Neunzehntes Kapitel
Den ganzen Tag über ritten die Rabenkrieger scharf, da sie aufgrund von Aebs Verletzungen und der Erschöpfung aller drei Magier verwundbar waren. Denser hatte nach dem Angriff des Dämons frische Narben im Gesicht und am Hals, schien sonst aber nicht weiter beeinträchtigt. Ilkar hatte sich beim Heilen, beim Aufbau der Schilde und bei der Kommunion völlig verausgabt, und Erienne hatte Mühe, sich zu konzentrieren, während die Al-Drechar ihr die Magie des Einen zuführten und sie baten, die Energieausbrüche zu bändigen.
Überall im Süden des Dunklen Kollegs hatten sich die dordovanischen Truppen zurückgezogen, sodass Xetesk ungehindert nach Yron und der TaiGethen-Zelle suchen konnte. Diese Gefahr hatte den Raben gezwungen, weiter nach Süden auszuweichen als beabsichtigt, und im Südwesten sahen sie schließlich mächtige Staubwolken in der Luft – die ebenso beunruhigende wie unverwechselbare Spur einer marschierenden Armee.
Sie vermuteten, die Schwarzen Schwingen vor sich zu haben, doch darum konnten sie sich gegenwärtig nicht kümmern, da sie die Stellungen der verbündeten Kollegien, den Standort der Elfen und vor allem Rebraal und Auum suchten.
Sie verlangten ihren Pferden das Letzte ab und hörten den Schlachtlärm schon, lange bevor sie nahe genug waren, um die Kräfte zu identifizieren, die im Südosten der Stadt in heftige Kämpfe verwickelt waren. Hirad schätzte, dass die Streitkräfte von Dordover und Lystern inzwischen mehr als dreißig Meilen weit aufs Gebiet von Xetesk vorgedrungen und etwa fünf Meilen vor den Mauern des Kollegs auf Widerstand gestoßen waren.
Mehrere Patrouillen, überwiegend lysternische Kavallerie, begegneten ihnen und gaben ihnen wichtige Informationen, doch auf diese Weise wurden auch Gerüchte in Umlauf gesetzt, die nicht unbedingt erfreulich waren. Die meisten Soldaten der Verbündeten hätten nie geglaubt, einmal dem Raben zu begegnen, doch nun hatten sich der wegen Fahnenflucht gesuchte ehemalige Kommandant der lysternischen Streitkräfte und ein Protektor auf die Seite der Rabenkrieger geschlagen.
Zwei Stunden vor der Abenddämmerung ritt der Rabe in ein vorgeschobenes Lager der vereinten Truppen von Lystern und Dordover. Hier waren sie nur noch eine Meile vom Kampfgeschehen entfernt und konnten von einer Anhöhe aus die ganze Front überblicken. Der Unbekannte und Darrick führten den Raben zu einem Beobachtungspunkt hinauf, von dem aus sie das außergewöhnliche Schauspiel eines Krieges zwischen den Kollegien beobachten konnten.
Die Kämpfe konzentrierten sich auf einen Halbkreis von etwa einer Viertelmeile Größe, doch wie man am Rauch und an Lichtern weiter im Osten und Nordosten sehen konnte, wurde auch an anderen Stellen gekämpft.
Unterhalb des Raben griffen die alliierten Kollegien mit Schwert- und Speerträgern an. Hinter beiden Schlachtlinien standen Bogenschützen, die aufeinander und auf die Trauben von offensiven und defensiven Magiern schossen, während die Flanken von Pikenieren und beweglichen Kavallerieeinheiten gesichert wurden.
Sie erfuhren, dass Izack das Kommando führte, die Schlacht lenkte und seine Kavalleristen rotieren ließ, um ihre Kräfte zu schonen. Sie setzten den Flanken der Xeteskianer zu, verwickelten deren Kavallerie in Scharmützel, führten tief hinter den feindlichen Linien Scheinangriffe durch und eilten herbei, wenn es galt, geschwächte Bereiche der eigenen Front zu verstärken.
