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Siebzehntes Kapitel

Yron wartete und wartete. Er hatte die Fenster seines Zimmers weit geöffnet, um frische Luft hereinzulassen, und schritt unruhig im Zimmer umher. Hin und wieder bediente er sich aus der Obstschale auf dem Beistelltisch oder steckte den Kopf ins kalte Wasser des Waschgeschirrs. Er spielte in Gedanken Wortspiele, kämpfte zum Schein gegen den mannsgroßen Spiegel, polierte unnötigerweise seine Axt und das Halfter. Egal was, solange er nur aufmerksam blieb, nüchtern wurde und nicht einschlief.

Er wartete, bis es still im Kolleg wurde und die letzten Nachzügler in ihren Zimmern verschwanden. Er wartete, während die Diener den Festsaal säuberten, die Tische abräumten und den Boden wischten. Erwartete, bis die Nacht halb vorbei war. Erst dann huschte er aus seinem Zimmer, unter dem groben Reisemantel die neuen Kleider, das gefettete Leder und das schimmernde Axthalfter, und betrat Erys’ Zimmer.

Der Magier lag in tiefem Schlaf flach auf dem Rücken und schnarchte leise. Er lächelte leicht und hatte die Arme auf dem luxuriösen Bett weit ausgebreitet. Yron presste ihm eine Hand auf den Mund und weckte ihn mit einem kräftigen Ruck. Der Magier riss die Augen auf und wollte erschrocken Yrons Hand packen, doch als er den lächelnden Hauptmann sah, entspannte er sich. Yron nahm die Hand weg.

»Keine Angst, ich bin’s«, flüsterte er. »Steht auf.«

»Was ist los?«, zischte Erys. »Es ist mitten in der Nacht.«

»Ich erkläre es Euch, während Ihr Euch anzieht. Wir haben etwas Dringendes zu erledigen, das keinen Aufschub duldet.«

Erys runzelte die Stirn und strich sich mit einer Hand über den Kopf. Er schnaufte schwer. »Soll das ein Witz sein?«

»Nein«, erwiderte Yron scharf und zog Erys die Decke weg. »Steht auf. Und seht zu, dass Ihr Sprüche wirken könnt.«

»Ich will sehen, was ich tun kann. Nach so viel Wein habe ich es noch nie versucht.« Seufzend erhob er sich aus dem Bett und schlufte zum Waschgeschirr, um sich einen Krug Wasser über den Kopf zu kippen. »Was ist denn nun eigentlich los, Hauptmann?«

Yron erzählte es ihm, und bis er sich angezogen hatte, war Erys hellwach und stocknüchtern.

»Ihr seid doch dabei, oder?«, fragte Yron, als er zur Tür ging.

»Ich kann nicht zu einem Völkermord beitragen, ob wissentlich oder unwissentlich«, antwortete Erys.

»Das dachte ich mir. Ich nehme an, Dystran hat den Daumen in seine Gemächer mitgenommen.«

»Hoffentlich nicht. Habt Ihr eine Vorstellung, wie viele Protektoren ihn da oben bewachen?« Erys deutete mit dem Daumen nach oben.

»Macht Euch deshalb keine Sorgen«, antwortete Yron.

»Ich soll mir keine Sorgen machen? Seid Ihr verrückt? Oder seid Ihr mit der Axt erheblich besser, als ich denke?«

»Zeigt mir einfach den Weg.«

Erys schloss einen Moment lang ergeben die Augen, dann führte er Yron durch den stillen Turm. Die Männer gingen am Festsaal und dem Audienzsaal vorbei und wanderten durch abgedunkelte Flure, die an der Basis des Turms rundherum liefen, zum Haupteingang.

Bevor sie ihn erreichten, bog Erys nach links ab, schritt durch einen mit Vorhängen verdeckten Zugang und wandte sich gleich darauf scharf nach rechts. Nun befanden sie sich in einem kleinen, ovalen Vorraum. An den Wänden standen Bänke, darüber hingen Portraits von lange verstorbenen Herren vom Berge. Direkt vor ihnen bewachten reglos und schweigend zwei Protektoren eine mit kostbarem Schnitzwerk verzierte Tür.

»Ich hoffe, Ihr behaltet Recht«, sagte Erys.

