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Spätestens hier muß nun, um unangebrachte Spekulationen zu vermeiden, falsche Hoffnungen früh genug zu zerstören, der männliche Haupthandlungsträger der ersten Abteilung vorgestellt werden. Manche – nicht nur Frau Ilse Kremer –, und bisher fast alle ohne Ergebnis, haben sich schon Gedanken darüber gemacht, wieso dieser Mensch, ein Sowjetmensch mit dem Namen Boris Lvović Koltowski, in die günstige Lage kam, im Jahr 1943 in einer deutschen Kranzbinderei arbeiten zu dürfen. Da Leni nicht einmal, wenn es um Boris geht, sehr gesprächig wird, aber hin und wieder relativ mitteilsam, war sie – nach dreijährigem Drängen durch Lotte, Margret und Marja gemeinsam – bereit, zwei Personen zu nennen, die über Boris Lvović Auskunft geben könnten. Die erste Person hat Boris nur flüchtig gekannt, aber intensiv in sein Schicksal eingegriffen. Sie hat ihn zum Günstling des Schicksals gemacht, indem sie mit Macht und Konsequenz, notfalls sogar zu Opfern bereit, in sein Schicksal eingriff. Es ist eine enorm hochgestellte Persönlichkeit mit industriellem Hintergrund, die keinesfalls, aber auch um keinen Preis genannt werden möchte. Der Verf. kann sich nicht die geringste Indiskretion erlauben, sie würde ihn einfach zu teuer zu stehen kommen, und da er sie – die Diskretion – außerdem noch Leni fest zugesagt hat, mündlich natürlich, möchte er Gentleman bleiben und seine Zusage halten. Leider ist diese Persönlichkeit erst spät, zu spät, auf Lenis Spur gekommen, erst im Jahre 1952, weil er in diesem Jahr erst erfuhr, daß Boris ein |201|doppelter Günstling des Schicksals war: nicht nur in Pelzers Kranzbinderei durfte er arbeiten, er war es auch, auf den Leni gewartet zu haben schien. Boris ist fast jedem möglichen Verdacht ausgesetzt gewesen: er soll ein von den Deutschen eingeschleuster Spitzel gewesen sein, auf Pelzer und seine gemischte Belegschaft angesetzt, außerdem soll er natürlich ein sowjetischer Spitzel gewesen sein. Angesetzt worauf: auf die Geheimnisse deutscher Kranzbinderei im Kriege oder um über die gemischte Moral deutscher Arbeiter zu berichten? Zutreffend ist, daß er lediglich ein Günstling des Schicksals war. Weiter – nichts. Er war, als er Ende 1943 die Szene betrat, wahrscheinlich – wir sind hier auf Schätzungen angewiesen – zwischen 1,76 und 1,78 m groß, mager, blond, wog mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit höchstens 54 Kilogramm, war Träger einer Nickelbrille der Roten Armee. Er war, als er in Lenis Leben trat, 23 Jahre alt, sprach Deutsch fließend, aber mit baltischem Akzent, Russisch wie ein Russe. Er hatte Deutschland 1941 noch friedlich betreten und kehrte eineinhalb Jahre später als sowjetischer Kriegsgefangener in dieses merkwürdige (manchen geheimnisvolle und unheimliche) Land zurück. Er war der Sohn eines zum Angestellten der sowjetischen Handelsmission in Berlin avancierten russischen Arbeiters, hatte einige Gedichte von Trakl im Kopf, sogar einige von Hölderlin, deutsch versteht sich, und war als diplomierter Straßenbauingenieur Pionierleutnant gewesen. Es müssen hier noch verschiedene Gunstvorschüsse geklärt werden, an denen der Verf. unschuldig ist. Wer hat schon einen Diplomaten zum Vater und eine hochgestellte Persönlichkeit aus der Rüstungsindustrie als Gunsterweiser? Und wieso ist kein Deutscher Haupthandlungsträger? Nicht Erhard, nicht Heinrich, nicht Alois, nicht der alte G., nicht der alte H., nicht der junge H., nicht einmal der bemerkenswerte Pelzer und nicht |202|der äußerst liebenswürdige Scholsdorff, der bis an sein Lebensende unglücklich darüber sein wird, daß ein Mensch ins Gefängnis mußte, sogar in Lebensgefahr geriet, nur weil er, Scholsdorff, ein so fanatischer Slawist war und es nicht ertragen konnte, einen fiktiven Lermontov in Dänemark beim fiktiven Bunkerbau beschäftigt auf einer Liste zu lassen? Muß – so fragt sich Scholsdorff – ein Mensch, auch nur einer und dazu ein so sympathischer wie der alte G., deshalb fast dran glauben, weil ein fiktiver Raskolnikov fiktive Zementsäcke schleppt und in einer fiktiven Kantine fiktive Graupensuppe schlürft?
Nun: Leni ist schuld. Sie hat es so gewollt, daß hier kein deutscher Held der Held ist. Diese Tatsache muß – wie so vieles von Leni – einfach hingenommen werden. Im übrigen war dieser Boris ein ganz ordentlicher Mensch, sogar mit angemessener Bildung, sogar Schulbildung. Er war immerhin diplomierter Straßenbauingenieur, und wenn er auch kein Wort Latein gelernt hatte, kannte er doch zwei lateinische Worte sehr gut: »De profundis«, da er seinen Trakl so gut kannte. Wenn auch seine Schulbildung nicht im entferntesten mit etwas so Kostbarem wie dem Abitur verglichen werden kann, so kann doch objektiverweise gesagt werden, daß sie fast eine Art Abitur hätte sein können. Nimmt man die verbürgte Tatsache hin, daß er als junger Mensch sogar Hegel auf deutsch gelesen hatte (er war nicht von Hegel auf Hölderlin, von Hölderlin auf Hegel gekommen), so werden auch bildungsanspruchsvolle Leser vielleicht geneigt sein zuzugeben, daß er nicht allzuweit unter Leni stand, jedenfalls als Liebhaber ihrer würdig und – wie sich herausstellen wird – ihrer wert.
Bis zum letzten Augenblick war er selbst völlig verwirrt über die ihm zuteil gewordene Gunst, wie wir aus den Aussagen seines früheren Lagergenossen Pjotr Petrovič |203|Bogakov glaubwürdig erfahren haben. Bogakov, jetzt sechsundsechzig, von Arthritis heimgesucht, mit so stark gekrümmten Fingern, daß er meistens gefüttert werden, daß ihm sogar seine gelegentliche Zigarette gehalten und zum Munde geführt werden muß, hat es vorgezogen, nach dem Krieg nicht in die Sowjetunion zurückzukehren. Er gesteht offen, daß er »sicher tausendmal bereut hat und sicher tausendmal die Reue bereut hat«. Immer wieder auftauchende Meldungen über das Schicksal heimgekehrter ehemaliger Kriegsgefangener machten ihn mißtrauisch, er verdingte sich als Wachmann bei den Amerikanern, wurde ein Opfer des McCarthyismus, fand bei den Engländern Unterschlupf, wo er in einer blau gefärbten englischen Armeeuniform wiederum als Wachmann Dienst tat. Er ist, obwohl er mehrmals um die deutsche Staatsangehörigkeit ersucht hat, staatenlos geblieben. Sein Zimmer in einem Heim mit kirchlich karitativem Hintergrund teilt er mit einem riesengroßen ukrainischen Volksschullehrer namens Belenko, der, bärtig und schnurrbärtig, nach dem Tod seiner Frau in eine hin und wieder von Schluchzen unterbrochene Dauer-Trauer verfallen ist, seine Zeit zwischen Kirche und Friedhof verbringt und auf der ständigen Suche nach einem Nahrungsmittel, das er seit seinem Aufenthalt in Deutschland, also seit sechsundzwanzig Jahren, endlich als »billige volkstümliche Nahrung, nicht als Delikatesse« finden möchte: Salzgurken. Bogakovs zweiter Zimmergenosse ist ein gewisser Kitkin, Leningrader, hinfällig und nach eigener Aussage »heimwehkrank«: ein magerer, schweigsamer Mensch, »der«, wiederum nach eigener Aussage, »das Heimweh einfach nicht lassen kann«. Hin und wieder flammen unter den drei alten Männern alte Streitigkeiten auf, sagt Belenko zu Bogakov, »Du Gottloser, du«, jener zu diesem »Faschist«, sagt Kitkin zu beiden »Schwätzer«, wird selbst von Belenko »Altliberaler«, |204|von Bogakov »Reaktionär« genannt. Da Belenko erst seit dem Tod seiner Frau, seit sechs Monaten, das Zimmer mit den beiden teilt, gilt er als »Neuer«. Bogakov war nicht bereit, in Gegenwart der beiden Zimmergenossen über Boris und seine Lagerzeit zu sprechen, es mußte ein Zeitpunkt abgewartet werden, an dem Belenko auf dem Friedhof, in der Kirche oder »auf Gurkensuche« und Kitkin spazieren- und natürlich »um Zigaretten« ging. Bogakov spricht Deutsch fließend und bis auf eine strittige und häufige Verwendung des Wortes »bekömmlich« unmißverständlich. Da seine Hände durch »dieses verfluchte jahrzehntelange Herumstehen in der Nacht, und bei jeglicher Kälte, und nachher sogar mit einer Flinte über der Schulter« wirklich sehr verkrümmt sind, verbrachten der Verf. und B. erst einige Zeit damit, über eine Verbesserung von B.s Rauchmöglichkeiten zu spekulieren. »Daß ich beim Anstecken abhängig bin, mag ja noch bekömmlich sein, aber bei jedem Zug, nein – und ich rauch ja nun mal gern meine fünf, sechs, und wenn ich sie habe, auch zehn am Tage.« Schließlich kam der Verf. (der sich hier ausnahmsweise in den Vordergrund drängen muß) auf die Idee, bei der Flurschwester um einen jener Ständer zu bitten, an denen Flaschen mit Infusionsflüssigkeiten aufgehängt werden; unter Zuhilfenahme eines Stückes Draht und dreier Wäscheklammern wurde in Zusammenarbeit mit der (übrigens reizenden) Flurschwester eine Konstruktion gefunden, die Bogakov erfreut als »bekömmlichen Rauchgalgen« bezeichnete; mit zwei Wäscheklammern wurde der Draht schlaufenförmig in den Galgen gehängt, die dritte Wäscheklammer in Bogakovs Mundhöhle befestigt, in letztere eine Zigarettenspitze eingeklemmt, an der Bogakov nun nur noch zu saugen brauchte, wenn der »faschistische Gurkenfresser oder der heimwehkranke Kerl mit der GPU-Visage« ihm die Zigarette entzündet und in die Spitze gesteckt hatten. |205|Daß der Verf. auf Grund der Konstruktion des »bekömmlichen Rauchgalgens« bei B. gewisse Sympathien erworben hatte und damit dessen Gesprächigkeit förderte, läßt sich nicht leugnen, so wenig wie die Tatsache, daß er dessen bescheidenes Taschengeld von 25 Mark monatlich durch Zigarettengeschenke aufbesserte, nicht nur – wie er an Eides Statt versichert – aus egoistischen Gründen. Nun zu Bogakovs statement, das hin und wieder durch asthmatische Atempausen und durch Rauchen unterbrochen wurde, hier aber pausenlos, lückenlos in protokollarischer Form wiedergegeben wird.