Der Schlachtenlärm war selbst auf diese Entfernung noch ohrenbetäubend. Hin und wieder übertönten knallende Sprüche die gebrüllten Befehle, die schmerzvollen oder panischen Schreie, das Wiehern der Pferde und das unablässige Klirren von Metall.
Beide Seiten bekamen Verstärkung – kleine Gruppen von Kämpfern, die sich unter fragwürdigem magischem Schutz bewegten. Schilde flackerten unter dem Bombardement, und wenn sie brachen, waren die Schutzbefohlenen hilflos der Mana-Energie ausgesetzt. Überall waren alte Männer, Frauen und Jugendliche damit beschäftigt, Pfeile zu holen, Wasser und Proviant zu verteilen, wo sie konnten, und die Verletzten und Sterbenden vom Schlachtfeld zu tragen.
Rings um den Raben roch es nach Blut, Schweiß und Feuer. Heißer Regen brach aus dem Himmel über Nachschubeinheiten und Verstärkungen herein, Kraftkegel wurden losgelassen, Todeshagel zerfetzte Kavallerieabteilungen. Auf beiden Seiten zeigten aufgewühlte Erde und Steinhaufen, wo Erdhämmer zugeschlagen hatten.
Der Unbekannte wandte sich an Darrick. »Wie siehst du die Lage?« Er musste laut rufen, um den Lärm zu übertönen.
»Xetesk kann sie nicht in der Flanke angreifen.« Darrick deutete nach Westen. »Sie sind an allen Fronten unter Druck. Wir müssen hinunter aufs Schlachtfeld und mit Izack sprechen.«
»Hast du ein paar Vorschläge für ihn?«
Darrick nickte lächelnd, und der Unbekannte sah ihm an, dass er sich gern mitten ins Getümmel gestürzt hätte, ein schnaubendes Pferd unterm Sattel und das blutbefleckte Schwert in der Hand.
»Dort bekommen wir auch die besten Hinweise auf die Positionen der Elfen.«
»Ich kann keine Protektoren sehen«, fügte der Unbekannte hinzu.
»Ja. Ist das nicht interessant?«
»Der Rabe!« Der Unbekannte drehte sich um. »Wir brechen auf.«
Der große Krieger führte sie zu den Pferden zurück. Die Tiere waren fünfzig Schritt von der Beobachtungsposition entfernt zusammen angebunden. Sie wirkten erschöpft und verloren und beäugten die Reiter mit müder Resignation.
»Hirad, Thraun, ihr übernehmt die Flanken«, sagte der Unbekannte, als sie aufstiegen. Der Schlachtlärm klang nur noch gedämpft bis hierher, und sie konnten sich in normaler Lautstärke verständigen. »Die Magier reiten innen, und wenn ihr noch genug Kraft für einen Spruchschild habt, dann wäre dies der richtige Zeitpunkt. Darrick, zu mir ins Zentrum. Ren und Aeb, ihr reitet hinten.«
Der Rabe brach auf, und einige, an denen sie vorbeikamen, stießen Jubelrufe aus. Der Unbekannte führte sie rasch den Hang hinunter und ins Getümmel hinein. Das ungeübte Auge sah dort unten nichts als ein Durcheinander aus Blut, Schlamm, Männern und Stahl. Gleich links von ihnen lösten sich zwei aus dem Tumult – ein Xeteskianer, der im Morast über einen Dordovaner herfiel und Schläge austeilte. Beide warteten auf die richtige Gelegenheit, um den tödlichen Schlag anzubringen. Doch der Xeteskianer war inmitten der Feinde verloren. Er wurde von dordovanischen Händen gepackt, ein halbes Dutzend Mal von Dolchen getroffen und mit dem Gesicht voran fallen gelassen.
