|118|DREI

Es war Clapa, der schrie. Es klang wie das schrille Kreischen eines jungen Bären, der gerade kastriert wird, und mehr wie ein Angstschrei als nach dem Brüllen eines Herausforderers. Das war auch keine Überraschung, denn Clapa hatte noch nie zuvor gekämpft. Er wusste gar nicht, dass er schrie, während er die Böschung herunterlief. Die anderen Männer von Guthreds Haustruppe folgten ihm, aber es war Clapa, der sie mit unbeholfener Wildheit anführte. Er hatte vergessen, das Tuch abzuwickeln, das die Schneiden seines Schwertes schützte, aber er war so massig und so stark, dass sein umwickeltes Schwert die Wirkung einer Keule hatte. Tekil hatte nur fünf Leute bei sich, und als die dreißig jungen Männer die steile Uferböschung herabstürmten, fühlte ich Tekils Messer über meinen Wangenknochen kratzen, als er sich von mir wegrollte. Ich versuchte, seine Hand mit dem Messer zu packen, aber er war zu schnell, und dann traf ihn Clapa am Kopf, und er stolperte, und Rypere schwang sein Schwert gegen Tekils Kehle, und ich schrie, dass ich sie lebend haben wollte. «Lebend! Lasst sie leben!»

Trotz meines Rufes starben zwei von Tekils Männern. Einer wurde von mindestens einem Dutzend Klingen getroffen und aufgeschlitzt, sodass er zuckend in dem Bachlauf zusammenbrach, dessen Wasser sich mit seinem Blut rot färbte. Clapa hatte sein Schwert weggeworfen und Tekil auf der Kiesbank niedergerungen, wo er ihn mit unbändiger Kraft auf den Boden gedrückt hielt. «Gut gemacht, Clapa», sagte ich und klopfte ihm auf die Schulter, und er grinste |119|mich an, während ich Tekil das Messer und das Schwert abnahm. Rypere machte dem Leben des Mannes ein Ende, der sich im Wasser wand. Einer meiner Leute hatte einen Schwerthieb in den Oberschenkel abbekommen, aber die anderen waren unverletzt und standen nun grinsend im Wasser und erwarteten ein Lob wie junge Hunde, die ihren ersten Fuchs zur Strecke gebracht hatten. «Das habt ihr gut gemacht», erklärte ich ihnen, und das stimmte auch, denn nun waren Tekil und drei seiner Männer unsere Gefangenen. Sihtric, der Jüngling, war einer von ihnen, und er hielt immer noch die Ketten in den Händen, und in meinem Zorn entriss ich sie ihm und schlug ihm damit auf den Kopf. «Ich will auch die beiden anderen», sagte ich zu Rypere.

«Welche anderen, Herr?»

«Er hat zwei Leute losgeschickt, um ihre Pferde zu holen», sagte ich, «finde sie.» Ich schlug noch einmal heftig auf Sihtric ein, weil ich wollte, dass er vor Schmerzen schrie, aber er blieb still, obwohl ihm Blut von der Schläfe lief.

Guthred saß immer noch auf der Kiesinsel, und auf seinem gutaussehenden Gesicht malte sich Verwunderung. «Ich habe meine Stiefel verloren», sagte er. Das schien ihm weit besorgniserregender als sein knappes Entkommen.

«Ihr habt sie weiter flussabwärts am Ufer gelassen», erklärte ich ihm.

«Meine Stiefel?»

«Sie sind flussabwärts», sagte ich und versetzte Tekil einen Tritt, der meinen Fuß mehr schmerzte als seine Rippen unter dem Kettenhemd, aber ich war wütend. Ich war ein Narr gewesen und fühlte mich erniedrigt. Ich gürtete mich mit meinen Schwertern, dann kniete ich mich hin und nahm Tekils vier Armringe. Er sah zu mir auf, und er musste sein Schicksal gekannt haben, doch seine Miene war ausdruckslos.

|120|Die Gefangenen wurden in die Stadt zurückgebracht, und dabei entdeckten wir, dass die zwei Männer, die Tekils Pferde hatten holen sollen, das Geschehen mitbekommen haben mussten, denn sie hatten sich Richtung Osten davongemacht. Es kostete uns viel zu viel Zeit, unsere eigenen Pferde zu satteln und die Verfolgung aufzunehmen, und ich fluchte, denn ich wollte nicht, dass die beiden Kjartan von mir berichteten. Es wäre für die beiden vernünftig gewesen, den Fluss zu überqueren und am Römerwall entlang zu flüchten, aber sie mussten vermutet haben, dass es zu gefährlich war, Cair Ligualid zu durchqueren, und sicherer, zuerst Richtung Süden und dann nach Osten zu reiten. Sie hätten auch ihre reiterlosen Pferde zurücklassen sollen, aber sie waren zu habgierig und nahmen sie alle mit, und das bedeutete, dass ihre Spuren leicht zu verfolgen waren, obwohl die Erde trocken war. Die beiden Männer kannten die Gegend nicht, und so ritten sie zu weit nach Süden und gaben uns damit Gelegenheit, ihnen den Weg Richtung Osten abzuschneiden. Bis zum Abend verfolgten wir sie mit sechzig Männern, und als sie in der Dämmerung in einem Weißbuchenhain rasteten, entdeckten wir sie.

Der Ältere stellte sich dem Kampf. Er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte, und war entschlossen, in die Ruhmeshalle Odins einzugehen und seine Ewigkeit nicht mit den Schrecknissen von Niflheim zu verbringen. Also kam er unter den Bäumen hervor, brüllte eine Herausforderung, und ich drückte Witnere die Fersen in die Flanken, aber Guthred schnitt mir den Weg ab. «Er gehört mir», sagte er, zog sein Schwert, und sein Pferd galoppierte los, und zwar vor allem, weil Witnere, der es immer übel nahm, wenn sich ihm etwas in den Weg stellte, seinen kleineren Hengst ins Hinterteil gebissen hatte.

|121|Guthred verhielt sich wie ein wahrer König. Er genoss das Kämpfen nicht und besaß viel weniger Erfahrung als ich, aber er wollte diesen Mann selbst töten, damit seine Leute nicht sagten, er verstecke sich hinter meinem Schwert. Er meisterte die Sache gut genug. Sein Pferd geriet aus dem Tritt, kurz bevor es Kjartans Mann erreichte, aber das erwies sich als Vorteil, denn das Stolpern brachte Guthred außer Reichweite des Feindes, dessen wild geschwungenes Schwert harmlos an seiner Hüfte vorbeifuhr, während Guthreds eigener verzweifelter Schlag das Handgelenk des Mannes traf und es brach, und danach war es leicht, den Feind niederzureiten und ihn tot zu hacken. Das alles gefiel Guthred nicht, doch er wusste, dass er es tun musste, und mit der Zeit wurde dieser Kampf zum Teil seiner Legende. Das Volk sang Lieder auf Guthred von Northumbrien, der im Kampf sechs Übeltäter erschlug, aber es war nur ein Mann gewesen, und Guthred hatte Glück gehabt, dass sich sein Pferd vertreten hatte. Aber das ist gut für einen König. Könige brauchen Glück. Später, als wir nach Cair Ligualid zurückgekehrt waren, gab ich ihm den alten Helm meines Vaters als Anerkennung für seine Tapferkeit, und er war darüber sehr erfreut.

Ich befahl Rypere, den zweiten Mann zu töten, was er mit ermutigendem Genuss tat. Es war keine schwere Aufgabe, denn der zweite Mann war ein Feigling und wollte sich ergeben. Er warf sein Schwert weg, kniete sich zitternd hin und rief, dass er sich geschlagen gebe, aber ich hatte anderes mit ihm vor. «Töte ihn!», sagte ich zu Rypere, und er ließ sein Schwert mit einem wölfischen Grinsen auf den Mann niederfahren.

Dann sammelten wir die zwölf Pferde ein, nahmen den beiden Männern ihre Rüstung und ihre Waffen und überließen ihre Leichen den Tieren, doch zuvor befahl ich |122|Clapa, ihnen die Köpfe abzuschlagen. Clapa starrte mich an wie ein Ochse. «Ihre Köpfe, Herr?», fragte er.

«Schlag sie ab, Clapa», sagte ich, «und die hier sind für dich.» Ich gab ihm zwei von Tekils Armringen.

Er staunte die beiden Silberreifen an, als hätte er noch nie zuvor so etwas Wunderbares gesehen. «Für mich, Herr?»

«Du hast uns das Leben gerettet, Clapa.»

«Es war Rypere, der uns hingeführt hat», gab er zu. «Er sagte, wir dürften nicht von der Seite des Königs weichen, und Ihr wart weggegangen, also mussten wir Euch folgen.»

Und so gab ich Rypere die beiden anderen Armringe, und dann schlug Clapa den toten Männern die Köpfe ab und erfuhr dabei, wie schwer es ist, einen Nacken zu durchtrennen. Nachdem er es geschafft hatte, nahmen wir die blutigen Köpfe mit zurück nach Cair Ligualid, und als wir die zerstörte Siedlung erreicht hatten, ließ ich die beiden anderen Leichen aus dem Flüsschen ziehen und ebenfalls enthaupten.

Abt Eadred wollte die vier übrigen Gefangenen aufhängen, aber ich überzeugte ihn davon, Tekil mir zu überlassen, wenigstens für eine Nacht. Ich ließ ihn zu mir in die Ruine eines alten Gebäudes bringen, von dem ich glaube, dass es aus der Römerzeit stammte. Die hohen Wände bestanden aus Quadersteinen und waren von drei großen Fenstern durchbrochen. Ein Dach gab es nicht mehr. Der Boden bestand aus winzigen schwarzen und weißen Steinziegeln, die früher ein Muster gebildet hatten, aber dieses Muster war schon seit langem zerstört. Ich entzündete ein Feuer auf dem größten Fleck mit Ziegeln, der auf dem Boden noch übrig geblieben war, und die Flammen warfen ihren grellen Schein auf die alten Mauern, und dazu drang |123|etwas schwaches Licht durch die Fensteröffnungen herein, wenn die Wolken den Mond freigaben. Tekil wurde von Rypere und Clapa zu mir gebracht, und sie wollten bleiben und zusehen, was ich ihm antun würde, doch ich schickte sie weg.

Tekil war statt in seine Rüstung nun in ein schmuddeliges Wams gekleidet. Sein Gesicht war zerschrammt, und seine Handgelenke mit den Ketten zusammengeschlossen, die er für mich bestimmt hatte. Er setzte sich an einem Ende des alten Raumes auf den Boden, und ich ließ mich auf der anderen Seite des Feuers ihm gegenüber nieder. Er starrte mich einfach nur an. Er hatte ein gutes Gesicht, ein starkes Gesicht, und ich dachte, dass ich Tekil hätte mögen können, wären wir Gefährten und nicht Feinde gewesen. Mein prüfender Blick schien ihn zu belustigen. «Du warst der Totenkrieger mit dem Schwert», sagte er nach einer Weile.

«War ich das?»

«Ich weiß, dass der Totenkrieger einen Helm mit einem Wolfsrachen auf dem Kamm getragen hat, und diesen Helm habe ich an dir gesehen», er zuckte mit den Schultern, «oder leiht er dir den Helm vielleicht manchmal aus?»

«Vielleicht tut er das», sagte ich.

