7

 

Am, nächsten Morgen, kurz vor der Abfahrt, betrachtete Tuppence noch einmal das Bild in ihrem Zimmer; nicht weil sie sich das Haus einprägen wollte, sondern wegen seiner Lage in der Landschaft.

Diesmal würde sie es nicht vom Zugfenster, sondern vom Auto, von der Straße aus sehen. Der Blickwinkel konnte völlig anders sein. Vielleicht gab es viele gewölbte Brücken, vielleicht gab es mehrere, nicht mehr benutzte Kanäle, vielleicht gab es ganz ähnliche Häuser – aber das konnte sie kaum glauben.

Das Bild war signiert, doch die Schrift war nicht zu entziffern. Sicher war nur, dass der Name mit einem B begann.

Tuppence wandte sich ab und prüfte ihre Ausrüstung. Das Kursbuch mit den Karten der Bahnstrecken; einige Generalstabskarten; eine Liste von Namen – Medchester – Westleigh – Market Basing – Middlesham – Inchwell. Dazwischen lag das Dreieck, in dem sie das Haus suchen wollte. Sie nahm einen kleinen Koffer mit, denn sie brauchte allein drei Stunden, bis sie ihre Operationsbasis erreichte; danach musste sie dann vermutlich weite Strecken langsam abfahren und nach passenden Kanälen suchen.

Nachdem sie in Medchester eine Kaffeepause gemacht hatte, bog sie auf eine kleine Nebenstraße ab, die an einer Bahnstrecke entlangging und durch bewaldetes Gelände mit vielen Wasserläufen führte.

Wie in den meisten ländlichen Gebieten Englands gab es überall Wegweiser mit Namen, die Tuppence noch nie im Leben gehört hatte und die keineswegs zu dem angegebenen Ort zu führen schienen. Fuhr man nach Great Michelden, bot der nächste Wegweiser an einer Kreuzung die Wahl zwischen Pennington Sparrow und Farlingford. Wählte man Farlingford, kam man dort zwar an, aber schon das nächste Schild schickte einen streng nach Medchester zurück, woher man doch eben gekommen war. Tuppence gelangte niemals nach Great Michelden, und der Kanal, der ihr plötzlich abhanden gekommen war, ließ sich auch nicht wiederfinden. Sie fuhr weiter, kam nach Bees Hill, South Winterton und dann nach Farrell St. Edmund. Farrell St. Edmund hatte früher einen Bahnhof gehabt, der aber schon lange stillgelegt war. Wenn es doch nur eine einzige wohlerzogene Landstraße gäbe, dachte Tuppence verzweifelt, die an einem Kanal oder einer Bahnstrecke entlangführte!

Die Zeit verstrich, und Tuppence verlor jede Orientierung. Sie kam manchmal zu Bauernhöfen an Kanälen, aber dann führte die Straße einfach über den nächsten Hügel zu einem Ort, der Westpenfold hieß und einen quadratischen Kirchturm hatte, während sie doch nach einem spitzen Turm suchte.

Als sie verzagt über einen Holperweg fuhr, den Einzigen, der aus Westpenfold hinauszuführen schien, kam sie plötzlich unvermutet an eine Wegkreuzung. In der Mitte lag der Wegweiser; beide Arme waren abgebrochen.

Tuppence fuhr nach links. Der Weg schlängelte sich durch Waldstücke, machte eine Kurve, kletterte bergauf und dann wieder steil bergab. Plötzlich hörte Tuppence ein schrilles Geräusch. »Das könnte ein Zug sein«, murmelte sie.

Es war ein Zug. Vor ihr im Tal lagen die Schienen, und auf ihnen fuhr ein Güterzug, der schrille, gequälte Pfiffe von sich gab. – Und hinter den Schienen lag ein Kanal, und auf der anderen Seite des Kanals lag ein Haus, das Tuppence sofort erkannte. Und über den Kanal führte eine kleine gewölbte Brücke aus rosa Ziegelsteinen. Die Straße tauchte unter der Eisenbahn hindurch, stieg hoch und lief genau auf die Brücke zu. Tuppence fuhr vorsichtig hinüber. Das Haus lag nun rechts von ihr. Sie suchte nach einer Einfahrt, konnte sie aber nicht finden. Zwischen der Straße und dem Haus war eine ziemlich hohe Mauer.

