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Spätergeborene mögen sich fragen, wieso im Jahr 1942/43 Kränze kriegswichtig waren. Die Antwort lautet: um Beerdigungen auch weiterhin so würdig wie möglich zu gestalten. Kränze waren um diese Zeit nicht gerade so begehrt wie Zigaretten, aber Mangelware waren sie, daran besteht kein Zweifel, und außerdem waren sie begehrt und für die psychologische Kriegsführung wichtig. Allein der amtliche Bedarf an Kränzen war enorm: für Bombenopfer, in Lazaretten versterbende Soldaten, und da außerdem auch »hin und wieder natürlich ein privater Tod eintrat« (Walter Pelzer, der im Ruhestand lebende ehemalige Gärtnereibesitzer, Lenis damaliger Chef, der jetzt von seinen Liegenschaften lebt) und »ziemlich oft hohe Partei-, Wirtschafts- und Wehrmachtsmenschen Staatsbegräbnisse in verschiedenen Klassen bekamen«, war jede Art Kranz »vom schlichtesten, sparsam garnierten bis zum rosendurchflochtenen Riesenrad« (Walter Pelzer) kriegswichtig. Es ist hier nicht der rechte Ort, den Staat in seiner Eigenschaft als Ausrichter von Beerdigungen voll zu würdigen, als unbestritten historisch, wissenschaftlich |176|nachweisbar, darf gelten, daß es reichlich Beerdigungen gab, Kränze begehrt waren, amtlich und privat, und daß es Pelzer gelungen war, seiner Kranzbinderei den Status eines kriegswichtigen Betriebes zu sichern. Je weiter der Krieg fortschritt, was bedeutet, je länger er dauerte (hier wird ausdrücklich auf den Zusammenhang zwischen Fortschreiten und Dauer hingewiesen), desto knapper wurden natürlich die Kränze.
Sollte »irgendwo« das Vorurteil bestehen, die Kunst, Kränze zu binden, sei unwesentlich, so muß hier – schon um Lenis willen – energisch widersprochen werden. Bedenkt man, daß es da den Blütenkranz als End- und als Grundform gibt, daß die Einheit der Gesamtform in jedem Fall gewahrt werden muß; daß es verschiedene Formen und Techniken gibt, einen Kranzkörper zu bilden, daß beim Bindegrün wichtig ist, welches Bindegrün für welche gewählte Kranzform erkoren wird; daß es allein neun wichtige Grünarten für die Unterlage, vierundzwanzig verschiedene für die Endform, zweiundvierzig fürs Büscheln, acht fürs Tüllen (Gesamtkategorie Stekken) und neunundzwanzig fürs Römern gibt, so kommt man auf eine Gesamtzahl von einhundertzwölf Arten des Bindegrüns, und mögen sich diese auch in den verschiedenen Kategorien ihrer Verwendung überschneiden – so bleiben doch fünf verschiedene Verwendungskategorien und ein kompliziertes System von Verflechtungen, mag auch das eine oder andere Grün sowohl zum Binden wie für die Endform, fürs Stecken (das hinwiederum in Büscheln und Tüllen zerfällt) und zum Römern verwendet werden, so gilt doch auch hier die Grundregel: gewußt wo, gewußt wie. Wer etwa, der da das Kranzbinden schnöde als eine untergeordnete Tätigkeit empfindet, weiß schon, wann das Grün der Rottanne für die Unterlage oder für die Endform verwendet wird, wann er wo Thuja, Islandmoos, Mäusedorn, Mahonie und Hemlocktanne |177|zu verwenden hat? Wer weiß, daß das Grün in jedem Fall lückenlos aufsitzen muß, daß immer und überall binderische Leistung erwartet wird? So wird man einsehen, daß Leni, die bisher nur leichte und unsystematische Büroarbeit getan hat, hier keineswegs auf ein leicht zu begehendes Gelände, ein leicht zu beherrschendes Handwerk, daß sie fast in eine Kunstwerkstatt hineingeriet.
Es ist vielleicht überflüssig festzustellen, daß der »gerömerte Kranz« eine Zeitlang in Verruf geriet, als das Germanische sehr stark in den Vordergrund gerückt wurde; daß aber Kontroversen darüber abgebrochen wurden, als die Achse zustande kam und Mussolini sich ziemlich barsch die Diffamierung des gerömerten Kranzes verbat; das Verb »römern« dann bis Mitte Juli 43 ungehindert benutzt werden konnte, dann aber angesichts des italienischen Verrats endgültig ausgemerzt wurde (Kommentar eines ziemlich hohen Naziführers: »Hierzulande wird nicht mehr gerömert, nicht einmal mehr beim Kranz- und Blumenbinden«) – jeder aufmerksame Leser wird gleich verstehen, daß in politisch extremen Situationen nicht einmal das Kranzbinden ein ungefährliches Geschäft ist. Da der Römerkranz außerdem als Nachbildung in Stein gehauener Schmuckkränze an römischen Fassaden entstanden war, ergab sich sogar für ein striktes Verbot eine ideologische Begründung: er wurde als »tot«, alle anderen Kranzformen für »lebendig« erklärt. Walter Pelzer, der als Zeuge für jene Lebenszeit von Leni wichtig ist, wenn er auch anrüchig sein mag, konnte halbwegs plausibel nachweisen, daß er Ende 43, Anfang 44 »von Neidern und Konkurrenten« bei der Handwerkskammer denunziert worden sei, mit der »lebensgefährlichen« (Pelzer) Aktennotiz versehen wurde: »römert noch«. »Verflucht, das hätte damals an den Kragen gehen können« (P.). Natürlich hat Pelzer nach 1945, als seine anrüchige |178|Vergangenheit zur Sprache kam, sich »und nicht nur deswegen« als »politisch Verfolgter« auszuweisen versucht und – wie leider festgestellt werden muß, durch Lenis Mithilfe – mit Erfolg. »Denn das waren doch die Kränze, die sie – die Leni, ich meine die Pfeiffer – tatsächlich selbst erfunden hatte: straffe, glatte Kränze aus Heidekraut, die tatsächlich wie emailliert wirkten, aber – das kann ich Ihnen sagen – beim Publikum ankamen. Das hatte mit Römern und so nicht das geringste zu tun – es war eine Erfindung von der Pfeiffer. Aber das ist mir fast an den Kragen gegangen, weil es als Römer-Variation ausgelegt wurde.«
Pelzer, inzwischen siebzig, der im Ruhestand lebt, von seinen Liegenschaften, bekam noch nach sechsundzwanzig Jahren einen überzeugend angstvollen Ausdruck und mußte vorübergehend, da er mit einem Hustenanfall zu rechnen schien, seine Zigarette aus der Hand legen. »Und überhaupt – was ich für die getan, was ich da alles gedeckt habe – das war wirklich lebensgefährlich, schlimmer als der Verdacht der Römerei.«
Von den zehn Personen, mit denen Leni nun für lange Zeit eng, nah und täglich zusammenarbeitete, konnten immerhin, Pelzer selbst und seinen Gartenmeister Grundtsch eingeschlossen, noch fünf aufgetrieben werden. Bezeichnet man Pelzer und Grundtsch korrekterweise als Lenis Vorgesetzte, so bleiben von den acht, mit denen sie mehr oder weniger gleichberechtigt zusammengearbeitet hat, immerhin noch drei.
