LEONARD UND ICH
»Ich habe seine Asche mit nach Hause genommen. Er will, dass sie in den Neversink geschüttet wird. Das ist verboten, aber so will er es nun mal.«
»Neversink?«
»Das ist ein Stausee«, sagtest du. »Oben in den Catskills, wo er geboren ist.«
Das war gewissermaßen die Einführung; das war an dem Abend, an dem wir uns kennenlernten. Michael, vom Scotch schon betrunken, hatte uns von hinten beim Nacken gepackt und mit der Stirn aneinandergedrückt.
»Ihr zwei solltet Freunde sein«, sagte er. Er war das Geburtstagskind, darum saßen wir nebeneinander im Hinterzimmer des Restaurants und spielten Was machst du, wen kennst du. Außer dass du geschwindelt hast. Du erzähltest mir, du seist gerade mit dem Flugzeug von der Trauerfeier deines Vater in L. A. zurückgekommen.
»Wie ist er gestorben?«, fragte ich. Ich wusste, dass diese Frage nicht sehr taktvoll war, aber ich musste sie einfach stellen. Ich will nämlich immer wissen, wie Tote zu Toten wurden.
Du hieltest eine rote Kerze schief, sodass das Wachs auf meine Handfläche tropfte. »Tut das weh?«
»Nein«, log ich.
»Dann hast du eine hohe Schmerzgrenze, Frank. Das gefällt mir.«
»Frankie«, sagte ich. Ich habe tatsächlich eine hohe Schmerzgrenze. Das bedeutet aber nicht, dass ich Schmerzen mag.
»Er starb an Lungenkrebs, Frankie. Er hat vier Schachteln am Tag geraucht.«
Ich hatte noch nie gehört, dass jemand vier Schachteln am Tag raucht. »Das tut mir leid«, sagte ich. Es schien der falsche Moment zu sein, »Das tut mir leid« zu sagen, aber mir war klar, dass dieser Satz in einem Gespräch über einen toten Verwandten irgendwann fallen musste, und ich dachte mir, ich füge ihn besser hinzu, solange ich die Chance dazu habe.
»Es war, als ob«, sagtest du und hieltest dann inne. »Es war, als ob er sich selbst abfackeln wollte.«
Ich spielte mit dem Wachs in meiner Hand und sagte nichts. Keiner in meiner Familie war tot, und es fiel mir schwer, sie mir tot vorzustellen.
Wir saßen zu zwanzigst dicht gedrängt in dem schmalen Hinterzimmer. Krumme rote Kerzen brannten auf dem langen, in Gelb gedeckten Tisch; an den Wänden hingen Zebrafellimitationen neben gerahmten Fotografien magerer afrikanischer Frauen, um deren in die Länge gezogene Hälse sich eng anliegende silberne Reifen wanden.
»Das sind keine Äthiopierinnen«, sagtest du und deutetest mit dem Kinn auf die Fotografien. »Die sind vom Stamm der Zatusi. Sie leben hauptsächlich in Kenia.«
Unser gemeinsamer Freund Michael, das Geburtstagskind, stand schwankend am anderen Ende des Tisches auf, Weinglas in der Hand, und verkündete: »Ich bin jetzt dreißig Jahre alt, verdammt noch mal, und ich bin nicht glücklich darüber.« Aber ich konnte Michael jetzt nicht zuhören.
»Warst du bei ihm, als er starb?«, fragte ich.
»Ich habe seine Hand gehalten. Er sah aus wie ein frisch geschlüpftes Küken.«
»Das Wichtigste ist«, sagte Michael, »ich meine, das Aller-wichtigste ist, dass alle meine besten Freunde heute Abend hier sind. Abgesehen von dir«, sagte er, auf mich deutend. »Wer zum Teufel bist du denn?«
Einen Moment lang war ich nervös, doch dann begannen alle zu lachen, und ich lachte mit. Du lachtest, und dann drücktest du unter dem Tisch mein Knie.
»Kleiner Scherz, Frankie«, sagte Michael. »Wir sind alle froh, dass du heute Abend kommen konntest. Frankie wird uns später die ersten Kapitel seiner Doktorarbeit über John Donnes Geistliche Sonette zum Besten geben. Das ist doch was, worauf wir uns freuen können.«
Das Ärgerliche ist, dass Michael am College Englische Literatur als Hauptfach belegt hatte; er kann meinen Beruf somit nach allen Regeln der Kunst ins Lächerliche ziehen. Michael managt seinen eigenen Hedgefonds; ich habe keine Ahnung, was das bedeutet. Er bezahlt das Abendessen, das bedeutet es.
Als ich sicher war, dass Michael mit mir fertig war, fragte ich dich, was du mit »frisch geschlüpftes Küken« meintest. Du hattest deinen Stuhl näher an meinen gerückt; ich konnte nun dein Parfüm riechen. Zimt.
»Hast du mal gesehen, wie ein Küken aus der Schale kommt?«, fragtest du mich. »Da ist nur dieser flaumbedeckte Kopf, der auf einem furchtbar mageren Körper hin und her wackelt. Genau so sah Leonard aus. Mein Dad. Er wog nur noch etwa fünfundvierzig Kilo, als er starb.«
»Hatte er große Schmerzen?«
»Das weiß ich nicht. Er war ja gar nicht mehr bei sich. Hoffentlich nicht. Es ist, wie wenn man mit einem Marmeladenglas eine Spinne einfängt und den Deckel fest zuschraubt, und zuerst huscht sie noch überall herum, aber dann beginnt ihr die Luft auszugehen, sie wird langsamer und langsamer, und zuletzt kippt sie einfach um.«
Ich dachte eine Weile darüber nach.
