärmlich. Einer war mir bis auf drei oder vier Schritte nah gekommen, ein Untier mit schlammverklebtem Fell, und es krümmte und wand sich, als die unsichtbare Jägerin ihren Ruf erneut erklingen ließ. Es lag etwas Trauriges in diesem wortlosen Ruf, der sich mehr wie ein zitternder Todesschrei anhörte, und die Hündin jaulte im Gleichklang. Der Jäger, der die Hunde losgelassen hatte, versuchte sie mit der Peitsche wieder auf uns zu hetzen, aber erneut tönte die seltsame, heulende Stimme deutlich durch den Regen, doch dieses Mal klang sie drohender, als jaule die Jägerin vor unvermitteltem Ärger. Und da stürzten sich drei der Hunde auf den Jäger. Er schrie, und dann versank er in einer Masse aus Fell und Zähnen. Die Reiter trieben ihre Pferde zu den Hunden, um sie von dem sterbenden Mann wegzujagen, doch die Jägerin war nun in wildes Gekreische verfallen, |421|das die ganze Meute in Richtung der Pferde rasen ließ. Die Morgenluft erzitterte in dem strömenden Regen, den unirdischen Schreien und dem Gejaule der Hunde, und die Reiter drehten angsterfüllt um und galoppierten zurück zum Torhaus. Da ertönte ein sanfterer Ruf von der Jägerin, und die Hunde scharten sich gehorsam um die Esche und ließen die Reiter abziehen.
Ich hatte einfach nur mit aufgerissenen Augen die Geschehnisse verfolgt. Die Hunde kauerten mit zurückgezogenen Lefzen auf dem Boden, behielten die Tür von Kjartans Palas im Blick, und dort erschien schließlich auch die Jägerin. Sie stieg über den zerhackten Körper, den Steapa im Eingang hatte liegen lassen, und sie summte etwas für die Hunde, und sie legten sich auf den Bauch, während die Jägerin uns über die Tiere hinweg ansah.
Es war Thyra.
Ich erkannte sie nicht sofort. Es war Jahre her, seit ich Ragnars Schwester gesehen hatte, und ich erinnerte mich an sie als ein schönes Mädchen, glücklich, gesund und empfindsam, das vorhatte, seinen dänischen Krieger zu heiraten. Dann war der Palas ihres Vaters niedergebrannt worden, ihr dänischer Krieger wurde getötet, und sie war von Kjartan geraubt und Sven gegeben worden. Und jetzt sah ich sie wieder, und sie hatte sich zu einer Kreatur wie aus einem Albtraum verwandelt.
Sie trug einen langen Umhang aus Rehleder, der an ihrem Hals von einer beinernen Brosche zusammengehalten wurde, doch darunter war sie nackt. Als sie zwischen den Hunden umherging, wurde der Umhang von ihrem Körper weggezogen, der erschreckend mager und grässlich schmutzig war. Ihre Beine und Arme waren mit Narben übersät, als ob sie jemand immer wieder mit einem Messer geschlagen hätte, und wo keine Narbe war, da war |422|eine Wunde. Ihr goldenes Haar war strähnig, matt und schmierig, und sie hatte abgestorbene Efeuranken in das filzige Gewirr geflochten. Der Efeu hing ihr bis weit über die Schultern herunter. Finan bekreuzigte sich bei ihrem Anblick. Steapa tat es ihm gleich, und ich tastete nach meinem Hammeramulett. Thyras gebogene Fingernägel waren so lang wie ein Kastriermesser, und dann wedelte sie mit diesen Hexenhänden herum und schrie mit einem Mal die Hunde an, die sich krümmten und jaulten, als litten sie schreckliche Schmerzen. Sie sah zu uns herüber, und mein Blick begegnete dem Wahnsinn in ihren Augen, und ein Angstschauer überlief mich, denn unvermittelt hockte sie sich auf den Boden, zeigte auf mich, und aus ihren blitzenden Augen sprühte reiner Hass. «Ragnar!», schrie sie. «Ragnar!» Der Name klang aus ihrem Mund wie ein Fluch, und die Hunde drehten sich zu mir um und starrten mich an, und ich wusste, dass sie sich auf mich stürzen würden, sobald Thyra das nächste Mal den Mund öffnete.
«Ich bin Uhtred!», rief ich ihr zu. «Uhtred!» Ich nahm meinen Helm ab, sodass sie mein Gesicht sehen konnte. «Ich bin Uhtred!»
«Uhtred?», fragte sie, ohne mich aus den Augen zu lassen, und in diesem Moment wirkte sie ganz vernünftig, sogar bestürzt. «Uhtred», sagte sie noch einmal, und es klang, als ob sie versuche, sich an den Namen zu erinnern, aber immerhin lenkte der Ton die Hunde von uns ab, und dann fing Thyra an zu schreien. Es war kein Schrei für die Hunde, sondern ein jammernder, heulender Schrei, der an die Wolken gerichtet war, und dann wandte sie jählings ihren Zorn gegen die Hunde. Sie klaubte Hände voller Schlamm auf und bewarf sie damit. Noch immer sprach sie nicht zu ihnen, doch die Tiere verstanden ihre Laute, und sie gehorchten ihr, indem sie über die steinige Hügelkuppe |423|von Dunholm hetzten, um den neuen Schildwall beim Tor anzugreifen. Thyra folgte ihnen, rief ihnen etwas zu, spuckend und bebend, trieb die Höllenmeute in Raserei, und die Angst, die mich wie angewurzelt auf dem kalten Boden hatte erstarren lassen, verging, und ich rief meinen Männern zu, Thyra zu folgen.