Pelzer bewohnt ein architektonisches Gebilde, das er selbst zwar Bungalow nennt, das man aber getrost als bombastische Villa (er spricht das Wort Villa nicht wie Filla aus) bezeichnen kann, ein gelb verklinkertes, nur scheinbar einstöckiges Gebäude (der ausgebaute Keller enthält eine luxuriöse Bar, einen Hobbyraum, in dem Pelzer eine Art Kranzmuseum eingerichtet hat, ein Gästeappartement |179|und einen bestens bestückten Weinkeller); die nächst Gelb (Klinker) vorherrschende Farbe ist Schwarz: Gitter, Türen, Garagentor, Fensterumrandungen – alles schwarz. Die Assoziation Mausoleum erscheint als nicht unbegründet. Pelzer bewohnt das Haus mit einer ziemlich melancholisch wirkenden Frau, Eva geb. Prumtel, die Mitte sechzig sein mag und ihr hübsches Gesicht durch Bitterkeit entstellt.
Albert Grundtsch, jetzt achtzig, lebt immer noch in »seinem Gehäuse verkrochen, praktisch auf dem Friedhof« (G. über G.), in einem zweieinhalb Zimmer großen steinernen (Backstein-)Schuppen, von dem aus er seine beiden Treibhäuser bequem betreten kann. Grundtsch hat nicht wie Pelzer von der Friedhofserweiterung profitiert (auch nicht profitieren wollen, wie hinzugefügt werden muß) und verteidigt »den Morgen Treibhäuser, den ich ihm seinerzeit dummerweise geschenkt habe« (Pelzer), verbissen. »Es ist praktisch so, daß das Garten- und Friedhofsamt erleichtert aufatmen wird, wenn er ab-, wenn er die Kurve – na, wenn er das Zeitliche segnet, drücken wirs so aus.«
Inmitten des Friedhofs, der nicht nur die einigen Hektar der Gärtnerei Pelzer, auch andere Gärtnereien und Steinmetzwerkstätten längst geschluckt hat, führt Grundtsch ein fast autarkes Leben: ohnehin im Genuß einer Invalidenrente (»Ich hab doch für ihn weitergeklebt.« P.), wohnt er mietfrei, züchtet seinen Tabak und sein Gemüse selbst, und da er Vegetarier ist, hat er nur geringe Versorgungsprobleme; Kleiderprobleme hat er kaum – immer noch trägt er eine Hose des alten Gruyten, die jener sich 1937 schneidern ließ und die Leni Grundtsch 1944 schenkte. Er hat sich (Selbstzitat) ganz aufs »Saisontopfgeschäft« verlegt (Hortensien zum Weißen Sonntag, Alpenveilchen und Vergißmeinnicht zum Muttertag, Weihnachten |180|kleine Topftannen, mit Schleifen und Kerzen garniert für die Gräber – »was die alles auf ihre Gräber schleifen – nicht zu fassen«).
Der Verf. hatte den Eindruck, daß die Gartenverwaltung, falls sie tatsächlich auf G.s Tod spekuliert, noch einige Zeit warten muß. Er ist nämlich durchaus nicht, was von ihm behauptet wird, »ein Stuben- und Treibhaushocker« (städtische Gartenarbeiter), sondern benutzt den inzwischen riesigen Friedhof »nach Geschäftsschluß, wenns gebimmelt hat, und das ist meistens recht früh, als Privatpark; ich mache ausgiebige Spaziergänge, rauche da und dort auf der Bank mein Pfeifchen, und wenn mir die Laune danach steht, mach ich mich auch mal an ein vernachlässigtes oder vergessenes Grab und geb ihm ne vernünftige Grundlage, Moos oder Tannengrün, hin und wieder mal ne Blume drauf, und glauben Sie mir, außer ein paar Buntmetalldieben bin ich noch keinem begegnet; natürlich gibt es hin und wieder ein paar Verrückte, die nicht glauben wollen, daß einer tot ist, wenn er tot ist; die klettern über die Mauer, um auch nachts am Grab zu weinen, zu fluchen, zu beten, zu warten – aber das hab ich in fünfzig Jahren nur zwei-, dreimal erlebt – und dann hab ich mich natürlich verzogen, und dann taucht so alle zehn Jahre vielleicht mal ein furcht- und vorurteilsloses Liebespaar auf, das begriffen hat, daß es kaum einen Ort auf der Welt gibt, wo man so ungestört ist – und auch dann habe ich mich natürlich verzogen, und inzwischen weiß ich natürlich nicht mehr, was alles so in den Außenbezirken des Friedhofs passiert – aber ich sage Ihnen, auch im Winter ist das schön, wenns schneit, und ich gehe dick vermummt mit meinen Filzstiefeln und meiner Pfeife nachts da spazieren – es ist so still, und die sind alle ganz friedlich, friedlich. Schwierigkeiten habe ich natürlich mit all meinen Freundinnen gehabt, wenn ich sie mal mit auf meine Bude nehmen wollte: nichts zu machen, sage ich |181|Ihnen – und je weniger war zu machen, je huriger sie waren, da half auch kein Geld.«
Auf Leni angesprochen, wurde er fast verlegen. »Ja, natürlich die Pfeiffer – mich derer erinnern! Als wenn ich die vergessen könnte! Die Leni. Natürlich waren alle Männer hinter ihr her, irgendwie alle, auch das schlaue Walterchen (womit der inzwischen siebzigjährige Pelzer gemeint ist. Der Verf.), aber getraut hat sich keiner recht. Die war unnahbar, nicht auf ne zimperliche Tour, das muß ich sagen, und ich als der Älteste – ich war damals schon Mitte fuffzig – hab mir erst gar nicht Chancen ausgerechnet, von den anderen hats wohl nur der Kremp versucht, den wir den ›miesen, fiesen Heribert‹ nannten, und den hat sie auf ne kühle schnippische Art so endgültig abfahren lassen, daß ers drangab. Wie weit es das Walterchen mit ihr probiert hat, weiß ich nicht – aber bestimmt hat er nichts bei ihr erreicht, und sonst waren ja nur Frauen da, kriegsbedingt, versteht sich, und die Frauen waren ziemlich gleichmäßig geteilt für und gegen – nicht sie, sondern diesen Russen, von dem sich dann später herausstellte, daß er der Erwählte ihres Herzens war. Wenn Sie sich vorstellen, daß die ganze Geschichte fast eineinhalb Jahre gedauert hat – und keiner, nicht einer von uns was Ernsthaftes bemerkt hat: die sind geschickt und vorsichtig gewesen. Nun, es stand ja auch was auf dem Spiel: zwei Hälse, bestimmt einer und ein halber. Verflucht, es läuft mir nachträglich noch eiskalt den Rücken runter bis in den Arsch, wenn ich dran denke, was das Mädchen riskiert hat. Fachlich? Wie sie fachlich war? Nun, ich bin vielleicht voreingenommen, weil ich sie gern hatte, richtig gern, manchmal