»Nur Mut, Junge«, erwiderte Yron.

Er machte einen Schritt und empfand keineswegs die Zuversicht, die er auszustrahlen hoffte. Vor den Protektoren, die ihn feindselig anzustarren schienen, blieb er stehen. In diesem Moment fürchtete, er einen schrecklichen Fehler begangen zu haben.

»Ihr werdet ihm nichts tun«, sagte einer, und dann drehten sich die beiden um und gaben den Weg zur Tür frei.

Yron drehte den Knopf herum und stieß die Tür, die sich in geölten Scharnieren lautlos bewegte, nach innen auf. Er winkte Erys, der offenen Mundes zugeschaut hatte, herein und stieg die Wendeltreppe hinauf. Sie war aus Marmor geschnitten und an die Westseite des Zentralschachts im Turm angebaut worden. Sechs Stockwerke höher endete sie vor Dystrans privaten Gemächern. Am Fuß der Treppe lagen der Eingang zu den Katakomben und Labors sowie der Zugang zu dem Tunnelsystem, das sich durch das ganze Kolleg zog.

»Wie habt Ihr das organisiert?«, fragte Erys.

»Habe ich nicht«, antwortete Yron. »Ich erkläre es Euch später.«

Vorsichtig und so leise wie möglich stieg Yron hinauf und versuchte, nicht daran zu denken, wo er war und was er tat. Sein Herz pochte bis zum Zerspringen in der Brust, seine Hände wurden feucht, und sein Atem ging flach und hektisch. Er zitterte an allen Gliedern und fühlte sich schwach. Dennoch zwang er sich weiterzugehen. Ein Schritt nach dem anderen.

Stockwerk um Stockwerk stiegen sie hinauf, und auf jeder Ebene stand ein Protektor auf dem mit Wandbehängen geschmückten Treppenabsatz und bewachte eine Tür, die zu Schreibstuben, privaten Audienzzimmern oder Gästezimmern führte. Die maskierten Männer schwiegen und rührten sich nicht, sahen ihnen nach, machten aber keine Anstalten, sie aufzuhalten.

»Das ist Selbstmord«, flüsterte Erys.

»Wenn wir es nicht tun, wird es ein Völkermord«, antwortete Yron und war mit seiner schlagfertigen Antwort sehr zufrieden.

Schließlich standen sie vor Dystrans Tür, und jetzt holte es ihn doch noch ein. Er, Hauptmann Yron, wollte in die Privatgemächer des Herrn vom Berge von Xetesk eindringen, des mächtigsten Mannes in Balaia, und ein kostbares Beutestück stehlen. Er schauderte am ganzen Körper, als die beiden Protektoren einen Schritt zur Seite wichen, damit er eintreten konnte.

»Nur den Daumen«, flüsterte er. »Nichts sonst.«

Mitten im offenen Zimmer stand Dystrans Himmelbett. Links befand sich hinter einem Wandschirm eine Waschgelegenheit, rechts waren Kleiderschrank und Garderobe. Am Fußende des Betts lag auf einem Tisch das Beutestück. Yron sah es sofort und streckte einen Arm aus.

»Bleibt hier«, hauchte er. »Haltet die Tür auf.«

Erys nickte zustimmend, und Yron schlich weiter in den Raum hinein. Der dicke Teppich auf dem Steinboden verschluckte seine Schritte. Auf dem Tisch lag, eingerahmt von zwei hohen Kerzenständern, der Daumen des Yniss in einer Schale, die mit einem Seidentuch ausgeschlagen war.

Der Schweiß lief Yron in die Augen. Er wischte ihn weg und trocknete seine Handfläche am Mantel ab. Dann beugte er sich über den Tisch und streckte eine zitternde Hand aus. Er schluckte schwer und nahm den Daumen an sich, der kühl und angenehm in seiner Hand lag. Dankbar atmete er ein, schob das Stück in seine Tasche und drehte sich lächelnd zu Erys um. Als er das Gesicht des Magiers sah, erstarrte er vor Schreck.