Weit draußen an der rechten Flanke sah der Unbekannte einen Mann, der sein Handwerk von dem Besten seines Fachs gelernt hatte. Izack führte einen Angriff in einem Bereich, wo nur noch Verwirrung herrschte. Xeteskianische Sprüche hatten die magischen Schilde der Gegner durchschlagen und die Verstärkungen eliminiert, bevor diese überhaupt die Front erreicht hatten. Die Bogenschützen konnten nicht mehr viel ausrichten, und die wenigen noch lebenden Magier hatten große Mühe, die Kämpfer abzuschirmen.
Als die lysternische Kavallerie herangaloppierte, war Izacks laute Stimme auf dem ganzen Schlachtfeld zu hören. Fußsoldaten lösten sich aus dem Getümmel und brachten sich in Sicherheit, damit die Reiter möglichst viel Bewegungsfreiheit bekamen.
»Eng zusammenbleiben«, brüllte Izack, »enge Formation!«
Die Kavallerie befolgte seine Befehle und wich so gut wie möglich den eigenen Männern aus. Mit einer scharfen Wendung entgingen die Reiter den Pikenieren und Speerträgern und fielen über die xeteskianischen Reihen her, trieben die Gegner zurück und trampelten diejenigen nieder, die nicht weichen wollten. Gegenangriffe wehrten sie mit den Schwertern ab, bis die Feinde aufgerieben waren.
Hinter ihnen formierten sich die verbündeten Kollegien neu und deckten die vorübergehend desorientierten Xeteskianer mit einem Pfeilhagel ein. Izacks Kavallerie zog sich zurück, und dann ging der Kampf, angeleitet durch die Rufe von Hauptleuten und Leutnants, wie zuvor weiter. Izack hatte seinen Auftrag erledigt und ritt zur nächsten Abteilung der lysternischen Kavallerie, der er neue Anweisungen geben wollte. Dann nahm er sein Pferd scharf herum und eilte zur Flanke, um ein weiteres Manöver zu befehligen.
Der Unbekannte führte den Raben mit wehenden Mänteln hinter den Kämpfenden entlang. Ringsumher schlugen Pfeile ein, die jedoch vom harten Schild abprallten, der die Linien der verbündeten Kollegien schützte.
»Izack!«, rief Darrick, als sie sich ihm näherten.
Der Kavalleriekommandant hielt sein Pferd an und grinste breit, als er die Stimme seines ehemaligen Generals erkannte. Er beugte sich vor und gab Darrick die Hand. Der Rabe umringte ihn, einstweilen außer Reichweite von Sprüchen und Pfeilen.
»Bei den guten Göttern, General, es macht mein Herz froh, Euch zu sehen.«
»Ich freue mich auch, obwohl ich mir angenehmere Begleitumstände gewünscht hätte.«
Izack nickte und ließ den Blick rasch über den Raben wandern. Gleichzeitig ließ er das Schlachtfeld nicht aus den Augen.
»Was führt Euch hierher?«, fragte er. »Ich habe gehört, der Rabe sei in der Nähe. Blackthorne hat es uns berichtet. Allerdings dachte ich, Ihr wärt schon wieder in Richtung Süden unterwegs.«
»Das dachten wir auch«, bestätigte Darrick. »Allerdings müssen wir die Elfen finden. Wir glauben, ein TaiGethen hat etwas zurückgeholt, das für sie sehr wichtig ist.«
»Davon habe ich nichts gehört«, sagte Izack. »Die Elfen kämpfen weiter im Osten. Sie sind bei einer dordovanischen Abteilung, die versucht, das Osttor von Xetesk zu erreichen. Es heißt, sie seien unglaublich gute Kämpfer. Besonders die Bemalten.«
»Das könnt Ihr ruhig glauben«, sagte der Unbekannte. »Mann gegen Mann sind sie meiner Ansicht nach so gut wie ein Protektor.«
»Xetesk sieht das ähnlich«, bestätigte Izack. »Die Protektoren sind offenbar entschlossen, die Elfenkrieger bis auf den letzten Mann zu vernichten.«
»Habt Ihr Kontakt mit ihnen?«, fragte Darrick.
