Eine bessere Welt ist möglich! Ja, aber nicht mit dem bedingungslosen Grundeinkommen!
Wo das Unheil droht, wächst, frei nach Hölderlin, das Rettende auch. Mit der Agenda 2010 kam nicht nur der Niedriglohnsektor und die programmierte Altersarmut, sondern auch der Siegeszug des »bedingungslosen Grundeinkommens« (BGE). Die Eurokrise mit den Exzessen des Finanzkapitalismus befeuert ihn, auch international, weiter. Inzwischen hat die Idee Anhänger in allen Parteien, bei Gewerkschaften, Kirchen,Wohlfahrtsverbänden, einfach überall – genauso wie in Deutschland auch in Europa, beispielsweise bei der »Fünf-Sterne-Bewegung« des Beppe Grillo in Italien. Die Zahl der Verfechter, aber auch der Gegner schwillt täglich an, und mittlerweile existiert ein nicht mehr zu überschauender Wirrwarr an Modellen und Kontroversen.
Dass Zeiten tiefgreifender Krisen der Nährboden radikaler Utopien sind, zeigt die Tatsache, dass die Idee eines BGE 1934 in den Vereinigten Staaten als Reaktion auf die damalige Weltwirtschaftskrise und als Gegenkampagne zu Präsident Franklin D. Roosevelts »New Deal« für Aufsehen und heftige Debatten sorgte. Sie wurde von dem Senator Huebert Pierce Long vertreten, der eine Umverteilung des Wohlstands zulasten der Bezieher hoher Einkommen forderte, durch die jeder Familie ein Grundeinkommen garantiert werden sollte. Er erhielt großen Zulauf, wurde bei der Wahl aber von Roosevelt geschlagen, der seinerseits im New Deal mit dem Glass Steagall Act in revolutionärer Weise die Großfinanz und Superreichen zur Kasse bat und so zu ihrer Verantwortung zwang; das wäre ohne den Druck von Longs Utopie vielleicht nicht möglich geworden. Auch hier fasste die Wirtschaft wieder Fuß, und es entstand so etwas wie ein Wirtschaftswunder, womit die Empirie des Nutzens der Gleichverteilung für die Volkswirtschaft sich neben den zwei deutschen Wirtschaftswundern noch auf den New Deal stützen kann.
Das BGE als feudalistisches Projekt
Historisch sind zwei Beispiele dafür bekannt, dass der Staat seinen Bürgern vorbehaltlos ohne Bedürftigkeitsprüfung oder Arbeitszwang ein Existenzminimum gewährte, und beide Male war es ein Teil großer feudaler Projekte: im Sparta des 6. Jahrhunderts v. Chr. und von 1795 bis 1834 in England unter der sogenannten »Speenhamland«-Gesetzgebung. In Sparta hatte die herrschende Minderheit der Spartiaten Anspruch auf ein arbeitsloses Einkommen, für das freilich die unterdrückte Mehrheit Sklavenarbeit leisten musste. Dieses arbeitslose Einkommen war demnach Ausdruck eines parasitären Feudalismus, geprägt von extremer Ungleichheit und Unfreiheit, wozu passt, dass Sparta der große Gegenspieler der griechischen Demokratien wurde.
Mit dem Speenhamland-Projekt schließlich wollte man in England der Armut der Landbevölkerung (und ihrer Landflucht in die Städte) zu Leibe rücken. In seinem epochalen Werk The Great Transformation hat Karl Polanyi es eingehend beschrieben und als die soziale Innovation des »Rechts auf Lebensunterhalt« bezeichnet – allerdings mit keinem guten Ende: »Keine Maßnahme hatte sich jemals größerer allgemeiner Beliebtheit erfreut. Eltern waren der Sorge um ihre Kinder enthoben, und Kinder waren nicht mehr von ihren Eltern abhängig; Arbeitgeber konnten die Löhne nach Gutdünken herabdrücken, und die Arbeiter, ob fleißig oder faul, waren vor Hunger gesichert; Philanthropen lobten die Maßnahmen als Akt der Barmherzigkeit, wenn auch nicht der Gerechtigkeit, und die Selbstsüchtigen trösteten sich mit dem Gedanken, dass die Sache zwar barmherzig, aber wenigstens nicht liberal war; und selbst den Gemeindesteuerzahlern wurde nur langsam klar, was mit den Abgaben in einem System geschehen würde, das ›das Recht auf Lebensunterhalt‹ unabhängig davon proklamierte, ob der Mensch seinen Lebensunterhalt verdiente oder nicht. Auf lange Sicht war das Resultat furchtbar …« 137 Denn die Arbeitsmoral verfiel, und immer mehr Zahler wechselten auf die Seite der Leistungsempfänger, sodass am Ende daraus der schonungsloseste Arbeitsmarkt nach der Sklaverei entstand.