»Es war schwer, mit ansehen zu müssen, wie er immer kleiner wurde«, erklärtest du mir. »Er war früher groß, ein großer, kräftiger Kerl. In den Sechzigerjahren war er in einer Motorrad-Gang.«
»Wirklich? Bei den Hell’s Angels?«
»Bei den Suicide Kings. Die waren noch um einiges härter als die Hell’s Angels. Wenn die Suicide Kings eine Kneipe betraten, tranken die Hell’s Angels schleunigst aus und gingen. Hast du Hunter Thompsons Buch über die Hell’s Angels gelesen?«
»Nein.«
»Leonard kommt darin vor. Er hat mal einem Typ einen solchen Schlag versetzt, dass er sich dabei die Hand brach, und als er im Krankenhaus war, wo der Bruch eingerichtet wurde, da fanden die Ärzte einen Zahn von dem Typ. Er war zwischen zwei Knöcheln stecken geblieben.«
»Ein Zahn von dem Typ?«
»Kannst du dir das vorstellen? Der Zahn steckte an die zwei Zentimeter tief.«
»Das muss ein Mordsschlag gewesen sein.« Ich fuhr mir mit der Zunge über die Zähne. »War der Typ, dem er den Schlag versetzt hat, ein Hell’s Angel?«
»Nein. Das war ein Meeresbiologe.«
»Wenn man dreißig wird«, sagte Michael am Kopfende des Tisches, »sieht man sich genötigt, innezuhalten und Inventur zu machen. Also habe ich das gemacht, und am nächsten Tag gingen die Börsenkurse in den Keller, und jetzt verkaufe ich bei siebeneinviertel.« Im Raum brach lautes Gelächter aus, und Michaels Freunde aus der Finanzbranche schlugen auf den Tisch und brüllten. Ich setzte mein Grinsen auf, kam mir wie ein Idiot vor.
»Armer Michael«, sagtest du. »Dabei war er früher mal so charmant.«
Ich wollte dich so sehr, dass es mir den Magen zusammenzog: dein blasses Gesicht, umrahmt vom wilden Gewirr fast pechschwarzer Haare, deine kleinen und schiefen Zähne, dein Schlüsselbein ein flüchtig skizziertes Flügelpaar. Verzeih mir, dass ich das sage, aber deine Schönheit ist ungewöhnlich, und ich war stolz, sie entdeckt zu haben, stolz auf mein Auge, stolz wie ein Schallplattenverkäufer, der das schwarze T-Shirt seiner geliebten, vertragslosen Band trägt.
»Er brauchte zwei Stunden, um zu verbrennen.«
Es lag etwas Gewalttätiges zwischen meinen Gedanken und deinen Worten. Ich kam zu dem Schluss, dass ich dich falsch verstanden hatte. »Verzeihung, wie war das?«
»Leonard. Er war doch so mager, als er starb. Und Fett entwickelt bekanntlich die größte Hitze. Sie sagten, es habe zwei Stunden gedauert, ihn einzuäschern.«
»Das haben sie dir gesagt?«
»Normalerweise dauert es eine Stunde, eineinhalb Stunden. Man sollte nicht meinen, dass es so lange dauert.«
»Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht.«
»Es ist wegen der Knochen«, sagtest du, schobst deinen Stuhl vom Tisch zurück und standest auf. »Knochen brauchen lange, um zu verbrennen. Es war nett, dich kennenzulernen, Frankie.«
»Gehst du schon?«
»Ich muss. Ein Freund von mir spielt heute Abend im Blue Note. Lass dir von Michael meine Nummer geben«, teiltest du mir mit, beugtest dich herunter, um mich auf die Wange zu küssen. Ich wollte den Kuss erwidern, aber du hattest dich schon umgedreht. Ich saß am Tisch und schaute zu, wie die krummen Kerzen herunterbrannten, während alle um mich herum tranken und lachten und zu guter Letzt American Pie sangen.
040
Ich ließ mir von Michael deine Nummer geben und rief dich am nächsten Abend an, aber du warst die ganze Woche beschäftigt, und in der Woche darauf ebenfalls, und ich fand mich damit ab, dich nie wiederzusehen. Doch dann riefst du mich an, einen Monat nach der Geburtstagsfeier, und ludst mich ein, mit dir den Meteoritenschauer anzuschauen.
»Am besten ist es angeblich gleich nach Sonnenuntergang«, erklärtest du mir. »Wir treffen uns auf der Sheep Meadow.«
Die Sonne stand schon ziemlich tief. Ich putzte mir die Zähne, während ich duschte, und der Himmel war noch hell, als ich die Treppe zu meiner U-Bahn-Station hinunterstieg. Dreißig Minuten später stolperte ich auf der Sheep Meadow über einen aufgebrachten Meteoritenbeobachter. Ich hatte vergessen, dich zu fragen, wo wir uns treffen wollten, und die Meadow ist sehr groß, vor allem in einer mondlosen Nacht. Ich glaubte dich bäuchlings auf einer Decke liegen zu sehen und beugte mich vor, um mich zu vergewissern.
»Hau ab, du Wichser«, sagte ein Mädchen im Teenageralter.
Endlich hörte ich dich meinen Namen rufen. »Frankie«, riefst du. »He! Frankie! Hier drüben, Schatz.«
Du saßest im Schneidersitz auf einer Steppdecke, ganz in Schwarz gekleidet. Alles, was ich sehen konnte, waren deine Hände und dein Gesicht und der weiße Rauch, der aus deinem Mund aufstieg. »Nimm Platz«, sagtest du und klopftest neben dir auf die Decke. »Nimm Platz und rauch mit.« Du reichtest mir einen fest gerollten Joint, und ich ließ mich damit nieder, inhalierte tief.
»Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte ich. »Ich konnte dich nicht finden.«
»Ich weiß. Ich habe dich herumirren sehen.« Du lachtest. »Tut mir leid, ich weiß, das ist gemein. Aber du sahst so süß aus, so traurig. Wie ein verlassenes Hündchen.«
»Ach«, sagte ich nur.