»Nur durch berittene Melder. Ich kann keinen Magier für eine Kommunion abziehen.«
Darrick nickte. »Wir müssen zu ihnen durchkommen. Wie ist das Gelände dazwischen?«
»Relativ sicher«, erklärte Izack. »Kommt nicht zu weit nach Westen, dort ist xeteskianische Kavallerie unterwegs.« Er lächelte. »Los doch, sagt mir, welche Fehler ich mache.«
»Keinen«, beruhigte Darrick ihn. »Aber achtet auf die linke Flanke. Stellt da draußen Kavallerie auf. Wir haben eine nach Norden marschierende Armee gesehen. Lasst Euch nicht überraschen.«
»Davon weiß ich schon«, sagte Izack. »Es sind die Schwarzen Schwingen. Ich glaube, sie wollen Xetesk angreifen. Vielleicht helfen sie uns sogar.«
»Freiwillig nicht«, warnte ihn der Unbekannte. »Unterschätzt sie nicht.«
»Noch etwas«, fuhr Darrick fort. »Der xeteskianische Kavalleriekommandant da drüben ist unsicher und erkennt Gefahren zu spät. Wenn Ihr das nächste Mal eine Lücke seht, dann könntet Ihr versuchen, ganz durchzustoßen, aber nehmt die Hälfte Eurer Leute mit.«
Die Lysternier schüttelten sich die Hände.
»Eigentlich sollte ich Euch verhaften«, sagte Izack. »Wie schade, dass ich Euch nicht erkannt habe.«
»Eines Tages«, sagte Darrick, »werde ich zurückkommen und für meine Taten Rechenschaft ablegen.«
»Der Rabe!« Hirad hob die Zügel. »Der Rabe folgt mir!«
Er nahm den Platz des Unbekannten an der Spitze der Truppe ein und galoppierte zum Osttor von Xetesk.
Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, als der Rabe endlich ein vorgeschobenes Lager der Verbündeten an der östlichen Front erreichte. Mit Einbruch der Nacht hatten die Kämpfe aufgehört, und in der erzwungenen Stille hallten die letzten Geräusche der Schlacht umso lauter.
Notgedrungen hatten sich die Rabenkrieger auf ihren erschöpften Pferden nur langsam bewegt. Die patrouillierende xeteskianische Kavallerie und die äußerst misstrauischen dordovanischen Streifen hatten die Rabenkrieger außerdem gezwungen, einen Umweg durch schwieriges Gelände zu machen. Ein freundlicher Soldat hatte ihnen schließlich die Mannschaftszelte des Elfenlagers gezeigt. Zwar hatten sie Blicke auf sich gezogen, die zwischen Ehrfurcht und offener Feindseligkeit schwankten, doch sie hatten ungestört essen können. Die Pferde waren angeleint, abgerieben und gefüttert.
Ilkar übernahm die Führung, als sie ins stille Lager der Elfen marschierten. Die meisten schliefen schon, im Freien unter dem bewölkten Himmel ausgestreckt, während die anderen, die noch wach waren, aussahen wie alle Menschen nach dem ersten Tag auf dem Schlachtfeld: voller Entsetzen, Müdigkeit, Fassungslosigkeit.
Hirad konnte es ihnen nachfühlen. Sie hatten mit jedem Herzschlag um ihr Leben gefürchtet und waren am Ende des Tages zerschlagen, taub vom Lärm, erschöpft und voller Schuldgefühle, weil sie überlebt hatten und ihre Freunde gefallen waren. Und es sollte noch schlimmer kommen. In der Morgendämmerung mussten sie wieder kämpfen, während ihre schmerzenden Muskeln eine Pause verlangten, und die Gefahren wären nicht kleiner als am Vortag. Außerdem hatte keiner dieser Elfen jemals eine solche Zahl von Menschen an einem einzigen Ort versammelt gesehen – Menschen, die darauf aus waren, sich gegenseitig umzubringen. Natürlich waren die Elfen bereit, für ihre Sache zu kämpfen und zu sterben, sie waren gefährliche Gegner und von unerbittlicher Entschlossenheit – und doch waren sie nicht auf eine große Schlacht vorbereitet. Nichts konnte einen darauf vorbereiten.