Sie hielt an und ging zur Brücke zurück, um von dort aus das Haus zu betrachten.

Die meisten der hohen Fenster verbargen sich hinter grünen Läden. Das Haus sah still und leer aus, wirkte aber im Licht der untergehenden Sonne friedlich und freundlich. Nichts wies auf Bewohner hin. Tuppence stieg wieder in den Wagen und fuhr ein Stückchen weiter. Die Mauer war nun rechts von ihr; links der Straße kam erst eine Hecke, dann zogen sich Felder hin.

Plötzlich sah sie ein großes, schmiedeeisernes Tor. Sie parkte am Straßenrand, stieg aus und spähte durch das Eisengitter. Vor ihr lag ein Garten, der nicht besonders gepflegt war. Er sah aus, als gäbe sich jemand große Mühe, ihn in Ordnung zu halten, ohne dabei sehr erfolgreich zu sein. Vom Tor führte ein geschwungener Weg durch den Garten und um das Haus herum, das von dieser Seite ganz anders aussah. Aber es stand nicht leer! Hier wohnten Menschen, Fenster waren geöffnet, Vorhänge wehten; vor der Tür stand ein Abfalleimer. Im hinteren Teil des Gartens entdeckte Tuppence einen älteren, hoch gewachsenen Mann, der langsam und ausdauernd umgrub. Von hier aus betrachtet, war das Haus ohne jeden besonderen Reiz; kein Maler würde den Wunsch verspürt haben, es zu malen. Es war ein ganz gewöhnliches Haus, in dem jemand wohnte. Tuppence zögerte. Sollte sie wegfahren und sich das Haus aus dem Kopf schlagen? Nein, das war nicht mehr möglich, nachdem sie all diese Mühen auf sich genommen hatte. Wie spät war es? Sie sah auf die Uhr, aber die war stehen geblieben. Sie hörte ein Geräusch und spähte durch das Tor. Eine Frau war aus der Haustür gekommen. Sie setzte eine Milchflasche ab, richtete sich auf und wandte den Blick zum Tor. Als sie Tuppence entdeckte, zögerte sie einen Augenblick, fasste dann aber wohl einen Entschluss, denn sie kam auf das Tor zu. »Oh«, sagte Tuppence zu sich selbst, »sie ist eine freundliche Hexe.«

Die Frau war etwa fünfzig. Sie hatte langes, strähniges Haar, das über ihre Schulter wehte. Tuppence fühlte sich flüchtig an ein Gemälde – von Nevinson? – erinnert, einer jungen Hexe auf einem Besen. Aber diese Frau war weder jung noch schön. Sie hatte ein faltiges Gesicht und war nachlässig gekleidet. Auf ihrem Kopf thronte ein spitzer Hut; Kinn und Nase näherten sich bedenklich. Nach dieser Beschreibung hätte sie finster aussehen müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Ja, dachte Tuppence, du siehst genau wie eine Hexe aus, aber wie eine freundliche. Wahrscheinlich bist du das, was man früher eine »weiße« Hexe nannte.

Die Frau trat fast schüchtern ans Tor. Ihre Stimme war angenehm und leicht von einem ländlichen Dialekt gefärbt.

»Suchen Sie etwas?«, fragte sie unsicher.

»Entschuldigen Sie«, sagte Tuppence, »Sie müssen mich für sehr unhöflich halten, dass ich so in Ihren Garten starre, aber… das Haus hat mich interessiert.«

»Möchten Sie hereinkommen und sich den Garten ansehen?«, fragte die freundliche Hexe.