Diese Hunde waren schreckliche Wesen. Untiere aus dem Schlund der Weltenverwirrung, die nichts konnten außer zu töten, und Thyra trieb sie immer weiter an mit ihren hohen, heulenden Schreien, und der Schildwall löste sich auf, lange bevor der erste Hund überhaupt dort war. Die Männer flohen, zerstreuten sich auf Dunholms weiter Felsenkuppe, und die Hunde verfolgten sie. Nur ein paar Tapfere blieben beim Tor, und dorthin wollte ich jetzt. «Das Tor!», rief ich Thyra zu. «Thyra! Schick sie zum Tor!» Sie machte ein bellendes Geräusch, schrill und kurz, und die Hunde folgten ihr und hetzten auf das Torhaus zu. Ich habe andere Jäger ihren Hunden so geschickt Befehle geben sehen wie ein Reiter, der seinen Hengst mit Schenkeln und Zügeln führt. Ich selbst habe diese Fähigkeit nie erlernt, doch Thyra besaß sie.
Kjartans Männer am Tor starben einen qualvollen Tod. Die Hunde stürzten sich mit gefletschten Zähnen auf sie, und die Schreie der Männer klangen in unseren Ohren. Ich hatte bisher weder Kjartan noch Sven gesehen, doch ich hatte auch nicht nach ihnen Ausschau gehalten. Ich wollte nur zu dem großen Tor gelangen und es für Ragnar öffnen. Also folgten wir den Hunden, doch da setzte bei einem der Reiter wieder die Vernunft ein, und er rief den verängstigten Männern zu, sie sollten uns von hinten einkreisen. Der Reiter war ein großer Mann, sein Kettenhemd wurde halb durch einen schmutzigen, weißen Umhang verdeckt. In seinem Helm waren goldbronzen gerahmte Auslassungen |424|für die Augen, sodass sein Gesicht nicht zu sehen war, aber ich war sicher, dass ich Kjartan vor mir hatte. Er trieb seinen Hengst an, und zwanzig Männer folgten ihm. Doch da jaulte Thyra eine kurze, abfallende Tonfolge, und zwei Dutzend der Hunde stellten sich den Reitern in den Weg. Einer von ihnen versuchte den Hunden in seiner Verzweiflung durch eine zu schnelle Wendung seines Pferdes zu entkommen, und das Tier stürzte. Mit den Hufen den Morast aufwühlend, versuchte es wieder auf die Beine zu kommen, als sich schon ein halbes Dutzend Hunde auf seinen Bauch stürzte. Andere Hunde setzten über das Pferd hinweg, um den Reiter zu zerfleischen, der aus dem Sattel gefallen war. Ich hörte den Mann brüllen und sah einen Hund wegtaumeln, dem ein stampfender Huf das Bein gebrochen hatte. Das Pferd schrie. Ich rannte unter dem strömenden Regen weiter und sah einen Speer aufblitzen, der vom Wall heruntergeschleudert worden war. Die Männer auf dem Dach des Torhauses versuchten uns mit ihren Speeren aufzuhalten. Sie schleuderten sie auf die Hundemeute, die weiter die restlichen Männer des aufgelösten Schildwalls in Stücke riss, doch es waren zu viele Hunde. Wir waren mittlerweile nahe am Tor, nur noch zwanzig Schritte trennten uns von ihm. Thyra und ihre Hunde hatten uns sicher über die Kuppe von Dunholm gebracht, und unsere Gegner befanden sich in vollkommener Verwirrung. Doch dann stieg der Mann mit dem weißen Umhang, dessen dichter Bart unter dem Rand seines Helmes zu erkennen war, vom Pferd und befahl seinen Männern, die Hunde abzuschlachten.
Sie formten einen Schildwall und griffen an. Sie hielten ihre Schilde niedrig, um die Hunde abzuwehren, und setzten Speere und Schwerter ein, um sie zu töten. «Steapa!», rief ich, und er verstand, was ich wollte, und gab den anderen |425|Männern den Befehl, ihm zu folgen. Er und Clapa waren als Erste zwischen den Hunden, und ich sah Steapas Axt auf ein behelmtes Gesicht niederfahren, als Thyra die Hunde zum Angriff auf den neuen Schildwall rief. Männer kletterten vom Festungswall herunter, um sich in die wilde Schlacht zu stürzen, und ich wusste, dass wir schnell sein mussten, sonst hätten Kjartans Leute die Hunde abgeschlachtet, und als Nächstes würden sie uns abschlachten. Ich sah einen der Hunde hochspringen und sich in das Gesicht eines Mannes verbeißen, und der Mann schrie, und der Hund jaulte mit einem Schwert im Bauch, und Thyra kreischte auf die Hunde ein, und Steapa hielt gegen die Mitte des feindlichen Schildwalls, doch der wurde immer länger, je mehr gegnerische Krieger dazustießen, und in ein paar Momenten würden sich die Flügel dieses Schildwalls um meine Männer und um die Hunde schließen, und alle würden niedergemacht werden. Also rannte ich zum Bogengang des Torhauses. Am Tor selbst wurde der Bogengang nicht verteidigt, doch auf dem Wall standen immer noch Krieger mit Speeren. Alles, was ich einsetzen konnte, war der Schild eines Toten, und ich betete, dass sich der Tote einen guten Schild hatte bauen lassen. Ich hob ihn über meinen Helm, steckte Schlangenhauch in die Scheide und rannte los.