Erys blickte rechts an Yron vorbei. Der Hauptmann drehte den Kopf, so weit er konnte, und schielte aus dem Augenwinkel. Die Vorhänge des Himmelbetts bewegten sich. Ein langes, schlankes Bein erschien, dann folgte der restliche Körper, bis eine nackte Frau neben dem Bett stand. Sie machte zwei anmutige Schritte hin zum abgeteilten Bereich, und dann, als spüre sie die Augen der Eindringlinge auf sich ruhen, hielt sie inne und drehte sich mit einer fließenden Bewegung zu ihnen um.

»Oh, verdammt«, keuchte Yron. Blitzschnell setzte er sich in Bewegung.

Instinktiv bedeckte sie mit Händen und Armen ihre Blöße, holte Luft und wollte offenbar um Hilfe schreien. Yrons Schlag traf ihr Kinn, sie taumelte zurück und sackte benommen auf den Boden. Ihr Kopf schlug hart auf den Teppich, sie japste noch einmal vor Schmerzen und blieb reglos liegen.

Hinter den Vorhängen, die sich schon wieder bewegten, war eine benommene Stimme zu hören. Dystrans Kopf erschien. Er sah die Frau auf dem Boden liegen, und er sah Yron, der dicht vor der Frau und sehr nahe bei ihm stand.

»Oh, nein«, sagte Yron.

»Was, zum …«

Wieder schlug Yron zu und traf Dystrans Schläfe. Der Herr vom Berge zog grunzend den Kopf ein, blieb aber bei Bewusstsein.

»Erys, kommt her. Er muss tief schlafen.«

Wieder zog Dystran die Vorhänge zur Seite.

»Wachen!«, konnte er noch brüllen, ehe Yron ihm eine Hand auf den Mund presste.

Erys wirkte den Spruch im Laufen, die Protektoren waren nur wenige Schritte hinter ihm. Eine Berührung des Magiers, und Dystran hörte auf, sich zu wehren, und sackte zusammen. Yron legte ihn sachte hin und wandte sich an die beiden maskierten Krieger, die mit erhobenen Äxten hinter ihm standen.

»Er ist nicht verletzt. Er schläft nur. Bitte.«

»Die Zeit ist knapp«, sagte einer. »Lauft.«

»Und wie«, sagte Yron. »Erys.«

Yron rannte aus dem Zimmer, Erys folgte ihm auf dem Fuße. Sie eilten die Treppen hinunter.

»Erys, in welche Richtung müssen wir gehen, wenn wir unten sind?«

»Dystran hat einen Impuls ausgesandt, das Kolleg erwacht«, sagte Erys.

»Sagt mir nicht, wie schlimm es ist. Sagt mir, wie wir hinauskommen.«

»Durch den Haupteingang, nach rechts zu den langen Räumen, dann weiter zum Westtor.«

Yron nickte. Der Vorschlag klang vernünftig, denn im Künstlerviertel der Stadt konnten sie sich leichter verstecken als an jedem anderen Ort. Er sprang die letzten Stufen hinunter, huschte an den Protektoren im Vorraum vorbei und eilte weiter, folgte der Krümmung des Ganges, riss den Vorhang zur Seite und rannte zum Haupteingang des Turms.

Als er über den Marmorboden eilte, öffneten zwei Magier die Tür von draußen und traten ein. Yron rannte sie über den Haufen, während sie noch unentschlossen zögerten. Einen rammte er hart mit der Schulter und schleuderte ihn gegen die Wand, dem zweiten stieß Erys die ausgestreckte Hand ins Gesicht.

Als sie aus der Tür in die dunkle Nacht hinausstürmten, waren überall auf dem Gelände des Kollegs Fackeln und Laternen von Leuten zu sehen, die zum Turm gerannt kamen. Sie hielten sich rechts und eilten am Turm entlang. Erys zerrte Yron noch einmal nach rechts, und sie liefen am ersten langen Raum vorbei. Erys hatte jetzt die Führung übernommen. Hinter einem Vortragssaal bogen sie erneut ab, huschten an der Küche vorbei in ein Gewirr schmaler Durchgänge hinter den Mannschaftsunterkünften und Ställen. Unter einer Steintreppe, die zu einem Heuboden hinaufführte, blieben sie stehen, um Luft zu schnappen.

Ringsum waren in der Dunkelheit die Rufe der Verfolger zu hören. Befehlsgewohnte Stimmen teilten Suchtrupps ein, in der Nähe wurden Türen aufgerissen, Füße eilten über Treppen und die Pflastersteine.