wie man ne Tochter gern hat, die man nie gehabt hat, oder – immerhin war ich dreiunddreißig Jahre älter als sie – wie ne Geliebte, die man nie kriegt. Na, sie war einfach eine Naturbegabung – damit ist alles gesagt. Wir hatten nur zwei gelernte Gärtner da, wenn Sie den |182|Walter mitrechnen drei, aber der hatte nur seine Bücher und seine Kasse im Kopf. Zwei also: die Hölthohne, das war mehr so ne jugendbewegte intellektuelle Gärtnerin, die hatte das Lyzeum absolviert, studiert und dann die Gärtnerei angefangen, romantische Person, von wegen Erde und Handarbeit – und so –, aber gekonnt hat sie was, dann ich. Alle anderen waren ja ungelernt, die Heuter, der Kremp, die Schelf, die Kremer, Wanft und Zeven – lauter Weiber, nicht mehr ganz so knusprig, jedenfalls keine, die man spontan mal gern zwischen Torfmull und Tüllmaterial aufs Kreuz hätte legen mögen. Nun, schon nach zwei Arbeitstagen war mir klar, daß die Pfeiffer für eins nie in Frage kommen würde, für die Erstellung der Kranzkörper, das ist ne grobe und relativ harte Arbeit, mit der die Gruppe Heuter-Schelf-Kremp beschäftigt war, die kriegten einfach ne Liste, ihren Haufen Bindegrün, je nach Versorgungslage später fast nur noch Eichenlaub, Buchenlaub, Waldkiefer und dann die Größe angegeben – meistens Normalgröße, aber für feierliche Begräbnisse hatten wir ne Abkürzungsvereinbarung, B1, B2, B3 – was bedeutete: Bonze erster, zweiter, dritter Klasse; als dann später rauskam, daß wir buchhaltungsintern auch die Bezeichnung H1, H2, H3, für Helden erster, zweiter, dritter Klasse, hatten, gabs Krach mit diesem miesen, fiesen Kremp, der darin irgendwelche Beleidigungen erblickte und sich selbst mit beleidigt fühlte, weil er ein Held zweiter Klasse war: amputiert, Bein, und ein paar Orden und Ehrenzeichen; also die Leni paßte in die Kranzkörpergruppe nicht rein, das hab ich gleich gesehen und sie in die Garnierungsgruppe gesteckt, wo sie mit der Kremer und der Wanft zusammenarbeitete – und ich sage Ihnen, sie war ein Naturgenie der Garnierung oder, wenn Sie wollen, eine Tüllungs-Kanone. Sie hätten mal sehen sollen, wie die mit Kirschlorbeerblättern umgehen konnte, mit Rhododendrongrün, der konnte man |183|das kostbarste Material in die Hand geben: da ging nichts verloren, wurde nichts geknickt – und sie hatte sofort begriffen, was manche nie begreifen: der Kernpunkt, der Schwerpunkt der Garnierung muß sich im linken oberen Viertel des Kranzkörpers befinden; damit gerät eine fröhliche, fast könnte man sagen optimistische Aufwärtsbewegung in den Kranz; wenn Sie rechts den Garnierungsschwerpunkt setzen, entsteht ein pessimistischer Eindruck des Abgleitens. Und die wäre nie auf die Idee gekommen, geometrische Garnierungsformen mit vegetativen zu mischen – nie sage ich Ihnen. Die war ne Entweder-oder-Type – und das können Sie sogar beim Garnieren eines Kranzes beobachten. Was ich ihr allerdings austreiben mußte, immer wieder und energisch: sie hatte ne Vorliebe für rein geometrische Formen – Rhomben, Dreiecke –, und tatsächlich hatte sie einmal – und das bei einem B-1-Kranz – aus lauter geometrischer Spielerei, bestimmt nicht beabsichtigt, nen Davidstern aus Margueriten hineingezaubert, er war einfach so ihren Händen entsprungen, und sie weiß wahrscheinlich bis heute nicht, warum ich so nervös wurde, daß ich regelrecht bös mit ihr war: stellen Sie sich vor, der Kranz wäre unkontrolliert bis auf den Leichenwagen geraten – und überhaupt, die vagen vegetativen Formen mochten die Leute lieber, und Leni konnte da hübsch improvisieren: kleine Körbchen reinflechten, Vögelchen sogar – nun jedenfalls, wenns nicht gerade vegetativ war, so doch organisch – und wenn mal bei einem B-1-Kranz Rosen fällig waren, Walterchen auch tüchtig Rosen rausrückte, wenns gar noch halbverknospete Edelrosen waren: da wurde Leni zur Künstlerin: ganze Genrebilder entstanden da, eigentlich zu schade, weil sie so vergänglich waren: einen Miniaturpark mit Teich und Schwänen drauf; nun, ich sage Ihnen nur: hätte es Preise gegeben, sie hätte sie alle gewonnen, und was – jedenfalls für Walterchen – das wichtigste war: sie erzielte |184|mit wenig Garnierungsmaterial weitaus mehr Effekt als mancher mit viel. Sie war außerdem noch ökonomisch. Dann ging der fertige Kranz durch die Abnahmegruppe, die aus der Hölthohne und der Zeven bestand – und kein Kranz ging raus, der nicht letzten Endes durch meine Hände gegangen war. Die Hölthohne hatte Kranzkörper und Garnierung zu kontrollieren, notfalls zu verbessern, und die Zeven war, wie wir es nannten, die Schleifentante, die machte die Schleifen dran, die wir aus der Stadt geliefert bekamen – und da mußte natürlich höllisch aufgepaßt werden, damit keine Verwechslung entstand. Wenn da einer, der nen Kranz mit der Aufschrift ›Für Hans als letzten Gruß von Henriette‹ bestellt hatte, nen Kranz bekam mit der Schleife: ›Von Emilie für meinen unvergeßlichen Otto‹ oder umgekehrt – das konnte bei der Anzahl von Kränzen peinlich ausgehen; und schließlich gabs da noch das Botenauto, ein mickriges Dreirad, mit dem die Kränze zu den Kapellen, den Lazaretten, den Wehrmachtsdienststellen, zur Partei oder den Beerdigungsinstituten gebracht werden mußten – und das ließ sich Walterchen nicht nehmen, denn dann konnte er ausgiebig Tata gehen, kassieren und für ne Weile ausbüchsen.«
Da Leni weder bei Lotte noch van Doorn oder Margret, auch nicht beim alten Hoyser oder Heinrich Pfeiffer je über ihre Arbeit geklagt hat, muß angenommen werden, daß sie ihr tatsächlich Spaß gemacht hat. Kummer scheint ihr nur die Tatsache gemacht zu haben, daß ihre Finger und Hände doch arg strapaziert wurden: nachdem sie den Handschuhvorrat ihrer Mutter und ihres Vaters verbraucht hatte, bat sie in der gesamten Familie um »abgelegte Handschuhe«.