Die schweren Speere fuhren auf mich herab. Sie krachten auf den Schild und landeten spritzend im Schlamm, und mindestens zwei bohrten sich durch die Lindenholzbretter. Dann erschütterte ein Schlag meinen linken Unterarm, und der Schild wurde durch das Gewicht der Speere schwerer und schwerer, doch dann war ich unter dem Torbogen und in Sicherheit. Die Hunde jaulten und kämpften. Steapa forderte die Gegner brüllend zum Kampf heraus, doch keiner wollte es darauf ankommen lassen. Ich |426|sah, dass sich die Flügel von Kjartans Schildwall langsam schlossen, und ich wusste, dass wir alle sterben würden, wenn es mir nicht gelänge, das Tor zu öffnen. Ich würde beide Hände brauchen, um den riesigen Querbalken anzuheben, der das Tor verschloss, doch einer der Speere hatte an meinem linken Unterarm den Ärmel des Kettenhemdes durchdrungen, und es gelang mir nicht, ihn herauszuziehen. Also musste ich zuerst mit Wespenstachel die ledernen Halterungen des Schildes durchschneiden. Danach konnte ich die Speerspitze aus dem Ärmel des Kettenhemdes und meinem Arm reißen. Der Ärmel war mit Blut verschmiert, doch der Arm war nicht gebrochen, und so hievte ich den gewaltigen Schließbalken hoch und zerrte ihn von den Torflügeln weg.
Dann zog ich die Flügel des Tores nach innen auf, und Ragnar und seine Leute standen in fünfzig Schritten Entfernung davor, und sie jubelten, als sie mich sahen, und rannten los, während sie sich mit erhobenen Schilden vor den Speeren und Äxten schützten, die vom Wall herabgeschleudert wurden. Sofort verlängerten sie unsere Reihe zu einem Schildwall und gingen mit all ihren Waffen und all ihrem Ingrimm auf Kjartans überraschte Männer los.
Und so wurde Dunholm, die Felsenfestung in der Flussschleife, genommen. Jahre später schmeichelte mir ein hoher Herr aus Mercien damit, dass sein Skalde ein Lied darüber sang, wie Uhtred von Bebbanburg die Felsenfestung allein erstiegen hatte, sich seinen Weg durch zweihundert Gegner kämpfte, um schließlich das große Tor zu öffnen, das von einem Drachen bewacht wurde. Es war ein schönes Lied, voller Schwertkunst und Tapferkeit, aber es war blanker Unsinn. Wir waren zwölf, und nicht nur einer, und die Hunde übernahmen den größten Teil des Kampfes, und Steapa erledigte fast den gesamten übrigen Teil, und wenn |427|Thyra nicht aus dem Palas gekommen wäre, dann würden vielleicht heute noch Kjartans Nachfahren in Dunholm regieren. Auch war der Kampf nicht vorbei, nachdem das Tor geöffnet war, denn wir waren immer noch in der Unterzahl, aber wir hatten die übrigen Hunde und nicht Kjartan, und Ragnar brachte seinen Schildwall in die Festung, und dort kämpften wir gegen die Verteidiger.
Es war ein Kampf Schildwall gegen Schildwall. Es war der Kampf im Schildwall mit all seinen Schrecken. Es war das Donnern der Schilde, die gegeneinanderkrachten, und es war das Keuchen der Männer, die mit Kurzschwertern aufeinander einstachen oder mit einer Drehung ihre Schwerter in die Bäuche der Gegner stießen. Es war Blut und Kot und Gedärm, das sich im Schlamm ringelte. Im Schildwall sterben Männer, und dort verdienen sie sich die Ruhmesgesänge der Skalden. Ich reihte mich in Ragnars Wall ein, und Steapa, der sich den Schild eines Reiters genommen hatte, der von den Hunden zerrissen worden war, schob seinen massigen Körper neben mich und hob seine Kriegsaxt. Beim Vorrücken stiegen wir über tote und sterbende Hunde hinweg. Der Schild wird zur Waffe, sein großer Eisenbuckel zur Keule, um Gegner abzuwehren. Und wenn der Feind stolpert, dann tut man noch einen Schritt näher an ihn heran und stößt mit der Klinge vor, und dann steigt man über den Verwundeten und lässt ihn von den Nachrückenden töten. Es dauert selten lange, bis einer der Schildwälle zusammenbricht, und in diesem Kampf löste sich Kjartans Wall als Erster auf. Er hatte versucht, uns mit den Flügeln seines Schildwalls einzuschließen, und seine Männer an die Außenflanken seiner Linie geschickt, doch die überlebenden Hunde bewachten unsere Seiten, und Steapa schwang seine Axt wie einen Dreschflegel, und er war so riesig und so stark, dass er auf diese Art die feindliche |428|Linie aufbrach und es ganz einfach aussah. «Wessex!», rief er immer wieder, «Wessex!», als würde er für Alfred kämpfen, und ich stand an seiner rechten und Ragnar an seiner linken Seite, und der Regen peitschte auf uns herab, als wir uns mit Steapa durch Kjartans Schildwall kämpften. Wir kamen ohne Schwierigkeiten hindurch, sodass schließlich kein Feind mehr vor uns stand, und dann löste sich Kjartans Schildwall ganz auf, und seine Männer rannten zurück zu den Gebäuden.
Kjartan war tatsächlich der Mann mit dem schmutzigweißen Umhang. Er war groß, fast so groß wie Steapa, und er war stark, doch er spürte, dass seine Festung fallen würde, und befahl seinen Männern, einen neuen Schildwall zu bilden, doch einige seiner Krieger waren schon dabei, aufzugeben. Dänen geben sich nicht leicht geschlagen, doch Kjartans Männer hatten festgestellt, dass sie gegen dänische Landsleute kämpften, und es war keine Schande, sich einem solchen Feind zu ergeben. Andere flüchteten durch das Brunnentor, und mich packte die Angst, dass Gisela entdeckt und entführt werden könnte. Doch die Frauen, die zum Wasserholen gegangen waren, schützten sie. Sie kauerten alle zusammen hinter der Palisade des Brunnens, und die angsterfüllten Männer flüchteten an ihnen vorbei zum Fluss hinunter.