»Du bist doch nicht sauer auf mich, oder?«, fragtest du, während du wieder den Joint nahmst.
»Aber nein.« Ich war wirklich nicht sauer. Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass ich sauer sein sollte. Ich saß mit dir in der Dunkelheit auf einer Decke. Alles war gut.
»Weißt du, was ich an dir so mag, Frankie?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Du hast keinen Funken Bosheit im Leib.«
Ich sagte nichts, aber das schien mir ein schwaches Motiv für Liebe zu sein. Du beugtest dich zu mir, und ich sah kurz schiefe Zähne aufblitzen, bevor du mir einen festen Kuss auf die Lippen drücktest. Wir legten uns zurück, um den Himmel zu beobachten, ließen den Joint hin und her wandern. Es war August, und die Luft war warm, das Gras dicht und weich unter unserer Decke. Ich spürte, wie sich der Rauch durch meinen Körper schlängelte, sich unterwegs um Ecken wand. Du bliesest einen Rauchring über unsere Köpfe, und wir schauten zu, wie er größer und größer wurde, bis ihn die Dunkelheit verschluckte.
»Da«, sagtest du, mit einem fahlen Finger deutend. »Eine Sternschnuppe.«
Ich kniff die Augen zusammen, sah aber nichts. »Ich habe sie verpasst.«o
»Da ist noch eine.«
Wir rauchten und sprachen über Filme und schätzten den Wert der Hochhäuser am Central Park South, aber jedes Mal wenn ein Meteorit vorbeisauste, blickte ich gerade in die falsche Richtung.
»Ich wünschte, du hättest Leonard gekannt«, teiltest du mir mit. »Meinen Dad. Er hätte dich gemocht.«
041
Noch in der gleichen Nacht nahmst du mich mit zu dir nach Hause, doch niemand zog sich nackt aus. Sobald ich durch die Tür trat, begann ich zu niesen. Deine beiden schwarzen Katzen saßen auf dem Fensterbrett und starrten mich mit gelangweilten gelben Augen an. Ich starrte sie ebenfalls an, während du in die Küchennische gingst und Teewasser aufsetztest. Als der Kessel zu pfeifen begann, hoben beide Katzen die rechte Pfote und schlugen mit den Krallen in die Luft. Sie beobachteten mich, um zu sehen, wie ich darauf reagierte. Ich blinzelte und drehte mich um.
»Deine Katzen sind irgendwie unheimlich.«
»Die sind sogar richtig unheimlich. Luther, das ist der, der schielt, der versteht Portugiesisch. Bist du allergisch?«
»Nein«, log ich.
Dein Apartment bestand zum größten Teil aus Bett, einem riesigen Bett mit schmiedeeisernem Kopf- und Fußbrett. Ein kleiner Schreibtisch aus Holz, mit einer blauen Keramiklampe und einem Spiralblock darauf, drückte sich o-beinig in eine Ecke. Dein Apartment lag im zwanzigsten Stock, aber alles, was man durch die Fenster sehen konnte, waren die im zwanzigsten Stock gelegenen Apartments auf der anderen Straßenseite.
»Da«, sagtest du und reichtest mir eine Tasse Tee, »Ginseng.« Wir setzten uns auf das riesige Bett und bliesen auf unseren Tee. »Das Bett hat Leonard gehört. Ich meine, früher mal. Ich habe es schon seit Jahren. Bei seiner Trauerfeier bin ich allen möglichen Frauen begegnet, seinen alten Geliebten. Und bei jeder, der ich begegnet bin, dachte ich immer nur: Haben sie es auf meinem Bett getrieben? Ich bekomme Briefe von allen möglichen Leuten, lauter Freunden von Leonard, Leuten aus dem ganzen Land. Einer schrieb sogar aus Australien.«
Ich musste niesen.
»Diese Briefe - niemand, der meinem Dad je begegnet ist, konnte ihn vergessen. Ich bekomme Briefe von Leuten, die ihm nur einmal begegnet sind; ich bekam sogar einen Brief von einer Frau, die ihm nie begegnet ist, deren Mann aber immer von ihm sprach. Mein Gott, Frankie, du solltest diese Briefe mal sehen.« Du blicktest auf deine schielende Katze. »Die Menschen liebten Leonard.« Wir schwiegen eine Weile, und dann sagtest du: »Warte, ich zeige dir einen.« Du gabst mir deine Teetasse zu halten und gingst hinüber an deinen kleinen o-beinigen Schreibtisch. »Aber du musst mir versprechen, nicht zu fragen, wer ihn geschrieben hat, okay?«
»Okay.«
Du holtest ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Schreibtischschublade und brachtest es mir. »Lies mal den Teil da«, sagtest du, setztest dich neben mich, fuhrst mit dem Finger unter den Sätzen entlang. Der Brief war getippt und ohne Unterschrift. Der Teil, den ich las, lautete:
Wenn er nüchtern war, war er der höflichste Mann auf Erden, ein echter Gentleman. Er erinnerte sich an die Geburtstage und Jahrestage von allen und schickte immer Blumen, immer Chrysanthemen. Ein Kavalier der alten Schule, der Damen die Wagentür aufhielt, jedem einen Drink spendierte, wenn er bei Kasse war. Er war ein Heiliger, Ihr Vater. Er hätte die Münzen auf den Augen eines Toten gestohlen, aber er war ein Heiliger.
Du faltetest das Blatt ordentlich zusammen und legtest es zurück in die Schreibtischschublade. »Wenn ich dir sagen würde, wer das geschrieben hat, würdest du es mir nicht glauben.«o
»Natürlich würde ich es dir glauben.« Ich presste die Augen zusammen und versuchte, einen weiteren Niesanfall zu unterdrücken.