»Man wird uns das Tor nicht öffnen«, sagte Yron. »Habt Ihr Vorschläge?«

»Die Pforte am Westtor«, keuchte Erys. »Sie ist klein genug. Mit einem eng begrenzten Kraftkegel kann ich sie wahrscheinlich knacken.«

»Wahrscheinlich?«

»Ganz sicher«, erklärte Erys. »Vielleicht bricht sie nicht sofort, aber ein Tritt müsste ihr den Rest geben.«

»Hoffentlich klappt das auch«, meinte Yron.

»Jetzt seid Ihr an der Reihe, mir zu vertrauen.«

Yron wartete, während Erys sich konzentrierte und im Geist die Form eines Kraftkegels bildete. Hinter den geschlossenen Lidern zuckten seine Augen, die Hände spielten mit dem Mana, das Yron nicht sehen konnte.

Der Hauptmann empfand große Ehrfurcht vor Magiern. Sie waren mit einer Wahrnehmung gesegnet, die er sich nicht einmal vorzustellen vermochte, und sie besaßen Fähigkeiten, die er kaum ermessen konnte. Erys öffnete die Augen.

»Los jetzt.« Seine Stimme klang abwesend, während er voll konzentriert war.

Yron übernahm die Führung und schritt ruhig durch den Gang, während er sich bemühte, möglichst im tiefsten Schatten zu bleiben. Zwanzig Schritte vor ihnen lief ein Trupp Soldaten quer über den Weg. Vorsichtig näherte Yron sich der Kreuzung. Dahinter lag ein weiterer kurzer Gang, daran schloss sich die freie Fläche vor dem Westtor an, die möglicherweise voller Soldaten und Magier war. Es gab nur einen Weg, es herauszufinden. Er lauschte an der Kreuzung. In der unmittelbaren Umgebung war alles ruhig. Er sprach ein kurzes Gebet und eilte über den Platz, Erys folgte ihm auf dem Fuße. Dabei lauschte er ständig, ob er den Ruf hörte, der ihm sagte, dass man sie entdeckt hatte, doch es geschah nichts.

Er schöpfte neue Hoffnung, obwohl er wusste, wie gefährlich ihre Lage war. Am Ende des Durchgangs sah er flackerndes Licht, dort waren auch wieder Stimmen zu hören. Er schlich bis zur Ecke. Links und rechts erhoben sich jetzt die Wände des Mana-Bades und der Krankenstation. Kurz bevor sie das Ende erreichten, kam eine große, maskierte Gestalt um die Ecke. Yrons Herz sank, und er zog das Schwert.

»Bleibt hinter mir, Erys«, sagte er.

Axt und Schwert kampfbereit erhoben, marschierte der Protektor auf sie zu. Direkt vor Yron blieb er stehen, betrachtete ihn kurz und ging weiter.

»Jetzt oder nie«, sagte Erys, als Yron erleichtert seufzte.

Die Pforte jenseits des Aufmarschplatzes der xeteskianischen Kavallerie war etwa vierzig Schritte entfernt. Nur wenige Soldaten waren hier unterwegs, und alle hatten es eilig, sich den Suchtrupps anzuschließen.

»Wenn Ihr lauft, dann bleibt in Bewegung, Hauptmann. Ich muss kurz stehen bleiben, um den Spruch zu wirken, dann folge ich Euch sofort.«

Yron nickte. Er wollte Erys nicht allein lassen, doch es gab keine andere Möglichkeit. »Lasst Euch nicht erwischen«, sagte er. »Bereit? Also los.«

Die beiden Männer rannten auf den Hof und hatten bereits zehn Schritte zurückgelegt, als die ersten Rufe ertönten. Von beiden Seiten kamen Soldaten, um ihnen den Weg abzuschneiden. Yron lief schneller. Vor seinen Füßen prallten Armbrustbolzen auf den Boden. Er hörte, wie Erys schlitternd stehen blieb.

»Viel Glück«, keuchte er und wich aus, damit Erys freie Sicht auf die Pforte hatte. Dann rannte er weiter.