Fast musste er lächeln. «Der Totenkrieger mit dem Schwert hat Kjartan und seinen Sohn beinahe zu Tode erschreckt, aber genau das wolltest du ja, oder?»

«Das wollte der Totenkrieger mit dem Schwert», sagte ich.

«Und jetzt», sagte er, «hast du vier von meinen Männern die Köpfe abschlagen lassen, und diese Köpfe wirst du Kjartan überbringen lassen, ist es nicht so?»

«Ja.»

«Weil du ihnen noch größere Schrecken einjagen willst?»

|124|«Ja», sagte ich.

«Aber es müssen acht Köpfe sein», sagte er, «oder etwa nicht?»

«Ja», sagte ich wieder.

Darauf verzog er sein Gesicht zu einer Grimasse, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und sah hinauf zu den Wolken, die vor dem Halbmond entlangzogen. Hunde jaulten in den Ruinen, und Tekil neigte den Kopf, um auf dieses Geräusch zu lauschen. «Kjartan mag Hunde», sagte er. «Er hat ein ganzes Rudel von ihnen. Bösartige Kreaturen. Er lässt sie gegeneinander kämpfen und behält nur die kräftigsten. Er hält sie in einem Zwinger in einem Palas in Dunholm, und er setzt sie zu zwei ganz unterschiedlichen Gelegenheiten ein.» Er unterbrach sich und sah mich spöttisch an. «Das wolltest du, oder? Dass ich dir alles über Dunholm erzähle? Seine Stärken, seine Schwächen, wie viele Männer dort liegen und wie du am besten angreifen kannst?»

«All das», sagte ich, «und noch mehr.»

«Weil es um eine Blutfehde geht, das ist es doch. Kjartans Leben zum Ausgleich für den Tod Graf Ragnars.»

«Graf Ragnar hat mich aufgezogen», sagte ich, «und ich habe ihn wie einen Vater geliebt.»

«Und was ist mit seinem Sohn?»

«Alfred hat ihn als Geisel genommen.»

«Also wirst du an seiner statt Rache üben?», fragte er, und dann zuckte er mit den Schultern, als sei meine Antwort offenkundig. «Du wirst feststellen, dass es nicht leicht ist», sagte er, «und noch schwerer, wenn du gegen Kjartans Hunde kämpfen musst. Er hält sie in einem eigenen Palas. Sie leben dort wie die Könige, und unter dem Boden des Hauptraumes liegt Kjartans Hort. Berge von Gold und Silber. Ein Hort, den er niemals auch nur anschaut. Und |125|dennoch liegt dort alles, vergraben in dem Boden unter den Hunden.»

«Und wer bewacht diesen Schatz?»

«Das ist eine ihrer Aufgaben», sagte Tekil, «aber die zweite ist es, Menschen zu zerfleischen. Und genauso wird er dich umbringen. Zuerst lässt er dir die Augen herausschneiden, und dann lässt er dich von seinen Hunden in Stücke reißen. Oder vielleicht zieht er dir auch ganz langsam die Haut ab. So etwas habe ich ihn schon tun sehen.»

«Kjartan der Grausame», sagte ich.

«Er wird nicht umsonst so genannt», sagte Tekil.

«Und warum dienst du ihm dann?»

«Er ist freigebig», sagte Tekil. «Kjartan liebt viererlei: Hunde, Reichtümer, Frauen und seinen Sohn. Ich mag zweierlei davon, und Kjartan ist mit beidem sehr freigebig.»

«Und die beiden, die du nicht magst?», fragte ich.

«Ich hasse seine Hunde», räumte er ein, «und sein Sohn ist ein Feigling.»

«Sven?» Das überraschte mich. «Als Kind war er kein Feigling.»

Tekil streckte ein Bein aus und zog ein Gesicht, als die Ketten seinen Fuß behinderten. «Als Odin sein Auge verlor», sagte er, «hat er dadurch Weisheit gewonnen, aber als Sven sein Auge verlor, hat er dadurch das Fürchten gelernt. Er ist mutig, wenn er gegen einen Schwächeren kämpft, doch er stellt sich nicht gern einem Stärkeren. Aber sein Vater, der ist kein Feigling.»

«Ich erinnere mich daran, dass Kjartan tapfer war», sagte ich.

«Tapfer, grausam und gewalttätig», sagte Tekil, «und jetzt weißt du auch, dass er einen herrschaftlichen Palas voller Hunde hat, die dich in blutige Fetzen reißen werden. |126|Und das, Uhtred Ragnarson, war alles, was ich dir erzählen werde.»

Ich schüttelte den Kopf. «Du wirst mir noch mehr erzählen.»

Er sah mir dabei zu, wie ich einen neuen Holzscheit ins Feuer legte. «Und warum werde ich dir mehr erzählen?», fragte er.

«Weil ich etwas habe, das du willst», erklärte ich ihm.

«Mein Leben?»

«Dein Sterben», sagte ich.

Er verstand und verzog die Lippen zu einem Lächeln. «Wie ich höre, wollen die Mönche mich aufhängen.»

«Das wollen sie», sagte ich, «weil sie keine Phantasie haben. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie dich hängen.»

«Und was wirst du stattdessen tun? Mich diesen Kindern ausliefern, die du Soldaten nennst? Damit sie an mir üben können?»

«Wenn du nicht redest», sagte ich, «werde ich genau das tun, denn sie haben Übung bitter nötig. Aber ich werde es ihnen leicht machen. Du wirst kein Schwert haben.»

Ohne Schwert konnte er nicht in die Totenhalle Odins einziehen, und das ängstigte Tekil genug, um ihn zum Reden zu bringen. Kjartan, so erklärte er mir, hatte drei Kämpfertruppen in Dunholm, zusammen waren es etwa einhundertundfünfzig Krieger, aber er verfügte nahe der Festung noch über weitere Leute, die für ihn kämpfen würden, wenn er sie rief. Wenn Kjartan wollte, konnte er insgesamt vierhundert erfahrene Krieger in die Schlacht führen. «Und sie sind ihm treu», warnte mich Tekil.

«Weil er freigebig ist?»

«Uns fehlt es nie an Silber oder an Frauen. Was kann sich ein Krieger mehr wünschen?»

«In Odins Totenhalle einzugehen», sagte ich, und Tekil |127|nickte zu dieser Wahrheit. «Und woher kommen die Sklaven?», fragte ich.

«Von Händlern wie dem, den du umgebracht hast. Oder wir fangen sie selbst.»

«Behaltet ihr sie in Dunholm?»

Tekil schüttelte den Kopf. «Dorthin werden nur die jungen Mädchen geschickt, die anderen kommen nach Gyruum. Wir haben zwei Mannschaften in Gyruum.» Das ergab Sinn. Ich war zuvor schon einmal in Gyruum. An diesem Ort hatte früher ein berühmtes Kloster gestanden, bevor es von Ragnar dem Älteren zerstört worden war. Die Stadt war klein und lag am Südufer des Tine in der Nähe des Meeres, sodass sich der Ort sehr gut dazu eignete, Sklaven zu verschiffen. Auf einer Landzunge, die zu Gyruum gehörte, lag eine alte Römerfestung, aber diese Festung war viel schwerer zu verteidigen als Dunholm. Allerdings spielte das kaum eine Rolle, denn falls sich ein Angriff abzeichnete, konnte die Mannschaft von Gyruum leicht mitsamt den Sklaven nach Süden ziehen und sich in der wesentlich stärkeren Festung von Dunholm verschanzen. «Und Dunholm», sagte Tekil, «kann nicht bezwungen werden.»

«Nein?», fragte ich ungläubig.

«Ich habe Durst», sagte Tekil.

«Rypere!», rief ich. «Ich weiß, dass ihr da draußen seid! Bringt Bier!»

Ich gab Tekil einen Humpen Bier, etwas Brot und kaltes Ziegenfleisch, und beim Essen sprach er von Dunholm und versicherte mir, es sei wirklich uneinnehmbar.

«Wenn die Streitmacht groß genug ist, kann man es besetzen», sagte ich.

Er lachte spöttisch auf. «Die einzige Möglichkeit ist, von Norden zu kommen», sagte er, «und der Zugang ist eng und steil, deshalb kannst du auch mit dem größten Heer |128|der Welt immer nur ein paar Mann gleichzeitig gegen die Verteidiger führen.»

«Hat es schon mal jemand versucht?»

«Ivarr ist gekommen, hat uns vier Tage lang in Augenschein genommen und ist wieder abgezogen. Davor war Graf Ragnars Sohn da, und er ist noch kürzer geblieben. Man könnte die Festung aushungern, nehme ich an, aber das dauert ein Jahr, und wer kann sich schon die Verpflegung einer Belagerungstruppe über ein ganzes Jahr hinweg leisten?» Er schüttelte den Kopf. «Dunholm ist wie Bebbanburg. Uneinnehmbar.»

Und dennoch sollte mich mein Schicksal an diese beiden Orte führen. Ich dachte schweigend nach, bis Tekil die schweren Ketten hochhob, als wolle er feststellen, ob er sie zerreißen könne. Er konnte es nicht. «Und jetzt sage mir, wie ich sterben werde.»

«Ich habe noch eine Frage.»

Er zuckte mit den Schultern. «Dann frage.»

«Thyra Ragnarsdottir.»

Er war überrascht und blieb einen Moment stumm, dann ging ihm auf, dass ich Thyra natürlich als Kind gekannt haben musste. «Die liebliche Thyra», sagte er höhnisch.

«Lebt sie noch?»

«Sie war von Anfang an als Svens Frau vorgesehen», sagte Tekil.

«Und ist sie es geworden?»

Er lachte. «Er hat sie auf sein Lager gezwungen, was glaubst du denn? Aber inzwischen rührt er sie nicht mehr an. Sie ängstigte ihn. Also ist sie eingesperrt worden, und Kjartan lässt sich ihre Träume erzählen.»

«Ihre Träume?»

«Die Götter sprechen durch sie. Das glaubt jedenfalls Kjartan.»

|129|«Und was glaubst du?»

«Ich glaube, das Weib ist verrückt.»

Ich starrte ihn durch die Flammen hindurch an. «Aber sie lebt?»

«Wenn man das leben nennen kann», sagte er trocken.

«Verrückt?»

«Sie verletzt sich selbst», sagte Tekil und zog seine rechte Handkante über den linken Arm. «Sie jammert, ritzt sich das Fleisch auf und spricht Verwünschungen aus. Kjartan fürchtet sich vor ihr.»

«Und Sven?»

Tekil zog ein Gesicht. «Er fürchtet sich noch mehr vor ihr. Er will ihren Tod.»

«Und warum ist sie dann nicht tot?»

«Weil ihr die Hunde nichts tun», sagte Tekil, «und weil Kjartan glaubt, dass sie in die Zukunft schauen kann. Sie hat ihm gesagt, der Totenkrieger mit dem Schwert würde ihn umbringen, und er hat ihr halb geglaubt.»

«Der Totenkrieger mit dem Schwert wird Kjartan umbringen», sagte ich, «und morgen werde ich dich umbringen.»

Er nahm sein Schicksal an. «Haselruten?»

«Ja.»

«Und ich habe ein Schwert in der Hand?»

«In beiden Händen, wenn du willst», sagte ich, «weil dich der Totenkrieger mit dem Schwert so oder so umbringen wird.»

Er nickte, dann schloss er die Augen und lehnte sich wieder mit dem Rücken an die Wand. «Sihtric», erklärte er mir, «ist Kjartans Sohn.»

