Vom Unsinn der Debatte über die Kosten des Sozialstaats – und was sich dahinter verbirgt
Steuerhinterziehung ist Staatsverachtung, und deshalb wundert es nicht, dass es ein Steuerhinterzieher war, der den Sozialstaat mit der These frontal anging, er sei für Massenarbeitslosigkeit, fehlendes Wirtschaftswachstum und Staatsverschuldung verantwortlich. Es war Otto Graf Lambsdorff, genannt der »Marktgraf«, der mit seinem Pamphlet Für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit diese Debatte am 9. September 1982 eröffnete. Damals hatten in den USA Ronald Reagan und in Großbritannien Margret Thatcher den neuen Kurs der Wirtschaftspolitik in Richtung Deregulierung der Finanz- und Arbeitsmärkte sowie des Abbaus sozialer Umverteilung vorgemacht. Lambsdorff war in Bonn Bundeswirtschaftsminister und fand das gut. Sein Papier wurde zum Scheidungsbrief der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt; am 17. September 1982 verließ er das Kabinett und wechselte unter großen Turbulenzen, welche die »F.D.P.« – die »Pünktchenpartei« – fast zerrissen, am 4. Oktober 1982 als Wirtschaftsminister in die konservativ-liberale Regierungskoalition unter Helmut Kohl. Als die IG Metall dann 1984 mit einem großen Streik die 35-Stunden-Woche durchsetzen wollte, kam es zur ersten Machtprobe mit den Gewerkschaften. 113 Lambsdorff konnte den Kampf allerdings nicht zu Ende durchfechten, denn er musste am 27. Juni 1984 zurücktreten, nachdem vor dem Bonner Landgericht die Anklage gegen ihn wegen Bestechlichkeit und Steuerhinterziehung zugelassen worden war; rechtskräftig verurteilt wurde er, unter anderem zusammen mit seinem Vorgänger im Amt Hans Friderichs, am Ende wegen Steuerhinterziehung. Bis 1993 blieb er Parteivorsitzender der FDP und war bis 1997 wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. Erst 1998, als Gerhard Schröder seine Kanzlerschaft antrat, schied er aus dem Bundestag aus.
Warum bekam Klaus Förster eigentlich keinen Orden?
Erinnert sich eigentlich noch jemand an Klaus Förster? Wenn heute die Rede davon ist, dass Milliardenvermögen vor dem Fiskus in »Offshore-Steueroasen« in Sicherheit gebracht wurden, Bayern 160 Steuerfahnder zu wenig hat oder der hessische Finanzminister eifrige Steuerfahnder durch den Amtsarzt stilllegen ließ, muss man sich an ihn erinnern. Denn er brachte als Steuerfahnder 1981 den Parteispendenskandal ins Rollen, der als »Flick-Skandal« in die Annalen einging. Bei den Patres des Missionshauses Sankt Augustin der Steyler Missionare war er auf eine Geldwaschanlage gestoßen, und als er diese Spur weiterverfolgte, endete sie schließlich in der Vorstandszentrale des Flick-Konzerns, der zwischen 1969 und 1980 mit mehr als 25 Millionen DM aus schwarzen Kassen Politiker aller in den siebziger Jahren im Bundestag vertretenen Parteien (CDU/CSU, SPD und FDP) »geschmiert« hatte, wie später der Flick-Untersuchungsausschuss des Bundestags herausfand. Im Gegensatz zu seinen Vorgesetzten, die ihn mit aller Macht von seinen Ermittlungen abhalten wollten, nahm Förster offensichtlich seinen Amtseid ernst, den jeder Beamte zu leisten hat: »Ich schwöre, das Grundgesetz und alle in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Gesetze zu wahren und meine Amtspflichten gewissenhaft zu erfüllen.« Wer als Beamter Straftaten begeht, dem drohen besonders hohe Strafen. Aus gutem Grund, denn es geht um die Interessen der Allgemeinheit. Deshalb ist hoheitliches Handeln auch nur Beamten erlaubt. Dazu gehört nicht zuletzt die Ausarbeitung von Gesetzentwürfen, was uns ebenfalls noch beschäftigen wird.