Der Hof war hell vom Schein der Fackeln, überall riefen Leute, er solle stehen bleiben. Hinter sich hörte er das Befehlswort, das Erys sprach, er spürte den Spruch wie einen Schatten an sich vorbeirauschen und sah, wie die Pforte nachgab. Balken krachten und brachen. Er sah sich über die Schulter um. Der Magier setzte sich wieder in Bewegung und folgte ihm.

Von links und rechts kamen seine ehemaligen Gefährten, riefen Warnungen und drängten ihn, sich zu ergeben. Sie waren ausgeruht, größtenteils jünger und holten rasch auf. Wenn er am Tor anhalten musste, dann würden sie ihn schnappen. Beinahe konnte er schon die Schmerzen spüren, die man ihm zufügen würde. In vollem Lauf überwand er die letzten paar Schritte und warf sich gegen die vom Spruch geschwächte, mit Eisenbändern verstärkte Pforte.

Als er gegen das Holz prallte, dachte er zuerst, es würde nicht nachgeben, doch dann splitterten die letzten Balken, die Tür war zerstört, und er stürzte nach draußen auf die Straßen von Xetesk. Mit einem stechenden Schmerz in der Schulter richtete er sich mühsam wieder auf und riskierte einen Blick zurück.

»Nun macht schon, Erys!«, rief er.

Der Magier rannte aus Leibeskräften und mit gesenktem Kopf und schien, durch den Torbogen gesehen, der Freiheit ganz nahe zu sein. Dann aber stürmte von der Seite ein Soldat herbei, schwang sein Schwert und traf Erys’ Schulter. Yron sah das Blut spritzen, und dann schlug Erys schwer auf das Pflaster. Ein Pfeil, der dicht an seinem Kopf vorbeizischte, brachte Yron zur Besinnung. Er drehte sich um und verschwand, pausenlos fluchend, im Gewirr der Straßen, Gassen und Durchgänge des Künstlerviertels von Xetesk.

 

Merke und ihre Tai waren tief nach Xetesk eingedrungen. Ihre eigene und sieben weitere TaiGethen-Zellen durchkämmten in der Nacht die Stadt, suchten nach Informationen und nach Schwächen, aber vor allem nach einem Weg, um ins Dunkle Kolleg selbst einzudringen. Trotz aller Soldaten und Magier, die gegen die anderen Kollegien ins Feld zogen, trotz der Mauern, der Protektoren und der Wachen, war es den TaiGethen mühelos gelungen, in die Stadt zu gelangen. Sie waren einfach an vier Stellen über die Mauern geklettert und hatten sich im Schutze der Nacht versteckt.

Drei Zellen durchkämmten die Wohnbezirke, zwei weitere waren auf den Märkten unterwegs, und drei, zu denen auch Auums Zelle gehörte, beobachteten das Kolleg. Ausnahmsweise befand er sich jedoch nicht am richtigen Ort. Merke, Inell und Vaart wurden dagegen an einem Tor des Kollegs Zeugen eines außerordentlichen Ereignisses.

Direkt vor ihnen hatte sich ein Nebeneingang nach außen gewölbt. Wenige Herzschläge später war ein Mann durchgebrochen, hatte sich überschlagen, sich wieder aufgerappelt und sich rennend vom Kolleg entfernt. Keine zwanzig Schritte vor den Elfen war er in eine Gasse gelaufen. Auf die Verfolger mussten sie nicht lange warten – Männer mit Schwertern und maskierte Protektoren, die sich in Gruppen von dreien, vieren und fünfen aufteilten und in den tiefen Schatten der Lagerhäuser und der stinkenden Metallschmelzen verschwanden. Einige rannten direkt an den Elfen vorbei, andere bogen in die Gasse ein, in der der Flüchtige verschwunden war.

Merke warf einen Blick zu ihren Tai. Vaart zuckte mit den Achseln.

»Der fliehende Mann ist eher ein Verbündeter als ein Feind.«

»Das soll uns für den Augenblick als Begründung ausreichen«, erwiderte Merke.

Lautlos wie Gespenster setzten sich die Tai in Bewegung, nahmen ihre Bogen vom Rücken, öffneten Jaqrui-Beutel und Schwertscheiden. Merke führte, Inell und Vaart folgten ihr. So tauchten sie aus der Gasse auf, in der sie sich versteckt hatten, und liefen an der Vorderfront und der seitlichen Mauer eines Lagerhauses entlang.