Sihtric war der Junge, den ich mit Tekil gefangen hatte. «Er ist Svens Bruder?», fragte ich.

«Sein Halbbruder. Sihtrics Mutter war ein sächsisches |130|Sklavenmädchen. Kjartan hat sie den Hunden vorgeworfen, als er glaubte, sie habe ihn vergiften wollen. Vielleicht wollte sie das, doch vielleicht hatte er auch nur Bauchschmerzen. Aber ganz gleich, woran es lag, er hat sie an seine Hunde verfüttert. Sihtric hat er am Leben gelassen, weil er mein Diener ist und ich mich für ihn eingesetzt habe. Er ist ein guter Junge. Du solltest ihn lieber nicht töten.»

«Aber ich brauche acht Köpfe», erinnerte ich ihn.

«Ja», sagte er müde, «die brauchst du.» Das Schicksal ist unausweichlich.

 

Abt Eadred wollte die vier Männer hängen. Oder ertränken. Oder erwürgen. Er wollte, dass sie einen ehrlosen Tod starben und vergessen werden würden. «Sie haben unseren König angegriffen!», rief er leidenschaftlich. «Und deshalb müssen sie einen elenden Tod sterben, einen elenden Tod!» Er genoss diese Worte offenbar außerordentlich, so oft wiederholte er sie. Doch ich zuckte nur die Schultern und sagte, dass ich Tekil ein ehrenhaftes Sterben versprochen hatte, eines, das ihn nach Walhalla und nicht nach Niflheim bringen würde. Eadred starrte auf mein Hammeramulett und kreischte, in Haliwerfolkland dürfe es keine Gnade für Männer geben, die Cuthberts auserwähltem König etwas antun wollten.

Wir stritten uns auf dem Hang direkt unter der neuen Kirche, und die vier Gefangenen, alle in Ketten oder Fesseln, saßen unter der Bewachung von Guthreds Haustruppe auf dem Boden und erwarteten gemeinsam mit vielen Leuten aus der Stadt Guthreds Entscheidung. Eadred ließ einen Wortschwall auf den König niedergehen, in dem er behauptete, Schwäche zu zeigen würde Guthreds Macht untergraben. Die Geistlichen waren mit dem Abt einer |131|Meinung, aber das war keine Überraschung, und seine größten Mitstreiter waren zwei gerade erst eingetroffene Mönche, die von Ost-Northumbrien aus über die Hügel gekommen waren. Sie hießen Jænberht und Ida, waren beide in ihren Zwanzigern, und beide schuldeten Eadred Gehorsam. Offenbar waren sie im Auftrag des Abtes auf der anderen Seite der Hügel unterwegs gewesen, doch nun waren sie zurück in Cair Ligualid und setzten sich stürmisch für einen schmählichen, qualvollen Tod der Gefangenen ein. «Verbrennt sie!», drängte Jænberht. «Ebenso wie die Heiden so viele unserer Heiligen verbrannt haben! Röstet sie auf Höllenflammen!»

«Hängt sie auf!», beharrte Abt Eadred.

Ich konnte spüren, auch wenn Eadred das nicht tat, dass die cumbrischen Dänen, die sich Guthred angeschlossen hatten, an dem Ungestüm der Priester Anstoß nahmen. Also zog ich den König beiseite. «Glaubt Ihr, ohne die Dänen König bleiben zu können?», fragte ich ihn.

«Natürlich nicht.»

«Aber wenn Ihr andere Dänen zu Tode foltert, wird ihnen das nicht gefallen. Sie werden denken, Ihr zieht ihnen die Sachsen vor.»

Guthred wirkte beunruhigt. Er hatte seinen Thron Eadred zu verdanken und würde ihn nicht behalten, wenn sich der Abt von ihm abwandte, doch ebenso wenig würde er ihn behalten, wenn er die Unterstützung der Dänen von Cumbrien verlor. «Was würde Alfred tun?», fragte er mich.

«Er würde beten», sagte ich, «und genauso würde er alle seine Mönche und Priester beten lassen, aber am Ende würde er tun, was auch immer notwendig ist, um das Königreich nicht zu gefährden.» Guthred starrte mich an. «Was auch immer notwendig ist», wiederholte er langsam.

|132|Guthred nickte, und dann ging er mit gerunzelter Stirn zu Eadred. «Noch einen Tag oder zwei», sagte Guthred laut genug, damit ihn die meisten Leute hören konnten, «dann ziehen wir Richtung Osten. Wir werden die Hügel überqueren und unseren segensreichen Heiligen in ein neues Zuhause in einem heiligen Land bringen. Wir werden über unsere Feinde siegen, wer sie auch sein mögen, und wir werden ein neues Königreich errichten.» Er sprach dänisch, doch seine Worte wurden von drei oder vier Männern ins Englische übersetzt. «Dies alles wird geschehen», sagte er, und seine Stimme wurde fester, «weil Gott und der heilige Sankt Cuthbert meinem Freund Abt Eadred einen Traum gesandt haben. Wenn wir diesen Ort verlassen, um über die Hügel zu ziehen, werden wir das mit Gottes Segen und mit Sankt Cuthberts Hilfe tun, und wir werden ein besseres Königreich, ein geheiligtes Königreich errichten, das von der Zauberkraft des Christentums beschützt werden wird.» Eadred runzelte bei dem Wort Zauberkraft die Stirn, doch er erhob keinen Einspruch. Guthreds Verständnis von seiner neuen Religion war noch etwas grob, aber größtenteils sagte er das, was Eadred hören wollte. «Und wir werden ein Königreich der Gerechtigkeit haben!», sprach Guthred sehr laut weiter. «Ein Königreich, in dem jeder Mann Gott und dem König vertraut, aber in dem nicht jeder Mann denselben Gott verehrt.» Nun hörten ihm alle zu, und zwar mit voller Aufmerksamkeit. Jænberht und Ida wollten bei Guthreds letzter Bemerkung aufbegehren, doch Guthred redete weiter. «Und ich werde nicht der König eines Landes sein, in dem manchen Männern die Gebräuche anderer Männer aufgezwungen werden, und es gehört zu den Gebräuchen dieser Männer», er deutete auf Tekil und seine Gefährten, «mit einem Schwert in der Hand zu sterben, und deshalb sei es so. Und Gott sei ihren Seelen gnädig.»

|133|Kein Laut war zu hören. Dann wandte sich Guthred zu Eadred um und senkte seine Stimme. «Hier gibt es Leute», sagte er auf Englisch, «die glauben, wir können die Dänen nicht im Kampf besiegen. Also sollen sie es jetzt sehen.»

Eadred erstarrte und zwang sich dann zu einem Nicken. «Wie Ihr befehlt, Herr König», sagte er.

Also wurden die Haselzweige geholt.

Die Dänen kennen die Regeln dieses Kampfes, der innerhalb eines Feldes ausgetragen wird, dessen Ausmaße entlaubte Haselruten anzeigen. Bei diesem Kampf überlebt nur einer der beiden Gegner, und wenn einer der Männer aus dem angezeigten Bereich flieht, darf ihn jeder töten. Dann ist er zu einem Nichts geworden. Guthred wollte selbst gegen Tekil antreten, aber ich spürte, dass er diesen Vorschlag nur machte, weil er von ihm erwartet wurde, und Guthred in Wahrheit nicht gegen einen erfahrenen Krieger kämpfen wollte. Und außerdem war ich nicht in der Stimmung, mir etwas abschlagen zu lassen. «Ich übernehme sie alle», bestimmte ich, und er widersprach nicht.

Heute bin ich alt. So alt. Manchmal vergesse ich sogar, wie alt, aber es muss wohl achtzig Jahre her sein, dass meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist, und nur wenige Männer leben so lange, und nur wenige, die im Schildwall kämpfen, leben halb so lange. Ich bemerke die Blicke der Leute, die jederzeit mit meinem Tod rechnen, und ich werde ihre Erwartungen bestimmt bald erfüllen. Sie senken ihre Stimme, wenn sie mir näher kommen, weil sie mich nicht stören wollen, und das ist ein Ärgernis, denn ich höre nicht mehr so gut wie früher, und ich sehe auch nicht mehr so gut wie früher, und ich muss die ganze Nacht pissen, und meine Knochen sind steif, und meine alten Narben schmerzen, und jeden Abend, wenn ich mich hinlege, überprüfe ich, dass ich Schlangenhauch oder ein |134|anderes meiner Schwerter neben mir habe, sodass ich den Griff packen kann, wenn der Tod mich holen kommt. Und in der Nacht, wenn ich den Wellen zuhöre, die schäumend auf den Strand rollen, und dem Wind, der das Strohdach zaust, erinnere ich mich daran, wie es war, jung zu sein und groß und stark und schnell. Und überheblich.

Denn das alles war ich. Ich war Uhtred, der Bezwinger Ubbas, und 878, dem Jahr, in dem Alfred Guthrum besiegte, und dem Jahr, in dem Guthred den Thron Northumbriens bestieg, war ich gerade einundzwanzig, und mein Name war überall bekannt, wo Schwerterklingen gewetzt wurden. Ich war ein Krieger. Ein Schwertkrieger, und ich war stolz darauf. Tekil wusste das. Er war gut. Er hatte in vielen Schlachten gekämpft, aber als er über die Haselruten trat, wusste er dennoch, dass er ein toter Mann war.

Ich will nicht behaupten, ich wäre nicht aufgeregt gewesen. Männer haben mich auf den Schlachtfeldern ganz Britanniens kämpfen sehen und sich gefragt, ob ich keine Angst kenne, aber natürlich kannte ich die Angst. Wir alle kennen die Angst. Wie ein Tier kriecht sie in dir herum, schlägt ihre Krallen in deine Eingeweide, schwächt deine Muskeln, will die Herrschaft über deine Därme bekommen und versucht, dich zum Zittern und zum Jammern zu bringen. Aber die Angst muss beiseitegeschoben werden, und dann muss sich das Handwerk des Kämpfens entfalten, und Wildheit durchrauscht dich, und obwohl viele Männer versucht haben, mich zu töten, um damit prahlen zu können, Uhtred getötet zu haben, hat mich diese Wildheit bis jetzt überleben lassen. Und inzwischen denke ich, bin ich zu alt, um im Kampf zu sterben, und stattdessen werde ich mich ins Nichts hinübersabbern. Wird bið ful āræd, sagen wir, und es stimmt. Das Schicksal ist unausweichlich.