»Absolut bekömmlich war unsere Lage natürlich nicht! Relativ natürlich bekömmlich, ja. Was Boris Koltowski betrifft, so war der völlig, aber auch völlig ahnungslos und fand es schon einen phantastischen Glückszufall, daß er überhaupt in unser Lager gekommen war. Daß jemand dahintersteckte, muß er geahnt haben, aber erfahren, wers war, hat er erst später; sich denken können hätte ers. Während wir unter allerstrengster Bewachung gerade noch für würdig befunden wurden, brennende Häuser einzureißen oder zu löschen, Bombenschäden in Straßen und an Eisenbahnschienen zu reparieren – und wers riskierte, auch nur einen Nagel, ja, nur einen einfachen Nagel, und ein Nagel kann für einen Gefangenen eine Kostbarkeit sein, einzustecken, der konnte, wenn er geschnappt wurde, und er wurde geschnappt, getrost sein Leben als beendet betrachten –, wir also machten das, und dieser ahnungslose Knabe wurde jeden Morgen von einem gutmütigen deutschen Wachsoldaten abgeholt, der ihn in diese höchst bekömmliche Gärtnerei brachte. Dort verbrachte er bei leichter Arbeit die Tage, später sogar halbe Nächte, und er hatte sogar – das hab nur ich gewußt, und ich hab, als ichs erfuhr, um den bekömmlichen Kopf des Jungen gebangt wie um den Kopf meines eigenen Sohnes – ein Mädchen, eine Geliebte! Wenn es uns |206|nicht mißtrauisch machte, machte es uns neidisch, und beides ist, wenn auch nicht bekömmlich, so doch reichlich unter Gefangenen anzutreffen. In Witebsk, wo ich nach der Revolution auf die Schule ging, hatten wir nen Schulkameraden, der wurde morgens mit dem Pferdewagen, also regelrecht mit dem Taxi, zur Schule gebracht – so kam uns Boris vor. Später, als er Brot, sogar Butter, manchmal Zeitungen, immer aber Meldungen über die Kriegslage mitbrachte – und sogar sensationell solide Kleidungsstücke, wie sie nur ein Kapitalist getragen haben kann –, besserte sich seine Situation ein wenig, aber bekömmlich wurde sie noch nicht, weil Viktor Genrichovič, der sich bei uns zum Kommissar aufgeschwungen hatte, nicht glauben wollte, daß es sich bei Boris’ vielen Bekömmlichkeiten um einen jener von Bourgeois genannten Zufälle handelte, die – so Viktor Genrichovič – der geschichtlichen Logik widersprachen. Das Schreckliche daran war, daß er letzten Endes herausbekam, daß er recht hatte. Wie ers rausbekommen hat, das wissen sämtliche Himmel nicht. Jedenfalls nach sieben Monaten wußte ers: Boris hatte in Berlin noch 1941 in der Wohnung seines Vaters dessen Freund, den Herrn (hier fiel jener Name, den der Verf. nicht zu publizieren sich verpflichtet hat), kennengelernt. Boris’ Vater nun wurde nach Kriegsausbruch zum Nachrichtendienst versetzt, war einer der Kontaktmänner für sowjetische Spione in Deutschland und benutzte einen seiner zahlreichen Drähte und Briefkästen, um den Herrn von der Gefangenschaft seines Sohnes zu benachrichtigen und ihn um Hilfe zu bitten. Zeitgemäß interpretiert: er mißbrauchte sein Amt, um landesverräterische Beziehungen zu einem deutschen Großkapitalisten von der schlimmsten Sorte aufzunehmen, um für seinen Sohn Bekömmlichkeiten herauszuschlagen. Nun fragen Sie mich nicht, wie Viktor Genrichovič das herausbekommen hat! Wahrscheinlich |207|hatten die damals schon Nachrichtensatelliten, die Schweine. Was aber auch rauskam und Boris nie erfahren hat: daß sein Vater deswegen geschnappt, verschleppt und mit ihm Krrrkrrr – gemacht wurde. Hatte Viktor Genrichovič also recht oder nicht, als er argwöhnte, es gebe nur die Logik der Geschichte und nicht den bürgerlichen Zufall, den mein frommer Freund und Gurkenfresser Belenko natürlich Fügung nennen würde? Für Boris’ Vater endete die Sache also höchst unbekömmlich, für Boris nicht, denn nun witterte Viktor Genrichovič mehr, als dahinter war: waren diese phantastischen Kleidungsstücke etwa direkt aus der Hand jenes Herrn, von dem sogar bekannt war, daß er gegen den Krieg mit der Sowjetunion war, der für ein kräftiges, ewiges, unverbrüchliches Bündnis zwischen Hitler und der Sowjetunion war und es sich sogar hatte leisten können, Boris, seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester Lydia in Berlin an den Zug zu begleiten, alle herzlich zu umarmen, und Boris’ Vater zum Abschied die Duzbrüderschaft anbot? Hatte Boris direkte Kontakte mit diesem Menschen, wenn er in diese komische Gärtnerei ging, um Kränze zu flechten und Beschriftungen für die Schleifen an den Kränzen von Faschisten zu erfinden? Nein, nein, nein, er hatte keinen Kontakt, nur mit den Arbeitern und Arbeiterinnen, und wie war denn – damit bei dieser verfluchten Bekömmlichkeit wenigstens etwas herauskam –, wie war denn deren Stimmung, wie war die Stimmung der deutschen Arbeiter? Drei waren klar dafür, zwei verhielten sich neutral, und wahrscheinlich zwei waren, wenn sie es auch nicht direkt ausdrücken konnten, dagegen! Das widersprach nun wieder Viktor Genrichovičs Informationen, denen zufolge die deutschen Arbeiter im Jahre 1944 kurz vor einem Aufstand waren. Verflucht, ich sage Ihnen, der Junge war in einer komplizierten Situation und hat seine Bekömmlichkeiten teuer bezahlt. Er befand sich ganz und |208|gar außerhalb der Logik der Geschichte, und wenn herausgekommen wäre, daß er tatsächlich ne Liebschaft hatte und es ihm später sogar gelang, und das mehrmals, bei diesem entzückend schönen Mädchen sämtliche erreichbaren Blumen zu pflücken – um Gottes willen. So blieb er hartnäckig dabei, die Geschenke – und die wurden später respektabel – Kleider, Kaffee, Tee, Zigaretten, Butter – wurden von einem ihm Unbekannten in einem Torfhaufen für ihn versteckt, und die Nachrichten, sagte er, würden ihm von seinem Chef, diesem Blumen und Kränzehändler, zugeflüstert. Nun war Viktor Genrichovič unbelehrbar, aber nicht unbestechlich: eine echte Kaschmirweste bekam er geschenkt, Zigaretten und – das war schon ein sensationelles Geschenk – eine winzige Europakarte, die aus einem Taschenkalender herausgerissen, geschickt auf ungefähr die Größe eines flachen Bonbons zusammengefaltet war – und das war eine Himmelsgabe; wir wußten endlich genau, wo wir waren und wo wir dran waren. Viktor versteckte seine Kaschmirweste unter seinem völlig zerfetzten Unterhemd, wo sie, grau wie sie war, wien dreckiger Lumpen wirkte. Die hätte nämlich sogar die Begehrlichkeit eines deutschen Wachsoldaten erwecken können und wäre auch für den sehr bekömmlich gewesen. Nun kam die Zeit, wo Boris zuverlässige Nachrichten über den Frontverlauf, den Vormarsch der sowjetischen und der alliierten Truppen lieferte – und jetzt wurde er geradezu der Bekömmling von Viktor Genrichovič, der solche Nachrichten dringend brauchte, um unsere Moral hochzupäppeln – und weil er dessen Bekömmling war, verlor er natürlich das Vertrauen anderer – das versteht sich von selbst, wenn man die Dialektik der Gefangenschaft kennt.«
Um so viel Auskunft von Pjotr Petrovič Bogakov zu bekommen, bedurfte es fünf günstiger Gelegenheiten, mußte der Verf. einen Infusionsflaschengalgen kaufen, da der |209|zur Verfügung gestellte hin und wieder zu seiner ursprünglichen Verwendung benutzt wurde; es wurden sogar Kinokarten investiert, um Belenko und Kitkin in Farbverfilmungen von »Anna Karenina«, von »Krieg und Frieden« und »Doktor Schiwago« zu schicken, Konzertkarten, um ihnen Mstislav Rostropovič nicht entgehen zu lassen.
Hier schien dem Verf. angebracht, jenen hochgestellten Herrn zu belästigen; es mag genügen, wenn hinzugefügt wird, daß es sich um einen Namen handelt, vor dem jeder Deutsche in jeder Geschichtsperiode zwischen 1900 und 1970, jeder russische und Sowjetfunktionär in der gleichen Geschichtsperiode stramm stehen, vor dem sich heute noch jederzeit sämtliche Kremltore, wahrscheinlich sogar die bescheidene Tür zu Maos Arbeitszimmer weit öffnen würde, wenn sie sich nicht schon geöffnet hat. Es ist Leni versprochen worden, was sie selbst versprach: den Namen nie und nimmer preiszugeben, selbst nicht unter Tortur.
Um jenen Herrn günstig zu stimmen, ihn auch um die Gnade evtl. weiterer, späterer Informationsgespräche nicht gerade untertänig, aber mit angemessener Demut zu bitten, mußte der Verf. etwa eine Dreiviertelstunde mit der Eisenbahn fahren, in – soviel sei verraten – nordnord-östlicher Richtung, er mußte einen Blumenstrauß für die Gattin und für den Herrn eine in Leder gebundene Ausgabe des »Eugen Onegin« investieren, trank einige Tassen recht guten Tees (besser als bei den Nonnen, schlechter als bei Frau Hölthohne), sprach übers Wetter, Literatur, erwähnte auch Lenis (der Gattin mißtrauische Frage: »Wer ist denn das?« – des Herrn ungnädige Antwort: »Ach, du weißt doch, die mit Boris Lvović während des Krieges Kontakt hatte« – ließ den Verf. vermuten, daß die Dame Amouröses zu wittern schien) mißliche finanzielle |210|Lage. Es kam dann der Augenblick, wo unvermeidlicherweise Wetter, Literatur und Leni keinen Gesprächsstoff mehr bildeten und der Herr, ziemlich brüsk, muß man sagen, deutlich auch sagte: »Mieze, nun laß uns bitte allein«, woraufhin Mieze, nun fest überzeugt, der Verf. sei ein Postillon d’amour, das Zimmer verließ, ihre Gekränktheit nicht verbergend.
Muß der Herr beschrieben werden? Mitte Sechzig, weißhaarig, edel, nicht unfreundlich, aber ernst, in einem Teezimmer von der Größe etwa einer halben Schulaula, nimmt man eine Schule mit sechshundert Schülern als Maßstab, Blick in den Park, englischer Rasen, deutsche Bäume, der jüngste davon etwa einhundertsechzig Jahre, Teerosenbeete – und über allem, auch überm Gesicht des Herrn, sogar über dem Picasso, dem Chagall, dem Warhol und Rauschenberg, über dem Waldmüller, dem Pechstein, dem Purrmann – über allem, allem eine gewisse – der Verf. riskierts! – Schmerzlichkeit. Auch hier T., W., L. 2 und S.! Keine Spur von L.1?