Staatsverachtung: Ehrenwort über Gesetz
Man hat es ja fast schon vergessen, wer damals alles zu den Leuten gehörte, die die Axt an den Sozialstaat legen wollten. Aus den penibel geführten Unterlagen des Konzernbuchhalters Rudolf Diehl gingen unter anderem hohe Zahlungen an die Parteivorsitzenden Franz Josef Strauß (CSU) und Helmut Kohl (CDU) sowie die FDP-Politiker Hans Friderichs, Otto Graf Lambsdorff und Walter Scheel hervor. Unter der Ägide der Wirtschaftsminister Hans Friderichs (früher Vorstandsmitglied der Dresdner Bank sowie Aufsichtsratsmitglied bei Goldman Sachs) und Graf Lambsdorff wurde dem Flick-Konzern für den Verkauf seiner Aktien der Daimler-Benz AG an die Deutsche Bank eine Steuerbefreiung nach Paragraf 6 b des Einkommensteuergesetzes im Wert von 965 Millionen DM zuteil. Ähnliche Abgründe der Parteienfinanzierung wurden schließlich in der »CDU-Schwarzgeldaffäre« (1999–2002) sowie fast zeitgleich im Parteispendenskandal der hessischen CDU sichtbar. Alle Skandale endeten für viele namhafte Politiker, mehrere davon im Ministerrang, mit strafrechtlichen Verurteilungen. Auch Bundeskanzler a. D. Helmut Kohl, der sein »Ehrenwort« gegenüber anonymen Spendern über das Gesetz stellte, musste nach einem »Deal« beim Landgericht Bonn für die Einstellung des Strafverfahrens im März 2001 eine Geldbuße von 300 000 DM zahlen. Er wie seine Kabinettsmitglieder und auch die verurteilten Landesminister haben den Amtseid für Regierungsmitglieder damit gebrochen: »Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.« Das Kürzel BRD bekam nicht nur bei den Kabarettisten eine neue Bedeutung: Bananenrepublik Deutschland. Der Steuerfahnder Förster erhielt übrigens nie einen Orden, weil er doch nur seine Pflicht getan habe …
Man muss sich daran erinnern, dass es diese Riege von Staatsverächtern war, in deren Regie die deutsche Kultur einer engen Verbindung von Gleichheit, Freiheit und Verantwortung, genannt »der Sozialstaat«, unter Dauerfeuer genommen wurde, wenn man besser verstehen will, was eigentlich hinter der scheinbar so plausiblen Debatte über die Kosten des Sozialstaats stand und immer noch steht. Die Öffentlichkeit wurde dabei auf allen Kanälen und in allen Blättern mit der These bombardiert, der Sozialstaat sei ein Risiko für den Wirtschaftsstandort. Wer den Kuchen verteilen wolle, müsse ihn zuerst backen. Und je größer er sei, desto mehr könne verteilt werden. Erst komme es auf die Wirtschaft an, soll mit diesem Bild gesagt werden, und dann kann man sich um das Soziale kümmern. Je mehr die Wirtschaft wächst, desto besser für den Sozialstaat – ist doch logisch! Norbert Walter, der inzwischen verstorbene einstige Chefvolkswirt der Deutschen Bank und Dauergast in deutschen Talkshows, wandelte gar das biblische Bild von den Spatzen, die nicht säen und nicht ernten und vom Herrgott doch ernährt werden, um: Je mehr Hafer man den Brauereipferden gäbe, desto mehr bliebe in den Pferdeäpfeln für die Spatzen übrig. Seit dem Lambsdorff-Papier gilt es als ausgemacht, dass ein teurer Sozialstaat ein Klotz am Bein der Wirtschaft sei und ihre Dynamik bremse.
Der Sozialstaat als Schwungrad auf der Achse von Freiheit und Verantwortung
In Wahrheit, so lehrt uns nicht nur die eigene Geschichte, sondern auch die Wissenschaft, ist es umgekehrt: Das legendäre Wirtschaftswunder kam nicht trotz, sondern wegen der sozialstaatlichen Umverteilung zustande. Deutschland lag nach dem Zweiten Weltkrieg in Trümmern. Zwanzig von fünfzig Millionen Menschen in Westdeutschland waren kriegsversehrt, ausgebombt, vertrieben, Witwen oder Waisen – 40 Prozent der Bevölkerung brauchten Hilfe. Ganze Jahrgänge junger Menschen waren im Krieg ums Leben gekommen und fehlten beim Wiederaufbau ebenso wie bei der Versorgung ihrer Eltern und Kinder. Viele Industrieanlagen, Wohngebäude und wesentliche Teile der Infrastruktur waren zerstört. Es herrschte Massenarbeitslosigkeit. Dann kam die Währungsreform, am 21. Juni 1948. Das Grundgesetz wurde ein knappes Jahr später in Kraft gesetzt und damit die Bundesrepublik Deutschland gegründet, am 23. Mai 1949. Und zehn Jahre später schon hatte das Land wieder den Anschluss an die Weltwirtschaftsspitze gefunden. Das Realeinkommen der durchschnittlichen Arbeiterfamilie überschritt bereits 1950 das Vorkriegsniveau. Zählte das Land noch zu Anfang der fünfziger Jahre über zwei Millionen Arbeitslose, mussten trotz der Zuwanderung Hunderttausender aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und der DDR schon 1955 Gastarbeiter angeworben werden. Der Wohnungsbestand erreichte bereits 1954 wieder den Umfang von 1938; nach Kriegsende hatte man für den Wiederaufbau mit vierzig bis fünfzig Jahren gerechnet.