Tekils Schicksal war es, zu sterben. Er kämpfte mit |135|Schwert und Schild, und ich hatte ihm auch sein Kettenhemd zurückgegeben, sodass niemand sagen konnte, ich sei ihm gegenüber im Vorteil gewesen. Ich selbst kämpfte ohne jede Rüstung und auch ohne Schild. Ich war überheblich, und mir war bewusst, dass Gisela zusah, und in meinem Kopf beschloss ich, Tekil für sie zu töten. Ich brauchte nur wenige Augenblicke dafür, trotz meines Hinkens. Dieses leichte Hinken hatte ich, seit mir bei Ethandun ein Speer in den rechten Oberschenkel gefahren war, aber ich bin trotzdem nicht langsamer geworden. Tekil stürmte auf mich zu und hoffte, mich mit seinem Schild niederwerfen zu können, um dann mit seinem Schwert auf mich einzuhacken, aber ich wich ihm einfach aus, und danach blieb ich immer in Bewegung. Das ist das Geheimnis, wenn man einen Schwertkampf gewinnen will. In Bewegung bleiben. Tanzen. Im Schildwall kann sich ein Mann nicht bewegen, nur zustechen und schlagen und hacken und den Schild oben halten, aber im Haselrutenfeld hängt von deiner Geschmeidigkeit dein Leben ab. Der andere Mann muss herausgefordert und aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Und Tekil war langsam, denn er trug sein Kettenhemd, und ich war unbelastet, aber sogar mit einer Rüstung war ich noch schnell, und Tekil hatte keine Aussicht, mit meiner Geschwindigkeit Schritt zu halten. Er ging erneut auf mich los, und ich ließ ihn an mir vorbeilaufen, und dann bereitete ich ihm einen schnellen Tod. Er wollte sich gerade wieder zu mir herumdrehen, doch ich war schneller, und Schlangenhauch traf ihn im Nacken, genau über dem Rand seines Kettenhemdes und, weil er keinen Helm trug, fuhr die Klinge durch seine Nackenwirbel, und er brach im Staub zusammen. Danach tötete ich ihn schnell, und er ging in die Totenhalle ein, in der er mich eines Tages empfangen wird.

|136|Die Menge klatschte. Ich glaube, die Sachsen unter ihnen hätten die Gefangenen lieber verbrannt, ertränkt oder von Pferden niedergetrampelt gesehen, aber es waren auch genügend da, die etwas für die Schwertkunst übrig hatten. Gisela lächelte mich an. Hild sah nicht zu. Sie stand mit Pater Willibald am Rande der Menge. Die beiden verbrachten lange Stunden mit Gesprächen, und ich wusste, dass sie über christliche Fragen redeten, aber das ging mich nichts an.

Die nächsten beiden Gefangenen bebten vor Angst. Tekil war ihr Anführer gewesen, und ein Mann führt die anderen an, weil er der beste Kämpfer ist. In Tekils unvermitteltem Sterben sahen sie ihren eigenen Tod, und so kämpfte keiner von den beiden ernsthaft. Statt anzugreifen versuchten sie, sich zu verteidigen. Der zweite konnte gut genug mit dem Schwert umgehen, um mich wieder und wieder abzuwehren, bis ich schließlich mit der Klingenspitze nach ihm stieß. Da zog er seinen Schild hoch, und ich trat ihm die Füße unter dem Körper weg, und die Menge jubelte, als er gleich darauf starb.

Nun war noch Sihtric übrig, der Junge. Die Mönche, die unsere Gefangenen am liebsten aufgehängt hätten, anschließend aber ein unheiliges Vergnügen an ihrem ehrenvollen Sterben gefunden hatten, schubsten ihn in das Feld. Ich sah sofort, dass Sihtric nicht einmal wusste, wie man ein Schwert richtig hält und dass sein Schild nichts weiter als eine störende Last für ihn war. Sein Tod stand unmittelbar bevor und würde mir nicht mehr Mühe bereiten, als eine Fliege zu erschlagen. Auch er wusste das, und er schluchzte.

Ich brauchte acht Köpfe. Ich hatte sieben. Ich starrte den Jungen an, und er konnte meinem Blick nicht standhalten. Er wandte seine Augen ab und hatte nun die blutgetränkten |137|Stellen vor Augen, von denen die Leichen seiner drei Gefährten weggeschleppt worden waren. Da fiel er auf die Knie. Die Menge raste vor Vergnügen. Die Mönche riefen mir zu, ich solle ihn töten. Stattdessen aber wartete ich ab, was Sihtric tun würde, und ich sah, dass er seine Furcht meisterte. Ich sah die Anstrengung, die es ihn kostete, sein Flennen zu unterdrücken, seinen Atem zu verlangsamen und die Herrschaft über seine zitternden Beine wiederzugewinnen, sodass er schließlich aufstehen konnte. Er packte seinen Schild, und dann sah er mir in die Augen. Ich deutete auf sein Schwert, und gehorsam erhob er es, sodass er wie ein Mann sterben würde. Auf seiner Stirn hatten meine Hiebe mit den Sklavenketten blutige Schrammen hinterlassen.

«Wie hieß deine Mutter?», fragte ich ihn. Er starrte mich an und schien unfähig zu sprechen. Die Mönche forderten kreischend seinen Tod. «Wie hieß deine Mutter?», fragte ich ihn erneut.

«Elflæd», sagte er zögernd, aber so leise, dass ich ihn nicht verstand. Ich runzelte die Stirn, wartete, und er wiederholte den Namen. «Elflæd.»

«Elflæd, Herr», berichtigte ich ihn.

«Sie hieß Elflæd, Herr», sagte er.

«War sie Sächsin?»

«Ja, Herr.»

«Und hat sie versucht, deinen Vater zu vergiften?»

Er schwieg einen Moment, dann ging ihm auf, dass ihm die Wahrheit nicht mehr schaden konnte. «Ja, Herr.»

«Und wie?» Ich musste meine Stimme erheben, um den Lärm der Menge zu übertönen.

«Mit den schwarzen Beeren, Herr.»

«Tollkirschen?»

«Ja, Herr.»

|138|«Wie alt bist du?»

«Ich weiß nicht, Herr.»

Vierzehn, schätzte ich. «Liebt dich dein Vater?», fragte ich.

Diese Frage verwirrte ihn. «Mich lieben?»

«Kjartan. Er ist dein Vater, oder nicht?»

«Ich kenne ihn kaum, Herr», sagte Sihtric, und das stimmte wahrscheinlich. Kjartan hatte in Dunholm bestimmt hundert Bälger in die Welt gesetzt.

«Und deine Mutter?», fragte ich.

«Ich habe sie geliebt, Herr», sagte Sihtric und kämpfte wieder mit den Tränen.

Ich ging näher an ihn heran, und sein Schwertarm schwankte, doch er versuchte sich aufrecht zu halten. «Auf die Knie, Junge», sagte ich.

Mit einem Mal sah er mich aufsässig an. «Ich will ehrenvoll sterben», sagte er, und seine Stimme war schrill vor Angst.

«Auf die Knie!», schnarrte ich, und meine Stimme jagte ihm so viel Schrecken ein, dass er auf die Knie fiel und sich nicht rühren konnte, als ich vor ihn trat. Er zuckte zusammen, als ich Schlangenhauch umdrehte, weil er erwartete, dass ich ihm den schweren Knauf überziehen würde. Doch als ich ihm das Heft des Schwertes entgegenhielt, überzog ungläubiges Staunen sein Gesicht. «Fass an», sagte ich, «und sprich die Formel.» Er starrte immer noch zu mir hoch, schaffte es endlich, seinen Schild und sein Schwert loszulassen und legte seine Hand auf Schlangenhauchs Heft. Ich legte meine Hand über seine. «Sprich die Formel», forderte ich ihn erneut auf.

«Ich bin Euer Mann, Herr», sagte er und sah zu mir empor, «und ich werde Euch dienen bis in den Tod.»

«Und darüber hinaus», sagte ich.

|139|«Und darüber hinaus, Herr. Das schwöre ich.»

Jænberht und Ida legten als Erste Widerspruch ein. Die beiden Mönche traten über die Haselruten in das Kampffeld und schrien, der Junge müsse sterben, es sei Gottes Wille, dass er sterbe, und Sihtric zuckte erneut zusammen, als ich ihm Schlangenhauch wegzog und das Schwert herumschwang. Die Klinge, rot von frischem Blut und schartig vom Kampf, zischte zu den Mönchen, und mit der Spitze genau vor Jænberhts Gurgel hielt ich sie unvermittelt bewegungslos. Raserei wollte mich überwältigen, die Raserei der Schlacht, der Blutrausch, die Lust am Töten – doch alles, was ich tun konnte, war zu verhindern, dass Schlangenhauch sich noch ein Leben nahm. Mein Schwert wollte es, ich spürte sein zitterndes Verlangen in meiner Hand. «Sihtric ist mein Mann», sagte ich zu dem Mönch, «und wenn ihm irgendjemand etwas tut, ist er mein Feind, und ich bringe dich um, Mönch, wenn du ihm etwas tust, und ich tue es, ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken.» Ich brüllte inzwischen und drängte ihn zurück. Ich bestand nur noch aus Wut und Blutrünstigkeit, und ich wollte seine Seele. «Leugnet hier irgendjemand», rief ich, und es gelang mir endlich, Schlangenhauchs Spitze von Jænberhts Kehle zu entfernen und das Schwert einmal im Kreis zu schwingen, damit sich die gesamte Menge angesprochen fühlte, «dass Sihtric mein Mann ist? Irgendjemand?»

Niemand sagte ein Wort. Eine Windbö rauschte über Cair Ligualid, und man roch den Tod in diesem Hauch. Niemand sagte ein Wort, aber ihre Stille befriedigte meinen Zorn nicht. «Irgendjemand?», rief ich erneut und hoffte verzweifelt auf einen, der meine Herausforderung annehmen würde. «Du kannst ihn dann nämlich jetzt töten. Du kannst ihn hier und jetzt töten, so wie er da kniet, aber vorher musst du erst mich töten.»

|140|Jænberht beobachtete mich. Er hatte ein schmales, dunkles Gesicht und verschlagene Augen. Sein Mund war entstellt, vielleicht war ihm als Kind ein Unglück zugestoßen, und diese Entstellung verlieh ihm einen spottenden Ausdruck. Ich wollte ihm seine verfaulte Seele aus dem mageren Körper reißen. Er wollte meine Seele auch, aber er wagte keine Bewegung. Und auch sonst bewegte sich niemand, bis Guthred über die Haselruten trat und Sihtric seine Hand entgegenstreckte. «Willkommen», sagte er zu dem Jungen.

Pater Willibald, der sofort herbeigeeilt war, als ich mit meinem wütenden Gebrüll angefangen hatte, trat ebenfalls über die Haselruten. «Ihr könnt Euer Schwert wieder in die Scheide stecken, Herr», sagte er sanft. Er fürchtete sich zu sehr, um mir wirklich nahe zu kommen, war aber tapfer genug, sich vor mich zu stellen und Schlangenhauch behutsam zur Seite zu drücken. «Ihr könnt das Schwert wieder in die Scheide stecken», wiederholte er.

«Der Junge bleibt am Leben», knurrte ich ihn zornerfüllt an.

«Ja», sagte Willibald leise, «der Junge bleibt am Leben.»

Gisela beobachtete mich, und ihre Augen strahlten genauso wie in dem Moment, in dem sie ihren Bruder willkommen geheißen hatte, als er aus der Sklaverei heimkehrte. Hild beobachtete Gisela.

Und mir fehlte immer noch ein abgeschlagener Kopf.

 

Wir machten uns im Morgengrauen auf den Weg. Eine Streitmacht zog in den Krieg.

Ulfs Männer bildeten die Vorhut, dann kam die Horde Kirchenleute, die Abt Eadreds wertvolle Kästen trugen, und nach ihnen folgte Guthred auf einer weißen Stute. Gisela |141|ging an der Seite ihres Bruders, und ich lief knapp dahinter, während Hild Witnere am Zügel führte. Wenn sie müde wurde, bestand ich jedoch darauf, dass sie aufstieg und ritt.

Hild sah aus wie eine Nonne. Sie hatte ihr langes, goldenes Haar geflochten und die Zöpfe eng um ihren Kopf gelegt. Darüber trug sie eine hellgraue Haube. Ihr Umhang hatte die gleiche hellgraue Farbe, und um den Hals hatte sie sich ein einfaches Holzkreuz gehängt, das sie beim Reiten oftmals betastete.