»Es interessiert Sie also, ob dieser Herr Bogakov – ich werde übrigens etwas für ihn tun, vergessen Sie nicht, meinem Sekretär Namen und Adresse zu geben – Ihnen zutreffend berichtet hat. Nun: ich kann nur sagen, im großen ganzen ja. Woher dieser Kommissar in Boris’ Lager das gewußt, woher er es erfahren haben kann (Schulterzucken) – was Herr Bogakov berichtet, stimmt. Ich habe Boris’ Vater in den Jahren zwischen 33 und 41 in Berlin kennengelernt und mich regelrecht mit ihm angefreundet. Das war gar nicht so ungefährlich, weder für ihn noch für mich. Weltpolitisch, gesamtgeschichtlich gesehen, bin ich immer noch für eine Allianz zwischen der Sowjetunion und Deutschland, und ich vertrete die Ansicht, daß eine echte, herzliche, von gegenseitigem Vertrauen getragene Allianz sogar die – DDR von der Landkarte wegfegen würde. Wir, wir sind es, an denen der Sowjetunion liegt. |211|Nun, das ist Zukunftsmusik. Nun, in Berlin damals galt ich als rot – wars wohl auch, bins noch –, und die Ostpolitik der heutigen Bundesregierung kritisiere ich nur deshalb, weil sie mir zu schwach, zu schwächlich ist. Nun, zu Herrn Bogakov – tatsächlich bekam ich in meinem Berliner Büro eines Tages einen Briefumschlag überreicht, mit einem Zettel drin, auf dem lediglich stand: ›Lev läßt Ihnen ausrichten, daß B. in dtsch. Gefangenschaft ist.‹ Nicht herauszukriegen, wer den Zettel gebracht hat – war ja auch nicht wichtig, war unten beim Pförtner abgegeben worden. Nun können Sie sich denken, in welche Erregung ich geriet. Ich hatte eine tiefe Zuneigung für diesen aufgeweckten, nachdenklichen stillen Jungen gewonnen, den ich mehrere Male – vielleicht ein dutzendmal – in der Wohnung seines Vaters getroffen hatte. Ich habe ihm die Gedichte von Georg Trakl geschenkt, eine Hölderlin-Gesamtausgabe, ich habe ihn auf Kafka hingewiesen – ich darf wohl von mir behaupten, daß ich einer der ersten, wenn nicht der erste Leser des ›Landarztes‹ war, den ich mir als vierzehnjähriger Pennäler von meiner Mutter zu Weihnachten 1920 als Geschenk erbat. Nun erfuhr ich also, daß dieser Junge, der mir immer sehr nachdenklich und sehr weltfremd vorgekommen war, sich als sowjetischer Kriegsgefangener in Deutschland befand. Glauben Sie etwa (hier wurde der Herr, obwohl nicht einmal durch Blicke angegriffen, geradezu militant defensiv, schon wieder aggressiv), glauben Sie etwa, ich hätte nicht gewußt, wies in den Lagern zuging? Glauben Sie etwa, ich wäre blind und taub und gefühllos gewesen? (Lauter Dinge, die der Verf. nie behauptet hatte.) Stellen Sie sich etwa (hier wurde die Stimme fast bösartig!) vor, ich hätte das alles richtig gefunden? Und nun (die Stimme nun piano bis pianissimo) hatte ich endlich die Gelegenheit, etwas zu tun. Aber wo war der Junge? Wieviel Millionen oder Hunderttausende sowjetischer Gefangener |212|hatten wir zu dieser Zeit? War er gar bei der Gefangennahme erschossen oder verwundet worden? Suchen Sie einmal einen Boris Lvović Koltowski unter so vielen (wieder Anschwellen der Stimme bis zur Aggressivität)! Ich fand ihn, aber ich sage Ihnen (drohende Handbewegung gegen den vollkommen, aber auch vollkommen unschuldigen Verf.), ich fand ihn, mit Hilfe meiner Freunde beim OKH und OKW (Oberkommando des Heeres, Oberkommando der Wehrmacht. Der Verf.) – ich fand ihn. Wo? Als Steinbrucharbeiter, nicht gerade in einem KZ, aber unter KZ-ähnlichen Umständen. Wissen Sie, was Steinbruch bedeutete? (Da der Verf. tatsächlich einmal drei Wochen in einem Steinbruch gearbeitet hat, empfand er die mit der Frage unterstellte Behauptung, er wisse nicht, was Steinbrucharbeit bedeutet, milde gesagt, anmaßend, zumal ihm gar keine Gelegenheit gegeben wurde, sie zu beantworten.) Todesurteil bedeutete es. Und haben Sie einmal versucht, aus einem Nazilager für sowjetische Kriegsgefangene jemand herauszuholen? (Vorwurf in der Stimme unberechtigt, da der Verf. zwar nie versucht hat, auch nie die Möglichkeit hatte, irgend jemand irgendwo herauszuholen, aber einige Gelegenheiten, Gefangene gar nicht erst zu machen oder laufen zu lassen, was er auch getan hat.) Nun, auch ich brauchte vier geschlagene Monate, bevor ich etwas Wirksames für den Jungen tun konnte. Er kam aus einem entsetzlichen Lager mit der Sterbequote 1:1 zunächst in ein weniger entsetzliches Lager mit der Sterbequote 1:1,5, aus dem weniger entsetzlichen Lager kam er in ein nur noch fürchterliches Lager, Sterbequote 1:2,5, aus dem fürchterlichen Lager in ein weniger fürchterliches mit der Sterbequote 1:3,5 – und obwohl er damit schon in einem Lager war, das weit oberhalb des Gesamtsterbedurchschnitts lag, kam er in ein Lager, das man für halbwegs normal ansehen kann. Sterbequote äußerst günstig: 1:5,8, und dorthin hatte ich ihn |213|verlegen lassen, weil einer meiner besten Freunde, mein ehemaliger Mitschüler Erich von Kahm, der bei Stalingrad einen Arm, ein Bein und ein Auge verloren hatte und als Major Kommandant des Stalag war (Stalag? Stammlager. Der Verf.), zu dem Boris nun gehörte; und denken Sie vielleicht, Erich von Kahm hätte das allein entscheiden können? (Der Verf. dachte gar nichts, sein einziges Begehren stand nach sachlicher Information.) Nein, da mußten Parteibonzen dazwischengeschaltet, einer davon bestochen werden – mit einem Gasherd für seine Geliebte, Benzinscheinen über fünfhundert Liter und dreihundert französischen Zigaretten, wenn Sies genau wissen wollen (das: genau wissen, wollte der Verf.), und endlich mußte dieser Parteibonze wieder einen anderen Parteifritzen finden, diesen Pelzer, den man halbwegs darüber informieren konnte, daß Boris geschont werden müsse – dann aber wurde der Standortälteste fällig, der den täglichen Wachposten für Boris genehmigen mußte, und der, der Standortälteste, ein Oberst Huberti, alte Schule, konservativ, menschlich, aber vorsichtig, weil die SS ein paarmal versucht hatte, ihn reinzulegen und der ›fehlangebrachten Menschlichkeit‹ zu überführen, der Herr Oberst Huberti mußte eine Bescheinigung vorgelegt bekommen, daß die Tätigkeit von Boris in der Gärtnerei kriegswichtig oder ›von hohem Informationswert‹ sei, und da kam uns nun der Zufall oder das Glück oder, wenn Sie wollen (der Verf. wollte nicht. Der Verf.), eine Fügung entgegen. Dieser Pelzer war einmal in der KP gewesen und hatte eine ehemalige Genossin eingestellt, deren Mann – oder es war der Liebhaber, glaube ich, jedenfalls freie Liebe oder so – war mit Dokumenten von hohem Informationswert nach Frankreich geflohen – und so wurde Boris offiziell, ohne daß er oder dieser Pelzer oder diese Kommunistin es ahnen konnten, auf diese Frau angesetzt, wie es im Jargon heißt – und die Bestätigung dafür |214|bekam ich wieder von einem Bekannten aus der Abteilung ›Fremde Heere Ost‹ – und was das Wichtigste war, geheim bleiben mußte meine Aktivität auch noch, sonst hätte ich das Gegenteil erreicht: die SS wäre auf Boris aufmerksam geworden. Was denken Sie sich eigentlich (wiederum dachte der Verf. nichts. Der Verf.), wie schwer es war, für so einen Jungen etwas wirklich Vernünftiges zu tun – und nach dem 20. Juli wurde alles schärfer; der Parteibonze verlangte weitere Bestechung – es hing an einem Härchen. Wer interessierte sich denn schon noch für das Schicksal des sowjetischen Pionierleutnants Boris Lvović Koltowski?«
Halbwegs darüber belehrt, wie schwierig es selbst Herrn Hochgestellt war, für einen sowjetischen Kriegsgefangenen etwas zu tun, nun wieder zurück zu Bogakov, mit Salzgurken bewaffnet und zwei Kinobilletts für den Farbfilm »Ryans Daughter«. Bogakov, inzwischen mit dem Schlauch einer Wasserpfeife versehen, den er über die Zigarettenspitze stülpte, und so »bekömmlich« rauchen kann, weil er den Schlauch sogar in seiner verkrümmten Hand halten kann (»So brauche ich nicht immer mit meinem gespitzten Mund nach der Spitze zu angeln.«), wurde geradezu ausschweifend in seiner Mitteilsamkeit und schreckte auch vor den Mitteilungen intimer, ja intimster Dinge, Boris betreffend, nicht zurück.
»Nun«, so Bogakov, »es hätte gar nicht des gestrengen Viktor Genrichovič bedurft, um ihn auf die historische Unangemessenheit der Bekömmlichkeit seines Schicksals aufmerksam zu machen. Was den Jungen am meisten beunruhigte, war diese deutlich spürbare unsichtbare Hand, die ihn da von Lager zu Lager geschoben hatte und letztlich in diese Gärtnerei, die neben anderen Vorteilen noch einen hatte: sie war gewärmt, ständig geheizt, und das war im Winter 43/44 keine geringe Bekömmlichkeit. Und als |215|er endlich, da ichs ihm zuflüsterte, erfuhr, wer ihn da schob, war er keineswegs beruhigt, und es gab eine Zeit, wo er sogar mißtrauisch gegen das liebe Mädel war, weil er glaubte, sie sei von jenem Herrn vorgeschickt und bezahlt. Und es gab da noch etwas, das die geradezu überirdische Sensibilität dieses Jungen aufs äußerste strapazierte: die ewige Schießerei in der Nähe seiner so bekömmlichen Arbeitsstätte. Ich will hier nicht andeuten, auch nicht im geringsten, der Junge wäre undankbar gewesen, nein, keineswegs – er war selig, aber es war nun mal so: die ewige Schießerei machte ihn nervös.«
Man muß hier vergegenwärtigen, daß das Beerdigen von Toten aller deutschen Kategorien an der Jahreswende 43/44 zu immer neuen Rekorden herausforderte: nicht nur die Friedhofswärter, Kranzbinder, Pfarrer, redenschwingenden Oberbürgermeister, Ortsgruppenleiter, Regimentskommandeure, Lehrer, Kameraden, Betriebsführer – auch die zum Salutschießen abkommandierten Soldaten des Wachbataillons mußten permanent in die Luft knallen. Je nach Anzahl der Opfer, nach Todesart, Dienstgrad, Dienststellung, gabs auf dem Zentralfriedhof zwischen morgens 7 Uhr und abends 18 Uhr eine Dauerknallerei. (Aussage Grundtsch, der im folgenden wörtlich zitiert wird:) »Es klang meistens so, als wäre der Friedhof ein Truppenübungsplatz oder mindestens ein Schießstand. Natürlich soll eine Salutsalve wie ein Schuß wirken – ich hab doch selbst 1917 als Landsturmfeldwebel manchmal Salutkommandos geführt –, aber dieser Wunschtraum mißlang meistens, es klang wie Dauerfeuer, oder als würde ein neues Maschinengewehr ausprobiert. Daß hin und wieder auch Bomben fielen, die Flugabwehr herumknallte, machte lärmempfindlichen Leuten keineswegs Spaß, und wenn wir manchmal das Fenster öffneten und die Nase hinaushielten, rochen wirs |216|tatsächlich: Pulverdampf, wenn auch von Platzpatronen.«
Wenn hier dem Verf. ausnahmsweise ein Kommentar gestattet wird, so möchte er darauf aufmerksam machen, daß wahrscheinlich hin und wieder auch schießungeübte junge Soldaten abkommandiert waren, und es muß diesen merkwürdig vorgekommen sein, über die Köpfe von Pfarrern, trauernden Hinterbliebenen, Offizieren und Parteibonzen hinwegzuschießen – und sie wurden möglicherweise nervös, was ihnen hoffentlich keiner verübeln wird. Gewiß floß da auch manche T., war viel W. zu sehen, S. spürbar, und kaum einer der Hinterbliebenen war in der Selbstgewißheit seines Seins unerschütterlich, und der auf manchen Gesichtern deutlich sichtbare S. sowie die Aussicht, selbst eines Tages unter Salutschüssen beerdigt zu werden, wirkte wahrscheinlich keineswegs beruhigend auf die Soldaten. Die stolze Trauer war gar nicht immer so stolz, es waren täglich auf dem Friedhof einige hundert, wenn nicht tausend, Bindehautsäcke in Tätigkeit, es wurde die Kontrolle über Hirnstämme verloren, denn manch einer mag sich da in seinem höchsten Lebensgut getroffen gefühlt haben.