Rebraal und Auum saßen im Schneidersitz an einem Feuer und sprachen über den vergangenen und den kommenden Tag, nachdem ihre Schnittwunden ausgewaschen und verbunden worden waren. Als der Rabe sich ihnen näherte, verscheuchte Ilkar einige müde Elfen, damit sie sich setzen und reden konnten. Auum schaute auf und machte keinen Hehl aus seiner Missbilligung. Hirad betrachtete er sogar mit offener Verachtung. Der Unbekannte legte Hirad beruhigend eine Hand auf die Schulter und ließ ihn neben Ilkar sitzen, der von Rebraal sichtlich erfreut begrüßt wurde.
Die Unterhaltung begann, Ilkar übersetzte aus der Elfensprache.
»Was führt dich hierher, kleiner Bruder? Wir dachten, du wärst schon längst in der Stadt.«
Ilkar kicherte. »Du weißt genau, warum wir hier sind und nicht in Xetesk. Die TaiGethen haben das Bruchstück der Statue des Yniss geborgen. Deshalb sind wir gekommen, um uns euch anzuschließen. Erienne muss euch begleiten, um die Bindung zu erneuern, und wenn Erienne geht, dann geht der Rabe mit.«
Jetzt genoss er Auums ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Elfenkrieger hob abrupt den Kopf und schien Ilkar mit Blicken förmlich zu durchbohren.
»Falsch«, sagte er. »Wir gehen heute Nacht noch einmal hinein und versuchen, ins Kolleg selbst einzudringen.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ilkar.
»Was verstehst du daran nicht?«, fragte Rebraal. »Wir haben das Bruchstück nicht. Offensichtlich habt ihr es auch nicht, trotz deiner großen Worte über die Fähigkeiten des Raben. Was glaubst du, warum wir noch hier sind?«
»Aeb hatte, einen Tag bevor wir das Kolleg überfallen wollten, Kontakt mit dem Seelenverband. Ich habe dir erklärt, was die Protektoren sind.«
»Wir haben den ganzen Tag gegen sie gekämpft und kaum etwas erreicht«, sagte Rebraal. Rings um das Feuer erhob sich Gemurmel.
»Das wundert mich nicht«, erwiderte Ilkar. »Wichtig ist aber, dass zwei Seelen, die der Verband verloren hat, berichteten, sie seien von TaiGethen getötet worden, die Yron mitgenommen haben – den Mann, der den Daumen hat.«
»Welche Tai?«
»Das weiß ich nicht. Woher auch?«
»Wo ist dies geschehen?« Auum saß jetzt kerzengerade und presste mit besorgtem Gesicht die Hände auf die Oberschenkel.
»Direkt vor dem Westtor des Kollegs, nicht weit vom Künstlerviertel«, sagte Ilkar.
Rebraal und Auum wechselten einen Blick. »Merke«, sagte der TaiGethen. »Ihre Zelle hat sich noch nicht wieder gemeldet. Bist du sicher?«
Ilkar nickte. »Protektoren sind unfähig zu lügen.«
»Dann müssen die Xeteskianer sie eingeholt haben«, sagte Rebraal.
»Das kann nicht sein, sonst würde Aeb es wissen«, widersprach Ilkar. »Sie sind heute am frühen Morgen aus der Stadt geflohen.«
»Sie sind nicht hierher zurückgekehrt«, erklärte Auum.