«Sie sind dir wieder mit ihrem entnervenden Drängen zu Leibe gerückt, oder?», sagte ich.

«Wer?»

«Die Priester», sagte ich, «Pater Willibald. Sie haben dir gesagt, du sollst ins Kloster zurückgehen.»

«Gott ist mir zu Leibe gerückt», sagte sie. Ich sah zu ihr hinauf, und sie lächelte mich an, wie um mir zu bedeuten, dass sie mich nicht mit ihrer Zwickmühle belasten würde. «Ich habe zu Sankt Cuthbert gebetet», sagte sie.

«Hat er dir eine Antwort gegeben?»

«Ich habe einfach nur gebetet», sagte sie ruhig, «und das ist ein Anfang.»

«Gefällt es dir nicht, frei zu sein?», fragte ich sie in unfreundlichem Ton.

Darüber lachte Hild nur. «Ich bin eine Frau», sagte sie, «wie kann ich frei sein?» Ich sagte nichts, und sie lächelte mich erneut an. «Ich bin wie der Mistelzweig», sagte sie. «Ich brauche einen Ast, auf dem ich wachsen kann. Ohne einen Ast bin ich nichts.» Aus ihrer Stimme klang keine Bitterkeit, sie schien einfach nur eine offenkundige Wahrheit festzustellen. Und sie hatte recht. Sie war eine Frau von guter Herkunft, und wenn man sie damals nicht der Kirche übergeben hätte, wie die kleine Æthelflaed, dann hätte man sie einem Mann gegeben. So ist das Schicksal |142|der Frauen. Mit den Jahren lernte ich auch Frauen kennen, die ihm trotzten, aber Hild war wie ein Ochse, der an einem Feiertag das Joch vermisste.

«Jetzt bist du frei», sagte ich.

«Nein», sagte sie, «ich bin von dir abhängig.» Sie warf einen Blick auf Gisela, die gerade über etwas lachte, was ihr Bruder gesagt hatte. «Und du sorgst dich sehr darum, Uhtred, mich nicht zu beschämen.» Sie meinte, dass ich sie nicht demütigte, indem ich sie aufgab, um Gisela nachzusteigen, und das stimmte, aber nur gerade eben noch. Sie sah mein Gesicht und lachte. «In vieler Hinsicht», sagte sie, «bist du ein guter Christ.»

«Bin ich das?»

«Du versuchst, das Richtige zu tun, oder?» Sie lachte über meine entsetzte Miene. «Ich will, dass du mir etwas versprichst», sagte sie.

«Wenn ich es kann», erwiderte ich misstrauisch.

«Versprich mir, nicht den Kopf des Heiligen Oswald zu stehlen, damit du auf deine acht Köpfe kommst.»

Ich lachte und war erleichtert, dass das Versprechen nichts mit Gisela zu tun hatte. «Ich hatte es überlegt», gab ich zu.

«Ich weiß, dass du das getan hast», sagte sie. «Aber es würde nicht gehen. Er ist zu alt. Und du würdest Eadred damit unglücklich machen.»

«Und was ist daran falsch?»

Sie beachtete diese Frage nicht. «Sieben sind genug», beharrte sie.

«Acht wären besser.»

«Unersättlicher Uhtred», sagte sie.

Die sieben Köpfe waren mittlerweile in einen Sack eingenäht worden, den Sihtric einem Esel aufgebürdet hatte, den er an einem Strick führte. Fliegen summten um den |143|Sack herum, von dem ein so grässlicher Gestank ausging, dass Sihtric alleine für sich lief.

Wir waren eine seltsame Streitmacht. Ohne die Geistlichen zählten wir dreihundertundachtzehn Männer, und mit uns zogen mindestens noch einmal so viele Frauen und Kinder und die übliche Hundemeute. Es waren sechzig oder siebzig Mönche und Priester, und ich hätte jeden von ihnen sofort gegen mehr Pferde oder mehr Kämpfer eingetauscht. Ich bezweifelte, dass von den dreihundertundachtzehn Männern auch nur hundert für den Schildwall taugten. In Wahrheit waren wir gar keine Streitmacht, sondern nur ein wahllos zusammengewürfelter Haufen.

Die Mönche psalmodierten beim Gehen. Ich vermutete, sie sangen auf Latein, denn ich verstand die Worte nicht. Sie hatten den Sarg des Heiligen Cuthbert mit einem feinen, grünen Tuch bedeckt, das mit Kreuzen bestickt war, und an diesem Morgen hatte ein Rabe seinen Kot auf das Tuch fallen lassen. Zuerst sah ich darin ein schlechtes Omen, doch weil der Rabe Odins Vogel war, änderte ich meine Meinung und fand, dass Odin sein Missfallen über diesen toten Christen ausdrücken wollte. Für mein Vergnügen über diesen Scherz eines Gottes erntete ich von Jænberht und Ida böse Blicke.

«Was machen wir», fragte mich Hild, «wenn wir in Eoferwic ankommen und feststellen, dass Ivarr schon zurück ist?»

«Dann laufen wir ganz schnell weg, was sonst?»

Sie lachte. «Du bist glücklich, oder?», fragte sie.

«Ja.»

«Warum?»

«Weil ich von Alfred weg bin», sagte ich, und erst da wurde mir bewusst, wie sehr das stimmte.

«Alfred ist ein guter Mann», rügte mich Hild.

|144|«Das ist er», gab ich zurück, «aber freut man sich je auf seine Gesellschaft? Braut man ein besonderes Bier für ihn? Würdest du ihm einen Witz erzählen? Sitzt jemals ein Mensch mit ihm am Feuer und unterhält ihn mit Rätselfragen? Singen wir mit ihm? Er fragt sich nur immerzu, was sein Gott will, und dann stellt er Regeln auf, um seinem Gott zu gefallen, und wenn du etwas für Alfred getan hast, dann ist es nie genug, weil sein elender Gott immer mehr und mehr will.»

Hild antwortete mit ihrem gewohnten geduldigen Lächeln auf meine Beleidigung ihres Gottes. «Alfred will, dass du zu ihm zurückkehrst», sagte sie.

«Er will nur mein Schwert», sagte ich, «nicht mich.»

«Wirst du zurückgehen?»

«Nein», sagte ich entschlossen und versuchte, meine Zukunft vor mir zu sehen, um meine Antwort zu überprüfen, aber ich wusste nicht, was die Spinnerinnen, die unsere Schicksalsfäden verweben, mit mir im Sinn hatten. Manchmal hoffte ich sogar, mit diesem Haufen Männer Kjartan zu besiegen und Bebbanburg zu erobern, auch wenn mir der klare Verstand sagte, dass dies unmöglich war. Aber der klare Verstand hätte auch nie geglaubt, dass ein befreiter Sklave von den Sachsen und den Dänen zugleich als König anerkannt werden würde.

«Dann kehrst du niemals zurück?», fragte Hild, die meine erste Antwort nicht recht glauben mochte.

«Niemals», sagte ich, und ich konnte hören, wie mich die Spinnerinnen auslachten, und fürchtete, dass mich das Schicksal an Alfred gebunden hatte, und das ärgerte mich, denn es bedeutete, dass ich nicht mein eigener Herr war. Vielleicht war ich ja auch ein Mistelzweig, nur dass ich eine Pflicht zu erfüllen hatte. Ich musste eine Blutfehde zum Abschluss bringen.

|145|Wir folgten den Römerstraßen über die Hügel. Es dauerte fünf Tage, und wir kamen nur langsam voran, denn die Mönche trugen die Leiche des Heiligen auf ihren Schultern. Jeden Abend beteten sie, und jeden Tag stießen neue Leute zu uns, sodass wir am letzten Tag, an dem wir über die große Ebene auf Eoferwic zumarschierten, fast fünfhundert Männer waren. Ulf, der sich jetzt Graf Ulf nannte, führte den Zug unter seinem Banner mit dem Adlerkopf. Er hatte angefangen, Guthred zu mögen. Ulf und ich waren die engsten Berater des Königs geworden. Eadred stand ihm natürlich auch nah, aber Eadred konnte zu Fragen des Krieges nicht viel sagen. Wie die meisten Geistlichen ging er davon aus, dass sein Gott uns den Sieg bringen werde, und das war alles, was er beisteuern konnte. Ulf und ich dagegen hatten sehr viel zu sagen, und das Wesentliche davon war, dass fünfhundert schlecht ausgebildete Männer auch nicht annähernd reichten, um Eoferwic einzunehmen, falls Egbert vorhatte, sich zu verteidigen.

Doch Egbert war in einer verzweifelten Lage. Es gibt da in einem heiligen Buch der Christen diese Geschichte von einem König, der irgendeine Schrift an der Wand gesehen hat. Ich habe die Geschichte schon einige Male gehört, aber ich kann mich an die Einzelheiten nicht erinnern, außer, dass es um einen König ging und dass Worte an seiner Wand standen und dass er sich davor fürchtete. Ich glaube, der Christengott hatte die Worte geschrieben, doch nicht einmal das weiß ich noch genau. Ich könnte den Priester meiner Frau holen lassen, denn ich gestatte ihr heute, solch einen Kerl zu beschäftigen, und ihn könnte ich nach den Einzelheiten fragen, aber er würde bloß vor mir auf dem Bauch rutschen und um eine höhere Zuteilung von Fisch, Bier und Feuerholz für seine Familie betteln. Und weil ich das nicht will, sind die Einzelheiten |146|jetzt nicht so wichtig. Da war ein König, an seiner Wand standen Worte geschrieben, und die Worte erschreckten ihn.

Es war Willibald, von dem ich diese Geschichte zuerst hörte. Er weinte, als wir in die Stadt kamen, es waren Tränen der Freude, und als er erfuhr, dass uns Egbert keinen Widerstand leisten würde, begann er zu rufen, dass der König die Schrift an der Wand erkannt hatte. Immer und immer wieder rief er das, und damals verstand ich nicht, was es bedeuten sollte. Aber jetzt weiß ich, was er sagen wollte. Er wollte sagen, dass Egbert seine Niederlage erkannt hatte, noch bevor der Kampf überhaupt anfing.

In Eoferwic war Ivarrs Rückkehr erwartet worden, und viele der Bewohner hatten die Stadt verlassen, weil sie sich vor der Rache der Dänen fürchteten. Egbert hatte natürlich eine Leibwache, doch die meisten seiner Leute waren ebenfalls geflüchtet. Danach zählte seine Haustruppe nur noch achtundzwanzig Männer, und von diesen wollte keiner für einen König mit einer Schrift an der Wand sterben. Die Bewohner von Eoferwic, die sich nicht zur Flucht entschlossen hatten, waren nicht in der rechten Stimmung, um die Tore zu verbarrikadieren oder den Festungswall zu bemannen, und so zog Guthreds Heer in Eoferwic ein, ohne auf den geringsten Widerstand zu stoßen. Wir wurden sogar willkommen geheißen. Ich glaube, das Volk von Eoferwic dachte, wir wären gekommen, um die Stadt gegen Ivarr zu verteidigen, und nicht, um Egbert die Krone zu nehmen. Aber sogar als sie erfuhren, dass sie einen neuen König hatten, waren sie zufrieden. Was ihnen am besten gefiel, war natürlich die Anwesenheit Sankt Cuthberts. Eadred lehnte den Sarg des Heiligen in der Kirche des Erzbischofs schräg an die Wand und öffnete den Deckel. |147|Die Leute drängten sich in Scharen herein, um den toten Mann zu sehen und zu ihm zu beten.