Es mag sein, daß sie im stillen ihrer verstorbenen Mutter gedacht, ihres Vaters, daß Erhard und Heinrich zahlreiche Gedanken gewidmet waren, möglicherweise sogar |185|dem verstorbenen Alois. Sie wird als »nett, freundlich und sehr still« bezeichnet, was dieses Jahr betrifft.
Selbst Pelzer bezeichnet sie als »schweigsam, mein Gott, ehe die mal den Mund aufmachte! Aber nett war sie, freundlich und nett und meine tüchtigste Kraft zu dieser Zeit, wenn ich von Grundtsch, der ja nun ein uralter Fuhrmann war, absehe und der Hölthohne, aber die hatte ne verflucht pedantische Art, akademische Art, manchmal gute Einfälle zu korrigieren. Dabei war die Pfeiffer nicht nur kompositorisch begabt, auch botanisch, die wußte aus Instinkt, daß man mit ner Alpenveilchenblüte natürlich anders umgehen kann und muß als mit ner hartstieligen Rose oder ner Päonie, und ich kann Ihnen sagen, daß es für mich jedesmal ein finanzielles Opfer bedeutete, wenn ich rote Rosen für Kränze hergeben mußte – da gabs nämlich nen hübschen Schwarzmarkt für Kavaliere, die Rosen für das einzig mögliche amouröse Geschenk hielten – da hätte man abstauben können, besonders in den Hotels, wo die jungen Offiziere mit ihren Freundinnen abstiegen. Was bin ich da angerufen worden von Hotelportiers, die manchmal nicht nur Geld, sondern gute Ware für einen Strauß langstieliger Rosen boten. Kaffee, Zigaretten, Butter, sogar Stoff – ich meine Kammgarn, wurde mir mal angeboten – und es war ja auch irgendwie ne Schande, daß fast alles für die Toten draufging und für die Lebenden fast nichts blieb.«
Inzwischen, während Pelzer Rosensorgen hatte, war Leni drauf und dran, ein Opfer der Wohnraumbewirtschaftung zu werden: den Behörden erschien die Belegung einer Sieben-Zimmer-Küche-Bad-Wohnung mit insgesamt sieben Personen (Herr Hoyser sen., Frau Hoyser sen., Lotte mit Kurt und Werner, Leni, die van Doorn) zu wenig. Immerhin hatte die Stadt bis dahin mehr als fünfhundertfünfzig Fliegeralarme und schon einhundertdreißig Angriffe erlebt, der gesamten Hoyser-Sippe wurden drei, |186|allerdings große Zimmer zugebilligt, Leni und Maria van Doorn »unter Aufbietung aller möglichen Beziehungen gewährt, je ein Zimmer behalten zu dürfen« (M. v. D.). Es kann angenommen werden, daß hier die hochgestellte Persönlichkeit aus dem kommunalen Bereich, die nicht genannt werden möchte, eine Rolle gespielt hat, obwohl sie bescheiden ableugnet, »dabei von Hilfe gewesen zu sein«. Immerhin blieben noch zwei Zimmer zur »Bewirtschaftung« frei, »und die fürchterlichen Pfeiffers, inzwischen aus ihrem Karnickelstall durch eine Sprengbombe vertrieben (Lotte H.), setzten alle Hebel in Bewegung, ›mit unserer lieben Schwiegertochter unter einem Dach zu wohnen‹. Der alte Pfeiffer genoß das Bombengeschädigtsein wie sein Humpelbein, er war geschmacklos genug zu sagen: ›Nun habe ich dem Vaterland auch noch meinen redlich erworbenen bescheidenen Besitz geopfert‹ (Lotte H.). Natürlich bekamen wir alle einen Schrekken, dann aber kriegte Margret durch ihren Bonzen (?? Der Verf.) heraus, daß der alte Pfeiffer kurz davorstand, mit seiner Schulklasse landverschickt zu werden, wir gaben nach – und hatten sie tatsächlich drei Wochen lang auf der Pelle sitzen, dann mußte er trotz seines Schleifbeines in die Landverschickung, nahm die miese Olle mit, und wir hatten nur noch den netten Heinrich Pfeiffer bei uns wohnen, der sich freiwillig gemeldet hatte und nur noch auf seine Einberufung wartete, und das gerade kurz nach Stalingrad« (Lotte H.).
Es verursachte einige Schwierigkeiten, über Lenis Hauptgegner in der Gärtnerei Verbindliches zu erfahren; auf den Gedanken, die Kriegsgräberfürsorge einzuspannen, kam der Verf. erst, nachdem er Einwohnerregister, Regimentslisten etc. reichlich und ohne Erfolg durchstöbert hatte. Eine Anfrage bei der Kriegsgräberfürsorge ergab, daß ein Heribert Kremp, 25 Jahre alt, Mitte März in der |187|Nähe des Rheins gefallen und nahe der Autobahn Frankfurt–Köln beerdigt sei; von der Adresse von Kremps Grab zur Adresse seiner Eltern zu gelangen, war nicht schwierig, wenn auch das Gespräch mit ihnen höchst unerfreulich war; sie bestätigten, daß er in Pelzers Gärtnerei gearbeitet, dort »wie überall, wo er lebte und wirkte, für Ordnung und Sauberkeit sich eingesetzt hat – und dann war er nicht mehr zu halten, als das Vaterland so arg bedrängt war, er meldete sich, obwohl oberschenkelamputiert, Anfang März freiwillig zum Volkssturm und fand den schönsten Tod, den er sich wünschen konnte«. Die Eltern Kremp schienen den Tod ihres Sohnes als durchaus normal zu empfinden, erwarteten vom Verf., was er ihnen nicht bieten konnte: ein paar anerkennende Worte, und da er auch angesichts des Fotos, das ihm gezeigt wurde, nicht sehr herzlich reagierte, schien es ihm besser, sich rasch – wie von Frau Schweigert – zu verabschieden; das Foto zeigte einen (dem Verf.) wenig sympathischen Menschen, breitmündig und mit kurzer Stirn, wolligem blondem Haar und Knopfaugen.