Durch die schlechten historischen Erfahrungen lassen sich die Anhänger des BGE, den Blick fest auf die Ziele von Selbstverwirklichung bis zur Überwindung des Kapitalismus gerichtet, freilich nicht schrecken. Sie verweisen auf das Plädoyer Erich Fromms für das BGE, sehen aber nicht, dass dieser dafür die Bedingung der Überwindung des Kapitalismus in Gestalt des »Homo consumens« formuliert hat, mit anderen Worten: dass die Menschheit dafür noch nicht reif ist. 138 Auch die Tatsache, dass viele Modelle schon vom reinen Verteilungsvolumen her die Grenzen des Volkseinkommens sprengen, kann die Jünger der Idee kaum bremsen. Dem Einwand wird regelmäßig mit dem Argument begegnet, dass seriöse Finanzwissenschaftler die Finanzierbarkeit mancher Modelle nachgewiesen hätten. Das stimmt, unterschlägt aber die entscheidende Bedingung in diesen Gutachten: »cp«. Das bedeutet »ceteris paribus« und unterstellt, dass sich die bei Einführung des BGE geltenden Bedingungen, also auch das Arbeitsverhalten, nicht ändern.
Diese Grundannahme in Zweifel zu ziehen führt aber unweigerlich in die nächste Debatte, nämlich die über das Menschenbild, das solche Zweifel erlaubt. Da betritt man dann eine weite, oft quasireligiöse Arena. Dabei zeigen die Speenhamland-Erfahrungen doch in aller Deutlichkeit, dass diese Annahme naiv und töricht ist. Wenn die Sonne heute scheint, dann scheint sie cp auch noch in hundert Jahren. In Wirklichkeit tut sie das niemals. Dass es schließlich perplex ist, einerseits auf die ungeheure Produktivität des Kapitalismus zu setzen, die allen die benötigten Lebensmittel zur Verfügung stellt, den man andererseits abschaffen will – »Rauf auf den Baum, um ihn umzuhaun?« –, leuchtet vielen ebenfalls nicht ein. Auch bleibt die Frage unbeantwortet, ob die Gesellschaft wirklich auf Arbeitskraft in dem Umfang verzichten kann, wie dies manchen Modellen zugrunde liegt. Es ist ja richtig, dass sich industriell mit minimalem Einsatz von Arbeitskraft ein maximaler Überschuss an Konsumgütern und Konsumschrott herstellen lässt. Das gilt aber nicht für den Pflegebereich, Gesundheitsdienstleistungen und die Landwirtschaft. Bei Ersteren steigen die Bedarfe sogar exponentiell an; humane Pflege bedeutet das Schenken von Zeit, und das lässt sich naturgemäß nicht rationalisieren. Ähnliches gilt für den Fall, dass die Geburtenzahlen wieder steigen sollten, auch für die Betreuung, Erziehung und Ausbildung von Kindern, denn diese haben sogar einen noch höheren Bedarf an individueller Zuwendung. Für die Landwirtschaft schließlich gilt, dass sie kaum noch in der konventionellen Weise rationalisierbar scheint, die mehr Schaden als Nutzen verspricht, sondern im Gegenteil der Anteil lebendiger Arbeitskraft eher steigen müsste.