Wulfhere, der Erzbischof, war nicht in der Stadt, doch Pater Hrothweard war immer noch da, und er predigte immer noch den Wahnsinn. Er stellte sich sofort auf Eadreds Seite. Ich vermute, auch er hatte die Schrift an der Wand gesehen. Das Einzige, was ich sah, waren Kreuze, die in Eingangstüren geschnitten worden waren. Sie sollten wohl zeigen, dass in diesen Häusern Christen lebten, aber auch die meisten überlebenden Dänen schnitzten zum Schutz vor Plünderern Kreuze in ihre Türen, und Guthreds Männer wollten plündern. Eadred hatte ihnen wollüstige Frauen und Berge von Silber versprochen, doch nun trachtete der Abt mit allem Eifer danach, die Christen Eoferwics vor Guthreds Dänen zu schützen. Daraufhin gab es Streitereien, doch viele waren es nicht. Die Leute von Eoferwic waren vernünftig genug, lieber ein paar Münzen, Verpflegung und Bier zu verteilen, als sich ausrauben zu lassen. Außerdem fand Guthred im Palas einige Truhen mit Silber und gab das Geld an seine Streitmacht aus, und weil es außerdem in den Gasthäusern genügend Bier gab, waren die Männer von Cumbrien erst einmal zufrieden.

«Was würde Alfred jetzt tun», fragte mich Guthred an unserem ersten Abend in Eoferwic. An diese Frage gewöhnte ich mich langsam, denn Guthred war zu der Überzeugung gekommen, Alfred sei ein König, dem es nachzueifern gelte. Dieses Mal ging es bei seiner Frage um Egbert, der in seinem Schlafzimmer aufgespürt worden war. Sie hatten Egbert in den großen Saal gezerrt, wo er auf die Knie gefallen war und Guthred Treue geschworen hatte. Es war ein merkwürdiger Anblick, ein König, der vor einem anderen kniet, während der alte Römersaal mit Kohlenpfannen erleuchtet wurde, deren Rauch unter der |148|Decke stand. Hinter Egbert knieten seine Höflinge und Diener und rutschten langsam weiter vor, um Guthred ihr Treueversprechen ebenfalls zu geben. Egbert sah alt, krank und unglücklich aus, während Guthred ein strahlender junger Herrscher war. Ich hatte Egberts Kettenhemd gefunden und es Guthred gegeben, der die Rüstung gerne trug, weil sie ihn noch königlicher aussehen ließ. Er begegnete dem entthronten König heiter, zog ihn von den Knien hoch, küsste ihn auf beide Wangen und bat ihn dann voller Höflichkeit, neben ihm Platz zu nehmen.

«Bring den alten Bastard um!», sagte Ulf.

«Mir steht der Sinn danach, gnädig zu sein», sagte Guthred hoheitsvoll.

«Euch steht der Sinn danach, ein Narr zu sein», gab Ulf zurück. Er war in finsterer Stimmung, denn Eoferwic hatte ihm nicht einmal ein Viertel der Beute gebracht, die er erwartet hatte. Andererseits hatte er Mädchenzwillinge gefunden, die ihm gefielen, also beschwerte er sich nicht allzu laut.

Als die Zeremonie vorüber war und auch Eadred seine unendliche Predigt zum Abschluss gebracht hatte, ging Guthred mit mir durch die Stadt. Ich glaube, er wollte sich in seiner neuen Rüstung zeigen, aber vielleicht wollte er nach dem verrauchten Saal auch einfach nur wieder einen klaren Kopf bekommen. Er trank in jedem Gasthaus Bier, scherzte mit seinen Männern auf Englisch und Dänisch und küsste wenigstens fünfzig Mädchen. Doch dann führte er mich zum Festungswall, und wir gingen ihn schweigend entlang, bis wir auf der östlichen Seite der Stadt waren. Dort blieb ich stehen und sah über das weite Feld, auf dem der Fluss wie ein Band aus getriebenem Silber unter dem Halbmond lag. «Hier ist mein Vater gestorben», sagte ich.

«Mit dem Schwert in der Hand?»

|149|«Ja.»

«Das ist gut», sagte er und hatte einen Augenblick lang vergessen, dass er jetzt Christ war. «Aber doch ein kummervoller Tag für Euch.»

«Es war ein guter Tag», sagte ich. «Ich habe Graf Ragnar kennengelernt. Und meinen Vater hatte ich nie besonders gemocht.»

«Nein?» Er klang überrascht. «Warum nicht?»

«Er war ein unerbittlicher Rohling», sagte ich. «Die Männer wollten seine Anerkennung, und er missgönnte sie ihnen.»

«Also wie Ihr», sagte er, und nun war es an mir, überrascht zu sein.

«Wie ich?»

«Mein unerbittlicher Uhtred», sagte er, «ganz Ingrimm und Bedrohlichkeit. Und nun sagt mir, was soll ich mit Egbert tun?»

«Was Ulf vorgeschlagen hat», sagte ich. «Das versteht sich doch von selbst.»

«Ulf würde am liebsten jeden umbringen», sagte Guthred, «weil er dann aller Sorgen ledig wäre. Was würde Alfred tun?»

«Es ist unwichtig, was Alfred tun würde.»

«Doch, es ist wichtig», beharrte er geduldig, «also sagt es mir.»

Guthred hatte etwas an sich, das mich immer dazu brachte, ihm die Wahrheit zu sagen, oder jedenfalls meistens die Wahrheit zu sagen, und ich war versucht zu antworten, dass Alfred den alten König auf den Marktplatz schleppen und ihm den Kopf abhauen würde, aber wie ich wusste, stimmte das nicht. Alfred hatte nach Ethandun seinen verräterischen Cousin verschont, und er hatte seinen Neffen Æthelwold am Leben gelassen, obwohl dieser Neffe einen |150|berechtigteren Anspruch auf den Thron hatte als Alfred selbst. Also seufzte ich. «Er würde ihn leben lassen», sagte ich, «aber Alfred ist eben ein frommer Narr.»

«Nein, das ist er nicht», sagte Guthred.

«Er fürchtet sich schrecklich davor, Gottes Unwillen zu erregen», sagte ich.

«Sich vor Gottes Unwillen zu fürchten, ist sehr vernünftig», sagte Guthred.

«Bringt Egbert um, Herr», sagte ich drängend. «Wenn Ihr ihn nicht umbringt, wird er versuchen, sein Königreich zurückzubekommen. Er hat südlich von hier Landbesitz. Er kann eine Streitmacht aufstellen. Wenn Ihr ihn leben lasst, wird er mit seinen Männern zu Ivarr gehen, und Ivarr will ihn wieder auf dem Thron haben. Egbert ist ein Feind!»

«Egbert ist ein alter Mann, es geht ihm nicht gut, und er hat Angst», sagte Guthred langmütig.

«Dann befreit den armen Hund doch von seinem Elend», beharrte ich. «Ich kann es Euch auch abnehmen. Ich habe noch nie einen König getötet.»

«Und das würdet Ihr gern einmal tun?»

«Ich töte ihn für Euch», sagte ich. «Er hat seine Sachsen die Dänen in der Stadt abschlachten lassen! Er ist nicht so mitleiderregend, wie Ihr glaubt.»

Guthred sah mich vorwurfsvoll an. «Ich kenne Euch, Uhtred», sagte er sanft. «Ihr wollt damit prahlen, dass Ihr der Mann seid, der Ubba am Meeresstrand getötet, Svein vom Weißen Pferd zu Fall gebracht und König Egbert von Eoferwic in sein kaltes Grab geschickt hat.»

«Und Kjartan den Grausamen umgebracht hat», sagte ich, «und Ælfric niedergemacht hat, den Besatzer von Bebbanburg.»

«Ich bin froh, dass Ihr nicht mein Feind seid», sagte |151|er leichthin. Dann zog er ein Gesicht. «Das Bier ist hier ziemlich sauer.»

«Sie stellen es anders her», erklärte ich. «Was rät Euch Abt Eadred zu tun?»

«Das Gleiche wie Ihr und Ulf natürlich. Egbert zu töten.»

«Wenigstens einmal hat Eadred recht.»

«Aber Alfred würde ihn nicht töten», sagte er fest.

«Alfred ist König von Wessex», sagte ich. «Er hat keinen Gegner wie Ivarr und keinen Rivalen wie Egbert.»

«Aber Alfred ist ein guter König», beharrte Guthred.

Ich trat vor hilfloser Enttäuschung an einen Schanzpfahl. «Warum wollt Ihr Egbert am Leben lassen?», fragte ich. «Weil Euch das Volk lieben soll?»

«Ich will, dass mich die Leute mögen», sagte er.

«Sie sollten Euch fürchten», sagte ich leidenschaftlich. «Ihr seid ein König! Ihr müsst mitleidlos sein. Man muss Euch fürchten.»

«Wird Alfred gefürchtet?»

«Ja», sagte ich, und es überraschte mich, dass dies die Wahrheit war.

«Weil er mitleidlos ist?»

Ich schüttelte den Kopf. «Die Männer fürchten sein Missfallen.» Ich hatte nie zuvor darüber nachgedacht, doch mit einem Mal war es mir klar. Alfred war nicht mitleidlos. Sein Wesen war gnädig, aber er wurde dennoch gefürchtet. Ich glaube, die Leute verstanden, dass Alfred unter einer Ordnung stand, genau wie sie unter seinem Gesetz standen. Alfreds Ordnung war seine Gottesfurcht. Und dieser Gottesfurcht würde er niemals entkommen. Er würde nie so gut sein können, wie er es erstrebte, aber er würde trotzdem nicht aufhören, es zu versuchen. Ich dagegen hatte schon vor langer Zeit hingenommen, dass ich |152|fehlbar war, doch Alfred würde dies für sich selbst niemals hinnehmen.

«Ich hätte auch gerne, dass die Leute mein Missfallen fürchten», sagte Guthred sanft.

«Dann lasst mich Egbert töten», sagte ich, aber den Atem hätte ich mir sparen können. Guthred, angetrieben von seiner Verehrung für Alfred, verschonte Egbert, und später erwies sich, dass er damit das Richtige getan hatte. Er schickte den alten König in ein Kloster auf der Südseite des Flusses und hieß die Mönche darauf zu achten, dass Egbert das Klostergelände nicht verließ, und das taten sie auch. Innerhalb eines Jahres starb Egbert an einer Krankheit, die ihn als schmerzgeplagtes Bündel aus Haut und Knochen dahinsiechen ließ. Er wurde in der großen Kirche von Eoferwic beerdigt, wenn ich das alles auch nicht selbst miterlebt habe.