Um die Adressen dreier noch lebender weiblicher Zeugen aus Lenis Kriegsgärtnereitätigkeit aufzutreiben, bedurfte es nur eines linearen Auskunftbegehrens beim Einwohnermeldeamt, das nach Hinterlegung einer entsprechenden niedrigen Gebühr befriedigt wurde. Die erste, Frau Liane Hölthohne, die seinerzeit das Kranzabnahmekommando anführte, jetzt siebzig, ist Inhaberin einer vier Läden umfassenden Kette von Blumengeschäften. Sie bewohnt einen ungemein hübschen kleinen Bungalow, vier Zimmer, Küche, Diele, zwei Bäder, in einem fast noch ländlichen Vorort, ist mit makellosem Geschmack eingerichtet, Farbtönung und Formgepräge entsprechen einander, und da sie ohnehin in Büchern fast erstickt, ist sie innenarchitektonisch in jedem Fall gerettet. Sie war nüchtern, |188|jedoch nicht unfreundlich, silberhaarig gepflegt, und vom Foto eines Betriebsfestes, das im Jahre 1944 aufgenommen wurde und von Pelzer gezeigt wurde, hätte wohl keiner in der kleinen, etwas gedrungen wirkenden Frau mit Kopftuch und strengem Gesicht die zarte Altersschönheit wiedererkannt, die sich nun dem Verf. würdig und reserviert präsentiert; Ohrringe aus einem zarten Silbergeflecht, körbchenförmig, in denen je eine rundgeschliffene, lose Koralle zitterte, machten, da sie außerdem noch ihre immer noch pigmentstarken braunen Augen lebhaft bewegte, ihren Kopf zu einem vierfach bewegten, die Augen beunruhigenden Visierobjekt: es bebten die Ohrringe, es bebten in den Ohrringen die Korallen, es bebte ihr Kopf, und in ihrem Kopf bebten die Augen; ihr Make-up, die leicht geschrumpfte Haut an Hals und Handgelenken wirkten gepflegt, doch keineswegs so, als versuche Frau H. ihr Alter zu verheimlichen. Tee, Petits fours, Zigaretten in einem silbernen Etui (das knapp für acht Zigaretten reichte), eine brennende Wachskerze, Zündhölzer in einer Porzellanumhüllung, die handbemalt war mit einem Sternenkreis aus nur elf Bildern, in dessen Mitte ein stilisierter Schütze rosa von den ansonsten blau gehaltenen Sternbildern abstach, ließen die Vermutung zu, Frau H. sei im Zeichen des Schützen geboren; Vorhänge altrosa, Möbel hellbraun, Nußbaum, Teppiche weiß, an den Wänden, wo die Bücher Platz gelassen hatten, Stiche mit Rheinansichten, vorsichtig handkoloriert, sechs oder sieben Stiche (der Verf. kann hier nicht für äußerste Exaktheit bürgen), die höchstens sechs mal vier Zentimeter groß waren, präzis und von einer juwelenhaften Klarheit: Bonn von Beuel, Köln von Deutz aus gesehen, Zons vom rechten Rheinufer zwischen Urdenbach und Baumberg aus, Oberwinter, Boppard, Rees; und da der Verf. sich außerdem erinnert, Xanten gesehen zu haben, vom Künstler etwas näher an den Rhein gerückt, |189|als geographische Exaktheit zulassen würde – müssen es doch sieben Stiche gewesen sein. »Ja, ja«, sagte Frau Hölthohne und hielt dem Verf. das silberne Etui hin, fast, wie es ihm schien, mit einer Miene, als erwarte sie, er würde sich nicht draus bedienen (er mußte sie enttäuschen und bemerkte auch eine ganz, ganz leise Umwölkung ihrer Stirn). »Sie sehen recht, nur linksrheinische Ansichten (und sie eilte damit in ihrer Sensibilität der Auffassungs-, Wahrnehmungs- und Interpretationsgeschwindigkeit des Verf. voraus!). Ich bin Separatistin gewesen und bin es noch und nicht nur mental; am fünfzehnten November 23 bin ich am Ägidienberg verwundet worden, nicht auf der rühmlichen, auf der unrühmlichen Seite, die für mich immer noch die rühmliche ist. Ich lasse mir nicht ausreden, daß dieses Land nicht zu Preußen gehört, nie dazugehört hat und auch nicht in irgendein von Preußen gegründetes sogenanntes Reich. Separatistin, noch heute, nicht für ein französisches, für ein deutsches Rheinland. Der Rhein als des Rheinlands Grenze, und natürlich gehören das Elsaß und Lothringen dazu; als Nachbar ein unchauvinistisches Frankreich, republikanisch natürlich. Nun, ich bin 23 nach Frankreich geflohen, dort geheilt worden und mußte damals schon unter falschem Namen, mit falschen Papieren nach Deutschland zurück, 24 dann. Es war dann auch 33 besser, Hölthohne zu heißen und nicht Elli Marx, und weg wollte ich nicht wieder, nicht wieder emigrieren. Wissen Sie warum? Ich liebe dieses Land und die Leute, die es bewohnen: sie sind nur in die falsche Geschichte geraten, und nun mögen Sie mir mit so viel Hegel kommen, wie Sie wollen (der Verf. hatte nicht vor, mit Hegel zu kommen! Der Verf.), und mir sagen, man könne gar nicht in eine falsche Geschichte geraten. Es schien mir besser, nach 33 mein gutgehendes Büro als Gartenarchitektin dranzugeben, ich ließ es einfach pleite gehen, das war der einfachste |190|und am wenigsten auffällige Weg, wenn es auch schwierig war, mein Büro ging nämlich gut. Dann kam die Sache mit dem Ahnenpaß, heikel, gefährlich, aber ich hatte natürlich immer noch meine Freunde in Frankreich und ließ es von da aus machen. Diese Liane Hölthohne war nämlich 24 in einem Pariser Bordell gestorben, und man hatte an ihrer Stelle einfach die Elli Marx aus Saarlouis sterben lassen. Ich ließ das Ahnenpaß-Getue durch einen Pariser Anwalt machen, der wieder einen Bekannten bei der Botschaft hatte, aber so diskret es auch gemacht wurde, eines Tages kam dann eben ein Brief aus einem Dorf bei Osnabrück, in dem ein Erhard Hölthohne seiner Liane anbot, ›ihr alles zu verzeihen, und komm doch in die Heimat zurück, ich baue dir eine Existenz auf‹. Nun mußten wir erst warten, bis die Ahnenpaßpapiere beisammen waren, und dann diese Liane Hölthohne in Paris sterben lassen, während sie in Deutschland als Gartenarbeiterin weiterlebte. Nun, es klappte. War ziemlich sicher, aber nie todsicher, und deshalb schien es mir besser, bei einem Nazi wie dem Pelzer unterzuschlüpfen.«