Bogakov: »Das Mißtrauen gegenüber dem Mädel dauerte natürlich nicht lange, einen Tag, oder zwei, und nachdem sie ihm die Hand aufgelegt hatte, und es ihm passiert war (??), nun – ich meine, Sie wissen doch, wies Männern manchmal ergeht, wenn sie lange keine Frau gehabt haben und nicht selber Hand anlegen – ja, ja: so ergings ihm, als das Mädel ihm einfach die Hand auf die Hand legte, an dem Tisch, wo sie ihre Kränze hinbrachte. Ja. So wars. Er hats mir erzählt, und obwohl ihm das natürlich schon ein paarmal passiert war, aber nur im Traum und nie mit offenen Augen, war er verwirrt und von einem Hochgefühl |217|der Bekömmlichkeit erfüllt. Ich sage Ihnen, der Junge war naiv, puritanisch erzogen, und von dem Zeug, das man Sexualität nennt – keine Ahnung hatte er. Und nun kam was raus, was ich Ihnen nur mitteilen kann, wenn Sie mir hoch und heilig versprechen (was geschah! Der Verf.), daß dieses Mädel es nie erfährt (Der Verf. ist sicher, daß Leni es sogar erfahren dürfte, sie würde sich nicht schämen, wahrscheinlich sogar froh sein, es zu erfahren. Der Verf.) – der Junge war noch nie bei einer Frau eingekehrt. (Auf das erstaunte Augenbrauenhochziehen des Verf. hin, weiter:) Ja, so hab ich das immer genannt: bei einer Frau einkehren. Er wollte nicht gerade wissen, wie man das macht, denn so viel wußte er ja nun doch, daß da gewisse körperliche Voraussetzungen bestehen, sozusagen bekömmlicher Art, die es ziemlich nahe legen, wo man bei gewissen Erregungszuständen mit was hinwill, wenn man eine Frau liebt und bei ihr einkehren will. Nun, das wußte er schon, nur – es war da noch ein Detail – verflucht, ich hab den Jungen gern gehabt, wenn Sie es wissen wollen« (der Verf. wollte es wissen, der Verf.) »er hat mir das Leben gerettet, ohne ihn wär ich verhungert, verreckt, draufgegangen ... auch ohne sein Vertrauen. Mit wem konnte er denn schon reden, verdammt! Ich war alles für ihn, sein Vater, sein Bruder, sein Freund – und ich hab nachts dagelegen und vor Angst geweint, als er nun wirklich ne Liebschaft mit dem Mädel hatte. Ich habe ihn gewarnt, hab ihm gesagt: ›Gut, deinen Kopf kannst du ja aufs Spiel setzen, wenn du sie so wahnsinnig gern hast – aber ihren? Denk doch mal dran, was für sie auf dem Spiel steht – sie kann sich nicht drauf rausreden, du hättest sie gezwungen oder vergewaltigt, das glaubt ihr keiner unter den Umständen. Sei doch vernünftig!‹ ›Vernünftig‹, hat er gesagt. ›Wenn du sie sehen könntest, würdest du nicht von Vernunft sprechen, und wenn ich ihr von Vernunft spräche – sie würde mich auslachen. Die weiß, was ich aufs |218|Spiel setze, weiß auch, daß ich weiß, was sie aufs Spiel setzt – aber sie will nichts davon wissen, daß wir vernünftig sind. Sie will auch nicht sterben, sie will leben – und sie will, daß wir jede Gelegenheit wahrnehmen, beieinander einzukehren‹ – das Wort hat er von mir übernommen, zugegeben. Als ich sie dann später sah und näher kennenlernte, sah ich ein, daß Vernunft ein dummes Wort gewesen war. Nein, aber da war noch eine Sache, die den Jungen fürchterlich gequält hat. Als winziger Bengel von zwei, drei Jahren, während des Bürgerkriegs, hat ihn seine Mutter in einem Dorf in Galizien versteckt, bei ner alten Freundin, und diese Freundin hatte ne jüdische Großmutter, die hat den Jungen übernommen, als die Freundin erschossen wurde, und da ist er wohl ein, zwei Jahre mit den jüdischen Kindern im Dorf rumgekrochen, dann ist auch diese Oma gestorben, und irgend ne andere Oma hat den Jungen übernommen, von dem keiner mehr genau wußte, wo er hergekommen war. Und eines Tages entdeckt diese Oma, daß der kleine Boris noch nicht beschnitten ist, und sie denkt natürlich, das hat die verstorbene Oma versäumt, und läßt es einfach nachholen – nun, er war also beschnitten. Ich dachte, ich würde verrückt. Ich habe ihn gefragt, ich habe gesagt, Boris, du weißt, daß ich ein vorurteilsloser Mensch bin, sag mir: ›Bist du ein Jud oder nicht?‹ Und er hat mir geschworen: ›Nein, ich bin keiner, wenn ichs wäre, würde ichs sagen.‹ Nun, er hat auch nicht die Andeutung von ner Spur von jüdischer Aussprache gehabt – aber das war nun ne böse Mitteilung, denn es gab genug Antisemiten in unserem Lager, die ihn gepiesackt oder gar an die Deutschen verraten hätten. Ich hab ihn gefragt: ›Wie bist du denn durchgekommen, bei Untersuchungen und so, ich meine, durchgekommen mit deiner, nun sagen wir, veränderten Vorhaut?‹ – und er hat mir gesagt, er hat einen Freund gehabt, einen Medizinstudenten in Moskau, dem ziemlich klar war, wie gefährlich |219|das werden konnte, und der hat ihm das provisorisch mit nem Stück Katzendarm ganz säuberlich unter fürchterlichen Schmerzen wieder drangenäht, bevor er in die Armee mußte, und es hat gehalten, bis – nun, bis er dauernd in diese Erregungszustände geraten ist, und da ist diese Vernähung draufgegangen, ab. Nun wollte er wissen, ob Frauen – und so weiter. Nun, das war wieder ein Anlaß für mich, nachts Tränen zu vergießen und Blut zu schwitzen: nicht das mit der Frau – davon weiß ich nichts, was die Frauen und ob sies merken –, nein, der Viktor Genrichovič war so ein wütender Antisemit, und es waren ein paar drunter, die hätten ihn schon aus Neid und Mißtrauen an die Deutschen verraten: und dann – nun, da gabs keine hochgestellte Persönlichkeit mehr, die ihn hätte retten können. Da wärs aus gewesen mit der ganzen Bekömmlichkeit.«
Der hochgestellte Herr: »Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ziemlich böse auf ihn war, als ich nachträglich erfuhr, daß er sich auf eine Liebesaffäre eingelassen hat. Böse, ja. Das ging dann doch zu weit. Er hätte wissen müssen, wie gefährlich das war, und sich denken können, daß wir alle, die ihn schützten – und er wußte, daß er geschützt wurde –, in eine unangenehme Lage gekommen wären. Dann wäre nämlich der ganze komplizierte Koordinierungsapparat nach hinten aufgerollt worden. Sie wissen doch, daß es in einem solchen Fall kein Pardon gab. Nun, es ist ja gutgegangen, ich habe nur nachträglich noch einen Schrecken bekommen und auch Fräulein – Frau Pfeiffer gegenüber kein Hehl aus meiner Bestürzung über diese Undankbarkeit gemacht. Ja, Undankbarkeit, so nenne ich es. Mein Gott, wegen einer Weibersache! Ich erhielt natürlich dauernd über meine Mittelsmänner Bescheid über sein Wohlergehen und habe hin und wieder die Versuchung gespürt, anläßlich einer geschäftlichen Dienstreise |220|einmal hinzufahren und ihn mir mal anzuschauen – bin letzten Endes aber doch dieser Versuchung nicht erlegen. Ärger genug hat er mir schon gemacht, weil er offenbar in der Straßenbahn manchmal die Leute provozierte, ob bewußt oder unbewußt, ist mir nicht bekannt – aber es liefen tatsächlich Beschwerden über ihn und den Wachsoldaten ein, und von Kahm mußte ihnen nachgehen. – Er hat nämlich morgens früh in der Straßenbahn gesungen, meistens vor sich hingesummt, aber manchmal gesungen, so daß man die Worte verstehen konnte – und wissen Sie, welchen Text? Die zweite Strophe von ›Brüder zur Sonne, zur Freiheit – Seht, wie der Zug von Millionen, endlos aus Nächtigem quillt, bis euer Sehnsucht Verlangen Himmel und Nacht überschwillt‹ – halten Sie das für klug, übernächtigten deutschen Arbeitern und Arbeiterinnen, frühmorgens ein Jahr nach Stalingrad, in der überfüllten Straßenbahn so was vorzusingen, überhaupt zu singen beim Ernst der Situation? – Stellen Sie sich vor, er hätte – und ich bin sicher, daß ers ohne Hintergedanken getan hat – die dritte Strophe gesungen: ›Brechet das Joch der Tyrannen, die uns so grausam gequält, schwenket die blutrote Fahne über die Arbeiterwelt.‹ Sie sehen, ich trage das Epitheton Rot nicht umsonst. Es gab Ärger, Ärger. Der Wachsoldat wurde bestraft, von Kahm rief mich ausnahmsweise an – ansonsten verständigten wir uns per Kurier – und fragte mich: ›Was hast du mir da denn für einen Provokateur angedreht?‹ – nun, es konnte beigelegt werden, aber wieviel Schwierigkeiten das gemacht hat. Wieder Bestechungen, wieder der Hinweis auf den Einsatzbefehl der Abteilung ›Fremde Heere Ost‹ – aber dann geschah das Fürchterliche: ein Arbeiter sprach Boris an und flüsterte ihm in der Straßenbahn zu: ›Mut, Genosse, der Krieg ist so gut wie gewonnen.‹ Der Wachsoldat hörte das und war nur unter den allergrößten Schwierigkeiten dazu zu bringen, seine Meldung zurückzunehmen – das |221|hätte den Arbeiter das Leben kosten können. Nein, Dank habe ich fürwahr nicht geerntet. Nur Schwierigkeiten.«