Du nahmst ein Buch von der Schreibtischplatte und reichtest es mir, nahmst mir dafür die Teetassen ab und stelltest sie auf den Nachttisch aus Korb. »Das hatte er im Krankenhaus neben seinem Bett liegen. Er las jeden Tag darin. Ganz am Ende, als er blind wurde, las ich ihm daraus vor.«
Ich hielt den zerfledderten blauen Band in meinen Händen, die Seiten vom vielen Umblättern abgegriffen, auf den Rändern das blaue Gekritzel einer unleserlichen Handschrift, Büroklammern, die die wichtigsten Passagen markierten.
»Moby Dick? Ich hätte bei ihm eher Unterwegs erwartet.«
Du schütteltest heftig den Kopf. »Für ihn war Kerouac ein Schwindler. Aber Moby Dick, mein Gott, dieses Buch liebte er. Eine Stelle kannte er sogar auswendig …« Du nahmst mir das Buch ab und blättertest darin. »Hier«, sagtest du, deutetest auf zwei mit blauer Tinte eingerahmte Sätze, daneben auf dem Rand drei blaue Sterne.
Ich beugte mich vor, um die Zeilen zu lesen, und musste lächeln. »Das war auch die Lieblingsstelle meines Professors.«
»Leonard sprach sie immer vor sich hin. Immer und immer wieder. Er verließ die Catskills, als er sechzehn war, und kehrte nie zurück, aber er war und blieb ein Junge aus den Bergen. Und dieses Zitat«, sagtest du, mit dem unlackierten Fingernagel auf die gedruckten Worte klopfend, »das war sozusagen sein Mantra.«
»Es ist wunderschön«, sagte ich. Ich musste wieder niesen.
Du nicktest, fuhrst mit dem Finger der blauen Tintenrille nach. »Ich möchte, dass du es hast.«
»Aber …«
»Nimm es, Frankie. Vielleicht hältst du irgendwann mal eine Vorlesung über Melville und kannst Leonards Notizen verwenden.«
Ich wollte dir sagen, dass mein Gebiet die englische Literatur war, sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, dass ich nie eine Vorlesung über Moby Dick halten würde, dass ich, was noch viel wichtiger war, ein so großes Geschenk nicht verdient hatte, aber du hattest das Bett bereits verlassen. Du knietest dich neben eine blaue Obstkiste, in der Schallplattenhüllen aufgeschichtet waren.
»Hier ist er«, sagtest du zu mir, die Hand auf einem bauchigen schwarzen Tongefäß mit Messingdeckel, das auf dem Verstärker der Stereoanlage stand.
Ich machte den Mund auf und dann wieder zu. Ich sah hinüber zu den Katzen, die mich beide anstarrten, der schielende Luther mit zuckendem Schwanz. Ich sah wieder zu dir und dem schwarzen Tongefäß und sagte: »Leonard?«
»M-hm. Das ist eigentlich keine offizielle Urne. Aber ich fand, dass eine echte Urne morbid aussehen würde.«
Ich wette, dass manche Leute es morbid finden würden, ihren Alten Herrn in einem schwarzen Tongefäß auf dem Verstärker stehen zu haben, aber das sagte ich nicht. Stattdessen sagte ich: »Wolltest du ihn nicht in einen Stausee schütten?«
»Ja, in den Neversink. Aber die Behörden haben es nun mal nicht gern, wenn die Leute die Asche ihrer Daddys ins Trinkwasser kippen. Leonard war der Gesetzesbrecher, nicht ich.«
042
Zwei Tage später teiltest du mir mit, dass ich dein fester Freund sei, und zum Beweis schliefen wir miteinander. Leonards Bett war mit schwarzen Katzenhaaren übersät, und ich bekam am ganzen Körper einen Nesselausschlag. Meine Augen waren so zugeschwollen, dass ich kaum sehen konnte. Beide Nasenlöcher waren komplett verstopft; ich lag nach Atem ringend auf dem Rücken, während Luther und die andere Katze, deren Namen ich nie erfuhr, auf dem Fensterbrett saßen und mich anstarrten.
»Vielleicht sollten wir zu dir gehen«, schlugst du vor.
»Wenn du meinst«, sagte ich.
Es endete damit, dass du dich wegen der Aussicht auf die Skyline von Manhattan in mein Apartment verliebtest. »Das ist so was von fantastisch! Ich kann es kaum erwarten, bis es regnet. Ich möchte das Empire State Building bei Regen sehen. Oder bei Schnee! Ich kann es kaum erwarten, bis es schneit.«
Wir brachten einen Koffer voll Kleidung von dir in mein Apartement und eine volle Einkaufstasche mit dem Nötigsten. Lieblingsalben, unentbehrliche Gewürze, Toilettenartikel, Kühlschrankmagnete, ein Handspiegel aus Elfenbein, der deiner Großmutter gehört hatte, eine einarmige G.-I.-Joe-Puppe, die der fünfjährige Leonard unter dem Weihnachtsbaum vorgefunden hatte.
»Ich werde alle paar Tage in meine Wohnung gehen«, erklärtest du mir. »Und nach den Katzen sehen. Hoffentlich kommen sie ohne mich aus.«
Ich nickte. »Das hoffe ich auch.«
Eines Nachts wachte ich durstig auf und griff auf dem Nachttisch nach einem Glas Wasser. Du warst wach, den Rücken an das Kopfbrett gelehnt, starrtest durch das Fenster hinaus auf das funkelnde Manhattan in der Ferne.
»Es ist so wunderschön, Frankie.«
»Ich weiß.«
Du sagtest nichts mehr. Ich trank mein Wasser und rollte mich wieder zusammen, um zu schlafen. Und dann fragtest du: »Weißt du, wer den Brief geschrieben hat?«
Ich schlug die Augen auf. »Welchen Brief?«
»Den Brief, den ich dir vorgelesen habe, den über Leonard. Über die Chrysanthemen und die gestohlenen Münzen?«
»Nein. Wer hat ihn geschrieben?«
Du blicktest auf die Stadt, die Augen starr geradeaus. »Frank Sinatra.«
043
Wir waren neun Monate zusammen, und dann waren wir nicht mehr zusammen. Am einen Tag war ich dein »Schatz«, und am nächsten Tag war ich »immer noch dein bester Freund«; ich brauchte eine Weile, um dahinterzukommen, dass ein Schatz höher einzustufen ist als ein bester Freund, dass ein Schatz mit dir zusammenleben und mit dir schlafen darf, während einem besten Freund wohlwollende Wangenküsse und lange, bedeutungsvolle Umarmungen zustehen.