Ilkar seufzte. »Ich kann es nicht glauben.« Er wandte sich an den Unbekannten. »Wir haben das Objekt schon wieder verloren. Irgendwo zwischen dieser Position hier und dem Kolleg. Die Götter allein wissen, wo es ist.«
»Dann müssen wir es suchen«, sagte der große Krieger. »Frage ihn, wo seine Tai hineingegangen sind. Von dort aus nehmen wir die Verfolgung auf.«
Ilkar übersetzte die Frage. Die Antwort gefiel ihm nicht.
»Sie waren im Südwesten der Stadt. Genau dort, wo die Schwarzen Schwingen vorstoßen.«
»Ist es möglich, dass sie von einer Streife überrumpelt wurden?«, fragte Hirad.
»Es müsste eine große Abteilung gewesen sein, um eine TaiGethen-Zelle aufzuhalten«, sagte Ren.
»Wie gut ist dieser Yron?«, wollte Rebraal, wieder die Elfensprache benutzend, von Auum wissen.
Der TaiGethen schnaubte, als er verstand. »Nicht gut genug.«
»Es spielt sowieso keine Rolle. Es war Yron, der den Daumen aus dem Kolleg gestohlen hat. Vermutlich sitzen sie irgendwo fest, vielleicht sitzen sie in der Falle«, sagte Ilkar. »Bisher wissen wir nur, dass Merkes Zelle mit Yron die Stadt verlassen konnte. Xetesk sucht sie jetzt, und sie haben einen kleinen Vorsprung. Von Süden her kommt eine Armee von Bauern, die von den Hexenjägern der Schwarzen Schwingen aufgestachelt wurden. Irgendwo dazwischen befinden sich diejenigen, die wir erreichen wollen. Wir müssen sie schnell herausholen.«
»Wir schlagen einen Bogen von hier bis zur Küste; uns wird nichts entgehen. Aber zuerst müssen wir ausruhen. Wir brechen noch vor der Morgendämmerung auf.«
»Das könnt ihr nicht tun«, widersprach Ilkar. »Ihr könnt diese Front nicht völlig aufgeben. Xetesk wird sofort wissen, was Ihr tut.«
»Dann können uns vielleicht die Dordovaner, für die wir gekämpft haben, auch mal einen Gefallen tun«, sagte Rebraal. »Oder du und dein Rabe. Was habt ihr bisher denn überhaupt zum Erfolg beigetragen?«
»Wir haben euch hierher gebracht«, sagte Ilkar. »Wir haben die Bedingungen geschaffen, damit Yron den Daumen stehlen und aus dem Kolleg fliehen konnte. Und das ist noch lange nicht alles.«
»Dann hast du sicher eine großartige Idee, die viel besser ist?«, meinte Auum geringschätzig.
»Allerdings«, bestätigte Ilkar. »Was du vorschlägst, dauert zu lange, und Xetesk wird euch verfolgen, weil das Land zu offen ist. Dabei käme nur eine weitere große Schlacht mit Xetesk und den Schwarzen Schwingen heraus, und ihr seid eurem Ziel keinen Schritt näher. Macht es lieber auf die Art des Raben. Vertrau mir, es wird funktionieren.«
»Was hast du vor?« Rebraal sah Ilkar scharf an. »Wir sterben hier wie die Fliegen. Wir müssen schnell sein. Wir verlieren mehr Elfen an die Seuche als im Kampf mit den Protektoren.«
»Seid einfach nur bereit aufzubrechen, wenn wir euch holen. Du und Auums Tai. Und ein Krallenjägerpaar, falls du eins rufen kannst. Ruh dich aus.«
»Was habt ihr, was wir nicht haben?«, höhnte Auum.
»Pferde, Männer, die das Land kennen, und Magier, die fliegen können«, sagte Ilkar kurz angebunden. »Hast du vergleichbare Fähigkeiten?«
»Ilkar …«
»Nein, Rebraal, er muss auf uns hören.« Ilkar stand auf und blickte auf Auum hinab, der aussah, als würde er am liebsten gleich zuschlagen. Im Feuerschein war sein Gesicht vor Wut verzerrt. »Der Rabe tut es für mich und für dich. Für alle Elfen. Wir tun es, weil es richtig ist, und glaube mir, es gibt viele andere Dinge, die wir tun könnten. Beispielsweise könnten wir unser eigenes Land vor der Vernichtung retten.