Es waren zuallererst das hervorragende »Humanvermögen«, die Menschen und ihre vergleichsweise sehr gute Ausbildung, und sodann die soziale Marktwirtschaft, denen dieses Wirtschaftswunder zu verdanken war. Ihr Markenzeichen war die strikte Bindung wirtschaftlicher Freiheit an soziale Verantwortung. Man war sich sehr bewusst, dass die tiefen Ursachen der soeben durchgemachten Menschheitskatastrophe in der Verteilungsfrage gelegen hatten. Die Länderverfassungen von damals, mit denen man die Ursachen von Not und Krieg ein für alle Mal ausrotten wollte, legen davon Zeugnis ab. Sie betonen vor allem die Bedeutung des Gleichheitsprinzips und die Verhinderung wirtschaftlicher Machtkonzentrationen ebenso wie sozialer Ungleichgewichte.
In der Bayerischen Verfassung von 1946 liest sich das zum Beispiel so: » Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesondere der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten (Art. 151 Abs. 1). Innerhalb dieser Zwecke gilt Vertragsfreiheit nach Maßgabe des Gesetzes. Die wirtschaftliche Betätigung des Einzelnen findet ihre Grenze in der Rücksicht auf den Nächsten und auf die sittlichen Forderungen des Gemeinwohls. Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte, insbesonders alle wirtschaftlichen Ausbeutungsverträge sind rechtswidrig und nichtig (Abs. 2). Die menschliche Arbeitskraft ist als wertvollstes wirtschaftliches Gut eines Volkes gegen Ausbeutung geschützt (Art. 167 Abs. 1). Jede ehrliche Arbeit hat den gleichen sittlichen Wert und Anspruch auf angemessenes Entgelt (Art. 168 Abs. 1). Arbeitsloses Einkommen arbeitsfähiger Personen wird nach Maßgabe der Gesetze mit Sondersteuern belegt (Abs. 2). Verbrauchssteuern und Besitzsteuern müssen zueinander in einem angemessenen Verhältnis stehen (Art. 123 Abs. 2). Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zweck, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen Einzelner zu verhindern (Abs. 3). Steigerungen des Bodenwertes, die ohne besonderen Arbeits- oder Kapitalaufwand des Eigentümers entstehen, sind für die Allgemeinheit nutzbar zu machen (Art. 161 Abs. 2). « 114
Worin sich dieses neue Denken für die neue Zeit ausdrückte und wie weit es damals schon über den nationalen Tellerrand hinausreichte, verdeutlicht das Credo von Franz Greiß, dem damaligen Präsidenten der Industrie- und Handelskammer Köln sowie Vorsitzendenden des einflussreichen Bundes katholischer Unternehmer (BKU): » Es gibt keinen einzelnen Vorteil mehr, den einzelne Menschen, einzelne Stände, einzelne Völker oder einzelne Kontinente für sich zum Schaden anderer erzwingen oder erschleichen könnten. Vorteil wird es fortan nur noch geben als Teilhabe am gemeinsamen Vorteil aller! « 115 Dringenden Handlungsbedarf erkannte man bei wachsender Ungleichheit: » Ohne Zweifel führt die marktwirtschaftliche Einkommensbildung zu Einkommensverschiedenheiten, die uns sozial unerwünscht erscheinen « , weshalb Alfred Müller-Armack, der diese Konzeption entscheidend prägte und im Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard Staatssekretär war, sich auch mit seinem Vorschlag durchsetzte, » einen direkten Einkommensausgleich zwischen hohen und niedrigen Einkommen durch eine unmittelbare Einkommensumleitung vorzunehmen « . Tatsächlich hielt er Umverteilung durch steuerliche Belastung der Wohlhabenden sogar für marktkonform: » Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt werden und die einlaufenden Beträge etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen, Wohnungsbauzuschüssen weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktgerechten Eingriffs vor «. 