»Ja, gern. Aber ich möchte Ihnen nicht lästig sein…«

»Das sind Sie nicht. Ich habe Zeit. Ist es nicht schön heute?«

»Ja, sehr schön.«

»Ich habe schon gedacht, Sie hätten sich verirrt«, sagte die freundliche Hexe. »Das geht vielen Leuten so.«

»Als ich auf der anderen Seite der Brücke den Berg hinunterfuhr, fand ich das Haus so schön«, sagte Tuppence.

»Das ist auch die schönste Seite. Manchmal kommen Künstler, um es zu malen – das heißt, einmal ist einer gekommen.«

»Oh, das kann ich verstehen. Ich glaube sogar, dass ich ein Bild gesehen habe – auf einer Ausstellung«, fügte Tuppence rasch hinzu. »Ein ganz ähnliches Haus. Vielleicht war es sogar dieses hier.«

»Das kann schon sein. Wissen Sie, eigentlich ist es komisch, einmal kommt ein Künstler und malt ein Bild. Und dann kommen andere nach. Wie bei der jährlichen Kunstausstellung. Alle Maler scheinen dasselbe zu suchen. Entweder eine Wiese und einen Bach oder eine ganz bestimmte Eiche oder eine Gruppe von Weiden oder die normannische Kirche von einer bestimmten Stelle aus. Fünf oder sechs Bilder mit demselben Motiv, und die meisten sind ziemlich schlecht, finde ich wenigstens. Aber ich versteh nichts von Kunst. Kommen Sie herein.«

»Vielen Dank«, sagte Tuppence. »Sie haben einen sehr schönen Garten.«

»Ach, es geht so. Wir haben ein paar Blumen und Gemüsebeete. Aber mein Mann kann nicht mehr so schwer arbeiten, und ich komme kaum dazu.«

»Ich habe das Haus einmal vom Zug aus gesehen«, sagte Tuppence. »Der Zug fuhr ganz langsam; ich sah das Haus und habe damals überlegt, ob ich es wohl jemals wiedersehen würde. Das ist schon lange her.«

»Und dann fahren Sie plötzlich mit dem Auto den Berg hinunter und sehen es. Ist das nicht merkwürdig?«

Was für ein Glück, dass man mit der Frau so gut reden kann, dachte Tuppence. Man braucht sich gar keine Ausreden auszudenken, man kann einfach sagen, was einem in den Kopf kommt.

»Möchten Sie nicht ins Haus kommen?«, fragte die freundliche Hexe. »Ich seh Ihnen an, dass es Sie interessiert. Es ist schon alt. Georgianisch, glaube ich. Aber es ist später umgebaut worden. Wir haben natürlich nur die eine Hälfte.«

»Ach? Ist es aufgeteilt?«

»Ja. Dies ist eigentlich die Rückseite. Die Vorderseite haben Sie von der Brücke aus gesehen. Merkwürdig, nicht wahr, ein Haus der Länge nach durchzuteilen? Normalerweise teilt man es doch in eine linke und eine rechte Hälfte, nicht in eine Vorder- und eine Rückseite. Wir haben die Rückseite.«

»Wohnen Sie schon lange hier?«, fragte Tuppence.

»Seit drei Jahren. Als mein Mann pensioniert wurde, wollten wir aufs Land ziehen, irgendwohin, wo es ruhig ist – und billig. Und hier ist es nicht teuer, weil es so einsam ist. Es ist kein Dorf in der Nähe.«

»Ich hab einen Kirchturm gesehen…«

»Ja, den von Sutton Chancellor. Bis dort sind es zweieinhalb Meilen. Wir gehören zur Gemeinde, aber zwischen uns und dem Dorf liegen keine anderen Häuser. Und das Dorf ist sehr klein. – Sie trinken doch eine Tasse Tee? Ich hatte gerade den Wasserkessel aufgesetzt, als ich Sie sah.« Sie hob die Hände wie einen Trichter zum Mund und rief: »Amos! Amos!«

Der große Mann hinten im Garten drehte sich um.