Du packtest deinen Koffer und verzichtetest auf die Aussicht auf Manhattan, kehrtest zurück zu Luther und seinem namenlosen Bruder, zu Leonards Asche und Leonards Bett.
»Willst du Moby Dick wiederhaben?«, fragte ich, als du deine Pullover zusammenfaltetest.
»Behalte ihn. Vielleicht nimmst du im Unterricht mal Melville durch.«
Ich hielt dir die Tür auf, und du standest im Flur, in der einen Hand den Koffer, in der anderen die Einkaufstasche. »Du weißt, dass ich dich liebe, Frankie, oder?«
»Klar«, sagte ich. »Das sieht doch ein Blinder.«
Du schütteltest traurig den Kopf und küsstest mich auf die Wange. »Sarkasmus passt nicht zu dir.«
»Tut mir leid«, sagte ich.
Am Tag, nachdem du mich endgültig verlassen hattest, brach in meinem Gesicht der schwerste Fall von Akne aus, den ich seit der Highschool gehabt hatte. Ich wachte morgens mit dem bekannten Gefühl auf, als würde im Bereich zwischen meinen Augenbrauen etwas ticken. Im Badezimmerspiegel sah ich meine Befürchtungen bestätigt. Ein dicker roter Pickel starrte mich an; so geht es bei mir immer los.
Der Tag, nachdem du mich verlassen hattest, war ein Sonntag. Ich konnte nur auf meinem gestreiften Sofa sitzen und so tun, als würde ich lesen. So tun, als würde ich lesen, ist eine meiner Stärken; ich bin im Begriff, es zum Beruf zu machen. Irgendwann werde ich meinen Doktortitel haben und Studenten unterrichten, die so tun, als würden sie lesen.
Alle zwei bis drei Stunden markierte ich sorgfältig die jeweilige Seite und ging ins Badezimmer, um mich im Spiegel zu mustern, in morbider Weise fasziniert von der fortschreitenden Zerstörung meines Gesichts. Ich fragte mich, ob meine richtige Haut je wieder zum Vorschein kommen würde. Oder ob das meine richtige Haut war, dieses trostlose Terrain, und das Gesicht der letzten zehn Jahre nur der Traum von perfekten Poren.
Im Medizinschränkchen lag eine Tube mit rezeptpflichtiger Salbe bereit, doch ich beschloss, sie nicht zu benutzen. Das Mittel half ohnehin nie, aber darüber hinaus hatte ich das Gefühl, dass dies die gerechte Strafe war, meine persönliche Beulenpest.
Die Sachen, die du einzupacken vergessen hattest: ein Glas in Rum eingelegte Vanilleschoten im Küchenschrank, eine orangefarbene Zahnbürste auf dem Waschbeckenrand und die Zweitschlüssel zu deinem Apartment.
Ich starrte lange auf die Vanilleschoten. Sie waren für mich das Traurigste, was ich je gesehen hatte, die eingeschrumpften Leichen einer Familie, die in ihrem Haus von den Flammen überrascht worden war, verkohlt bis zur Unkenntlichkeit. Die Zahnbürste warf ich zum Fenster hinaus, verfolgte, wie sie sich im Fallen überschlug, verfolgte, wie sie sich in den blühenden Zweigen eines Hartriegels verfing. Dort hängt sie noch immer, diese Zahnbürste, ein orangefarbener Stinkefinger, der jedes Mal auf mich deutet, wenn ich an dem Strauch vorbeigehe.
Mein Kopf war voll von deinen Geschichten. Und besonders von Leonard. Herrgott, ich hörte so gerne zu, wenn du redetest. Abends blieben wir meist lange wach, in unser kaltes Bett gekuschelt, eine Pyjamaparty für zwei, während am anderen Ende des Zimmers der arthritische Heizkörper ächzte. Und du erzähltest mir Geschichten. Deine Familie war voll von rowdyhaften Trinkern: Falschspielern, Bigamisten, Saxofonisten und Löwenbändigern. Allesamt verrückt und allesamt abenteuerlich. Du warst die erste Frau, die ich kannte, die Familiengeschichten erzählte, die ich hören wollte. Ich bekam nie genug davon. Und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht mit ähnlich interessanten Storys revanchieren konnte. Die Trinker, die ich kenne, trinken heimlich, sind wortkarg und schlagen schnell zu. Aus Angst vor ihnen verließ ich meine Heimatstadt.
Leonard dagegen, Leonard geht mir einfach nicht aus dem Kopf. Er war der Held all deiner tollsten Geschichten: halb wahnsinnig, ein berühmter Liebhaber der Frauen, dessen Name in gewissen Kneipen noch immer ehrfürchtig genannt wird wegen heroischer Saufgelage, die drei Tage dauerten. Ich bin dem Mann nie begegnet, aber er geht mir einfach nicht aus dem Kopf.