Der blinde Fleck: Europäisches Sozialrecht
Ein auffallender Mangel, der allen Modellen gemeinsam ist, ist die Vernachlässigung, ja nachgerade Verdrängung des Europarechts und seiner Auswirkungen auf die nationalen Sozialsysteme. Es war nämlich der Gedanke einer »Social Citizenship«, der die Novellierung des koordinierenden Sozialrechts geprägt hat. Der persönliche Anwendungsbereich knüpft nicht mehr vor allem an Erwerbsarbeit an, sondern bezieht auch die »wirtschaftlich Inaktiven« ein. Zwar muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) die unionsrechtlich vermittelte »finanzielle Solidarität« bei der Sicherung der Existenz mangels eines Finanzausgleichs zwischen den Herkunfts- und Aufnahmeländern nicht »übermäßig« gewährt werden, aber grundsätzlich gilt, dass das soziale Teilhaberecht gerade wegen seiner dienenden Funktion für die Wahrnehmung der Freizügigkeit gewährt wird. 139 Die Aufnahmeländer, die als Wohlfahrtsmagneten übermäßig in Anspruch genommen werden, haben zwar grundsätzlich die Möglichkeit zu aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegenüber Unionsbürgern, jedoch wird die Freiheit der Mitgliedsstaaten – abgesehen vom bestehenden Vollzugsdefizit – dadurch beschränkt, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Aufenthaltsbeendigung bei der Inanspruchnahme von Sozialhilfe keinen Automatismus bilden darf. 140
Die Praxis bietet, vor allem seit dem Beitritt Bulgariens und Rumäniens, inzwischen ausreichenden Anschauungsunterricht dafür, dass Deutschland nicht zuletzt wegen seiner Sozialleistungen zu einem starken Wohlfahrtsmagnet für Zuwanderung geworden ist. Die Praxis zeigt ferner, wie einfach die rechtlichen Hindernisse durch Anmeldung eines nur anzeige-, nicht genehmigungspflichtigen Gewerbes überwunden werden können, zum Beispiel als Subunternehmer im Baubereich. Allein in Berlin-Neukölln zählte man zum März 2012 1377 bulgarische und 1034 rumänische Personen, die ein Gewerbe angezeigt hatten. Wenn das daraus erzielte Einkommen nicht für den Lebensunterhalt ausreicht, haben sie ohne weiteres Anspruch auf aufstockende Hartz-IV-Leistungen für sich und alle Familienmitglieder. 141 Ab dem Jahr 2014 wird ohnehin die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit alle Hindernisse abbauen. Solange also die BGE-Modelle diese Realitäten und die absehbare Entwicklung bei der Durchsetzung eines BGE nicht in Rechnung stellen, sind sie schlicht wirklichkeitsfremd.
Die einen gleicher, die anderen dafür unfreier?
Auf die vielen, zum Teil höchst unterschiedlichen Modelle zum BGE, ihre Ziele oder Probleme einzugehen, ist schon wegen der unübersehbaren Flut an konkurrierenden Vorstellungen kaum möglich. Aber das ist auch nicht nötig, da das BGE an der schlechterdings entscheidenden Frage scheitert, wie sich in ihm eigentlich Gleichheit, Freiheit und Verantwortung zueinander verhalten. Hier ist das Ergebnis aber eindeutig: gar nicht! Und damit scheidet das BGE von vornherein als Lösung für unsere Sozialstaatsprobleme aus. Die Prüfung des BGE fördert als Erstes nämlich die einfache Feststellung zutage: Das BGE ist in Wahrheit nicht bedingungslos und kann es gar nicht sein! Ganz einfach deshalb, weil es mit der Bedingung steht und fällt, dass ein Teil der Bürger für den Lebensunterhalt anderer Bürger zahlt. Dabei ist der Freiheit der einen zum Erwerbsverzicht denknotwendigerweise die Unfreiheit der anderen komplementär, die zahlen und abgeben müssen. Die einen sind gleicher, die anderen dafür unfreier. Diesen Grundkonflikt verbergen manche Befürworter des BGE wie Nebelkrähen ihre Ostereier, indem sie »die staatliche Gemeinschaft« für das BGE verantwortlich machen, die erst einmal allen das Gleiche zahlen und später dann mit deren wachsenden Einkommen verrechnen soll, sofern sie welche erzielen. Das genau ist aber die Bedingung. Der Staat spielt im Märchen vom BGE damit die transzendentale Wunderkuh, die im Himmel gefüttert und auf Erden gemolken wird. In Wahrheit sind wir jedoch alle dieser Staat, und jeder von uns hat prinzipiell die gleichen Rechte und Pflichten, muss deshalb prinzipiell auch immer gleichzeitig Verantwortung für sich und andere tragen (es sei denn, er ist dazu nicht in der Lage). Der Staat hat hier für die Anhänger des BGE also eine vergleichbare Funktion wie bei der großen neofeudalen Transformation unserer Tage, welche die Akteure der entfesselten Finanzmärkte vorantreiben: Andere sollen haften, nur die Begünstigten nicht. Dass das mit der grundgesetzlichen Ordnung von Freiheit und Gleichheit nicht auf einen Nenner zu bekommen ist, liegt auf der Hand. Die Nagelprobe des Kant’schen Imperativs, der über die »Allgemeine Erklärung der Menschrechte« zum konstitutiven Bestandteil der Verfassungsstaaten der Neuzeit wurde (siehe Kapitel 5), besteht das BGE deshalb nicht. Es versucht, Rechte von Pflichten zu trennen. Das kann nicht funktionieren und verlässt den vom Gleichheitsprinzip gesteckten Rahmen.