Doch nicht alle flohen oder gaben auf. Einige wenige Männer scharten sich um Kjartan, hoben ihre Schilde und erwarteten den Tod. Kjartan mochte grausam gewesen sein, aber er war auch tapfer. Sein Sohn Sven dagegen war nicht tapfer. Er hatte die Männer auf dem Festungswall am Torhaus befehligt, und diese Männer machten sich fast alle nordwärts davon und ließen Sven mit nur noch zwei anderen Kämpfern zurück. Guthred, Finan und Rollo erkletterten den Wall, um mit ihnen zu verhandeln, doch nur |429|Finan wurde gebraucht. Der Ire hasste es, im Schildwall zu kämpfen. Er war zu feingliedrig, so meinte er, um Teil einer solch kraftbestimmten Tötungswalze zu sein, doch im offenen Kampf wurde er für seine Feinde zu einem bösen Geist. Finan der Flinke war er früher genannt worden, und ich beobachtete erstaunt, wie er Guthred und Rollo überholte, es mit den drei Männern allein aufnahm und seine beiden Schwerter so rasch vorschnellen ließ wie zuschlagende Vipern. Er trug keinen Schild. Er verwirrte Svens Verteidiger mit Finten, drehte sich an ihren Angriffen vorbei und tötete sie beide mit einem Grinsen. Dann wandte er sich Sven zu, doch Sven war feige. Er drückte sich in eine Ecke des Festungswalls und hielt seinen Schild und sein Schwert weit auseinander, als wolle er zeigen, dass er nichts Böses im Sinn habe. Immer noch grinsend ging Finan in die Hocke und machte sich bereit, sein langes Schwert in Svens ungeschützten Bauch zu stoßen.
«Er gehört mir!», schrie Thyra in diesem Moment. «Er gehört mir!»
Finan warf ihr einen Blick zu, und Sven zuckte mit dem Schwertarm, als wolle er zustoßen, doch da schnellte schon Finans Schwert in seine Richtung, und Sven erstarrte. Er winselte um Gnade.
«Er gehört mir!», kreischte Thyra erneut. Sie streckte ihre mageren Hände mit den grässlichen Fingernägeln nach Sven aus und schluchzte vor Hass. «Er gehört mir!»
«Du gehörst zu ihr», sagte Finan. «So sei es», und er täuschte einen Stoß gegen Svens Bauch vor, und als Sven zum Schutz seinen Schild senkte, rammte Finan einfach seinen Körper dagegen, sodass Sven rückwärts vom Festungswall stürzte. Sven schrie beim Fallen. Es war kein tiefer Sturz, nur etwa so tief wie zwei Männer groß sind, doch er schlug dumpf wie ein Sack Korn auf den schlammigen |430|Boden. Zappelnd lag er auf dem Rücken und versuchte sich aufzurichten, doch da stand schon Thyra über ihm, und sie hatte einen langen, jammernden Schrei ausgestoßen, und die restlichen Hunde waren zu ihr gekommen. Sogar verstümmelte Hunde schleppten sich durch Unrat und Blut bis an ihre Seite.
«Nein», sagte Sven. Er starrte mit seinem einen Auge zu ihr hoch. «Nein!»
«Ja», zischte sie und dann bückte sie sich und nahm ihm das Schwert aus der widerstandslosen Hand, und dann machte sie ein kläffendes Geräusch, und die Hunde stürzten sich auf ihn. Er zuckte und schrie, als sie ihre Fänge in seinen Körper schlugen. Einige der Hunde, die darauf abgerichtet waren, schnell zu töten, wollten ihm an die Kehle gehen, doch Thyra wehrte sie mit dem Schwert ab, und so töteten die Hunde Sven, indem sie ihn vom Schritt aufwärts zerfleischten. Seine Schreie durchschnitten den Regen wie scharfe Klingen. Sein Vater hörte alles, und Thyra sah zu und lachte einfach nur.
Und Kjartan lebte immer noch. Vierunddreißig Männer waren ihm geblieben, und sie wussten, dass sie dem Tod geweiht waren, und wollten als stolze Dänen sterben. Doch da ging Ragnar zu ihnen, die Adlerschwingen an seinem Helm waren gebrochen und durchnässt, und wortlos deutete er mit seinem Schwert auf Kjartan, und Kjartan nickte und trat aus seinem Schildwall. Die Eingeweide seines Sohnes wurden von den Hunden verschlungen, und Thyra tanzte durch die Lachen aus Svens Blut und summte ein Lied auf ihren Sieg.
«Ich habe deinen Vater getötet», sagte Kjartan höhnisch zu Ragnar, «und dich werde ich auch töten.»
Ragnar sagte nichts. Die beiden Männer standen sechs Schritte voneinander entfernt und maßen sich mit Blicken.
|431|«Deine Schwester war eine gute Hure», sagte Kjartan, «bevor sie verrückt geworden ist.» Dann stürzte er unvermittelt mit erhobenem Schild vor, und Ragnar machte einen Schritt nach rechts und ließ Kjartan an sich vorbeilaufen, und Kjartan, der damit gerechnet hatte, ließ sein Schwert herumschwingen, um Ragnars Knöchel zu treffen, doch Ragnar war schon wieder ausgewichen. Die beiden Männer beobachteten sich erneut abwägend.
«Sie war sogar noch eine ganz brauchbare Hure, nachdem sie verrückt geworden war», sagte Kjartan, «außer, dass wir sie festbinden mussten, damit sie sich nicht mehr wehren konnte. So hatten wir es leichter mit ihr, verstehst du?»
Da griff Ragnar an. Den Schild erhoben und das Schwert zu einem niedrigen Vorstoß bereit. Die beiden Schilde krachten gegeneinander, und Kjartan fing Ragnars Schwerthieb ab, und beide Männer legten sich mit ihrem ganzen Gewicht in ihre Schilde, um den anderen zu Fall zu bringen, und dann trat Ragnar wieder zurück. Er wusste, wie schnell und erfahren Kjartan war.