Als der Montagmorgen kam, lag ich noch immer auf dem Sofa, Hals und Stirn mit roten Pusteln übersät, das ungelesene Buch geduldig wartend auf meinem Schoß. Manhattan ragte blassblau jenseits des Flusses auf, bis hinter mir die Sonne aufging, die nach Osten gehenden Fenster aufblitzen ließ. Du warst dort drüben, auf der überfüllten Insel, lagst schlafend in Leonards Bett. Ich kniff die Augen zusammen und blendete alles aus Beton und Stahl und Glas aus, ließ die Wassertanks und Fernsehantennen verschwinden, bis von der Stadt nichts anderes mehr zu sehen war als Kolonne um Kolonne von Schlafenden, in Pyjamas, in Boxershorts, in Nachthemden, nackt. Millionen von träumenden New Yorkern, die von treulosen Ehemännern und gesichtslosen Liebhabern träumten, einem Himmel, der dicke Mädchen regnen ließ, von Drachen, die sich im Kirchenschiff von St. John the Divine einnisteten. Und du, du träumtest mit ihnen weiter, von wer weiß was, zwanzig Stockwerke über der Avenue schwebend.
Schließlich schob ich mich von meinem gestreiften Sofa hoch, wankte in die Küche und begann die Bohnen für den Kaffee zu mahlen.
Während der Kaffee durchlief, griff ich zum Telefon und rief Michael an. Er ist immer schon vor sechs Uhr morgens in seinem Büro, um den Wirtschaftsteil von Zeitungen aus aller Welt zu lesen. Er nahm beim ersten Klingeln ab, und ich erklärte ihm, dass ich mir am Abend seinen Wagen ausleihen müsse, um an einer Tagung an der SUNY in Binghamton teilzunehmen.
»Klingt aufregend«, sagte er. »Wie heißt das Thema?«
Ich betrachtete die leere Vorderseite meines Kühlschranks. Du hattest alle deine Magnete mitgenommen. »Es ist eine literarische Tagung.«
»Klar, aber sie muss doch ein Thema haben. Furzwitze der Buschmänner der Kalahari - so was in der Art?«
»Schön wär’s. Diesmal geht es um narrative Schilderungen der Sklaverei im postkolonialen Nord- und Mittelamerika.«
Er stieß einen Pfiff aus. »Bringst du da Pocahontas im Kofferraum mit zurück?«
»Dann ist es okay?«
»Wie kommt es, dass du erst heute von dieser Tagung erfahren hast?«
»Meine Mitfahrgelegenheit ist ausgefallen. Ich wollte eigentlich den Bus nehmen, aber …«
»Ist doch merkwürdig, dass sie die Tagung auf einen Dienstag gelegt haben, stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte ich. »Äußerst merkwürdig.«
»Was ich nicht kapiere …«, begann er, aber ich unterbrach ihn.
»Pass auf, Michael, fall mir jetzt bitte nicht auf die Nerven.«
Ich spürte, dass er grinste, die Financial Times vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet. »Geht klar«, sagte er. »Ich sage dem Mann in der Garage Bescheid, dass du kommst.«
044
Am Abend rief ich bei dir um die Ecke von einer Telefonzelle aus in deinem Apartment an; als du abnahmst, legte ich auf. Was ist bloß aus mir geworden?, sagte ich zu mir: ein Widerling, der seine Exfreundin anruft und auflegt. Ich wartete in dem Coffeeshop gegenüber von deinem Haus und hoffte, dass du möglichst bald herauskommen würdest. »Möglichst bald« verging, und die hübsche Bedienung war es allmählich leid, ständig meine bodenlose Tasse aufzufüllen; sie setzte sich an den Tresen und ignorierte mich. Ich sah zum Fenster hinaus, spielte mit dem Salzstreuer und inspizierte mein verschandeltes Gesicht in der Vertiefung eines Löffels. Endlich sah ich dich aus deinem Haus treten. Du warst allein, und ich dankte dir für diese kleine Gnade.
Ich überquerte die Straße und schloss mit deinen Zweitschlüsseln die Eingangstür und die Vestibültür auf, fuhr mit dem Lift in den zwanzigsten Stock und betrat dein Apartment. Die beiden schwarzen Katzen lagen auf dem Bett, zeigten sich nicht überrascht, mich zu sehen. »Hallo, Luther«, sagte ich zu der schielenden Katze. Ich nickte der anderen Katze zu. »Hallo«, sagte ich, verlegen, da ich ihren Namen nicht kannte.
Ich nahm das schwere schwarze Tongefäß mit Leonards Asche vom Verstärker und wandte mich zum Gehen. Die Katzen beobachteten mich. »Ladrão«, sagte ich zu Luther, mit dem Daumen auf mich deutend. So heißt »Dieb« auf Portugiesisch, aber Luther gab durch nichts zu verstehen, dass ihn das kümmerte. Meine Augen tränten, ich winkte den Katzen zum Abschied zu und verließ das Apartment.
Die Fahrt quer durch die Stadt zu Michaels Garage war lang. Ich saß hinten im Bus, halb benommen von den Dieselabgasen, das schwarze Tongefäß auf dem Schoß. Niemand nahm Notiz von der Urne, die keine Urne war. Ich hatte gute Lust, den alten Mann anzustoßen, der neben mir saß, einen alten Mann, der an einem Bleistiftstummel kaute, sich eine zusammengefaltete Zeitung dicht vor die Augen hielt und das Kreuzworträtsel studierte. Ich hatte gute Lust, ihm einen Stups zu geben und zu sagen: »Das ist die Asche des Vaters meiner Exfreundin. Das ist alles, was von einem amerikanischen Original übrig bleibt. Wollen Sie ihm nicht Ihre Ehrerbietung bezeigen?«
Wir fuhren weiter Richtung Osten, unter meinem Sitz der brummende Motor, draußen die Stadt, von Straßenlampen gelb erhellt, die Fußgänger, die sich gesenkten Kopfes vorwärtsbewegten, die Ladenbesitzer, die auf dem Bürgersteig standen, Zigaretten rauchten und die stählernen Rollgitter herunterließen. Und Leonard nur noch die Beute eines pickeligen Diebes.
045
Ich fuhr mit Michaels Rennwagen zu mir nach Brooklyn. Stündlich schaute ich aus dem Fenster auf die Straße hinunter, um mich zu vergewissern, dass er noch da stand, wo ich ihn geparkt hatte. Das Auto war zu rot für meine Straße, zu blank geputzt.