Vorzüglicher Tee, dreimal so stark wie bei den Nonnen, köstliche Petits fours, aber zu oft, nun schon zum drittenmal griff der Verf. ins silberne Etui, obwohl der kaum nußschalengroße Aschenbecher Asche und Rest der dritten Zigarette kaum fassen würde. Kein Zweifel: Frau Hölthohne war eine intelligente und mäßige Frau, und da der Verf. ihren separatistischen Anschauungen nicht widersprach und auch nicht widersprechen mochte, schien trotz seiner Unmäßigkeit im Rauchen und Teetrinken (schon die dritte Tasse!) die Sympathie nicht abzuflauen. »Sie können sich denken, daß ich gezittert habe, objektiv mehr oder weniger unbegründet, denn die Verwandten dieser Liane tauchten nie auf, aber es hätte ja eine scharfe Betriebsprüfung, eine Personalkontrolle bei Pelzer vorgenommen werden können, und da war doch noch dieser |191|verfluchte Nazi Kremp, die Wanft und die deutschnationale Zeven, mit der ich an einem Tisch arbeitete. Pelzer, der ist und war immer ein Genie der Witterung; er muß gewittert haben, daß ich nicht so ganz sattelfest war, denn als er anfing, seine krummen Dinger mit den Blumen und dem Grün ziemlich offen und grob zu drehen, bekam ich Angst, ich würde nicht an mir, sondern über ihn in Gefahr geraten, wollte kündigen, und als ichs ihm sagte, sah er mich so komisch an und sagte: ›Sie kündigen? Können Sie sich das leisten?‹, und ich bin sicher, gewußt hat er nichts, aber gewittert hat er – und ich wurde nervös und nahm die Kündigung zurück, aber der hatte natürlich gemerkt, daß ich wirklich nervös geworden war und Grund hatte, nervös zu sein, und bei jeder Gelegenheit betonte er meinen Namen so, als wärs ein falscher Name, und von der Kremer wußte er natürlich, daß ihr Mann als Kommunist im KZ ermordet worden war, bei der Pfeiffer witterte er und hatte wiederum mit seiner Witterung tatsächlich eine Spur, trächtiger als er und wir alle ahnten. Daß da Sympathien herrschten zwischen der kleinen Pfeiffer und diesem Boris Lvović, war ziemlich deutlich und schon gefährlich genug, aber das – den Mut hätte ich ihr nicht zugetraut. Übrigens bewies Pelzer seine Witterung auch, als er 45 sofort wußte, daß Blumen ›flowers‹ heißen, nur mit Kränzen hat er sich vertan, er hat sie nämlich ›circles‹ genannt, und eine Zeitlang glaubten die Amerikaner, er habe Geheimzirkel gemeint.«
Pause. Kurz. Ein paar Fragen des Verf., der während der Pause mühsam den Rest seiner dritten Zigarette in der silbernen Nußschale unterbrachte und in der ansonsten makellosen Bücherwand mit Sympathie feststellte, daß die Einbände von Proust, Stendhal, Tolstoi und Kafka sehr abgegriffen wirkten, nicht schmutzig, nicht fleckig, nur abgegriffen, abgenutzt wie ein immer wieder geflicktes, gewaschenes Lieblingskleidungsstück.
|192|»Ja, ja, ich lese gern, und immer wieder Bücher, die ich schon etliche Male gelesen habe, den Proust hab ich schon in der Benjaminschen Übersetzung gelesen 29 – und nun zu Leni: natürlich ein Prachtmädel, ja, Mädel sage ich, wenn sie auch auf Ende Vierzig zugeht; nur: so recht warm wurde man nicht mit ihr, nicht während des Krieges und nachher nicht; nicht, daß sie kalt gewesen wäre, nur: still und so schweigsam; freundlich – aber schweigsam und eigensinnig; als erste hatte ich den Spitznamen die ›Dame‹ weg, dann, als Leni bei uns anfing, hießen wir ›die beiden Damen‹, aber es dauerte kein halbes Jahr, dann hatte man ihr die ›Dame‹ wieder weggenommen, und es war wieder nur eine ›Dame‹ da, ich. Seltsam – ich bin erst spät dahintergekommen, was Leni so merkwürdig, fast undurchsichtig machte – sie war proletarisch, ja, ich bleibe dabei, ihr Verhältnis zu Geld, Zeit und so weiter – proletarisch; sie hätte es weit bringen können, aber sie wollte nicht weiter; es war nicht das Fehlen von Verantwortungsgefühl, auch nicht die Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, und daß sie sogar planen konnte, nun, das hat sie wohl reichlich bewiesen, fast eineinhalb Jahre hat sie diese Liebschaft mit Boris Lvović gehabt, und nicht einer, nicht ein einziger von uns hat das für möglich gehalten, nicht einmal sind sie oder er ertappt worden, und ich kann Ihnen sagen, die beiden wurden von der Wanft und der Schelf und von diesem miesen Kremp mit Argusaugen überwacht, so daß ich manchmal Angst bekam und dachte, wenn sie was miteinander haben, dann gnade ihnen Gott. Gefährlich wars nur am Anfang, als sie – schon aus praktischen Gründen – gar nichts miteinander haben konnten, und ich habe natürlich manchmal bezweifelt, ob sie – wenn sie ... – wußte, was sie tat; sie war nämlich ziemlich naiv. Und wie gesagt: kein Verhältnis zum Geld, keins zum Besitz. Wir verdienten alle, je nach Zulagen und Überstunden und so, zwischen |193|25 und 40 Mark die Woche, später zahlte Pelzer uns noch ne ›Listenprämie‹ wie ers nannte: für jeden Kranz 20 Pfennig extra, die umgelegt wurden, nun, das machte auch ein paar Mark in der Woche, aber die Leni brauchte mindestens zwei Wochenlöhne jede Woche allein für ihren Kaffee, das konnte ja gar nicht gutgehen, obwohl sie die Mieteinnahmen aus dem Haus noch hatte. Manchmal habe ich gedacht und denke es heute noch: das Mädchen ist ein Phänomen. Man wußte nie genau, ob sie sehr tief ist oder sehr flach – und es mag widersprüchlich klingen: ich glaube, sie ist beides, sehr tief und sehr flach, nur eins ist sie nicht und nie gewesen: ein Flittchen. Das nicht. Nein. Ich habe ja 45 keine Wiedergutmachung bekommen, weils nicht zu klären war, ob ich als Separatistin oder als Jüdin untergetaucht war. Für untergetauchte Separatisten gabs natürlich keine Entschädigung – und als Jüdin, nun, beweisen Sie mal, daß Sie absichtlich pleite machen, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Was ich bekommen habe, und auch das nur durch einen Freund bei der französischen Armee, war eine Lizenz für eine Gärtnerei und einen Blumenhandel, und ich habe die Leni gleich Ende 45, als es ihr ziemlich dreckig ging mit ihrem Kind, zu mir ins Geschäft genommen, und sie ist vierundzwanzig Jahre, bis 70, bei mir gewesen. Nicht zehn- oder zwanzig-, nein mehr als dreißigmal habe ich ihr eine Filialleitung, ich habe ihr Teilhaberschaft angeboten, und sie hätte in einem hübschen Kleid vorne im Laden bedienen können, aber die stand lieber in ihrem Kittel in der kalten Hinterstube, flocht Kränze und band Blumensträuße. Kein Ehrgeiz, weiter und höher zu kommen, kein Ehrgeiz. Manchmal denke ich, sie ist eine Träumerin. Ein bißchen verrückt, aber sehr sehr liebenswert. Und natürlich, und auch darin sehe ich etwas Proletarisches, ziemlich verwöhnt: wissen Sie, daß sie, selbst Arbeiterin, mit einem Wochenlohn von höchstens fünfzig Mark, ihr |194|altes Dienstmädchen auch während des Krieges gehalten hat – und wissen Sie, was die ihr eigenhändig täglich buk?: ein paar frische Brötchen, knackfrisch, sage ich Ihnen, so daß mir manchmal das Wasser im Munde zusammenlief und ich – wenn auch ganz die ›Dame‹ – manchmal drauf und dran war, zu sagen: ›Kind, lassen Sie mich mal beißen, bitte, lassen Sie mich mal beißen.