»Tee in zehn Minuten!«

Er hob die Hand. Die Frau öffnete die Tür und ließ Tuppence vorgehen. »Ich heiße Perry«, sagte sie freundlich, »Alice Perry.«

»Und ich Beresford. Mrs Beresford.«

Tuppence blieb eine Sekunde stehen. Wie in Hänsel und Gretel, dachte sie. Die Hexe lädt dich in ihr Haus ein. Vielleicht ist es ein Pfefferkuchenhaus…

Aber dann sah sie Alice Perry an und wusste, dass es nicht das Pfefferkuchenhaus der Hexe von Hänsel und Gretel sein konnte. Dies war eine ganz normale Frau. Nein, doch nicht ganz normal, denn sie hatte eine so seltsame, wilde Herzlichkeit. – Vielleicht kann sie zaubern, dachte Tuppence, aber wenn, dann zaubert sie bestimmt nur Gutes. Sie neigte den Kopf ein wenig und trat über die Schwelle des Hexenhauses.

Drinnen war es ziemlich düster. Der Gang war sehr schmal.

Mrs Perry führte sie durch die Küche in einen Salon, hinter dem anscheinend das Wohnzimmer lag. Nichts an dem Haus war außergewöhnlich. Tuppence hielt diesen Teil für einen Anbau aus der spätviktorianischen Zeit. Er hatte keine Tiefe und schien aus einem dunklen Quergang zu bestehen, von dem die einzelnen Zimmer abgingen. Tuppence fand ebenfalls, dass es ein seltsames Verfahren war, ein Haus so zu teilen.

»Setzen Sie sich doch. Ich bringe den Tee gleich«, sagte Mrs Perry.

Aus der Küche ertönte ein schriller Pfiff. Der Kessel hatte offenbar die Geduld verloren. Mrs Perry ging hinaus und brachte nach kurzer Zeit ein Teetablett, mit einem Teller mit Hörnchen, einem Glas Marmelade und drei Teetassen.

»Vermutlich sind Sie jetzt enttäuscht, wo Sie das Haus von innen sehen«, bemerkte sie.

»Nein, nein«, wehrte Tuppence ab.

»Ich an Ihrer Stelle wäre enttäuscht. Es passt überhaupt nicht, nicht wahr? Ich meine die Vorderseite und die Rückseite passen nicht zusammen. Aber zum Wohnen ist es angenehm. Es sind nicht viele Zimmer, und es ist nicht sehr hell, aber auf den Preis wirkt sich das günstig aus.«

»Wer hat das Haus aufgeteilt? Und warum?«

»Oh, das ist schon viele Jahre her. Die Besitzer fanden es wohl zu groß oder zu unbequem. Sie wollten es vielleicht nur als Wochenendhaus. Deshalb haben sie das Wohnzimmer und Esszimmer behalten und aus dem kleinen Arbeitszimmer eine Küche gemacht. Oben sind zwei Schlafzimmer und ein Bad. Dann haben sie das durch eine Mauer abgeschlossen und aus dem alten Wirtschaftstrakt eine Wohnung hergerichtet.«

»Wer wohnt im anderen Teil? Jemand, der nur zum Wochenende kommt?«

»Da wohnt jetzt niemand«, sagte Mrs Perry. »Nun nehmen Sie doch noch ein Hörnchen.«

»Danke schön.«

»In den letzten zwei Jahren ist niemand mehr hier gewesen. Ich weiß nicht mal, wem es gehört.«

»Aber als Sie hier einzogen…«

»Damals kam manchmal eine junge Dame her. Sie soll Schauspielerin gewesen sein. Aber wir haben sie nie kennen gelernt. Wir haben sie nur mal flüchtig gesehen. Sie kam immer erst spät nachts am Samstag, nach der Vorstellung vermutlich. Und am Sonntagabend ist sie wieder weggefahren.«

»Was für eine geheimnisvolle Frau«, sagte Tuppence.