«Aber ich habe schon bessere Huren gehabt als deine Schwester», sagte Kjartan. «Sie ist inzwischen zu verbraucht. Und zu verdreckt. Nicht mal ein Bettler hat noch Lust, sie zu nehmen. Das weiß ich. Ich habe sie nämlich letzte Woche einem angeboten, und er wollte sie nicht haben. Fand sie zu schmutzig.» Und dann machte er unvermittelt einen Vorstoß und hieb mit seinem Schwert nach Ragnar. Sein Angriff war nicht kunstvoll, bloß reine Kraft und Geschwindigkeit, und Ragnar wich mit einem Schritt seitwärts aus und fing den wilden Ausfall mit seinem Schild ab, und ich bekam Angst um ihn und wollte ihn unterstützen, doch Steapa hielt mich zurück.
«Das ist sein Kampf», sagte er.
|432|«Ich habe deinen Vater umgebracht», sagte Kjartan, und sein Schwert schlug eine Kerbe in Ragnars Schild. «Ich habe deine Mutter verbrannt», brüstete er sich, und ein weiterer Hieb traf den Schildbuckel, «und ich habe deine Schwester zur Hure gemacht», sagte er und trieb Ragnar mit seinem nächsten Schwertstreich noch weiter zurück. «Und als Nächstes werde ich auf deine ausgeweidete Leiche pissen», brüllte Kjartan, holte aus und schwang seine Klinge wieder niedrig gegen Ragnars Knöchel. Dieses Mal traf er, und Ragnar stolperte. Mit seiner Hand, die seit der Schlacht von Ethandun verkrüppelt war, hatte er seinen Schild unwillkürlich gesenkt, und Kjartan riss seinen Schild hoch, um den Gegner zu Boden zu werfen, und Ragnar, der während des ganzen Kampfes noch kein Wort gesagt hatte, begann mit einem Mal laut zu schreien. Einen Wimpernschlag lang hielt ich es für den Schrei eines todgeweihten Mannes, doch in Wahrheit war es Zorn. Er rammte seinen Körper unter Kjartans Schild hindurch gegen seinen Feind und schob den größeren Mann mit schierer Kraft zurück, um dann mit einem flinken Seitenschritt aus seiner Reichweite zu treten. Ich hatte geglaubt, er sei durch den Hieb gegen seinen Knöchel lahm geworden, doch er hatte seine Stiefel mit Eisenbändern verstärkt, und wenn auch eines der Bänder nahezu zerschlagen war und wenn er auch eine Schramme abbekommen hatte, so war er doch nicht ernstlich verletzt, und jählings verwandelte er sich in ein Bündel aus Wut und Bewegung. Es war, als sei er mit einem Mal aufgewacht. Er fing an, um Kjartan herumzutanzen, und das war das Geheimnis des Zweikampfes. In Bewegung zu bleiben. Ragnar blieb in Bewegung, und er schäumte vor Zorn, und seine Schnelligkeit konnte es fast mit Finans Flinkheit aufnehmen, und Kjartan, der geglaubt hatte, seinem Gegner überlegen zu sein, fand sich mit einem Mal in |433|einem verzweifelten Kampf wieder. Sein Atem reichte ihm nicht mehr zu weiteren Beleidigungen, nur noch, um sich zu verteidigen, und Ragnar bestand nur noch aus Grimm und Gewandtheit. Er stieß gegen Kjartan vor, griff ihn an, stieß erneut vor, zielte, drehte sich weg, täuschte niedrige Angriffe vor, wehrte mit seinem Schild einen Gegenangriff ab und schwang sein Schwert Herzbrecher, um Kjartan am Helm zu treffen. Er schlug eine Beule in das Eisen, aber das Metall hielt, und Kjartan warf nur den Kopf zurück, und Ragnar rammte seinen Schild gegen den Kjartans, um den kräftigen Gegner rückwärts aus dem Gleichgewicht zu bringen. Sein nächster Hieb zerschlug eines der Lindenholzbretter von Kjartans Schild, der nächste traf den Rand des Schildes und hinterließ eine tiefe Kerbe in der eisenbeschlagenen Kante, und Kjartan machte einen Schritt rückwärts, und Ragnar stimmte ein Totenlied an, das so schrecklich klang, dass die Hunde bei Thyra anteilnehmend mitjaulten.
Über zweihundert Männer sahen diesem Kampf zu. Wir alle wussten, was geschehen würde, denn nun war Ragnar vom Rausch des Tötens ergriffen worden. Von der rasenden Wut des Schwert-Dänen. Kein Mann kann dieser Raserei widerstehen, und Kjartan schlug sich gut, solange er es vermochte, doch schließlich stolperte er über einen toten Hund, als ihn Ragnar erneut rückwärts trieb. Kjartan landete auf dem Rücken, und Ragnar wich seinem wilden Schwerthieb aus und stellte sich über ihn und stach mit Herzbrecher zu. Er durchbrach damit den Ärmel von Kjartans Kettenhemd und durchtrennte die Sehnen seines Schwertarmes. Kjartan versuchte wieder hochzukommen, aber Ragnar trat ihm ins Gesicht, und dann drückte er ihm seinen Stiefelabsatz auf die Kehle. Kjartan würgte. Dann trat Ragnar zurück und ließ seinen Schild vom linken Arm |434|gleiten. Mit seiner verkrüppelten linken Hand nahm er Kjartan das Schwert ab. Er zog es mit den beiden Fingern, die er noch bewegen konnte, aus Kjartans kraftloser Hand, warf es in den Schlamm und dann tötete er seinen Gegner.