Es erwies sich als notwendig, jenen Herrn noch einmal aufzusuchen, der durchaus das Kaliber hätte, Boris aus der Rolle des männlichen Haupthandlungsträgers zu verdrängen: Walter Pelzer, siebzig, in seinem gelb-schwarzen Bungalow am Waldrand. Stark vergoldete Metallrehe verzieren die eine, stark vergoldete Metallpferde die andere Hauswand. Er hat ein Reitpferd, einen Stall für dieses Reitpferd, er hat ein Auto (gehobene Klasse), seine Frau hat eins (mittlere Klasse), und als der Verf. ihn zum zweitenmal aufsuchte (es werden noch mehr Besuche fällig), fand er ihn ganz in seine Defensiv-Melancholie vertieft, die fast Reuecharakter hatte. »Da hat man nun seine Kinder was lernen lassen, hat sie studieren lassen: mein Sohn ist Arzt, meine Tochter Archäologin – zur Zeit in der Türkei –, und was ist die Folge? Verachtung des elterlichen Milieus. Neureich. Alter Nazi, Kriegsgewinnler, Opportunist – was glauben Sie, was ich alles zu hören bekomme. Meine Tochter redet zu mir sogar von der Dritten Welt, und nun frage ich Sie: was weiß sie von der ersten Welt? Von der Welt, aus der sie stammt? Ich hab halt viel Zeit zu lesen und mach mir auch so meine Gedanken. Schauen Sie sich die Leni an, die sich damals sträubte, mir ihr Haus zu verkaufen, weil ich ihr verdächtig war – dann hat sie es Hoyser verkauft, und was macht der in Zusammenarbeit mit seinem cleveren Enkel? Er erwägt, ihr den Räumungsbefehl zu schicken, weil sie an Fremdarbeiter vermietet, schon lange die Miete nicht mehr pünktlich oder gar nicht bezahlen kann. Hätte ich je, jemals den Gedanken erwogen, Leni aus ihrer Wohnung schmeißen zu lassen? Nie, unter keiner Sorte von politischem System. Nie. Ich mache ja gar kein Hehl daraus, daß ich mich gleich in sie verguckt habe, als sie bei |222|mir auftauchte, und daß ichs mit der Ehe nie so genau genommen habe. Mach ich ein Hehl daraus? Nein. Mach ich ein Hehl daraus, daß ich ein Nazi war, ein Kommunist, daß ich gewisse ökonomische Chancen, die der Krieg mir in meinem Geschäft bot, wahrgenommen habe? Nein. Ich habe – entschuldigen Sie den groben Ausdruck – abgestaubt, wo ich nur konnte. Gebs ja zu. Hab ich aber irgend jemand in meinem Betrieb oder außerhalb etwas zuleide getan, nach 33? Nein. Ja vorher bin ich ein bißchen rauh gewesen, gebs ja zu. Aber nach 33? Keiner Menschenseele was getan. Kann sich irgendeiner, der bei mir und mit mir gearbeitet hat, beklagen? Nein. Und es hat sich auch keiner beklagt. Der einzige, der sich vielleicht hätte beklagen können, wäre der Kremp gewesen, aber der ist tot. Ja, den hab ich schikaniert, das geb ich zu, diesen lästigen Fanatiker, der drauf und dran war, mir den ganzen Betrieb auf den Kopf zu stellen und das Arbeitsklima endgültig zu versauen. Dieser Idiot wollte doch sofort am ersten Tag, als der Russe zu uns in den Betrieb kam, alles auf Untermenschbehandlung schalten. Das fing mit einer Tasse Kaffee an, die Leni dem Russen rüberbrachte, bei der Frühstückspause kurz nach neun. Es war ein sehr kalter Tag, Ende Dezember 43 oder Anfang Januar 44, und es hatte sich so eingespielt, daß die Ilse Kremer Kaffeeköchin geworden war. Sie war nämlich die Vertrauenswürdigste, wenn Sie mich fragen, und dieser doofe Kremp hätte sich mal fragen sollen, wieso eine alte Kommunistin die Vertrauenswürdigste für so eine Tätigkeit war. Da brachte doch jeder sein eigenes Kaffeepulver mit, in einer Tüte, und im Kaffeepulver lag schon Provokation genug. Manche hatten nur Kaffee-Ersatz, manche hatten 1:10, 1:8, die Leni immer 1:3 gemischt, und ich hab mir manchmal den Luxus 1:1 erlaubt, sogar gelegentlich puren Bohnenkaffee: das waren also zehn verschiedene Kaffeepulvertüten, zehn verschiedene |223|Kaffeekännchen – angesichts der Kaffeeversorgungslage eine extreme Vertrauensstellung für die Ilse, denn wer hätte schon was gemerkt oder angenommen, sie hätte je auch nur ein Viertel Lot aus einer guten in ihre manchmal schlechte Tüte getan? Das nannte man bei den Kommunisten Solidarität, und davon haben die Nazis Kremp und Wanft und Schelf ganz nett Gebrauch gemacht. Niemals wäre auch nur einer auf die Idee gekommen, der Wanft oder der Schelf oder gar diesem Vollidioten Kremp das Kaffeekochen zu überlassen: die hätten sich doch gegenseitig das Kaffeepulver vertauscht. Dazu muß man noch sagen, daß bei dem Kremp meistens nichts zu vertauschen gewesen wäre, der war viel zu doof und zu korrekt und trank meistens Ersatz pur – und dann die Gerüche, wenn der Kaffee ausgeschenkt wurde: damals rochen Sie doch sofort, welcher Kaffee auch nur ne Spur echten enthielt – und da war Lenis Kaffeekanne eben die, die am schönsten roch – nun, gut. Was glauben Sie, was da alles an Neid, Mißgunst, Eifersucht, ja an Haß und Rachegedanken fällig war, wenn schon nur um Viertel nach 9 die Kaffeepötte verteilt wurden? Und meinen Sie, Anfang 44 hätte die Polizei oder die Partei es sich noch leisten können, jeden einzelnen wegen – was weiß ich, wie das hieß, ›Verstoß gegen die Kriegswirtschaft‹ – zu verhören und anklagen zu können? Die waren doch froh, wenn die Leute, egal woher, ihr bißchen Kaffee bekamen. Nun gut – und was tut unsere Leni am ersten Tag, wo der Russe bei uns auftaucht? Sie schenkt dem Russen eine Tasse von ihrem Kaffee ein – 1:3 müssen Sie wissen, während der Kremp seine flaue Plempe schlürfte –, schenkt dem Russen aus ihrer Kanne Kaffee in ihre Tasse ein und bringt sie ihm rüber an den Tisch, wo er in den ersten Tagen mit Kremp zusammen im Kranzkörperkommando arbeitete. Das war für die Leni eine Selbstverständlichkeit, jemand, der weder ne Tasse noch Kaffee hatte, eine Tasse Kaffee anzubieten |224|– aber glauben Sie, die hat geahnt, wie politisch das war. Ich habe gesehen, daß sogar die Ilse Kremer blaß wurde – die wußte nämlich, wie politisch das war: einem Russen eine Tasse 1:3-Kaffee bringen, der mit seinem Duft alle anderen Plempegemische sowieso totschlug. Was tut der Kremp? Der sitzt meistens da, hat seine Beinprothese bei der Arbeit abgeschnallt, weil sie ihm noch nicht richtig saß, er nimmt also die abgeschnallte Prothese von dem Haken an der Wand – was meinen Sie, wie hübsch das aussah, immer so ein künstliches Bein da an der Wand – und schlägt dem völlig verwirrten Russen die Tasse aus der Hand. Was folgt: tödliches Schweigen nennt man das, glaube ich, aber auch dieses sogenannte tödliche Schweigen – so nennt mans in der Literatur, in den Büchern, die ich jetzt manchmal lese – hatte noch Variationen: zustimmend tödlich wars bei der Schelf und der Wanft, neutral tödlich bei der Heuter und der Zeven, sympathisch tödlich bei der Hölthohne und der Ilse. Nun, erschrocken, das kann ich Ihnen sagen, waren wir alle, bis auf den ollen Grundtsch, der neben mir in der Bürotür lehnte und einfach lachte. Der hatte gut lachen, der galt als unzurechnungsfähig und hatte nicht viel zu befürchten, obwohl ers faust-, was sage ich, doppelfaustdick hinter den Ohren hatte. Was ich getan habe? Ich habe von der Bürotür aus vor Nervosität in die Werkstatt gespuckt – und wenns das gibt, und wenn es mir gelungen ist, das auszudrücken, dann wars eine total ironische Spucke, die weit näher bei Kremp als bei Leni landete. Mein Gott, wie kann man politisch wichtige Details erklären: daß meine Spucke näher bei Kremp als bei Leni landete, und wie wollen Sie beweisen, daß die Spucke ironisch gemeint war? Immer noch tödliches Schweigen, und was tut Leni, während na, sagen wir, ne Art atemlose und angstvolle Spannung herrscht? Was tut sie? Sie hebt die Tasse auf, die wegen der herumliegenden Torfmullreste |225|weich gefallen und nicht kaputtgegangen war, sie hebt sie auf, geht zum Wasserhahn, spült sie sorgfältig – es war schon provozierend, wie sorgfältig sie das tat –, und ich glaube, von diesem Augenblick an tat sies absichtlich provozierend. Mein Gott, Sie wissen doch, daß man so ne Tasse rasch mal ausspülen kann, meinetwegen auch gründlich, aber sie spülte sie, als wärs ein heiliger Kelch – dann tat sie, was vollkommen überflüssig war – trocknete die Tasse auch noch sorgfältig mit einem Taschentuch ab, ging zu ihrer Kaffeekanne, schüttete die zweite Tasse, die drin war – es waren so Zwei-Tassen-Kännchen, wissen Sie – ein und bringt sie seelenruhig dem Russen, ohne den Kremp auch nur anzusehen. Nicht stumm tat sies. Nein, sagte auch noch: ›Bitte sehr.‹ Jetzt kams auf den Russen an. Der wußte wohl, wie politisch die ganze Situation war – ein nervöser, übersensibler Junge, das sage ich Ihnen, von einem Feingefühl, da hätte sich mancher ne Scheibe abschneiden können, blaß, mit seiner komischen Nickelbrille und seinem hellblonden, ein bißchen krausen blassen Haar, sah ja fast wien Engelchen aus, der Junge –, was tut er, was tat er? Immer noch tödliches Schweigen, und jedermann spürt, daß hier Entscheidendes passiert. Leni hat das Ihre getan – was tut er? Nun, er nimmt den Kaffee, sagt laut und deutlich, in einem makellosen Deutsch: ›Danke, mein Fräulein‹ – und fängt an, ihn zu trinken. Schweißtropfen auf seiner Stirn, und Sie müssen sich vorstellen, der hatte wahrscheinlich schon ein paar Jahre keinen Tropfen Bohnenkaffee oder Tee bekommen – es wirkte auf ihn wie ne Spritze auf nen ausgemergelten Körper. Nun, zum Glück war damit das entsetzlich gespannte, tödliche Schweigen zu Ende – die Hölthohne seufzt erleichtert auf, der Kremp knurrt irgendwas von ›Bolschewiken – Kriegerwitwe – Kaffee für Bolschewiken‹, der Grundtsch lacht zum zweitenmal, ich spucke zum zweitenmal, so unkontrolliert, daß ich fast |226|Kremps Prothese getroffen hätte – und das wäre ja ein Sakrileg gewesen. Die Schelf und die Wanft schnaufen empört, die anderen erleichtert. Und nun war Leni ja ohne Kaffee – und was tut meine Ilse, die Kremer? Nimmt von ihrem Kaffee, gießt der Leni ein und bringt ihn ihr, spricht sogar deutlich dabei und sagt: ›Du kannst doch dein Brot nicht trocken runterwürgen‹ – und der Kaffee von der Ilse war auch nicht ohne. Die hatte nämlich nen Bruder, der war ein ganz schöner Nazi und irgendwas Hohes in Antwerpen, und der hat ihr immer Rohkaffee mitgebracht – nun ja. Das wars. Das war Lenis Entscheidungsschlacht.«