»Wissen Sie, das habe ich auch immer gedacht. Ich habe mir Geschichten über sie ausgesponnen. Manchmal war sie wie Greta Garbo, mit einer dunklen Brille und Schlapphüten… Um Gottes willen! Ich hab ja noch meinen Hut auf!«

Sie setzte den Hexenhut ab und lachte. »Der gehört zu einem Stück, das wir im Gemeindehaus in Sutton Chancellor aufführen. Es ist so eine Art Märchen für Kinder. Und ich spiele die Hexe.«

»Ach«, sagte Tuppence etwas irritiert. Dann fügte sie rasch hinzu: »Das macht sicher Spaß.«

»Ja, und ob das Spaß macht. Eigne ich mich nicht gut für die Hexe?« Sie tippte sich lachend ans Kinn. »Ich hab das richtige Gesicht dazu. Ich hoffe bloß, dass die Leute nicht auf dumme Gedanken kommen und meinen, ich hätte den bösen Blick.«

»Das glaubt bei Ihnen bestimmt niemand«, sagte Tuppence. »Jeder wird Sie für eine gute Hexe halten.«

»Freut mich, dass Sie das denken«, sagte Mrs Perry. »Na, wegen der Schauspielerin – ich komme nicht mehr auf ihren Namen – es könnte Miss Marchment gewesen sein, aber ich kann mich irren – was ich mir über die ausgedacht habe! Und dabei habe ich sie kaum gesehen und nie mit ihr gesprochen. Ich glaube manchmal, dass sie nur sehr menschenscheu und neurotisch war. Es sind sogar Reporter ihretwegen hergekommen, aber sie hat sie nicht vorgelassen. Manchmal habe ich gedacht – und jetzt werden Sie mich sicher für dumm halten dass es mit ihr eine böse Bewandtnis hat. Ich habe gedacht, sie hat Angst, dass sie erkannt wird. Vielleicht ist sie gar keine Schauspielerin. Vielleicht sucht die Polizei sie. Vielleicht hat sie ein Verbrechen begangen. – Es ist aufregend, sich solche Geschichten auszudenken. Vor allem, wenn man – na ja, wenn man so viel allein ist.«

»Ist sie denn immer allein gekommen?«

»Darüber bin ich mir nicht so ganz klar. Die Wände sind ziemlich dünn, und manchmal hörte man Geräusche oder Stimmen. Ich glaube, sie hat hin und wieder jemanden mitgebracht.« Sie nickte. »Ja, einen Mann. Vielleicht wollte sie deswegen so zurückgezogen leben.«

»Einen verheirateten Mann«, sagte Tuppence, die an diesem Spiel Feuer fing.

»Er müsste schon verheiratet gewesen sein, nicht wahr?«

»Vielleicht war es sogar ihr Mann. Vielleicht hat er das einsame Haus auf dem Land gemietet, weil er sie ermorden wollte. Vielleicht hat er sie im Garten begraben.«

»Sie haben aber keine schlechte Phantasie!«, sagte Mrs Perry. »Darauf bin ich noch gar nicht gekommen.«

»Na, jemand muss über sie genau Bescheid gewusst haben«, sagte Tuppence, »der Häusermakler.«

»Ja, ganz bestimmt. Aber ich wollte es eigentlich gar nicht so genau wissen, wenn Sie das verstehen können.«

»O ja, das kann ich sehr gut verstehen.«

»Das Haus hat so etwas an sich, so eine Atmosphäre. Man hat immer das Gefühl, dass hier Schreckliches passiert sein könnte.«

Die Tür zum Garten öffnete sich. Der Mann von draußen trat ins Haus. Er ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände, dann kam er durch die offene Tür in den Salon.

»Das ist mein Mann«, sagte Mrs Perry. »Amos, wir haben Besuch, Mrs Beresford.«

»Guten Tag«, sagte Tuppence.

Amos Perry war groß und bewegte sich pendelnd hin und her. Er war sogar größer und kräftiger, als Tuppence gedacht hatte.

»Freut mich, Mrs Beresford.«

Er sprach freundlich und lächelte, aber Tuppence überlegte doch einen Augenblick, ob er wohl das war, was sie »ganz da« nannte. In seinen Augen stand ein Ausdruck staunender Leere. Tuppence hätte gern gewusst, ob Mrs Perry nach einem einsamen Haus auf dem Land gesucht hatte, weil der Geisteszustand ihres Mannes das angeraten sein ließ.