Es war kein schneller Tod, doch Kjartan schrie kein einziges Mal. Zuerst wehrte er Ragnars Schwert noch mit seinem Schild ab, aber Ragnar ließ ihn Hieb um Hieb langsam verbluten. Kjartan sprach nur noch einmal, bevor er starb, und da bat er um sein Schwert, damit er ehrenvoll in die Totenhalle Odins einziehen konnte, doch Ragnar schüttelte den Kopf. «Nein», sagte er, und das war sein einziges Wort bis zu seinem letzten Hieb. Dieser Hieb war ein zweihändig geführter Stich abwärts in Kjartans Bauch, ein Stich, der sich durch das Kettenhemd in Kjartans Körper bohrte und auf der anderen Seite durch das Kettenhemd unter Kjartans Rückgrat in die Erde fuhr. Und so ließ Ragnar den Herzbrecher stecken und trat zurück, um Kjartan seinem zuckenden Todeskampf zu überlassen. Dann hob er den Kopf den Regentropfen entgegen, und während sein Schwert von einer Seite zur anderen schwang, wo er seinen Gegner an den Boden genagelt hatte, rief er die Wolken an. «Vater!», rief er. «Vater!» Er sagte Ragnar dem Älteren, dass sein Tod nun gerächt war.
Auch Thyra wollte ihre Rache. Sie hatte bei den Hunden gekauert, um Kjartan sterben zu sehen, doch nun richtete sie sich auf und schickte die Hunde zu Ragnar. Zuerst dachte ich, sie wolle von ihnen Kjartans Leiche zerfleischen lassen, doch stattdessen kreisten sie Ragnar ein. Es waren immer noch wenigstens zwanzig der wölfischen Bestien übrig, und sie knurrten Ragnar an und schlichen um ihn herum, und Thyra kreischte ihn an. «Du hättest viel früher kommen müssen! Warum bist du nicht früher gekommen?»
|435|Er starrte sie an, fassungslos vor ihrem Zorn. «Ich bin gekommen, sobald …», fing er an.
«Du bist auf Beutezug gegangen!», schrie sie ihn an. «Du hast mich hier im Stich gelassen!» Die Hunde schienen Thyras Schmerz zu spüren, und sie krümmten sich, das Fell bluttriefend und die Zungen aus blutverschmierten Mäulern hängend. Sie warteten nur auf ein Wort, und dann würden sie ihn in eine blutigrote Masse verwandeln. «Du hast mich hier im Stich gelassen!», jammerte Thyra wieder, und sie stellte sich zwischen die Hunde, um ihrem Bruder ins Gesicht zu sehen. Dann fiel sie auf die Knie und begann zu schluchzen. Ich wollte zu ihr, doch die Hunde wandten mir ihre Köpfe zu und fletschten unter bösartigen Augen die Zähne, sodass ich mich schnell wieder zurückzog. Thyra weinte, und ihr Kummer war so heftig wie der Sturm, der über Dunholm tobte. «Ich werde dich töten!», schrie sie Ragnar an.
«Thyra», sagte er.
«Du hast mich hier im Stich gelassen!», beschuldigte sie ihn erneut. «Du hast mich hier im Stich gelassen!» Sie erhob sich, und mit einem Mal wirkte sie wieder ganz vernünftig, und ich erkannte, dass sie unter all dem Schmutz und all den Narben immer noch eine Schönheit war. «Der Preis für mein Leben», sagte sie ganz ruhig zu ihrem Bruder, «ist dein Tod.»
«Nein», erklang da eine neue Stimme, «nein, das ist er nicht.»
Es war Pater Beocca, der gesprochen hatte. Er hatte unter dem großen Torbogen gewartet, und nun hinkte er über das blutige Schlachtfeld und sprach mit machtbewusster Strenge. Thyra knurrte ihn an. «Du bist schon tot, Priester!», sagte sie und machte eines ihrer kläffenden Geräusche, worauf sich die Hunde Beocca näherten und |436|Thyra wieder anfing wie eine Wahnsinnige zu zucken. «Tötet den Priester!», schrie sie den Hunden zu. «Tötet ihn! Tötet ihn! Tötet ihn!»
Ich lief los, doch da erkannte ich, dass ich nicht gebraucht wurde.
Die Christen reden viel über Wunder, und ich wollte immer einmal selbst so eine Zauberei erleben. Sie behaupten, Blinde würden wieder sehend, Krüppel könnten wieder laufen und der Leprakranke geheilt werden. Ich habe sie Geschichten von Männer erzählen hören, die über Wasser laufen konnten, und sogar von Toten, die aus ihren Gräbern wiederauferstanden seien, aber mit eigenen Augen habe ich so etwas nie gesehen. Wenn ich eine dieser Zaubereien selbst gesehen hätte, dann wäre ich heute ein Christ, aber die Priester sagen, uns müsse stattdessen der Glaube genügen. Doch an diesem Tag, in dem unaufhörlichen Regen, sah ich etwas, das einem Wunder so nahe wie nur irgendetwas kam, das ich jemals erlebt habe.