Es war inzwischen Hochsommer geworden, und ich fürchtete jeden Tag, Ivarrs Männer würden südwärts in unsere Richtung ziehen. Doch stattdessen verbreiteten sich Gerüchte über eine große Schlacht zwischen Ivarr und den Schotten. Solche Gerüchte gibt es immer, und die meisten sind falsch, also glaubte ich sie nicht. Guthred jedoch beschloss, die Geschichte zu glauben, und erlaubte den meisten Männern seiner Streitmacht, nach Cumbrien zurückzukehren und ihre Ernte einzubringen. Dadurch hatten wir zur Sicherung Eoferwics nur noch wenige Männer. Guthreds Haustruppe war geblieben, und jeden Morgen ließ ich sie mit Schwert, Schild und Speer üben, und jeden Nachmittag ließ ich sie den Befestigungswall Eoferwics ausbessern, der an zu vielen Stellen eingefallen war. Ich hielt Guthred für einen Tölpel, weil er die meisten seiner Leute hatte gehen lassen, aber er sagte, dass sein Volk ohne die Ernte verhungern würde und dass er sicher |153|sei, die Männer würden zurückkehren. Und erneut hatte er recht. Sie kamen wieder. Ulf führte sie von Cumbrien zurück und wollte wissen, welche Aufgaben der Streitmacht bevorstanden.

«Wir ziehen nach Norden und entmachten Kjartan», sagte Guthred.

«Und Ælfric», drängte ich.

«Natürlich», sagte Guthred.

«Wie viel Beute gibt es bei Kjartan zu holen?», wollte Ulf wissen.

«Berge», sagte ich und erinnerte mich an Tekils Bericht. Die wilden Hunde, die das Silber und das Gold bewachten, erwähnte ich nicht. «Kjartan ist reicher, als man es sich erträumen kann.»

«Dann wird es Zeit, die Schwerter zu wetzen», sagte Ulf.

«Und Ælfrics Hort ist sogar noch größer», fügte ich hinzu, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob das stimmte.

Aber ich war wirklich davon überzeugt, dass wir Bebbanburg einnehmen konnten. Die Festung war noch nie in die Hände eines Feindes gefallen, aber das bedeutete nicht, dass es unmöglich war, sie einzunehmen. Alles hing von Ivarr ab. Wenn wir ihn schlagen konnten, dann wäre Guthred der mächtigste Mann Northumbriens, und Guthred war mein Freund, und er, so glaubte ich, würde mir nicht nur helfen, Kjartan zu töten und damit Ragnar den Älteren zu rächen, sondern mich danach wieder auf meinem Besitz und meiner Festung am Meer einsetzen. Davon träumte ich in jenem Sommer. Ich sah eine goldene Zukunft vor mir, wenn ich erst einmal das Königreich für Guthred gesichert hätte. Aber ich hatte die Boshaftigkeit der drei Spinnerinnen vergessen, die am Fuße der Weltenesche unser Schicksal weben.

|154|Pater Willibald wollte nach Wessex zurückkehren, und das konnte ich ihm nicht verübeln. Er war Westsachse, und Northumbrien gefiel ihm nicht. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem wir Elder aßen. Das ist gepresster und gekochter Kuheuter. Und während ich das Gericht verschlang und sagte, dass ich seit meiner Kindheit nicht so gut gegessen hatte, brachte der arme Willibald keinen Bissen hinunter. Er sah aus, als müsse er sich gleich übergeben, und ich verspottete ihn, ein Schwächling aus dem Süden zu sein. Sihtric, der inzwischen mein Diener geworden war, brachte Willibald Brot und Käse, und Hild teilte seinen Elder zwischen uns auf. Sie stammte zwar auch aus dem Süden, war aber nicht so wählerisch wie Willibald. Es war an diesem Abend, an dem er über dem Essen angewidert sein Gesicht verzog, als er uns sagte, er wolle zurück zu Alfred.

Wir hörten aus Wessex kaum etwas, doch schien Frieden zu herrschen. Aber Guthrum war ja auch besiegt, und es war Teil seines Friedensabkommens mit Alfred gewesen, dass er sich hatte taufen lassen. Sein Taufname lautete Æthelstan, was so viel wie ‹wertvoller Stein› bedeutet, und Alfred war sein Pate, und den Berichten aus dem Süden zufolge hielt Guthrum, oder wie immer er jetzt hieß, das Friedensabkommen ein. Alfred lebte, und viel mehr wussten wir von Wessex nicht.

Guthred beschloss, eine Gesandtschaft zu Alfred zu schicken. Er wählte vier Dänen und vier Sachsen aus, weil er glaubte, solch eine Gruppe käme auf ihrem Ritt unbeschadet durch dänisches und sächsisches Gebiet. Willibald sollte seine Botschaft überbringen. Willibald schrieb sie auch nieder, und seine Feder kratzte über das Stück frischgeschabtes Pergament. «Mit Gottes Hilfe», sprach ihm Guthred vor, «habe ich das Königreich Northumbrien …»

|155|«Das Haliwerfolkland heißt», unterbrach Eadred.

Guthred wedelte höflich mit der Hand, als ob er es Willibald überließe, ob er diese Ergänzung aufnehmen wollte. «Und ich bin entschlossen», fuhr Guthred fort, «dieses Land durch Gottes Gnade in Frieden und Gerechtigkeit zu regieren …»

«Nicht so schnell, Herr», sagte Willibald.

«Und die Leute das richtige Bierbrauen zu lehren», machte Guthred weiter.

«Und die Leute …», murmelte Willibald.

Guthred lachte. «Nein, nein, Pater! Schreibt das nicht!»

Der arme Willibald. Dieser Brief war so lang, dass die Haut eines weiteren Lammes gespannt, abgeschabt und zugeschnitten werden musste. Lang und länger berichtete der Brief über den heiligen Sankt Cuthbert und wie er das Heer des heiligen Volkes nach Eoferwic gebracht hatte und dass Guthred ihm einen Schrein errichten würde. Zwar erwähnte er, dass es immer noch Feinde gab, die diese Absicht zunichte machen konnten, aber er ließ sie unbedeutend erscheinen, als wären Ivarr, Kjartan und Ælfric nur mindere Hindernisse auf seinem weiten Weg. Er bat auch darum, dass Alfred für ihn beten sollte, und versicherte dem König von Wessex, die Christen von Haliwerfolkland schlössen ihn jeden Tag in ihre Gebete ein. «Ich sollte Alfred auch ein Geschenk bringen lassen», sagte Guthred. «Was würde ihm wohl gefallen?»

«Eine Reliquie», schlug ich säuerlich vor.

Und der Vorschlag war gut, denn Alfred liebte nichts mehr als heilige Reliquien. Doch davon gab es in Eoferwic nicht viele zu holen. Zwar besaß die Kirche des Erzbischofs große Schätze, sogar den Schwamm, mit dem Jesus in seiner Todesstunde Essig zu trinken gegeben worden war, und auch |156|das Halfter von Bileams Esel, obwohl ich nicht wusste, wer Bileam war, und warum sein Esel heilig sein sollte, fand ich noch unverständlicher. Die Kirche also besaß ein Dutzend solcher Dinge, aber der Erzbischof hatte sie mitgenommen, und niemand wusste genau, wohin Wulfhere gegangen war. Ich glaubte, er hätte sich Ivarr angeschlossen. Hrothweard sagte, er habe einen Samen von einem Maulbeerbaum, der in der Bibel erwähnt wird, aber als wir die Silberdose öffneten, in der dieser Samen aufbewahrt wurde, fanden wir nichts als Staub. Schließlich machte ich den Vorschlag, dem Heiligen Oswald zwei von seinen drei Zähnen zu ziehen. Eadred wollte das zuerst nicht, aber dann fand er den Vorschlag doch nicht schlecht. Also wurden Zangen geholt, die kleine Truhe geöffnet, einer der Mönche zog dem toten König zwei seiner gelben Hauer, und dann wurden sie in einen wunderschönen Silbertopf gelegt, in dem Egbert früher geräucherte Austern aufbewahrt hatte.

Die Gesandtschaft brach an einem Morgen im späten August auf. Guthred nahm Willibald zur Seite und gab ihm eine letzte Botschaft für Alfred, in der er Alfred versicherte, dass er, Guthred, zwar Däne sei, aber auch Christ, und deshalb solle Alfred, falls Northumbrien bedroht würde, Krieger schicken, um für dieses Gottesland zu kämpfen. Das war in den Wind geschissen, dachte ich, denn Wessex hatte schon genug Feinde, auch ohne sich um das Schicksal Northumbriens zu bekümmern.

Auch ich nahm Willibald zur Seite. Es tat mir leid, dass er ging, denn ich mochte ihn, und er war ein guter Mann, aber es war nicht zu übersehen, wie sehr er sich nach Wessex zurücksehnte. «Ihr werdet etwas für mich tun, Pater», sagte ich.

«Wenn es möglich ist», erwiderte er vorsichtig.

«Richtet dem König meinen Gruß aus», sagte ich.

|157|Auf Willibalds Gesicht zeigte sich Erleichterung, so als hätte er erwartet, dass ich ihn um einen viel größeren Gefallen bitten würde, und damit hatte er recht gehabt, wie er sogleich feststellen konnte. «Der König wird wissen wollen, wann Ihr zurückkehrt, Herr», sagte er.

«Früh genug», sagte ich, obwohl ich nur noch einen Grund hatte, nach Wessex zurückzukehren, und der war, meinen Hort zu holen, den ich in Fifhaden vergraben hatte. Jetzt bedauerte ich es, den Schatz dort versteckt zu haben, denn in Wahrheit wollte ich Wessex niemals wiedersehen. «Ich will, dass Ihr Graf Ragnar findet», erklärte ich Willibald.

Er riss die Augen auf. «Die Geisel?», fragte er.

«Findet ihn», sagte ich, «und richtet ihm eine Botschaft von mir aus.»

«Wenn ich es kann», sagte er, immer noch auf der Hut.

Ich packte ihn an den Schultern, damit er genau zuhörte, und er verzog unter der Kraft meiner Hände das Gesicht. «Ihr werdet ihn finden», sagte ich drohend, «und Ihr werdet ihm meine Botschaft ausrichten. Sagt ihm, dass ich in den Norden gehe, um Kjartan zu töten. Und sagt ihm, dass seine Schwester lebt. Sagt ihm, dass ich alles tun werde, um sie zu finden und in Sicherheit zu bringen. Sagt ihm, das schwöre ich bei meinem Leben. Und sagt ihm, er soll hierherkommen, sobald er frei ist.» Ich ließ ihn alles wiederholen und auf sein Kruzifix schwören, dass er die Botschaft überbringen würde. Er zauderte, solch einen Schwur abzulegen, aber er fürchtete sich so sehr vor meiner Wut, dass er schließlich sein kleines Kreuz umklammerte und das feierliche Versprechen ablegte.

Und dann machte er sich auf den Weg.

Und wir hatten wieder eine Streitmacht, denn die Ernte war eingebracht. Es war Zeit, nordwärts zu ziehen.

 

|158|Guthred ging aus drei Gründen in den Norden. Der wichtigste war Ivarr, den er schlagen musste, und der zweite war Kjartan, dessen Anwesenheit in Northumbrien wie eine entzündete Wunde schwärte, und der dritte war Ælfric, der sich Guthreds Führung unterordnen musste. Ivarr war der Gefährlichste, und er würde uns mit Sicherheit besiegen, wenn er sein Heer in den Süden führte, aber er musste dennoch niedergeworfen werden, weil es in Northumbrien keinen Frieden geben würde, solange er am Leben war. Von Ælfric ging die geringste Gefahr aus. «Euer Onkel ist König von Bebbanburg», sagte Guthred auf dem Zug nach Norden zu mir.

«Nennt er sich selbst so?», fragte ich erbost.