»Er liebt den Garten«, erklärte Mrs Perry.

Seit er hereingekommen war, versickerte das Gespräch. Mrs Perry redete zwar unentwegt weiter, aber ihr Wesen schien sich verändert zu haben. Sie sprach sehr viel nervöser und ließ ihren Mann nie aus den Augen. Sie muntert ihn auf, dachte Tuppence, wie eine Mutter einen schüchternen Jungen zum Reden bringen will, damit er sich vor dem Besuch von der besten Seite zeigt. Und sie hat Angst, dass er sich blamieren könnte.

Sie trank die Tasse leer, stand auf und sagte: »Ich muss weiterfahren. Vielen Dank, Mrs Perry. Sie waren sehr gastfreundlich.«

»Sie müssen erst noch den Garten besichtigen.« Mr Perry erhob sich. »Kommen Sie, ich zeige ihn Ihnen.«

Sie ging mit ihm hinaus, und er führte sie dorthin, wo er umgegraben hatte. »Schöne Blumen, nicht wahr? Wir haben hier ein paar altmodische Rosen. Sehen Sie die? Sie ist rot und weiß gestreift.«

»Sie heißt ›Commandant Beaurepaire‹«, sagte Tuppence.

»Wir nennen sie ›York und Lancaster‹. Nach dem Krieg der Rosen. Sie riecht gut, nicht?«

»Ja, sie duftet.«

»Besser als die neumodischen Hybriden-Teerosen.«

Der Garten wirkte fast rührend. Dem Unkraut wurde kaum Einhalt geboten, aber die Blumen waren sorgfältig, wenn auch etwas laienhaft, hochgebunden.

»Schöne Farben«, sagte Mr Perry. »Ich mag es gern bunt. Wir haben oft Leute hier, die den Garten sehen wollen. Es hat mich gefreut, dass Sie gekommen sind.«

»Vielen Dank«, sagte Tuppence. »Ihr Garten und Ihr Haus haben mir sehr gut gefallen.«

»Oh, Sie sollten erst mal die andere Seite sehen.«

»Kann man die mieten oder kaufen? Ihre Frau hat mir erzählt, dass dieser Teil unbewohnt ist.«

»Das wissen wir nicht. Wir haben niemanden gesehen; und es ist kein Schild dran; und es ist nie jemand zur Besichtigung gekommen.«

»Es müsste schön sein, dort zu wohnen«, sagte Tuppence.

»Suchen Sie ein Haus?«

»Ja«, sagte Tuppence rasch entschlossen. »Ja, wir suchen nach einem kleinen Haus auf dem Land. Mein Mann wird wahrscheinlich im nächsten Jahr pensioniert. Wir wollten schon mal anfangen, uns in Ruhe umzusehen.«

»Hier ist es sehr still, falls Sie das mögen.«

»Ich könnte mich ja mal beim hiesigen Makler erkundigen. Haben Sie das Haus von ihm vermittelt bekommen?«

»Wir haben erst das Inserat in der Zeitung gesehen, aber dann waren wir beim Makler, ja.«

»Wo ist der? In Sutton Chancellor? Das ist doch Ihr Dorf, nicht wahr?«

»Sutton Chancellor? Nein. Der Makler ist in Market Basing. Die Firma heißt Russell & Thompson. Sie können dort ja mal fragen.«

»Ja, das könnte ich. Wie weit ist es nach Market Basing?«

»Bis nach Sutton Chancellor zwei Meilen, und von dort sind es sieben Meilen nach Market Basing. Hier sind ja nur Feldwege, aber von Sutton Chancellor aus gibt es eine richtige Straße.«

»Aha. – Na, dann nochmals vielen Dank, dass Sie mir Ihren Garten gezeigt haben, Mr Perry. Und auf Wiedersehen.«