Pater Beocca hinkte in seiner schmutzstarrenden Priesterkutte geradewegs in die Meute der bösartigen Hunde. Sie hatten den Befehl bekommen, sich auf ihn zu stürzen, und Thyra schrie, sie sollten ihn töten, doch Beocca beachtete die Bestien gar nicht, und sie schreckten vor ihm zurück. Sie winselten sogar, als fürchteten sie den schielenden Krüppel, und er humpelte ruhig an ihren grässlichen Fängen vorbei und ließ Thyra nicht aus den Augen, deren Gekreisch langsam zu einem Wimmern und dann zu lautem Schluchzen wurde. Ihr Umhang stand offen und ließ ihre narbenübersäte Nacktheit sehen, und Beocca nahm seinen durchweichten Umhang und legte ihn um ihre Schultern. Sie hatte das Gesicht in ihre Hände gebettet. Sie wimmerte immer noch, und die Hunde jaulten aus Mitgefühl gemeinsam mit ihr, und Ragnar sah einfach |437|nur zu. Ich dachte, Beocca würde Thyra wegführen, doch er legte seine Hände um ihr Gesicht, und dann schüttelte er sie unvermittelt. Er schüttelte sie sehr fest, und als er es tat, rief er den Himmel an. «Herr!», rief er, «nimm diesen Dämon von ihr! Lass das Böse aus ihr herausfahren! Erlöse sie aus der Knechtschaft Abaddons!» Da schrie sie, und die Hunde warfen ihre Köpfe zurück und heulten den Regen an. Ragnar stand wie erstarrt. Beocca schüttelte erneut Thyras Kopf, und er tat es so heftig, dass ich fürchtete, er würde ihr das Genick brechen. «Erlöse sie von dem Bösen, Herr!», rief er. «Nimm sie auf in Deiner Liebe und Deiner großen Gnade!» Er starrte in die Wolken. Seine verkrüppelte Hand hielt Thyras Haar mit den toten Efeuranken, und er ließ ihren Kopf nach vorne und zurück fahren, während er mit einer lauteren Stimme als der eines Kriegsherrn auf dem Schlachtfeld seine Gebete intonierte. «Im Namen des Vaters», rief er, «und des Sohnes und des Heiligen Geistes, befehle ich euch, ihr verderbten Dämonen, aus diesem Mädchen auszufahren. Ich werfe euch in den Abgrund zurück. Ich verbanne euch! Ich schicke euch für die Ewigkeit und einen Tag in die Hölle, und ich tue es im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Fahrt aus!»
Und da begann Thyra auf einmal zu weinen. Nicht zu kreischen und zu schluchzen und keuchend um Atem zu ringen, sondern einfach leise zu weinen, und sie ließ ihren Kopf an Beoccas Schulter sinken, und er legte seine Arme um sie und wiegte sie und sah uns voller Groll an, als stünden wir, blutbeschmiert, bewaffnet und kampfbereit, wie wir waren, im Bund mit den Dämonen, die er verbannt hatte. «Es geht ihr jetzt gut», sagte er unbeholfen. «Es geht ihr jetzt gut. Oh, weg mit euch!» Dieser gereizte Befehl galt den Hunden, und erstaunlicherweise gehorchten |438|sie ihm und schlichen sich davon und ließen Ragnar in Frieden. «Wir müssen dafür sorgen, dass sie es warm hat», sagte Beocca, «und wir müssen ihr etwas Richtiges zum Anziehen geben.»
«Ja», sagte ich, «das müssen wir.»
«Nun, wenn du es nicht tun willst», sagte Beocca ungehalten, weil ich mich nicht rührte, «dann werde ich es tun.» Er führte Thyra zu Kjartans Palas, aus dessen Abzug im Dach noch immer Rauch stieg. Ragnar wollte, dass ich sie begleitete, doch ich schüttelte den Kopf, und er ließ es dabei. Dann stellte ich meinen rechten Fuß auf Kjartans Körper und zerrte den Herzbrecher aus der Leiche. Ich gab Ragnar sein Schwert, und er umarmte mich, doch keiner von uns beiden empfand ein Hochgefühl. Wir hatten das Unmögliche geschafft, wir hatten Dunholm eingenommen, doch Ivarr lebte immer noch, und Ivarr war der gefährlichere Feind.
«Was soll ich Thyra sagen?», fragte mich Ragnar.
«Du sagst ihr die Wahrheit», antwortete ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Und dann ging ich Gisela holen.
Gisela und Brida halfen Thyra beim Waschen. Sie wuschen ihren Körper und ihr Haar, sie befreiten es von den Efeuranken und kämmten die goldenen Strähnen aus, und dann trockneten sie es vor dem großen Feuer in Kjartans Palas, und sie kleideten Thyra in ein einfaches, wollenes Gewand und einen Umhang aus Otternfell. Ragnar setzte sich zu ihr ans Feuer und sprach mit ihr. Sie blieben bei diesem Gespräch unter sich, und ich trat mit Pater Beocca vor das Haus. Es hatte zu regnen aufgehört. «Wer ist Abaddon?», fragte ich.
«Ich war für deine Erziehung verantwortlich», sagte er, |439|«und ich schäme mich vor mir selbst. Wie kannst du das nicht wissen?»
«Ich weiß es eben nicht», sagte ich. «Also, wer ist er?»
«Der dunkle Engel des bodenlosen Abgrundes natürlich. Ich bin sicher, dass ich dir das beigebracht habe. Er ist der erste Dämon, der dich quält, wenn du nicht Buße tust und das Christentum annimmst.»
«Ihr seid ein tapferer Mann, Pater.»
«Unsinn.»
«Ich wollte zu ihr», sagte ich, «aber die Hunde haben mich zu sehr geängstigt. Diese Bestien haben heute dreißig oder mehr Männer getötet, und Ihr seid einfach zwischen sie gelaufen.»
«Das sind doch nur Hunde», sagte er geringschätzig. «Wenn Gott und Sankt Cuthbert mich nicht einmal vor Hunden beschützen können, wozu sind sie dann überhaupt fähig?»
Ich unterbrach ihn, legte ihm beide Hände auf die Schultern und drückte sie. «Ihr wart sehr mutig, Pater», beharrte ich, «und ich bewundere Euch dafür.»
Beocca war überaus geschmeichelt von diesem Lob, doch er bemühte sich dennoch um Bescheidenheit. «Ich habe einfach nur gebetet», sagte er, «und Gott hat alles andere getan.» Ich ließ ihn los, und er ging ein paar Schritte und trat nebenbei mit seinem Klumpfuß an einen Speer, der nach dem Kampf liegen geblieben war. «Ich habe nicht geglaubt, dass die Hunde mir etwas tun würden», sagte er, «weil ich Hunde immer gemocht habe. Als Kind hatte ich selbst einen Hund.»