«Nein, nein! Dazu ist er zu klug. Aber wenn man es genau betrachtet, ist er genau das. Kjartans Land wirkt wie ein Schutzwall für ihn, nicht wahr? Und so gelten die Gesetze von Eoferwic nicht über Dunholm hinaus.»

«Früher waren wir die Könige von Bebbanburg», sagte ich.

«Tatsächlich?» Das überraschte Guthred. «Könige von Northumbrien?»

«Von Bernicia», sagte ich. Diesen Namen hatte Guthred nie gehört. «Das war das ganze nördliche Northumbrien», sagte ich, «und alles um Eoferwic war das Königreich von Deira.»

«Haben sie sich zusammengeschlossen?», fragte Guthred.

«Wir haben ihren letzten König umgebracht», sagte ich, «aber das ist schon vor sehr vielen Jahren geschehen. Bevor sich das Christentum ausgebreitet hat.»

«Also habt Ihr hier Anspruch auf die Königswürde?», fragte er, und zu meinem Erstaunen klang Misstrauen aus seiner Stimme. Ich starrte ihn an, und er wurde rot. «Aber |159|habt Ihr den Anspruch?», fragte er erneut und versuchte so zu klingen, als kümmere ihn meine Antwort nicht.

Ich lachte ihn aus. «Herr König», sagte ich, «wenn Ihr mich auf der Bebbanburg wieder einsetzt, werde ich das Knie vor Euch beugen und Euch und Euren Erben lebenslange Treue schwören.»

«Erben!», sagte er fröhlich. «Hast du Osburh gesehen?»

«Ich habe Osburh gesehen», sagte ich. Sie war Egberts Nichte, ein Sachsenmädchen, und sie hatte im Palas gewohnt, als wir Eoferwic besetzt hatten. Sie war vierzehn Jahre alt, dunkelhaarig und besaß ein pummeliges, hübsches Gesicht.

«Wenn ich sie heirate», fragte mich Guthred, «kann Hild dann ihre Begleiterin werden?»

«Fragt sie», sagte ich und drehte mich nach Hild um, die hinter uns lief. Ich hatte geglaubt, Hild würde vielleicht mit Pater Willibald nach Wessex zurückkehren, aber sie hatte mir erklärt, sie sei zu einer Begegnung mit Alfred noch nicht bereit, und das konnte ich sehr gut verstehen, also hatte ich sie nicht weiter gedrängt. «Ich vermute, es wäre eine Ehre für sie, die Begleiterin Eurer Frau zu werden», erklärte ich Guthred.

Wir rasteten in der ersten Nacht bei Onhripum, wo Guthred, Eadred und die Schar der Geistlichen in einem kleinen Kloster unterkamen. Unser Heer bestand jetzt aus fast sechshundert Männern, und nahezu die Hälfte von ihnen war beritten. Daher erhellten unsere Lagerfeuer alle Felder rund um das Kloster. Als Anführer der Haustruppe lagerte ich am nächsten bei den Gebäuden, und meine jungen Männer, inzwischen vierzig an der Zahl, die beim Plündern in Eoferwic fast alle ein Kettenhemd gefunden hatten, schliefen dicht am Klostertor.

|160|Ich übernahm mit Clapa und zwei Sachsen die erste Wache. Sihtric war bei mir. Ich nannte ihn meinen Diener, aber er lernte auch mit Schwert und Schild umzugehen, und ich vermutete, dass er in ein oder zwei Jahren einen guten Soldaten abgeben würde. «Hast du die Köpfe sicher verstaut?», fragte ich ihn.

«Man riecht sie bis hierher!», jammerte Clapa.

«Sie riechen nicht schlechter als du, Clapa», gab ich zurück.

«Sie sind sicher aufbewahrt, Herr», sagte Sihtric.

«Ich sollte acht Köpfe haben», sagte ich und legte meine Hände um Sihtrics Hals. «Was für ein hübsches, mageres Hälschen, Sihtric.»

«Aber ein sehr widerstandsfähiges Hälschen, Herr», sagte er.

In diesem Moment öffnete sich die Klostertür, und angetan mit einem schwarzen Umhang schlüpfte Gisela heraus. «Ihr solltet schlafen, meine Dame», rügte ich sie.

«Ich kann nicht schlafen. Ich möchte ein bisschen gehen.» Sie schaute mich aufsässig an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, und das Lagerfeuer ließ ihre Zähne glitzern und spiegelte sich in ihren großen Augen.

«Wo möchtet Ihr entlanggehen?», fragte ich.

Sie zuckte mit den Schultern, ohne ihren Blick von mir zu lösen, und ich dachte an Hild, die im Kloster schlief.

«Ich übertrage dir die Verantwortung, Clapa», sagte ich, «und wenn Ivarr kommt, dann bring den Bastard um.»

«Ja, Herr.»

Ich hörte die Wachen kichern, als wir die ersten Schritte getan hatten. Mit einem Knurren brachte ich sie zum Schweigen. Dann führte ich Gisela zu den Bäumen östlich des Klosters, denn dort war es sehr dunkel. Sie nahm meine Hand. Sie sagte nichts, es genügte ihr, einfach dicht |161|neben mir zu gehen. «Hast du keine Angst im Dunkeln?», fragte ich sie.

«Nicht mit dir.»

«Als Kind», sagte ich, «habe ich mich in einen Sceadugengan verwandelt.»

«Was ist ein Sceadugengan?» Es war ein sächsisches Wort, und sie kannte es nicht.

«Ein Schattenwandler», erklärte ich. «Ein Wesen, das in der Nacht umgeht.» Eine Eule rief ganz in der Nähe, und Giselas Finger schlossen sich unwillkürlich fester um meine.

Unter einigen Buchen, durch die der Wind rauschte, blieben wir stehen. Zwischen den Blättern blitzte ab und zu der Widerschein eines Lagerfeuers auf. Ich legte ihr die Hand unters Kinn und sah zu ihr hinunter. Sie war groß, aber immer noch einen Kopf kleiner als ich. Sie ließ sich mustern, und als ich einen Finger sanft ihren langen Nasenrücken entlanggleiten ließ, schloss sie die Augen. «Ich …», sagte ich und verstummte wieder.

«Ja», sagte sie, als wüsste sie, was ich hatte sagen wollen.

Ich zwang mich dazu, mich von ihr abzuwenden. «Ich kann Hild nicht unglücklich machen.»

«Sie hat mir erzählt», sagte Gisela, «dass sie mit Pater Willibald nach Wessex zurückgegangen wäre, aber sie will noch warten, ob du Dunholm einnehmen kannst. Sie sagt, dafür betet sie, und wenn du es schaffst, wäre das ein Zeichen Gottes.»

«Das hat sie gesagt?»

«Sie hat gesagt, es wäre das Zeichen, dass sie zurück in ihren Konvent gehen muss. Das hat sie mir heute Abend erzählt.»

Das stimmte vermutlich. Ich streichelte Giselas Gesicht. |162|«Dann sollten wir warten, bis Dunholm eingenommen ist», sagte ich, und es war nicht das, was ich eigentlich gern gesagt hätte.

«Mein Bruder sagt, ich muss die Friedenskuh spielen», sagte sie bitter. Eine Friedenskuh war eine Frau, die in eine rivalisierende Familie verheiratet wurde, um für freundschaftliche Beziehungen zu sorgen, und bestimmt dachte Guthred an Ivarrs Sohn oder einen Schotten. «Aber ich werde keine Friedenskuh», sagte sie heftig. «Ich habe die Runenstäbe geworfen und kenne nun mein Schicksal.»

«Was hast du erfahren?»

«Ich werde zwei Söhne und eine Tochter haben.»

«Gut», sagte ich.

«Es werden deine Söhne sein», sagte sie aufsässig, «und deine Tochter.»

Einen Moment lang erwiderte ich nichts. Mit einem Mal wirkte die Nacht wie durchsichtig. «Das haben dir die Runenstäbe gesagt?», brachte ich schließlich heraus.

«Sie haben noch nie gelogen», sagte sie ruhig. «Als Guthred gefangen genommen wurde, haben mir die Runenstäbe gesagt, dass er zurückkommen würde, und sie haben mir gesagt, dass mein Ehemann mit ihm ankommen würde. Und du bist gekommen.»

«Aber er will dich zur Friedenskuh machen», sagte ich.

«Dann musst du mich verschleppen», sagte sie, «auf die alte Art.» Die alte dänische Art, sich eine Braut zu nehmen, war, sie zu entführen. Man überfiel das Haus ihrer Familie, griff sie und brachte sie zur Heirat. Es wird manchmal immer noch so gemacht, aber in unseren sanfteren Zeiten folgt der Überfall normalerweise erst auf Verhandlungen der Familien, und die Braut hat Zeit, ihre Sachen zu packen, bevor die Reiter kommen.

«Ich werde dich wegbringen», versprach ich ihr, und ich |163|wusste, dass ich damit für Ärger sorgen würde und dass Hild nichts getan hatte, um das zu verdienen, und dass sich Guthred hintergangen fühlen würde. Aber auch so hob ich mit einem Finger Giselas Kinn und küsste sie.

Sie umschlang mich. Und dann ertönten Rufe. Ich hielt sie fest, und wir lauschten. Die Rufe kamen aus dem Lager, und ich erkannte durch die Bäume, wie Männer an den Feuern vorbei auf die Straße zuliefen. «Ärger», sagte ich, drückte ihre Hand und rannte mit ihr zum Kloster, wo Clapa und die Wachen mit gezogenen Schwertern standen. Ich schob Gisela zur Klostertür und zog Schlangenhauch aus der Schwertscheide.

Aber es gab keinen Ärger. Nicht für uns jedenfalls. Bei den Neuankömmlingen, die vom Licht unserer Feuer angezogen worden waren, handelte es sich um drei Männer. Einer von ihnen war schwer verwundet, und sie brachten Neuigkeiten mit. Innerhalb kürzester Zeit war die kleine Klosterkirche hell erleuchtet, und die Priester und Mönche sangen Gottes Lob, und was die drei Männer aus dem Norden berichteten, verbreitete sich in Windeseile im gesamten Lager, sodass diejenigen, die gerade erst aufgewacht waren, zum Kloster liefen, um die Nachricht noch einmal zu hören und sich versichern zu lassen, dass sie auch stimmte.

«Gott hat ein Wunder bewirkt!», rief Hrothweard in die Menge. Er war über eine Leiter auf das Dach des Klosters gestiegen. Es war dunkel, doch einige Leute hatten Fackeln mitgebracht, und in ihrem Licht sah Hrothweard riesig groß aus. Er erhob die Arme, um die Menge zum Schweigen zu bringen. Dann ließ er sie warten, blickte hinunter in die Gesichter, die zu ihm aufschauten, und hinter ihm erklang der feierliche Gesang der Mönche, und irgendwo im Dunkel rief eine Eule, und da ballte Hrothweard die Fäuste |164|und reckte sich noch höher, als könne er den mondüberglänzten Himmel erreichen. «Ivarr ist geschlagen!», rief er endlich. «Lob sei Gott und allen Heiligen, der Tyrann Ivarr ist geschlagen! Er hat sein Heer verloren!»

Und die Leute von Haliwerfolkland, die den Kampf mit dem mächtigen Ivarr gefürchtet hatten, jubelten, bis sie heiser waren, weil das größte Hindernis für Guthreds Herrschaft in Northumbrien einfach so verschwunden war. Nun konnte er sich wahrhaftig König nennen, und das tat er auch. König Guthred.