Aber dies hier tun wir zuerst, weil der Rabe alles für mich tun würde. Genau das bedeutet es nämlich, zum Raben zu gehören, und das ist etwas, das du, Auum, verstehen musst. Also komm wieder auf den Teppich, zolle denen Respekt, die ihn verdient haben, und schlage ein. Mit uns zusammen habt ihr die besten Aussichten, den Daumen zurückzubekommen. Glaube mir.«
»Dein Vertrauen in deine Fähigkeiten ist bemerkenswert«, sagte Auum.
Ilkar beugte sich zu ihm. »Der Grund dafür ist, dass wir die Besten sind. Also schau zu und lerne. Dies hier ist unser Land.«
Er stolzierte davon, die anderen Rabenkrieger standen auf und folgten ihm. Zum Abschied schenkte Hirad Auum ein ausgesprochen freundliches Lächeln und zwinkerte. »Ich hab’s dir doch gesagt.« Natürlich hatte er kein Wort verstanden.
»Jetzt geht es dir gleich besser, was?«, meinte Ren.
»Das war mal nötig.« Ilkar grinste Hirad an. »Du wärst stolz auf mich gewesen.«
»Was hast du denen eigentlich gesagt?«, wollte Hirad wissen.
Ilkar erzählte es ihm, während sie zum Lager der Dordovaner zurückkehrten und das sterbende, verlassene Feuer wieder zum Leben erweckten.
»Und wie genau sieht nun dein Plan aus?« Darrick stocherte in der Glut herum.
»Keiner der Al-Arynaar beherrscht die Schattenschwingen. Das ist im Regenwald ein sinnloser Spruch. Wir dagegen sind alle dazu in der Lage, und das bedeutet, dass wir einen großen Bereich sehr schnell absuchen können. Ich denke keineswegs daran, über Positionen der Xeteskianer oder der Schwarzen Schwingen hinwegzufliegen. Es gibt hier aber viel offenes Gelände, und ich bin sicher, dass wir die Gesuchten dort finden. Wenn wir ein paar Stunden vor der Dämmerung aufbrechen, können wir noch vor Sonnenaufgang hinter Izacks Linien ankommen und sind im Grunde genau dort, wo Yron und Merkes Tai sich befinden müssen.«
»Dann sollten wir jetzt lieber schlafen«, schlug der Unbekannte vor. »Wir alle. Und wenn es sonst noch etwas gibt, um eure Mana-Reserven aufzustocken, dann tut es. Wenn ich mich nicht irre, könnte im Moment keiner von euch Schwingen wirken, die groß genug sind, um eine Maus zu tragen.«
Niemand widersprach ihm, doch Darrick war noch nicht zufrieden.
»Ren, könntest du mitkommen und für mich übersetzen?«
»Klar«, sagte sie. »Was willst du denn?«
»Egal, was wir sagen, die Elfen werden sich aus dem Kampf zurückziehen, und Ilkar hat in Bezug auf die Reaktion der Xeteskianer völlig Recht. Ich will mich mit Auum, Rebraal und dem dordovanischen Kommandanten unterhalten und erklären, wie man einen geordneten Rückzug durchführt. Denn wenn sie es nicht richtig anfangen und wenn nicht genügend Dordovaner einspringen, um die Lücken zu füllen, muss Izack noch gegen eine weitere Armee kämpfen, und ich will meine eigenen Leute nicht derart schutzlos zurücklassen.«
»Immer der General«, sagte Hirad.
Darrick schüttelte den Kopf. »Nein, Hirad. Das hat eher mit Schuldgefühlen zu tun.«