116 Konsens bestand deshalb auch über die nivellierende, sozialpolitische Funktion der Einkommensteuer, » weil darin politisch die beste Garantie für die innere und äußere Freiheit erblickt wird … Die demokratische Gesellschaftsordnung würde sich am Ende selbst aufheben, wenn sie auf das Ziel einer solchen Nivellierung verzichten wollte. « 117
Auch der wichtigste Theoretiker der für die soziale Marktwirtschaft richtungsweisenden »Freiburger Schule«, Walter Eucken, warnte vor der Gefahr, dass das marktwirtschaftliche System zu einer Benachteiligung der Armen führen könnte, und schlug den Ausgleich über die progressive Steuergesetzgebung vor: » Die Ungleichheit der Einkommen führt dahin, dass die Produktion von Luxusprodukten bereits erfolgt, wenn dringende Bedürfnisse von Haushalten mit geringem Einkommen noch Befriedigung verlangen. « 118 Tatsächlich wies der Tarif der Einkommensteuer von 1948 bis 1953, bei aller prinzipiellen Ablehnung eines »Fiskalsozialismus«, 119 den Spitzensteuersatz von sage und schreibe 95 Prozent aus, der hier bereits vorgestellt wurde.
Wissenschaftlich erwiesen: Ungleichheit schadet der Wirtschaft
Die starke Betonung der Verteilungsfrage war somit der Schlüssel für das Wirtschaftswunder. Nicht nur der historische Erfolg gibt dieser These recht, sondern auch die Wissenschaft. Der Ansatz der ordoliberalen Wirtschaftslenker, wie er in die Praxis der sozialen Marktwirtschaft übersetzt wurde, entsprach auch dem Stand der Wirtschaftswissenschaften. In den vierziger Jahren hatte der Norweger Trygve Haavelmo nämlich den Nachweis dafür erbracht, dass die Kraftreserven einer Volkswirtschaft immer im untersten Drittel der Einkommenspyramide stecken und deren Stärkung für Hub und Schub der volkswirtschaftlichen Aggregate Investition, Konsum und Staatsverbrauch entscheidend ist. Seine Einsichten beeinflussten nicht zuletzt auch John Maynard Keynes, den viele für den größten Ökonomen des 20. Jahrhunderts halten. Anders als Keynes, der 1946 im Alter von 62 Jahren starb, lebte Haavelmo lang genug, um 1989 noch den Nobelpreis für Wirtschaft annehmen zu können. Dass Gleichheit wirtschaftliche Dynamik nicht behindert, sondern sie ganz im Gegenteil antreibt, ist auch das Ergebnis von Forschungen, die der Schwede Thorsten Persson und der Italiener Guido Tabellini 1992 in einem vielbeachteten Aufsatz in der führenden Ökonomenzeitschrift American Economic Review publizierten: »Ist Ungleichheit schädlich für Wachstum? Wir denken, ja.« 120
Dass Ungleichheit der Wirtschaft schadet, leuchtet auch unmittelbar ein. Es ist ersichtlich sinnlos, dort Einkommensüberhänge entstehen zu lassen, wo der Bedarf gering ist, und dort, wo der Bedarf hoch ist, zum Beispiel bei jungen Familien, durch Staatszugriff die Einkommen in den Mangelbereich zu drücken. Der Hub und Schub eines so konstruierten Motors kann niemals rundlaufen.