Das Grundgesetz kommt hier noch ein weiteres Mal ins Spiel, und zwar über das Sozialstaatsprinzip. Das Bundesverfassungsgericht leitet aus ihm nämlich eine staatliche Verpflichtung ab, die annähernd gleichmäßige Verteilung der Lasten grundsätzlich zu erstreben; öffentliche Mittel sollten nur dahin gelenkt werden, wo im Einzelfall ein Bedarf festgestellt wird; dabei solle nach dem Grad der sozialen Schutzbedürftigkeit differenziert werden. Wer sich selbst helfen kann, muss dies in unserer Werteordnung also tun und darf nicht andere dafür verantwortlich machen. Zahlungen des Staates an Bürger, die zur Selbsthilfe in der Lage sind, sind damit denknotwendig ausgeschlossen.
Wo bleibt die Verantwortung füreinander?
Fazit: Wer das BGE für die Antwort auf die Zukunftsfragen hält, gibt das Prinzip der Verantwortung als Grundgesetz menschlichen Zusammenlebens auf. Oswald von Nell-Breuning, der große alte Mann der Sozialpolitik, hat das 1986 mit Blick auf die damals von den Grünen und Grauen Panthern propagierte Grundrente, die nach ähnlichem Muster ebenfalls bedingungslos an jeden Alten gezahlt werden sollte, wie folgt formuliert: »Es gibt sicher eine Fülle von Argumenten, die für die Grundrente sprechen. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir sie ablehnen müssen. Es ist richtig, dass jedes Individuum sein Recht auf Leben hat, infolgedessen auch einen Rechtsanspruch auf das, was zum Leben unerlässlich notwendig ist, und dass dieser Anspruch, wenn er von den Nächststehenden nicht befriedigt wird oder vielleicht gar nicht befriedigt werden kann, sich gegen die Allgemeinheit richtet. Das spricht natürlich dafür, rein dogmatisch zu sagen, also setzen wir einfach fest, die Allgemeinheit liefert jedem, ob er es braucht oder nicht braucht, die nötigen Daseinsmittel. Damit kommen wir zu einem extremen Individualismus. Zu einer extremen Abstraktion, die das Leben unerträglich macht. Man hat für alles Ansprüche, und der Träger der Verantwortung ist immer die Allgemeinheit. Und die Allgemeinheit ist eben kein Subjekt, das Verantwortung zu tragen vermag. Verantwortung greift nur, wenn der Einzelne sieht, hier kommt es auf mich persönlich an.« 142
137 Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt 1978 (1944), S. 113 ff.
138 Erich Fromm: Psychologische Aspekte zur Frage eines garantierten Grundeinkommens für alle, Erstveröffentlichung New York 1966.
139 Dazu Frank Schreiber: »Steht arbeitsuchenden EU-Ausländern Arbeitslosengeld II zu?«, in Soziale Sicherheit 2012, S. 392 ff.; ders.: »Die Bedeutung des Gleichbehandlungsanspruchs aus Art. 12 i. V. m. Art. 18 EGV für Grundsicherungsleistungen (SGB II und SGB XII)«, in ZESAR 11–12/2006, S. 423 ff.; Kay Hailbronner: »Ansprüche nicht erwerbstätiger Unionsbürger auf gleichen Zugang zu sozialen Leistungen«, in ZFSH/SGB Sozialrecht in Deutschland und Europa, 04/2009, S. 195 ff.
140 EuGH, Slg. 2001, I -6193 Rn. 43 (Grelczyk).
141 Bezirksamt Neukölln von Berlin (Hg.): 2. Roma-Statusbericht. Entwicklung der Zuzüge von EU-Unionsbürgern aus Südosteuropa, April 2012.
142 Von Nell-Breuning/Borchert: »Die Alterssicherung hängt in der Luft«, a. a. O. (Fn. 62)