»Warten Sie mal.« Er bückte sich und schnitt eine riesengroße Päonie ab, dann nahm er Tuppence beim Revers ihres Mantels und steckte sie ihr in das Knopfloch. »So«, sagte er. »So. Das sieht hübsch aus.«

Einen Augenblick hatte Tuppence Angst. Plötzlich jagte ihr dieser große, freundliche Mann Furcht ein. Er blickte lächelnd auf sie herab. Er lächelte breit, fast grienend. »Sie steht Ihnen gut, sehr gut.«

Tuppence dachte: Ich bin froh, dass ich kein junges Mädchen mehr bin… Ich hätte es gar nicht gern gehabt, wenn er mir damals eine Blume angesteckt hätte. – Sie verabschiedete sich noch einmal und ging eilig fort.

Die Haustür stand offen. Tuppence trat ein, um sich von Mrs Perry zu verabschieden. Mrs Perry war in der Küche und spülte das Teegeschirr. Fast automatisch griff Tuppence nach einem Tuch und trocknete ab.

»Vielen herzlichen Dank. Sie und Ihr Mann sind so freundlich gewesen… Was ist das denn?«

Von dort, wo an der Küchenwand ein alter Kamin gewesen sein musste, kam ein lautes Kreischen, Schnarren und Kratzen.

»Das wird eine Dohle sein«, sagte Mrs Perry. »Sie muss drüben in den Kamin gefallen sein. Um diese Jahreszeit passiert das manchmal. Sie bauen sich Nester in den Kaminen, wissen Sie.«

Wieder ertönte das Kreischen und Schreien eines aufgeschreckten Vogels. Mrs Perry sagte: »In dem leeren Haus kümmert sich niemand darum. Der Kaminkehrer müsste kommen.«

Die Geräusche hörten nicht auf. »Armer Vogel«, sagte Tuppence.

»Ja. Er kann ja nie wieder raus.«

»Wieso? Meinen Sie, er stirbt dort?«

»Ja. Bei uns ist auch einer in den Kamin gefallen. Zwei sogar. Eins war ein Junges. Dem ist nichts passiert. Wir haben es rausgelassen, und es ist fortgeflogen. Der andere war tot.«

»Oh, wenn wir ihm nur helfen könnten!«

Mr Perry kam herein. »Was gibt’s denn?«

»Ein Vogel, Amos. Er muss nebenan im Wohnzimmerkamin sein. Hörst du ihn?«

»Ja. Der kommt sicher aus dem Dohlennest.«

»Wenn wir nur da drüben ins Haus kämen«, sagte Mrs Perry.

»Da kannst du nichts machen. Der stirbt vor Angst.«

»Aber dann stinkt es.«

»Hier riechst du das nicht. Du bist zu weich«, sagte er und sah von ihr zu Tuppence. »Wie alle Frauen. Aber ich kann ihn ja rausholen, wenn du willst.«

»Wieso? Ist ein Fenster offen?«

»Wir können durch die Tür rein.«

»Durch welche Tür?«

»Durch die Hoftür.« Er ging hinaus und zog am Ende des Hauses eine kleine Tür auf. Sie führte in einen Schuppen für Gartengeräte, und dort gab es eine Tür zum anderen Teil des Hauses. An einem Nagel hingen einige rostige Schlüssel. »Der da passt«, sagte Mr Perry. Er nahm den Schlüssel, steckte ihn ins Schloss, drehte ihn angestrengt hin und her, bis er sich endlich knirschend ganz herumdrehte. »Ich war schon einmal drin. Ich hab gehört, dass Wasser lief. Jemand hat es nicht richtig abgestellt.«

Er ging hinein; die beiden Frauen folgten ihm. Die Tür führte in einen kleinen Raum, in dem über einem Becken mehrere Blumenvasen auf einem Regal standen.

»Ein Blumenzimmer, was? Da haben die Leute die Blumenvasen gerichtet.«

Die nächste Tür war nicht einmal abgeschlossen. Er machte sie auf und ging weiter. Tuppence kam es vor, als träte man in eine andere Welt. Der Gang war mit einem dicken Teppich ausgelegt. Etwas weiter unten war eine Tür halb geöffnet, und von dorther drang das aufgeregte Geschrei des Vogels. Perry stieß die Tür ganz auf, und seine Frau und Tuppence gingen hinein.