Dieser entscheidende Auftritt Lenis Ende 43/Anfang 44 erschien dem Verf. so wichtig, daß er umfangreiche weitere Informationen darüber sammeln wollte und noch einmal alle Überlebenden dieser Szene aufsuchte. Vor allem schien ihm die Dauer des »tödlichen Schweigens« von Pelzer als zu lang angegeben. Der Verf. ist der Auffassung, daß hier eine Literarisierung vorliegt, die geklärt werden muß, denn seiner Meinung und Erfahrung nach kann »tödliches Schweigen« nie länger als dreißig, vierzig Sekunden dauern. Die Kremer – die übrigens ihren Nazibruder und Kaffeelieferanten gar nicht verleugnet! – taxiert das tödliche Schweigen auf »drei bis vier Minuten«, die Wanft: »Die Szene ist mir deutlich in Erinnerung, und ich werfe mir bis auf den heutigen Tag vor, daß wirs so haben durchgehen lassen und damit für die Dinge, die kamen, eine Art Zustimmung gegeben haben – tödliches Schweigen? Verächtliches Schweigen, würde ich sagen – wie lange das gedauert hat? Wenn es Ihnen so wichtig ist: ich würde sagen: ein bis zwei Minuten. Wir hätten eben nicht schweigen dürfen und nicht schweigen sollen. Unsere Jungs draußen und froren und den Bolschewiken immer auf den Fersen (im Jahre 44 war das nicht mehr so, da |227|waren die Bolschewiken ›unseren Jungs auf den Fersen‹, historische Korrektur des Verf.), und der hockt da im Warmen und kriegt auch von dieser Nutte noch 1:3-Kaffee.« Die Hölthohne: »Nun, mir lief es eiskalt über den Rücken, ich hatte regelrecht eine Art Schüttelfrost, kann ich Ihnen versichern, und ich fragte mich, wie später noch so oft: Weiß Leni denn, was sie da tut? Ich habe sie bewundert, ihren Mut und die Selbstverständlichkeit und die verdammte Ruhe, mit der sie während dieses tödlichen Schweigens die Tasse spülte, abtrocknete und so weiter, es war eine – ich würde sagen kaltblütige – Herzlichkeit und Menschlichkeit darin, verdammt noch mal – nun, die Dauer: Ich sage Ihnen, es war eine Ewigkeit – ganz gleich, obs drei oder fünf Minuten oder nur achtzig Sekunden waren. Eine Ewigkeit, und zum erstenmal habe ich was wie Sympathie für Pelzer empfunden, der ganz offensichtlich auf Lenis Seite war und gegen Kremp – und die Spuckerei wirkte ja ziemlich vulgär, war aber in diesem Augenblick das einzig mögliche Ausdrucksmittel –, und es war deutlich, was er damit ausdrückte: am liebsten hätte er wohl dem Kremp ins Gesicht gespuckt, aber das konnte er ja nicht.«
Grundtsch: »Am liebsten hätt ich laut gejubelt: das Mädchen hatte Mut. Verflucht, sie schlug gleich am Anfang die Entscheidungsschlacht – wahrscheinlich ohne es zu wissen –, und doch muß sie es geahnt haben: sie kannte den Jungen ja gerade erst eineinhalb Stunden, die er ja hilflos beim Kranzkörperkommando verbrachte – und niemand, selbst die Schnüffeltante Wanft, hätte ihr unterstellen können, sie habe was mit ihm. Wenn Sie mich fragen und mir erlauben, es militärisch auszudrücken, Leni schaffte sich ein enormes Schußfeld, bevors überhaupt was zum Schießen gab. Niemand konnte das, was sie tat, anders auslegen: als reine naive Menschlichkeit, und die war zwar Untermenschen gegenüber verboten, und doch, |228|wissen Sie: das sah ja sogar ein Kerl wie der Kremp, daß Boris ein Mensch war: er hatte ja Nase und zwei Beine und sogar ne Brille auf der Nase, und er war sensibler als die ganze Mischpoke da zusammen. Der Boris wurde einfach durch Lenis mutige Tat zum Menschen gemacht, zum Menschen erklärt – und damit hatte es sich, trotz all der miesen Dinge, die da noch kommen sollten. Wie lange das gedauert hat: ach, es kam mir wie mindestens fünf Minuten vor.«
Der Verf. fühlte sich verpflichtet, die mögliche Dauer des tödlichen Schweigens experimentell festzustellen. Da der Arbeitsraum – jetzt in Grundtschs Besitz – noch vorhanden ist, ließen sich Abmessungen vornehmen: von Lenis zu Boris’ Tisch: vier Meter, von Boris’ Tisch zum Wasserhahn: drei Meter, vom Wasserhahn zu Lenis Tisch (wo die Kaffeekanne stand): zwei Meter – noch einmal vier Meter zu Boris’ Tisch: insgesamt dreizehn Meter, die Leni wahrscheinlich scheinbar ruhig, aber doch gewiß eilig zurückgelegt hat. Leider ließ sich das Herunterschlagen der Tasse nur simulieren, da dem Verf. weder ein Amputierter noch dessen Prothese zur Verfügung stand; nicht zu simulieren brauchte er das Ausspülen und Abtrocknen einer Tasse, das Eingießen des Kaffees: er – der Verf. – machte das Experiment dreimal, um ganz sicherzugehen und um den angestrebten sachlichen Mittelwert zu erzielen. Ergebnis: erstes Experiment: 45 Sekunden, zweites: 58 Sekunden, drittes: 42 Sekunden. Mittelwert: 48 Sekunden.
Da nun der Verf., der hier ausnahmsweise noch einmal unmittelbar eingreifen muß, diesen Vorgang als Lenis Geburt oder Wiedergeburt bezeichnen möchte, als ein sozusagen zentrales Erlebnis, ihm über Leni nicht viel mehr Material vorliegt als solches, das höchstens folgende |229|Zusammenfassung erlaubt: vielleicht ein wenig beschränkt, Mischung aus romantisch, sinnlich und materialistisch, ein bißchen Kleistlektüre, Klavierspiel, eine dilettantische, wenn auch tiefgreifende oder -sitzende Kenntnis gewisser Sekretionsvorgänge; nimmt man sie als (durch Erhards Schicksal) verhinderte Liebhaberin, als mißglückte Witwe, zu drei Vierteln Waisenkind (Mutter tot, Vater im Gefängnis); mag man sie für halb- oder gar kraß ungebildet halten – so erklärt doch keine dieser fraglichen Eigenschaften und nicht deren Kompositionen die Selbstverständlichkeit ihres Handelns in jenem Augenblick, den wir gemeinsam die »Stunde der Tasse Kaffee« nennen wollen. Natürlich hat sie sich rührend und herzlich um Rahel gekümmert, bis zu jenem Augenblick, wo diese im Klostergarten verscharrt wurde, aber Rahel war eine Vertraute, ihr nach Erhard und Heinrich die liebste bisher auf ihrem Lebensweg – wieso der Kaffee für einen Menschen wie Boris Lvović, den sie ja selbst in eine krasse, lebensgefährliche Situation brachte, denn in welche Lage kam ein sowjetischer Kriegsgefangener, der von einer naiven Deutschen Kaffee angeboten bekam, wenn er diesen selbstverständlich und (scheinbar) ebenso naiv entgegennahm? Wußte sie überhaupt, was ein Kommunist war, wenn sie nach Margrets Meinung wahrscheinlich nicht einmal wußte, was eine Jüdin war?
Die van Doorn, die von der »Stunde der Tasse Kaffee« nichts gewußt hat (Leni hielt das offenbar nicht für wichtig genug, es ihr zu erzählen), ebensowenig wie Margret und Lotte davon wissen, bietet eine ziemlich simple Erklärung an: »Eins, wissen Sie, war bei den Gruytens immer selbstverständlich gewesen: jeder bekam einen Kaffee angeboten. Ob Bettler, Schnorrer, Landstreicher, ob beliebter oder mißliebiger Geschäftsfreund. Das gabs einfach nicht, seinen Kaffee bekam einfach jeder. Sogar die Pfeiffers, und das will was heißen. Und – man muß gerecht |230|sein – nicht er wars, sondern sie, für die es in dieser Sache keinen Pardon gab. Mich hat das immer an die Selbstverständlichkeit erinnert, mit der früher jeder an der Klosterpforte seinen Schlag Suppe bekam, ohne daß man ihn nach seiner Religion fragte oder ihm fromme Sprüche abverlangte. Nein, sie hätte jedem Kaffee angeboten, ob nun Kommunist oder nicht ... und ich denke, sogar dem schlimmsten Nazi hätte sie einen gegeben. Das gabs ja nun mal einfach nicht – nun, sie war, ja, was sie sonst auch für viele Fehler gehabt haben mag, sie war ne großzügige Person, das war sie. Und herzlich und menschlich – eben nur, in einem gewissen Punkt, sie wissen, was ich meine, war sie nicht das, was er brauchte.«
Nun muß hier nachdrücklich, mit aller Entschiedenheit der Eindruck vermieden werden, als sei da nun gegen Ende des Kriegsjahres 43 – Anfang 44 in Pelzers Kranzbinderei etwas wie Russophilie oder Sowjeteuphorie vorhanden oder auch nur möglich gewesen. Lenis Selbstverständlichkeit kann historisch nur relativ, persönlich allerdings objektiv bewertet werden. Bedenkt man, daß andere (wenige) Deutsche für weitaus geringere Vergünstigungen, die sie Sowjetmenschen gewährten, Gefängnis, Galgen oder Konzentrationslager riskierten und bekamen, so muß man erkennen, daß es sich hier nicht etwa um eine bewußte Demonstration von Menschlichkeit handelte, sondern um eine objektiv wie subjektiv relative, die nur im Zusammenhang mit Lenis Existenz und dem historischen Ort gesehen werden kann. Wäre Leni weniger ahnungslos gewesen (ihre Ahnungslosigkeit hatte sie schon bei Rahel bewiesen), sie hätte – spätere Ereignisse und Handlungen lassen diesen Schluß zu – genauso gehandelt. Und hätte Leni ihre Selbstverständlichkeit nicht materialisiert – eben durch eine Tasse Kaffee – ausdrücken können, es wäre ein hilfloses, wahrscheinlich sogar |231|mißglücktes Sympathiegestammel daraus geworden, das ihr böser hätte ausgelegt werden können als die wie in einem heiligen Kelch dargebrachte Tasse Kaffee. Es ist anzunehmen, daß es ihr sinnliche Freude bereitete, die Tasse sorgfältig zu spülen, sie sorgfältig abzutrocknen: darin war nichts Demonstratives. Da bei ihr bisher das Nachdenken immer nachher gekommen ist (Alois, Erhard, Heinrich, Schwester Rahel, ihr Vater, ihre Mutter, der Krieg), viel später, kann man kaum bei ihr voraussetzen, daß ihr erst später zum Bewußtsein gekommen ist, was sie da getan hatte. Sie hatte einem Sowjetmenschen Kaffee nicht nur geschenkt, sondern regelrecht dargebracht, sie hatte diesem Sowjetmenschen eine Demütigung erspart, einem deutschen Beinamputierten eine bereitet. Leni wurde also nicht in den schätzungsweise 50 Sekunden des tödlichen Schweigens geboren und wiedergeboren, ihre Geburt oder Wiedergeburt war kein abgeschlossener, sie war ein sich fortsetzender Vorgang. Kürzer gesagt: Leni wußte immer erst, was sie tat, wenn sie es tat. Sie mußte alles materialisieren. Es sollte nicht vergessen werden, daß sie in diesem Augenblick genau einundzwanzigeinhalbes Jahr alt war. Sie war – es muß wiederholt werden – eine extrem sekretions- und damit verdauungsabhängige Person, völlig ungeeignet, irgend etwas zu sublimieren. Es schlummerte in ihr eine Fähigkeit zur Direktheit, die von Alois weder erkannt noch geweckt worden war, die Erhard zu wecken keine Chance bekommen oder wahrgenommen hatte. Die schätzungsweise achtzehn bis fünfundzwanzig Minuten sinnlicher Erfüllung, die sie möglicherweise mit Alois erlebt hatte, hatten sie nicht vollmobilisiert, weil auch in Alois nicht die Fähigkeit vorhanden war, das Paradox festzustellen, daß Leni sinnlich war, weil sie eben nicht total sinnlich war.
|232|Es gibt nur zwei Zeugen für das nächstentscheidende Erlebnis: die Handauflegung. Bogakov, der es schon beschrieben und die sekretorischen Folgen dargestellt hat, und Pelzer, der als der einzige Mitwisser bezeichnet werden muß.