‹ Und sie hätte mich beißen lassen, darauf können Sie sich verlassen – ach, hätte ich sie nur gefragt, und würde sie mich doch, wenn es ihr jetzt so dreckig geht, ruhig um Geld fragen –; aber wissen Sie, was sie außerdem ist? Stolz. So stolz wie Prinzessinnen nur im Märchen sind. Und was ihre binderischen Fähigkeiten betrifft, so wurde sie sehr überschätzt; natürlich war sie geschickt und begabt, aber für meinen Geschmack hatte ihre Garnierung zuviel Filigranelemente, zu fein, wie Stickerei, nicht wie schönes, grobmaschiges Stricken; sie wäre eine sehr gute Gold- und Silberschmiedin geworden, aber bei Blumen – das mag Sie überraschen – muß man manchmal rauh und herzhaft zupacken, das tat sie nie, es steckte Mut in ihrer Garnierung, doch keine Kühnheit. Bedenkt man aber, daß sie vollkommen ungelernt war, so wars schon großartig, subjektiv großartig, wie rasch sie das gelernt hatte.«
Da die Teekanne nicht mehr erhoben, das silberne Etuichen nicht mehr geöffnet und entgegengehalten wurde, hatte der Verf. den Eindruck, die Unterredung sei (vorläufig mit Recht, wie sich herausstellte) beendet. Ihm schien, Frau Hölthohne habe Wesentliches zur Vervollständigung des Leni-Bildes beigetragen. Frau H. gewährte ihm noch einen Blick in ihr kleines Atelier, wo sie sich neuerdings wieder der Gartenarchitektur widmet. Für Zukunftsstädte entwirft sie »hängende Gärten«, die sie »Semiramis« nennt – eine, wie dem Verf. schien, relativ einfallsschwache Bezeichnung für eine so leidenschaftliche Proust-Leserin. Es blieb beim Abschied der Eindruck, |195|daß dieser Besuch endgültig beendet, weitere aber nicht ausgeschlossen seien, denn es blieb viel, wenn auch ermüdete Liebenswürdigkeit auf dem Gesicht von Frau H. stehen.
Bei den Damen Marga Wanft und Ilse Kremer kann partiell wieder Synchronisation vorgenommen werden; beide Invalidenrentnerinnen, die eine siebzig, die andere neunundsechzig Jahre alt, beide weißhaarig, beide in Eineinhalbzimmer-Sozialbauappartements wohnend, mit Ofenheizung, Mobiliar aus dem Beginn der fünfziger Jahre, bei beiden der Eindruck der »Knappheit« und Hinfälligkeit, doch – hier beginnen die Differenzen – die eine (Wanft) mit einem Nymphen-, die andre (Kremer) einem Wellensittich. Die Wanft – hier werden die Differenzen erheblich – streng, fast unnahbar, knappmündig, als spukke sie dauernd, und das angesichts der Kleinheit ihres Mundes mit äußerster Mühe, Kirschkerne aus, war nicht bereit, »viel über dieses Luder zu sagen. Ich habs doch gewußt, ich habs doch geahnt, und ich könnte mich heute noch ohrfeigen, daß ichs nicht rausgekriegt habe. Die hätte ich gern mit geschorenem Kopf gesehen, und ein bißchen Spießrutenlaufen hätte der auch nicht geschadet. Sich mit nem Russen einzulassen, während unsere Jungs an der Front waren und ihr Mann gefallen und ihr Vater ein Schieber erster Güte – und der wurde nach drei Monaten schon die Garnierungsgruppe übergeben und mir abgenommen. Nein. Ne Schlampe, sonst nichts – keinen Sinn für Ehre, und immer mit ihrem aufreizenden Leib –, die hat alle Männer verrückt gemacht; der Grundtsch scharwenzelte wien Kater um sie rum, für den Pelzer war sie die erotische Ersatz-Reserve zwei, und sogar dem guten Arbeiter Kremp, der sein Bestes hergab, hat sie den Kopf verdreht, so daß er ganz unleidlich wurde. Und spielte auch noch die Dame und war doch nichts als ne |196|abgetakelte Neureiche. Nee. Was war das fürn harmonisches Arbeiten, bevor sie kam. Danach war immer so ein Knistern in der Luft, Spannungen, die sich nie entluden – Prügel wäre die beste Entspannung gewesen. Na, und das kitschige Jungmädchenpensionatsgefummel mit den Blumen, da sind sie dann alle drauf reingefallen. Nein, ich war isoliert, regelrecht isoliert, seit sie da war, und auf deren Getue mit Kaffeeanbieten und so bin ich gar nicht erst reingefallen, das nennen wir ›süßes Heu‹, nichts sonst, ne Pute, ne halbe Nutte und ein Flittchen ganz bestimmt.« Das ging nicht so rasch, wies hingeschrieben wird, bei der Wanft: Stück für Stück, Kern für Kern, wie aus ihrem Mund rausgedrückt, und mehr wollte sie nicht sagen und sagte doch mehr, bezeichnete den alten Grundtsch als »mißglückten Faun oder Pan, wie Sie wollen«, und Pelzer als den »schlimmsten Schurken und Opportunisten, den ich je gekannt habe, und für den habe ich mich bei der Partei eingesetzt, für ihn garantiert habe ich. Als Vertrauensperson der Partei (Gestapo? Der Verf.) wurde ich doch immer gefragt. Und nach dem Krieg? Als mir die Rente gestrichen wurde, weil mein Mann doch nicht im Krieg, sondern 32/33 bei Straßenkämpfen gefallen war? Nichts von Herrn Walter Pelzer, der doch im gleichen SA-Sturm wie mein Mann war. Nichts. Mit Hilfe der kleinen Nutte und der jüdischen Dame hat er sich rausschwindeln können, während ich drinsaß und drin hocken blieb. Nein, gehen Sie mir weg mit denen. Es gibt keine Dankbarkeit und keine Gerechtigkeit auf dieser Welt, und ne andere als diese haben wir nun mal nicht.«