«Ihr solltet Euch wieder einen anschaffen», sagte ich. «Ein Hund wäre Euch ein treuer Gefährte.»
«Ich konnte als Junge nicht arbeiten», fuhr er fort, als hätte ich nichts gesagt. «Gut, ich konnte Steine sammeln |440|und die Vögel von der frischen Saat verjagen, aber ich konnte keine richtigen Arbeiten verrichten. Der Hund war mein Freund, aber dann ist er gestorben. Ein paar andere Jungen haben ihn getötet.» Er blinzelte ein paar Mal. «Thyra ist eine schöne Frau, findest du nicht?», sagte er versonnen.
«Jetzt ist sie es wieder», stimmte ich zu.
«Diese Narben an ihren Armen und Beinen», sagte er, «ich hatte geglaubt, Kjartan oder Sven hätten sie verletzt. Aber sie waren es nicht. Sie hat es selbst getan.»
«Sie hat sich selbst geschnitten?»
«Sich mit Messern aufgeritzt, wie sie mir erzählt hat. Warum hat sie das nur getan?»
«Um sich hässlich zu machen?», schlug ich vor.
«Aber das ist sie nicht», sagte Beocca verständnislos. «Sie ist wunderschön.»
«Ja», sagte ich, «das ist sie.» Wieder erfüllte mich Mitleid für Beocca. Er wurde alt, und er war immer ein Krüppel und immer hässlich gewesen, und er hatte immer heiraten wollen, doch niemals war ihm die Liebe begegnet, von der er träumte. Er hätte Mönch werden sollen, sodass er gar nicht hätte heiraten dürfen. Stattdessen war er Priester, und er hatte eine Priesterseele, denn nun sah er mich mit strenger Miene an.
«Alfred hat mich geschickt, um Frieden zu predigen», sagte er, «und ich habe gesehen, wie du einen heiligen Bruder getötet hast, und jetzt noch dies hier.» Er verzog das Gesicht, als er auf die Toten deutete.
«Alfred hat uns geschickt, um für Guthreds Sicherheit zu sorgen», erinnerte ich ihn.
«Und wir müssen dafür sorgen, dass der Heilige Cuthbert sicher ist», mahnte er mich.
«Das werden wir.»
|441|«Wir können nicht hierbleiben, Uhtred, wir müssen zurück nach Cetreht.» Er sah zu mir empor, und in seinem guten Auge stand Besorgnis. «Wir müssen Ivarr schlagen!»
«Das werden wir auch, Pater», sagte ich.
«Er hat das größte Heer in ganz Northumbrien!»
«Aber er wird ganz allein sterben, Pater.» Ich wusste selbst nicht, warum ich das gesagt hatte. Die Worte waren mit einem Mal aus meinem Mund gekommen, und ich dachte, dass ein Gott durch mich gesprochen haben musste. «Er wird allein sterben», wiederholte ich, «das verspreche ich Euch.»
Doch zuvor gab es anderes zu tun. Wir mussten Kjartans Hort unter dem Fußboden des Palas’ ausgraben, der als Hundezwinger gedient hatte. Diese Arbeit ließen wir Kjartans Sklaven tun, sie gruben den stinkenden Boden auf, und wir fanden Silberbarren und Fässer mit Gold und Altarkreuze und Armringe und Lederbeutel voller Bernstein, Jett und Granatstein und sogar Ballen wertvoller Seidenstoffe, die den weiten Weg von China gekommen und nun in der feuchten Erde halb verrottet waren. Kjartans besiegte Kämpfer bauten einen Scheiterhaufen für ihre Toten, wenn Ragnar auch verhinderte, dass Kjartan selbst und das, was von seinem Sohn Sven noch übrig war, verbrannt werden durften. Stattdessen wurden ihnen Rüstung und Kleidung genommen, und dann wurden ihre Leichen den Schweinen vorgeworfen, die der Herbstschlachtung entgangen waren und in der nordwestlichen Ecke des Festungsgeländes gehalten wurden.
Die Verantwortung für Dunholm wurde Rollo übertragen. Guthred hatte im Überschwang des Sieges verkündet, die Festung sei nun sein Eigentum, und er würde sie zu einer der Königsfestungen in Northumbrien machen, doch ich nahm ihn beiseite und sagte ihm, er solle Dunholm an |442|Ragnar abgeben. «Ragnar ist Euch freundlich gesinnt», erklärte ich ihm, «und Ihr könnt darauf vertrauen, dass er Dunholm verteidigen kann.» Auch ich konnte Ragnar vertrauen. Er würde immer wieder in das Gebiet von Bebbanburg eindringen und dafür sorgen, dass mein betrügerischer Onkel beständig in Angst lebte.
Also gab Guthred Dunholm an Ragnar, und Ragnar beauftragte Rollo damit, Dunholm zu halten, und ließ ihm für die Zeit, die wir im Süden waren, dreißig Männer zur Sicherung des Festungswalles da. Mehr als fünfzig von Kjartans geschlagenen Männern leisteten Ragnar den Treueid, doch erst nachdem er festgestellt hatte, dass keiner von ihnen daran beteiligt gewesen war, den Palas seiner Eltern niederzubrennen und damit an ihrem Tod mitschuldig war. Jeder Mann, der diese Mordtaten unterstützt hatte, wurde getötet. Die anderen würden mit uns reiten, zuerst nach Cetreht und dann zu unserem Kampf mit Ivarr.
Und so hatten wir die Hälfte unserer Aufgabe hinter uns gebracht. Kjartan der Grausame und Sven der Einäugige waren tot, doch Ivarr lebte noch, und Alfred von Wessex, wenn er es auch niemals ausgesprochen hatte, wollte auch ihn tot sehen.
Also ritten wir nach Süden.