Pelzer: »Von da an gabs natürlich regelmäßig Kaffee für den Russen, von ihr, und ich kann es beschwören, als sie ihm am nächsten Tage seinen Kaffee brachte – aber da war er schon nicht mehr beim Kranzkörperkommando, schon am Endgarnierungstisch bei der Hölthohne, ich kanns beschwören – und das war schon nicht mehr naiv oder unbewußt, wie Sie wollen, denn sie hat sich ganz nett dabei umgeguckt und schon aufgepaßt –, da hat sie einfach ihre linke Hand auf seine rechte gelegt, und es ging durch ihn, obwohls nur ganz kurz dauerte, es ging durch ihn wien elektrischer Schlag. Der fuhr regelrecht in die Höhe wie bei ner Himmelfahrt. Ich habs gesehen und kanns beschwören, und sie wußte nicht, daß ichs gesehen habe, ich stand in meinem dunklen Büro und guckte aufmerksam nach draußen, weil ich doch sehen wollte, wie das mit dem Kaffee weitergehen würde. Wissen Sie, was ich dachte, es klingt vulgär, ich weiß, aber wir Gärtner sind nun mal gar nicht so zimperlich, wie manche Leute glauben; ich habe gedacht: Verflucht, die geht aber ran – Junge, geht die ran, hab ich gedacht, und bin regelrecht neidisch und eifersüchtig geworden auf den Russen. Die Leni war eine erotisch progressive Person, die hat sich nicht darum gekümmert, daß es Tradition ist, daß der Mann die Initiative ergreift: sie hats getan, indem sie ihm die Hand auflegte. Und wenn sie auch natürlich genau wußte, daß er in seiner Situation die Initiative gar nicht ergreifen konnte, so wars doch beides: es war erotisch und politisch ne Kühnheit, fast ne Frechheit.«
Von beiden (von Leni durch Margret, von Boris durch Bogakov) ist wörtlich überliefert, übereinstimmend, daß |233|sie beide »sofort in Flammen« gestanden haben, und wie wir von Bogakov wissen, erging es Boris nach Art des Mannes, und wie wir von Margret wissen, hatte Leni ein Erlebnis, das »viel schöner war als diese Heidekrautgeschichte, die ich dir mal erzählt habe«.
Pelzer zu Boris’ fachlichen Fähigkeiten: »Sie können mir glauben, daß ich mich mit Menschen auskenne, und ich habe am ersten Tag gewußt, daß der Boris, dieser Russe, eine hochintelligente Person mit organisatorischen Fähigkeiten war. Inoffiziell war er schon nach drei Tagen Grundtschs Stellvertreter bei der Endabnahme, und er kam gut mit der Hölthohne und der Zeven aus, die ihm praktisch unterstellt waren, aber natürlich nicht merken durften, daß sie ihm unterstellt waren. Er war auf seine Art ein Künstler und hatte ziemlich rasch begriffen, worauf es ankam: Materialersparnis. Und keine Emotionen, wenn es um Schleifenaufschriften ging, die ihm doch ziemlich gegen den Strich gegangen sein müssen. ›Für Führer, Volk und Vaterland‹ oder ›SA-Sturm 112‹, und mit Hakenkreuzen und Hoheitsadlern den ganzen Tag lang umgehen, das brachte den nicht aus der Ruhe. Nun, ich hab ihn mal so ganz privat in meinem Büro, wo er später den Schleifenschrank und die Schleifenbuchhaltung selbständig verwaltete, gefragt: ›Boris, nun sagen Sie mir mal offen, wie Ihnen denn zumute ist, mit all den Hakenkreuzen, den Hoheitsadlern und so?‹ Er hat keine Sekunde mit der Antwort gezögert, ›Herr Pelzer‹, hat er gesagt, ›es kränkt Sie doch hoffentlich nicht – da Sie mich so offen fragen –, wenn ich feststelle: Es liegt ein gewisser Trost darin, nicht nur zu ahnen und zu wissen, sondern auch zu sehen, daß auch die Angehörigen eines SA-Sturms sterblich sind – und was die Hakenkreuze und Hoheitsadler betrifft, so bin ich mir meiner historischen Situation vollkommen bewußt.‹ Für mich wurde er zusammen |234|mit Leni fast unentbehrlich, ich möchte das ausdrücklich betonen, wenn ich ihm nicht nur nichts tat, sondern ihm Vergünstigungen verschaffte – und dasselbe gilt für das Mädchen –, so hatte das auch einen geschäftlichen Sinn. So ein weltfremder Menschenfreund bin ich gar nicht, habs auch nie behauptet. – Der Junge hatte einfach einen phantastischen Ordnungssinn und ein Talent für Organisation – und er kam gut mit den Leuten aus, sogar die Wanft und die Schelf ließen sich, weil ers so geschickt machte, von ihm was sagen. Ich sage Ihnen, der hätte es in der freien Marktwirtschaft zu was gebracht. Nun, er war natürlich Ingenieur und hat wahrscheinlich seine Mathematik gekannt, aber er hat als erster gemerkt, obwohl ich doch den Laden schon fast zehn Jahre betrieb und Grundtsch schon fast vierzig im Geschäft war – keiner von uns hats bemerkt, und nicht mal die kluge Hölthohne ist drauf gekommen –, daß das Körper- – ich meine Kranzkörperkommando – unterbesetzt war angesichts der Leistungsfähigkeit des Garnierungstisches, und weil er natürlich zusammen mit der Hölthohne ein Abnahmekommando war, wie ichs mir besser nicht wünschen konnte. Also: Umdisponierung. Die Zeven zurück zum Körpertisch, sie murrte ein bißchen, aber ich machte das mit ner Draufzahlung wett, und die Folge: die Produktion stieg um nachweisbar 12–15 Prozent. Wundert Sie das, daß mir daran lag, ihn zu halten und dafür zu sorgen, daß ihm nichts passierte? Da waren ja auch noch die Parteigenossen, die mich – manchmal direkt und manchmal durch die Blume – wissen ließen, ich sollte dafür sorgen, daß ihm nichts passiert, der genösse hohe Protektion. Nun, so einfach war das nicht; so ein mieser kleiner Schnüffler wie der Kremp, die hysterische Wanft – die konnten den Laden auffliegen lassen. Und keiner, auch die Leni, nicht mal der Grundtsch haben gewußt, daß ich ihm in meinem privaten kleinen Treibhaus sechs besonders |235|gut gedüngte Quadratmeter für Tabak, Gurken und Tomaten überlassen habe.«
Der Verf. muß gestehen, daß er, was die überlebenden Zeugen aus der Kriegskranzbinderzeit betrifft, den Weg des geringsten Widerstands vorzog und die Zeugen entsprechend ihrer Zugänglichkeit am häufigsten besuchte. Da die Wanft ihm beim zweiten Besuch noch ostentativer als beim ersten den Rücken zukehrte, schloß er sie aus. Da Pelzer, Grundtsch, Kremer und Hölthohne gleich zugänglich sind, auch gleich gesprächig – letzteres bei der Kremer etwas verringert –, fiel die Wahl oder Auswahl schwer; bei der Hölthohne lockte ihr einzigartiger Tee und die präzis-geschmackvolle Einrichtung, auch ihre wohlkonservierte und gut gepflegte Hübschheit sowie ihre offen gezeigten Neigungen zum Separatismus, die sich auf die Gegenwart erstreckten, das einzige, was ihn bei der Hölthohne zögern ließ, war deren winziger Aschenbecher und ihre offensichtliche Abneigung gegen Kettenraucher.