Frau Kremer, die noch am gleichen Tag aufgesucht werden konnte, war, was Leni betrifft, wenig ergiebig, nannte sie nur »das arme, liebe Ding – das liebe Ding, das arme und so ahnungslose, das liebe arme Ding. Und dieser Russe, nun, ich muß Ihnen sagen, ich war sehr mißtrauisch |197|und wäre es heute noch. Wenn das nicht ein verkappter Gestapospitzel war. Wie der Deutsch konnte und wie zuvorkommend der war, und wieso kam ausgerechnet der in eine Gärtnerei und nicht auf die Himmelfahrtskommandos beim Bombenräumen und Bahnschienenreparieren? Ein netter Junge war er ja, aber ich hab mich nicht getraut, mit ihm viel zu reden, jedenfalls nicht mehr, als bei der Arbeit nötig war.«
Frau Kremer muß man sich als eine gänzlich verblaßte ehemalige Blondine vorstellen, deren ehemals gewiß blaue Augen fast farblos geworden sind. Weiches Gesicht, in Weichheit aufgelöst, nicht bösartig, nur ein bißchen grämlich, bekümmert, nicht kümmerlich, Kaffee anbietend, doch keinen trinkend; breitmündig sprach sie leicht dahinfließend, ein bißchen lau, die Interpunktion kaum im Sprachrhythmus beachtend. Nicht nur überraschend, geradezu signalhaft aufleuchtend die unbeschreibliche Präzision, mit der sie von Hand Zigaretten drehte: exakt, aus halbfeuchtem, honiggelbem Tabak, makellos, und brauchte mit der Schere keine Flusen abzuschneiden. »Ja, das habe ich schon früh gelernt, war vielleicht das erste, was ich gelernt habe, für meinen Vater 1916 auf Festung, später für meinen Mann im Kittchen, dann, als ich selbst ein halbes Jahr saß; und in der Arbeitslosenzeit natürlich und wieder im Krieg – ich bin im Zigarettendrehen nie aus der Übung gekommen«, hier steckte sie sich eine an, und plötzlich, mit dem frisch gedrehten weißen Glimmstengel im Mund, konnte man ahnen, daß sie einmal jung und sehr hübsch gewesen war; natürlich bot sie auch eine an, ohne viel Getue, schob einfach eine Zigarette über den Tisch und deutete auffordernd drauf. »Nein, nein, ich will nicht mehr, will nicht mehr. Ich wollte schon 29 nicht mehr; ich hatte nie viel Kraft, jetzt habe ich gar keine mehr, und im Krieg hat mich nur der Junge, mein Erich, aufrechterhalten, ich |198|habe immer nur gehofft, er wird nicht alt genug, bevor der Krieg zu Ende geht, aber er wurde alt genug, und sie haben ihn weggeholt, noch bevor er die Schlosserlehre aus hatte; still, schweigsam, ein ernster Junge, und bevor er wegging, habe ich zum letztenmal im Leben was Politisches gesagt, gefährlich: ›Lauf über‹, hab ich gesagt, ›sofort.‹ ›Überlaufen?‹ hat er gefragt, mit seiner ewig gerunzelten Stirn, und ich habs ihm erklärt, was Überlaufen ist. Da hat er mich komisch angesehen, ich hab Angst gekriegt, daß er wo was sagt darüber, da hat er wohl, selbst wenn ers gewollt hätte, gar keine Zeit mehr gehabt. Sie haben ihn im Dezember 44 zum Schanzen an die belgische Grenze geschleppt, und ich habe erst Ende 45 Bescheid bekommen, daß er tot ist. Siebzehn. Hat immer so ernst und freudlos ausgesehen, der Junge. Unehelich, müssen Sie wissen, Vater Kommunist, Mutter ebenfalls. In der Schule und auf der Straße hat ers zu hören bekommen. Sein Vater seit 42 tot, seine Großeltern hatten doch selber nichts. Na. Den Pelzer hatte ich schon 23 kennengelernt. Möchten Sie raten, wo? Sie werdens nicht raten. In der KP. Der hatte nämlich nen faschistischen Propagandafilm gesehen, der hätte abschreckend wirken sollen; auf ihn wirkte er anziehend. Der Walter verwechselte in dem Film Revolution mit Plünderei und Räuberei, da war er schief gewickelt, flog raus aus dem Kampfbund, ging zum Freikorps, dann schon 29 in die SA. Zuhälter war er auch ne Weile. Der konnte alles. Auch Gärtner war er natürlich, Schwarzhändler, was Sie wollen. Frauenheld. Überlegen Sie mal, wie die Belegschaft in der Kranzbinderei zusammengesetzt war: drei scharfe Faschisten: der Kremp, die Wanft und die Schelf; zwei Neutrale: die Frieda Zeven und die Helga Heuter; mich als lahmgelegte Kommunistin; die Dame als Republikanerin und Jüdin; Leni, politisch nicht klassifiziert, aber doch angeschlagen durch den Skandal mit ihrem Vater und immerhin Kriegerwitwe; |199|dann den Russen, den er nun tatsächlich ziemlich hofiert hat – was konnte dem nach dem Krieg passieren? Nichts. Und es ist ihm ja nichts passiert. Bis 33 hat er mich geduzt, wenn ich ihn mal traf, hat er gesagt: ›Na, Ilse, wer wirds Rennen machen, ihr oder wir?‹; von 33 bis 45 hat er mich gesiezt, und die Amerikaner waren noch nicht fünf Tage da, da hatte er schon wieder eine Lizenz, ist zu mir gekommen, hat mich wieder Ilse genannt und gemeint, ich müßte jetzt aber Stadtverordnete werden. Nein, nein, nein – ich hab zu lange gewartet, hätte schon Schluß machen sollen, als der Junge wegging. Ich hab nicht mehr gewollt, schon lange nicht mehr. Die Leni ist Ende 44 mal privat zu mir gekommen, hat dagesessen und eine Zigarette geraucht und hat mich immer so ein bißchen bang angelächelt, als wollte sie was sagen, und ich wußte sogar ungefähr, was sie hätte sagen können, wollte es aber nicht wissen. Man sollte nie zuviel wissen. Ich wollte gar nichts wissen, und weil sie stumm und bang lächelnd dagesessen hat, hab ich schließlich zu ihr gesagt: ›Nun sieht man ja, daß du schwanger bist, und was es heißt, eine Uneheliche zu sein, das weiß ich.‹ Nein, und dann nach dem Krieg der ganze Klimbim mit Widerstand und Rente, Wiedergutmachung und eine neue KP mit Leuten, von denen ich weiß, daß sie meinen Willi auf dem Gewissen haben. Wissen Sie, wie ich die genannt habe? Ministranten. Nein, nein – dazwischen die ahnungslose Leni, das arme liebe Ding, die sie tatsächlich rumgekriegt haben, als ›Hinterbliebene eines tapferen Frontkämpfers der Roten Armee‹ so ne Art Wahlkampf-Blondine abzugeben. Und ihren kleinen Jungen als Lev Borrisovič Gruyten – na, da haben dann wohl alle Bekannten und Verwandten auf sie eingeredet, daß das nicht ging, und sie hats gelassen, aber sie hatte dann noch mehr Dreck am Stecken als während des Krieges. Noch Jahre später hat man sie ›die blonde Sowjet-Hure‹ genannt – das arme |200|liebe Ding. Nein, leicht hat sie’s nie gehabt, bis heute nicht.«