Die kahle Wand des nächsten Gebäudes war höchstens fünfzehn Fuß entfernt und erhob sich mehr als dreißig Fuß hoch bis zum schrägen, mit Ziegeln gedeckten Dach. Hier fühlten sich die TaiGethen eingesperrt, wie es im Regenwald niemals geschehen konnte. Die Gerüche der Stadt und die öden Bauten gehörten zu einem Ort, an dem nach Merkes Ansicht kein vernünftiger Mensch leben wollte. Doch die Xeteskianer lebten hier, und hier sollten sie auch sterben.

Merke gab flüsternde Anweisungen und hielt zwischen ihren beiden Bogenschützen Schwert und Jaqrui bereit. Voraus sah sie vier Männer in eine Gasse eilen. Sie bogen nach links ab und verschwanden. Als Rufe und Schreie ertönten, beschleunigte sie und folgte den Männern um die Ecke. Es war eine Sackgasse, an deren Ende ein Mann an einer hohen Steinmauer stand.

Aufrecht wie ein Krieger stellte er sich den vier Gegnern und hob die Axt, als sie sich näherten. Zwei trugen Masken, einer war unbewaffnet, der Vierte hatte eine Armbrust. Sie redeten auf den Mann ein, der den Kopf schüttelte.

»Links und rechts«, flüsterte sie.

Pfeile flogen und durchbohrten die Hälse der Maskierten, die lautlos zu Boden gingen. Ihr Jaqrui sauste durch die Luft, das schrille Pfeifen ließ einige Vögel erschrocken auffliegen. Der unbewaffnete Mann, ein Magier, drehte sich im letzten Augenblick um und sah den Wurfstern, der sich in seinen Nasenrücken grub. Kreischend ging er zu Boden.

Der Gejagte ergriff die Gelegenheit und sprang. Ein Arm hing gelähmt herab, doch mit dem zweiten wusste er seine Streitaxt gut zu führen. Der Armbrustschütze geriet in Panik und traf den Schenkel des Mannes, der dennoch weiter angriff und dem Schützen mit der Axt das Gesicht zerschmetterte. Mit gespaltenem Schädel prallte der Armbrustschütze gegen eine Wand und rutschte tot hinab.

Der Axtkämpfer beobachtete abschätzend die Tai, während Merke ein wenig verwirrt seine Reaktion zu beurteilen versuchte. Er schien nicht erleichtert über seine Rettung, sondern zeigte nur eine Art müder Resignation. Er bückte sich, wischte die Klinge sauber, steckte die Waffe in ein buntes, unpraktisches Halfter und hob die beiden leeren Hände.

Merke ging ihm entgegen, ihre Tai hatten die Bogen bereits wieder gespannt.

»Bitte«, sagte er in recht gutem Elfisch, »ich habe, was ihr sucht. Lasst mich euch helfen.«

»Dann werden wir es dir abnehmen«, sagte Merke. »Gib mir den Daumen. Kein Fremder darf ein Bruchstück von Yniss bei sich tragen. Du kannst uns nicht helfen.«

Der Mann nickte, wühlte in der Tasche und zog das Bruchstück der Statue heraus. Vaart und Inell sanken sofort im Gebet auf die Knie, während der Fremde ihr das Stück voller Verehrung überreichte. Merke nahm es, küsste es und sprach ein Dankgebet, weil es ihnen zurückgegeben worden war.

»Es gehört wieder uns«, sagte sie. »Die Harmonie wird wiederhergestellt werden.«

Sie drehte sich um und bedeutete ihren Tai, sich zu erheben. Vaart sah sie an und nickte leicht. Sie wandte sich wieder an den Fremden.

»Du wirst hier gejagt«, sagte sie zu ihm.

»Ja«, erwiderte er. »Ich bin …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Unbeliebt.«

Merke lächelte leicht. »Du hast uns einen großen Dienst erwiesen. Wir werden dich hier herausbringen.«

»Danke«, sagte er.

Sie zuckte mit den Achseln. »Auum wird den Grund wissen wollen. Folge mir. Werde nicht müde. Wir werden nicht warten.«