Die Fensterläden waren geschlossen, aber ein Flügel hing lose in den Angeln und ließ Licht herein. Auch im Halbdunkel war der schöne, etwas verblasste grüne Teppich zu erkennen. An der Wand stand ein Bücherregal, aber es gab weder Stühle noch einen Tisch. Offenbar waren die Möbel fortgebracht worden, während die Teppiche und Vorhänge wohl zum Haus gehörten und auf den nächsten Mieter warteten.

Mrs Perry trat an den Kamin. Auf dem Rost lag ein Vogel. Er schlug mit den Flügeln und stieß entsetzte Schreie aus. Sie bückte sich und hob ihn auf.

»Kannst du das Fenster aufmachen, Amos?«

Amos zog den innen angebrachten Laden zur Seite und legte den Fensterriegel um. Mühevoll schob er das untere Fenster hoch. Mrs Perry beugte sich weit hinaus und ließ die Dohle frei. Sie taumelte auf den Rasen und hüpfte ein paar Schritte.

»Mach ihn lieber tot«, sagte Perry. »Er hat was abbekommen.«

»Ach, lass uns noch ein bisschen warten. Vögel erholen sich oft schnell. Vielleicht ist es nur die Angst.«

Und wirklich, nach ein paar Augenblicken flog die Dohle flatternd und kreischend davon.

»Hoffentlich passiert das nicht noch mal«, sagte Alice Perry.

»Vögeln ist alles zuzutrauen. Die lernen nie etwas. – Oh, was ist denn das für eine Schweinerei!«

Alle starrten auf den Kamin. Aus dem Schornstein waren alter Ruß, Ziegelbrocken und Mörtel auf den Rost gefallen. Er musste ziemlich baufällig sein. »Hier sollte wirklich jemand wohnen«, stellte Mrs Perry fest.

»Ja, oder sich wenigstens um das Haus kümmern«, stimmte Tuppence zu. »Es muss unbedingt repariert werden, sonst stürzt es eines Tages noch ein.«

»Wahrscheinlich ist das Dach undicht, und es hat durchgeregnet. Ja, da, sehen Sie die Decke? Da ist es auch schon durchgekommen.«

»Ein Jammer, dass das Haus so ruiniert wird«, sagte Tuppence. »Und dieses Zimmer ist so schön, finden Sie nicht auch?«

Tuppence und Mrs Perry sahen sich bewundernd um. Das Haus stammte aus dem späten achtzehnten Jahrhundert; und der Raum hatte den Charme der damaligen Zeit bewahrt. Die verblichene Tapete zeigte ein Muster aus Weidenblättern.

»Es ist nur noch eine Ruine«, sagte Mrs Perry.

Tuppence wühlte mit der Schuhspitze in dem Kaminschutt.

»Brr!« rief sie plötzlich. Vor ihr lagen zwei tote Vögel. Sie schienen schon lange tot zu sein.

»Das ist das Nest, das vor ein paar Monaten runtergekommen ist«, sagte Perry.

»Und was ist das?«, fragte Tuppence. Sie deutete mit der Fußspitze auf etwas, das unter dem Schutt verborgen war. Dann bückte sie sich und hob es auf.

»Fassen Sie keinen toten Vogel an!«, warnte Mrs Perry.

»Es ist kein Vogel. Nein!« Sie starrte den Gegenstand an. »Es ist eine Puppe!«.

Sie betrachteten sie alle. Sie war abgestoßen, die Kleider hingen in Fetzen an ihr; der Kopf pendelte, aber es war zweifellos eine Puppe. Ein Glasauge fiel heraus. Tuppence fing es auf und hielt es in der Hand.

»Ich möchte doch gern wissen«, sagte sie, »wie eine Kinderpuppe in einen Kamin kommt. Das ist seltsam.«