Ich studierte die Karte und legte meine Route fest, und um sechs Uhr morgens, nachdem ich drei Stunden gedöst hatte, ging ich hinunter zu dem wunderschönen Wagen. Da ich Angst hatte, die Urne könnte zerbrechen, wenn ich sie im Kofferraum ließ, schnallte ich sie auf dem Beifahrersitz fest, zusammen mit dem ramponierten Exemplar des Moby Dick, und fuhr vorsichtig, ging die Kurven langsam an. Wir fuhren über die Brooklyn Bridge nach Manhattan hinein, den West Side Highway hinauf, über die George Washington Bridge nach New Jersey, auf dem Garden State Parkway nach Norden, bis wir wieder in den Bundesstaat New York kamen. Eine zweistündige Fahrt bis Sullivan County, das Radio auf einen Oldies-Sender eingestellt, der uns mit Carl Perkins und Elvis Presley, Jerry Lee Lewis und Bill Monroe versorgte, testosterongeladene und vor Schmalz triefende Südstaatenstimmen. Die Sonne ging drüben über dem unsichtbaren Atlantik auf, die Highways waren frei, und das Radio spielte kratzend ausgeleierte Schallplatten. Und an diesem Morgen kam es mir vor, als wäre die Liebe ein Sänger, mit Pomade im Haar, Koteletten und schlechten Manieren, der mit einer von zu vielen Zigaretten heiser gewordenen Stimme ins Mikrofon knurrt, einer Stimme, die der billige Whiskey ruiniert hat. Aber er trifft die hohen Töne, und er trifft die tiefen.
Leonard war ein guter Beifahrer. Nicht dass wir kommuniziert hätten, nein, das meine ich nicht. Ich meine damit, dass mein Kopf voller Erinnerungen an Leonard war. Deinen Erinnerungen an Leonard. Er lehnte es ab, sich fotografieren zu lassen, hattest du mir erzählt; er war zutiefst abergläubisch, war wie die Beduinen überzeugt, dass eine Fotografie die Seele stiehlt. Ich hatte nie sein Gesicht gesehen. Aber ich stellte ihn mir mit wildem Blick und glatt rasierten Wangen vor, mit buschigen Augenbrauen, die nach oben wandern, wenn er sich vorbeugt, um einen Witz zu machen. Ich stellte ihn mir als einen langgliedrigen Napoleon vor, der an den Küsten von Elba einherstolziert, ein Kaiser im Exil.
Und ich stellte ihn mir betrunken vor. Du hattest mir erzählt, dass er morgens schon sein erstes Glas Whiskey kippte, noch bevor er seine Rühreier mit Blutwurst aß. Abgesehen von den legendären Saufgelagen trank Leonard jedoch fachmännisch, und er konnte eine erstaunliche Menge vertragen.
»Habe ich dir schon mal von Leonard und Gloria Steinem erzählt?«, fragtest du mich eines Abends, als wir im Bett lagen und ich deinen Bauch küsste. 1973 beschloss Leonard, mehr darüber zu erfahren, was die Feministinnen eigentlich wollten. Also ging er zu einem Vortrag, den Steinem in einem Saal in Chicago hielt. Während der ganzen Rede, über Gleichstellung am Arbeitsplatz, über die Forderung nach gesetzlich geregeltem Mutterschaftsurlaub, pichelte Leonard seine Flasche Old Grand-Dad, ohne sich um die wütenden Blicke der neben ihm sitzenden Frauen zu scheren. Schließlich stand er schwankend auf und ließ seine leere Flasche auf den Boden fallen. Sie kullerte geräuschvoll den Gang hinunter. Köpfe drehten sich nach ihm um.
»Sie sind eine bildschöne Frau«, verkündete er. Steinem zog ihre berühmten Augenbrauen hoch. »Sie sind eine bildschöne Frau«, wiederholte er, und das Publikum begann zu zischen. »Ich liebe Sie«, sagte er, das Zischen übertönend. »Ich liebe Sie, Miss Steinem.«
Wir kamen gut voran, erreichten das Städtchen Liberty vor acht. Im einzigen Geschäft, das offen hatte, einem verstaubten Kramladen, kaufte ich einen Apfel und ein Wing Ding und eine Cola und ließ mir von dem Mädchen an der Kasse den Weg zum Stausee beschreiben. Ihr Gesicht war voller kleiner roter Pickel, und ich lächelte sie an, deutete auf meine eigene verunstaltete Haut und sagte: »Das feuchte Wetter, stimmt’s?« Sie sah mich nur finster an und drehte sich um.
Ich setzte mich auf die Motorhaube von Michaels Wagen und frühstückte. Ein starker Wind blies durch den Ort; Wachspapierbecher und Reklamezettel und Silberpapier tanzten die leere Straße hinunter, hüpften und drehten sich zu meiner Unterhaltung. Zurück im Wagen, inspizierte ich mein Gesicht im Kosmetikspiegel; meine Lippen waren mit Schokolade verschmiert. Genau das, was mein Teint jetzt braucht, dachte ich. Ich ließ den Motor an und stellte ihn sofort wieder ab. Ich ging zurück in den Laden und kaufte den schwersten Schokoriegel, den ich finden konnte. Ich merkte genau, dass die Kassiererin das für keine gute Idee hielt; sie zählte verdrossen mein Wechselgeld ab und schleuderte es mir in die Hand. Ich ging wieder zum Wagen, packte die Schokolade aus und verdrückte das ganze Ding in vier Bissen. »Scheiß drauf«, sagte ich und tätschelte Leonards Urne. »Stimmt’s?«
Die Wegbeschreibung der Kassiererin war sehr genau; fünfzehn Minuten später rumpelten wir über eine unbefestigte Straße, und ich wechselte zu einem Sender mit Countrymusic. Ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ein Stein gegen den Unterboden des Wagens spritzte. Wir überquerten eine kleine Anhöhe, und ich sah weiter vorn einen Maschendrahtzaun aus dem Gras aufragen, an dem in regelmäßigen Abständen schwarz-rote Schilder mit BETRETEN VERBOTEN hingen. Ich blickte auf Leonards Urne, erwartete irgendeine Reaktion, eine Art freudige Erregung angesichts dieser Heimkehr.