»Nun gut, unser Land (womit das Bundesland Nordrhein-Westfalen gemeint ist. Der Verf.) hat also das höchste Steuereinkommen und unterstützt steuerschwache Bundesländer – aber kommt je einer auf die Idee, die Leute aus den steuerschwachen Bundesländern – die Schleswig-Holsteiner und Bayern zum Beispiel – einmal hierher einzuladen, damit sie auch mal nicht nur unsere Steuergroschen schlucken, sondern auch unsere verpestete Luft, jene Luft, die einer der Gründe dafür ist, daß hier so viel Geld verdient wird? Und unser schäbiges, gräßliches Wasser zu trinken – und wie wärs, wenn die Bayern mit ihren blitzsauberen Seen und die Holsteiner mit ihren Meeresküsten mal kämen, um im Rhein zu baden, wo sie geteert auf jeden Fall und vielleicht sogar gefedert wieder rauskämen. Und dann schauen Sie sich diesen |236|Strauß an, dessen ganze Karriere aus lauter ungeklärten Fällen besteht, ich sage ungeklärt, und ich sage außerdem obskur, weil das dasselbe bedeutet – wie der auf unser Land schimpft (NRW – der Verf.), mit Schaum vor dem Mund fast – warum eigentlich? Nun, weils hier eben ein bißchen fortschrittlicher zugeht. Den sollte man mal zwingen, drei Jahre mit Frau und Kindern in Duisburg oder Dormagen oder Wesseling zu wohnen, damit er weiß, wos Geld herkommt und wies verdient wird – das Geld, das er kassiert und auf das er dann noch schimpft, weil wir hier ne Landesregierung haben, die zwar keineswegs berauschend ist, aber immerhin, immerhin doch wenigstens nicht CDU und schon gar nicht eine Spur CSU – verstehen Sie, was ich meine? Wieso muß ich da ›Zusammengehörigkeitsgefühl‹ spüren, wieso? Hab ich das Reich gegründet, war ich je dafür, daß es gegründet wurde? Nein. Was geht uns das eigentlich an, da oben und da unten und in der Mitte? Denken Sie doch mal drüber nach, wie wir in diesen Verein hineingeraten sind? Doch nur durch die verfluchten Preußen – und was haben wir mit denen zu tun? Wer hat uns denn 1815 verschachert? Wir etwa selbst? Hätten wirs gewollt, hätte es etwas wie Abstimmung gegeben? Nein, sage ich Ihnen. Soll der Strauß doch mal im Rhein baden und in Duisburg atmen – aber der bleibt in seiner gesunden bayerischen Luft und hat nen Ärgerkloß im Mund, sobald er was von ›Rhein und Ruhr‹ quasselt. Was haben wir mit diesen provinziellobskuren Elementen zu tun? Haben wir nicht unsere eigene Obskurität? Denken Sie doch einmal darüber nach! (Was der Verf. versprach.) Nein, ich bin und bleibe Separatistin, meinetwegen ein paar Westfalen dazu, wenns denn nicht anders geht, aber was bringen die uns denn ein? Klerikalismus, Heuchelei und vielleicht Kartoffeln – ich weiß nicht genau, was die da anbauen, interessiert mich auch nicht – und die Wälder und Felder, na, meinetwegen, |237|die kann ich auch nicht mit nach Hause nehmen – die bleiben schön da stehen, aber meinetwegen ein paar Westfalen dazu. Mehr nicht. Die sind doch dauernd nur beleidigt, fühlen sich zurückgesetzt, meckern darum und quengeln wegen der ›Sendezeitproportion‹ und ähnlichem Quark. Nur Ärger mit denen. Das ist ja das großartige an der Leni, daß sie so rheinisch ist. Und ich muß Ihnen was sagen, das halten Sie bestimmt für komisch: der Boris kam mir rheinischer vor als die anderen, den Pelzer ausgenommen, der hatte genau die Mischung von Kriminalität und Humanität, wie sie nur hier möglich ist. Es stimmt schon, er hat niemand was getan, am ehesten noch dem Kremp, den hat er schikaniert, wo er nur konnte, und weil der Kremp ja ein Nazi war, könnte man meinen, Pelzer wäre doch kein Opportunist gewesen, aber gerade das wäre ein Irrtum: es war angesichts der Mehrheitsverhältnisse durchaus opportun, den Kremp als einzigen zu schikanieren – denn der war einfach unbeliebt, sogar bei den beiden anderen Nazis, er war einfach ein ungemütlicher Kerl, auf ne fiese Art hinter Frauen her. Und doch, doch muß ich versuchen, ihm gerecht zu werden, er war ein junger Kerl und hatte schon 1940 als Zwanzigjähriger sein Bein verloren – und wer will sich schon gern klar werden oder klarmachen lassen, daß es letzten Endes sinnlos war oder ist? Und wir wollen uns doch klar darüber sein, daß diese Jungs in den ersten Monaten wie Helden gefeiert und von Weibern umlagert waren – aber dann wurde, je länger der Krieg dauerte, ein Bein ab immer alltäglicher und banaler, und später hatten die mit zwei Beinen eben einfach mehr Chancen als die mit nur einem oder keinem. Ich bin eine aufgeklärte und fortschrittliche Frau und erkläre Ihnen den sexuellen und erotischen Status und die psychologische Situation dieses Jungen eben so. Mein Gott, was war schließlich Anfang 44 schon ein Beinamputierter? Nichts als ein armes Schwein, mit einer |238|popeligen Rente – und stellen Sie sich doch getrost einmal vor, wie das ist, wenn so einer in der entscheidenden sexuellen Situation sein Bein abschnallt? Scheußlich, für ihn und für den Partner, und mags auch ne Hure sein. (Oh, dieser herrliche Tee bei ihr, und muß der Verf. es als Sympathieerklärung auffassen, daß bei seinem dritten Besuch der Aschenbecher immerhin schon die Größe einer Mokkatassenuntertasse hatte? Der Verf.) Und dann war da dieser durch und durch gesunde Pelzer, den Sie als klassisches Beispiel für das mens sana in corpore sano nehmen können, was Sie nur bei Kriminellen finden, ich meine bei durch und durch gewissenlosen Menschen. Gewissenlosigkeit macht gesund, das sage ich Ihnen. Der ließ sich kein Geschäft entgehen, keins. Mit den Wachsoldaten, die Boris morgens brachten und abends abholten, machte er noch nebenbei Geschäfte mit Cognac, Kaffee und Zigaretten – die fuhren nämlich ungefähr jede Woche als Transportbegleiter nach Frankreich oder Belgien und brachten kistenweise Cognac, Zigarren und Kaffee mit, auch Stoff; sie konnten bei diesen Kerlen sogar Waren bestellen, richtig wie in einem Laden. Der eine, er hieß Kolb und war ein älterer, übrigens ziemlich schmieriger Kerl, brachte mir mal Samt für ein ganzes Kleid aus Antwerpen mit, der andere, er hieß Boldig und war jünger, ein fröhlicher Nihilist, wie sie von Anfang 1944 dutzendweis produziert wurden. Ein munterer Knabe, sage ich Ihnen, der ein Glasauge hatte und eine Hand ab, eine ganz nett dekorierte Soldatenbrust, der ganz zynisch sein verlorenes Auge, seine verlorene Hand und das Silber auf seiner Brust zu seinem Vorteil einsetzte, so wie man Spielmarken einsetzt. Dem waren Führer, Volk und Vaterland so Wurscht, wie sie nicht einmal mir waren, denn schließlich, wenn ich auch auf den Führer gern verzichten konnte, bin ich für ein rheinisches Vaterland, für das rheinische Volk. Nun, der machte sich nichts draus, mit der Schelf, |239|die nach Leni die Knusprigste von uns war, mal kurz nach hinten ins Treibhaus zu gehen und mit ihr, wie er es nannte: ›Ein Mäuschen zu fangen‹ oder ›Eine Meise singen zu hören‹, angeblich, um sich von ihr mit Pelzers Genehmigung ein paar Blumen aussuchen zu lassen. Der hatte viele Namen dafür. Nicht unsympathisch – nur: ein Zynismus und Nihilismus, der schon ein bißchen grauslich war. Er wars auch, der den Kremp immer ein bißchen aufzumuntern versuchte, ihm mal ein paar Zigaretten zusteckte und so und ihm auf die Schulter klopfte und laut den Slogan aussprach, der damals aufkam: ›Genieße den Krieg, Kumpel, der Friede wird fürchterlich.‹ Der andere, der Kolb, war ein fieser Kerl, ein Tätschler und Taster. Was Pelzer betrifft – modern ausgedrückt: angesichts der Lage auf dem Beerdigungsmarkt bildete sich natürlich ein Schwarzmarkt für alles, für Kränze, Schleifen, Blumen, Särge, und für die Bonzen-, Helden- und Bombenopfer-Kränze bekam er natürlich eine Zuteilung. Wer möchte seine teuren Verstorbenen schon kranzlos beerdigen lassen. Und weil immer mehr Soldaten und auch Zivilisten starben, wurden die Särge schließlich nicht nur mehrfach verwendet, sondern später nur noch als Attrappe: der respektive Tote fiel, in Segeltuch, später in Sackleinen eingenäht, dann nur noch eingewickelt, mehr oder weniger nackt, durch eine Klappe in die nackte Erde, man ließ die Attrappe eine gewisse Anstandsfrist lang stehen, bewarf sie sogar zum Schein mit ein bißchen Erde, aber sobald die trauernden Hinterbliebenen, die Salutkommandos, Oberbürgermeister und Parteibonzen – nun, sagen wir –, sobald das ›unvermeidliche Trauergefolge‹, so nannte es Pelzer, sich weit genug entfernt hatte, außer Sichtweite war, wurde die Sargattrappe weggezogen, gesäubert, ein bißchen aufpoliert und das Grab ganz rasch zugeschaufelt – rasch, sage ich Ihnen, wie bei einem jüdischen Begräbnis. Man hätte sagen können: der Nächste bitte, wie |240|beim Friseur. Es war naheliegend, daß Pelzer, dem die Leihgebühren für Särge – und der ganze einträgliche Beerdigungsklimbim – entgingen, auf die Idee kam, daß man ja auch Kränze mehrfach verwenden kann, und diese doppelte, dreifache, ja manchmal fünffache Verwendung von Kränzen war nicht möglich ohne Bestechung und Zusammenarbeit mit den Friedhofswärtern. Die Anzahl der Wiederverwendungen war natürlich abhängig von der Stabilität des Materials für den Kranzkörper und dem verwendeten Bindegrün – außerdem eine Gelegenheit, genauestens die Arbeitsweise und Pfuscharbeit der Konkurrenz zu besichtigen. Das erforderte natürlich Organisation, Komplicenschaft – und eine gewisse Geheimhaltung –, das konnte er nur selbst mit Grundtsch, mit der Leni, mit mir und der Kremer machen –, und ich gebe es zu: wir haben mitgemacht. Es kamen da manchmal Kränze aus ländlichen Gärtnereien zum Vorschein von wahrer Vorkriegsqualität. Damit die anderen nichts merkten, wurde das ganze ›Aufarbeitungskommando‹ genannt. Das ging schließlich bis zu den Schleifen. Letzten Endes achtete Pelzer drauf und manipulierte die Kundschaft schon bei der Bestellung so, daß die Aufschriften immer weniger individuell wurden, womit die Chancen der Wiederverwendung von Schleifen stieg. Aufschriften wie ›Dein Vati, deine Mutti‹ lassen sich ja im Krieg verhältnismäßig oft verwenden, und selbst eine vergleichsweise individuelle Aufschrift ›Dein Konrad‹ oder ›Deine Ingrid‹ hat gewisse Chancen, wenn man die Schleife aufbügelt, ein wenig die Farben und die Beschriftung auffrischt und die Schleife in den Schleifenschrank legt, bis wieder einmal ein Konrad oder eine Ingrid irgend jemand zu betrauern hat. Pelzers beliebtester Ausspruch zu dieser Zeit wie zu jeder Zeit: Auch Kleinvieh macht Mist. Schließlich kam Boris auf eine Idee, die sich als ziemlich einträglich erwies, er kam – und das kann er nur auf |241|Grund seiner Kenntnis deutscher Trivialliteratur gewußt haben – auf die Idee, eine uralte Schleifenaufschrift wiedereinzuführen: ›Geliebt, beweint und unvergessen.‹ Nun, das wurde das, was man heute einen Bestseller nennen würde, und: das ließ sich nun so lange verwenden, bis die Schleife nun tatsächlich nicht mehr aufzufrischen und aufzubügeln war. Sogar extrem individuelle Aufschriften wie ›Deine Gudula‹ wurden aufbewahrt.«
Dazu die Kremer: »Ja, das stimmt, und da hab ich auch mitgemacht. Wir haben Sonderschicht gemacht, damit es nicht so auffiel. Er hat immer gesagt, es wäre keine Grabschändung, er bekäme sie von Abfallhaufen. Nun, mir wars egal. Es brachte uns ein nettes Extrageld ein, und schließlich: wars schlimm? Was nützt es denn, und wem hilft es, wenn die Kränze da auf dem Abfallhaufen verkommen. Aber schließlich kam es dann doch zu einer Anzeige wegen Grabschändung und Leichenfledderei, denn es waren ja auch da Leute, die sich wunderten, wenn sie nach drei, vier Tagen wiederkamen und fanden ihren Kranz nicht mehr – aber das war wieder nett von ihm, da hat er uns ganz draußengehalten, er ging allein zu der Verhandlung, nahm alles auf sich, hielt sogar den Grundtsch raus, und wie ich von einem Bekannten erfuhr, hat er sehr geschickt mit diesem nationalen Popanz argumentiert, den man ›Groschengrab‹ nannte, er hat ›gewisse Unregelmäßigkeiten‹ zugegeben, tausend Mark für ein Genesungswerk gespendet; er hat – es war ja kein regelrechtes Gericht, sondern nur ein Innungsausschuß und später ein Parteiehrengericht –, er hat gesagt, wie mir ein Bekannter erzählte: ›Meine Herren, Parteigenossen und Parteigenossinnen, ich kämpfte an einer Front, die den meisten von Ihnen unbekannt ist – und an den Fronten, die viele von Ihnen besser kennen als ich, läßt man da nicht auch einmal fünf gerade sein?‹ Nun, danach hat ers |242|eben eine Weile ganz gelassen, bis Ende 44, da war ja schon das allgemeine Durcheinander so groß, daß keiner mehr auf etwas so Nebensächliches wie Kränze und Schleifen geachtet hat.«