Einen Beweis für die Richtigkeit dieser Schlussfolgerung liefert bereits die deutsche Wirtschaftsgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die kleinen deutschen Ständestaaten und später dann das Kaiserreich hinkten in ihrer Entwicklung unseren Nachbarländern damals deutlich hinterher. Dass aus diesem Liberalisierungsrückstand schließlich ein weltweit beachteter Modernisierungsvorsprung wurde, schlagartig fast, ist nicht zuletzt den Sozialdemokraten als treibender Kraft jener Jahre zu danken. Obwohl die von ihnen vertretene politische Klasse kaum 10 Prozent der Bevölkerung ausmachte, sah das Kaiserreich in den Sozialdemokraten nach dem Gothaer Vereinigungsparteitag 1875 die Hauptbedrohung und antwortete 1878 zunächst repressiv mit den Sozialistengesetzen, um dann jedoch 1881 mit der »Kaiserlichen Botschaft« und der Gründung der Sozialversicherungen 1883 bis 1889 eine rasante Kehrtwendung einzuleiten. Abgerundet wurde das Reformprojekt schließlich 1891 noch durch eine Totalreform der Einkommensteuer mit einem progressiven Tarif. Das war seinerzeit eine gewaltige Lastenumverteilung, denn der Arbeitgeberbeitrag ging bei seiner Einführung vollständig und der steuerfinanzierte Reichszuschuss von rund 40 Prozent der Renten zu größten Teilen zulasten der Unternehmer bzw. der »besitzenden Klasse«. Gegen den massiven Widerstand der herrschenden Stände und der Großbourgeoisie verordneten Reichskanzler Otto von Bismarck und Kaiser Wilhelm I. so dem Lande ein für damalige Verhältnisse gewaltiges Umverteilungsprogramm von oben nach unten. Sie hatten nicht nur begriffen, dass Existenzangst radikal macht, sondern auch, dass die neue Zeit neue Antworten brauchte: Innovation und Gerechtigkeit eben.
Die Maßnahmen erwiesen sich als goldrichtig. Der soziale Friede sorgte für Kalkulationssicherheit, und die breitere Verteilung der Kaufkraft wiederum führte zur Verstetigung der Nachfrage, worauf die einsetzende industrielle Massenproduktion zwingend angewiesen war. Über die steigenden Löhne kam dann ein selbsttragender Wachstumsprozess in Gang. Am Ende der Umverteilung von oben nach unten stand schließlich der politische Emanzipationsprozess von unten nach oben. Freiheit durch Gleichheit durch Brüderlichkeit: eine »Win-win-Situation« für alle. Das war das erste deutsche Wirtschaftswunder. Es wurde vor allem genutzt, um Bildung und Infrastruktur voranzutreiben. Noch heute unterstreichen überall im Lande die Prachtbauten der Schulen, Universitäten und Bahnhöfe deren damaligen Stellenwert. Deutschland wurde weltweit zum Maßstab für Modernität und Erfolg.
Selbstverständlich wird nun der Einwand kommen, der legendäre Erfolg der zwei Wirtschaftswunder sei unter der weltweiten Ordnung der Nationalökonomien zustande gekommen und könne für die heutigen Bedingungen mit ihrem Primat der entfesselten Finanzmärkte keine Geltung beanspruchen. Das mag sein, und sicher richtig ist auch, dass die dafür notwendige Ordnung von Freiheit und Verantwortung in der Anarchie der heutigen Weltfinanzwirtschaft nicht ohne weiteres zu erreichen ist. Der Fehler liegt dann aber nicht in der Verwirklichung von verantwortungsgebundener Freiheit, sondern in deren Abwesenheit. Eine Weltfinanz ohne Regeln und Verantwortung ist genauso unvereinbar mit einer zivilisierten Welt, wie dies die Mafia ist. Die Lektion, was für Verwüstungen eine entfesselte Finanzordnung anrichtet, lernen soeben die Euro-Krisenländer, und nichts spricht dafür, dass uns diese Lektion erspart bleibt. Der Erfolg der beiden deutschen Wirtschaftswunder ist nicht räumlich, sondern inhaltlich zu erklären, weshalb nichts dagegen spricht, dass das Erfolgsrezept nicht nur national, sondern genauso international funktioniert. Die sogenannten Finanzmärkte dienen der Menschheit genauso wenig wie die organisierte Kriminalität. Das ist der Fehler, und deshalb haben die harten Reformen bei ihnen anzusetzen, statt umgekehrt den Sozialstaat abzubauen.
Mit einem Fachbeitrag unter diesem Titel schaltete sich 1982 der letzte seinerzeit noch lebende Gründervater des bundesdeutschen Sozialstaats, der 1890 geborene Oswald von Nell-Breuning, in die Debatte ein und wies nach, dass die These von den Kosten des Sozialstaats ökonomisch wie logisch unhaltbar ist. Denn von Kosten und Aufwand könne man sinnvoll nur sprechen, wenn man auch in der Lage sei, den Nutzen und Ertrag des Sozialstaats zu bilanzieren, der jedoch – Gesundheit, Sicherheit, Bildung, Kultur, Kreativität, Risikobereitschaft und so weiter – nicht quantifizierbar sei: » Wenn aber die Aussage, die Wirtschaft sei für den Menschen da und nicht der Mensch für das Wohlergehen der Wirtschaft, keine nichtssagende Leerformel sein soll, dann bedeutet die Befriedigung des Bedarfs nicht nur der in der Wirtschaft produktiv tätigen aktiven Generation, sondern auch der noch nicht und der nicht mehr Aktiven nicht ›Kosten‹, die vom Ertrag der Wirtschaft abgehen oder ihren Erfolg schmälern, sondern erfüllt genau den Zweck der Wirtschaft … Sinnvollerweise kann die Frage, was unser Sozialstaat ›kostet‹, sich nur darauf beziehen, ob er uns das wert ist, was er uns kostet. Da sowohl die Sozialleistungen als auch ihre ›Kosten‹ nicht nur in Geld und Geldeswert bestehen und messbar sind, lassen sich weder die Aufwendungen (Kosten) noch die Erfolge (Erträge) quantifiziert auf einen Nenner bringen und miteinander vergleichen; eine Nutzen/Kosten-Analyse im ökonomischen Sinne lässt sich nicht erstellen. Der einzige gemeinsame Maßstab, in dem sowohl der Aufwand als auch der Ertrag im Ganzen sich messen und miteinander vergleichen las-sen, ist der ethische Wertmaßstab der Solidarität. Wer diesen Maßstab nicht in sich trägt, für den ist der Sozialstaat und die Frage, was er ›kostet‹, sinnlos. « 121
Des Pudels Kern der Sozialstaatsdebatte, die mit dem Lambsdorff-Papier über uns kam und das Land wie eine Seuche erobert hat, ist also eine scharfe Kehrtwendung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik und der Abschied von den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft. Deren Credo war die Wirtschaft im Dienste der Menschen. Nun sollte es umgekehrt sein. Wirtschaftliche Freiheit ohne Verantwortung wurde zum neuen Credo.
113 Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit Franke untersagte die Zahlung von Lohnersatzleistungen an mittelbar vom Streik betroffene Arbeitnehmer (»Franke-Erlass«), unterlag aber vor Gericht. (Anmerkung: Der Verfasser war damals am Hessischen Landessozialgericht als Berichterstatter beteiligt.)
114 Dazu im Einzelnen Jürgen Borchert: »Warum man attac erfinden müsste …«, in attac (Hg.): Eine andere Welt ist möglich!, Hamburg 2001.
115 Nach Wilfrid Schreiber: »Existenzsicherheit in der industriellen Entwicklung«, in Erik Boettcher (Hg.): Sozialpolitik und Sozialreform, Tübingen 1957, S. 75 ff.(105). Es überrascht deshalb auch nicht, dass es der BKU war, der Kanzler Adenauer dazu bewegen konnte, bei der Rentenreform 1957 das damals revolutionäre Konzept der »Produktivitätsrente« des BKU-Geschäftsführers Wilfrid Schreiber umzusetzen, welches die Alten solidarisch an den Produktivitätsfortschritten teilhaben ließ.
116 Alfred Müller-Armack: Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, Hamburg 1947, S. 109.
117 Heinrich Troeger (Hg.): Diskussionsbeiträge des Arbeitsausschusses für die Große Steuerreform. Ein Bericht an den Finanzausschuss des Bundesrats, Stuttgart 1954, S. 4, 7.
118 Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1959, 6. Aufl. 1990, S. 300.
119 So Wilhelm Röpke: »Die Nationalökonomie des ›New Frontier‹«, in ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 14, Düsseldorf 1963, S. 79 ff. (100).
120 Thorsten Persson und Guido Tabellini: »Is inequality harmful for growth?«, in American Economic Review, 3/1992, S. 600 ff.; aktuell werden diese Einsichten im Zusammenhang der Griechenlandkrise unter dem Stichwort »Multiplikatoreneffekt« wiederentdeckt, siehe Süddeutsche Zeitung, 6. Juni 2013, »IWF gesteht Fehler bei Griechenland-Projekt ein«.
121 Oswald von Nell-Breuning: »Was ›kostet‹ der Sozialstaat?«, in Sozialer Fortschritt (SF) , 2/1982, S. 25–28.