In das Sperrgebiet eines Stausees einzubrechen ist beunruhigend einfach. Der Maschendrahtzaun war nur knapp zweieinhalb Meter hoch, ohne Stacheldraht obendrauf. Keine Wachleute mit Dobermännern an der Leine machten am Rand ihre Runden. Keine Überwachungskameras. Keine Bewegungsmelder.
Ich steckte Moby Dick in den Hosenbund, schnallte Leonards Urne los und trug ihn hinüber zum Zaun. Mir fiel ein, dass der größte Teil des Mannes bereits freigesetzt worden war, dass von seinen neunzig Kilo Lebendgewicht nur knapp zwei geblieben waren, der Rest sich als Rauch durch den Kamin eines Krematoriums verflüchtigt hatte. Unser Körper besteht größtenteils aus Wasser, wie ich mich erinnerte. Das hier war die Essenz von Leonard, das Unverbrennbare, der Kern dieses Mannes.
Ich stand mit der Urne in beiden Händen vor dem Zaun. Über ihn zu klettern war sicher leicht, aber nicht, wenn ich dabei die Urne festhalten musste. Ein Sportler hätte es gekonnt, Michael hätte es gekonnt, aber nicht ich. Die Urne über den Zaun zu werfen kam nicht infrage. Der springende Punkt dieses Unternehmens war, Leonard mit der ihm gebührenden Würde zu seiner erwählten Ruhestätte zu befördern. Womöglich wäre die Urne zerbrochen und Leonards Asche auf dem Gras zerstreut worden.
Ich ließ mir das Problem einige Minuten durch den Kopf gehen, stellte die Urne dann vorsichtig am Zaun ab, ging hinüber zum Wagen und machte den Kofferraum auf. Und ich hatte Glück: Drinnen lagen zwei schwarze Gummiseile, die Michael benutzte, um sperrige Sachen auf dem Dach zu befestigen. Ich band mir die Urne auf den Rücken, indem ich eines der Seile zweimal um mich herumwickelte und es vorne an der Taille festhakte. Ich war sehr stolz auf mein Improvisationstalent und blieb einen Moment stehen, die Hände in die Hüften gestemmt. Dann kletterte ich den Zaun hinauf. Ganz oben, als ich mich umdrehte und bereit machte, auf der anderen Seite hinunterzusteigen, löste sich die Urne und fiel auf die Erde. Ich kletterte schnell hinunter und riss sie an mich, schämte mich meiner Ungeschicktheit und untersuchte sie dann auf Schäden. Keinerlei Risse, nur ein Preisschildchen auf dem Boden. Töpferstube stand darauf, $ 29.95.
Ich konnte nicht begreifen, dass du das Preisschild auf Leonards Urne gelassen hattest. Doch dann schalt ich mich, weil das gemein war; du hattest die Urne wenige Tage nach dem Tod deines Vaters gekauft. Wie konnte ich erwarten, dass du da die gesellschaftlichen Gepflogenheiten beachtest? Ich kratzte das Schildchen mit dem Daumennagel ab und sah zu, wie der Wind es in den Wald wehte.
Der Neversink selbst war eine Enttäuschung. Ich hatte einen gewaltigen künstlichen See erwartet, dessen anderes Ufer in der Ferne verschwamm, doch das eigentliche Staubecken war klein und nur halb voll, die unteren Stufen der betonierten Eindämmung dunkel gefärbt, wo sie vor Kurzem noch im Wasser lagen. Ich hatte das Gefühl, wenn alle Bürger der fünf Stadtbezirke von New York genau gleichzeitig die Toilettenspülung betätigten, dann würde sich der Neversink mit einem mächtigen und letzten Gurgeln durch seinen Abfluss entleeren.
Die Eindämmung des Staubeckens bestand aus eineinhalb Meter hohen Stufen; ich sprang sieben hinunter, jedes Mal überzeugt, dass ich mir den Knöchel zertrümmern würde. Doch mein Knöchel hielt, und ich erreichte die letzte Stufe, nach der die Betonwand zehn Meter senkrecht abstürzte, bevor sie im Wasser verschwand. Ich hatte den Wind im Rücken und beschloss, dass dies der richtige Ort war.
Ich stellte die Urne auf die Stufe über mir, zog Moby Dick aus dem Hosenbund meiner Jeans und blätterte die mit Büroklammern gekennzeichneten Seiten durch auf der Suche nach Leonards Mantra. Da war es, hervorgehoben durch drei blaue Sterne. Ich räusperte mich und las. »Wohl gibt es Weisheit, die Leid ist; es gibt aber auch Leid, das Umnachtung ist. Und Seelen gibt es, darin horstet ein Bergadler, der taucht in die dunkelsten Schluchten und schwingt sich wieder empor, dass er dem Blick entschwindet im sonnigen All.«
Ich blickte in das blaue Wasser unter mir. »Du kennst mich nicht, Leonard, aber ich habe viel von dir gehört. Ich wünschte, wir wären uns einmal begegnet; ich wünschte, ich hätte dir einen Drink spendieren können. Und ich weiß auch, dass du mich nicht hören kannst, ich weiß, dass du tot bist und so weiter, aber du sollst wissen, dass ich deine Tochter liebe. Ich wünschte, du wärst noch am Leben, damit ich dich um deinen Segen bitten könnte.«
Ich klemmte das Buch wieder in meinen Hosenbund und versuchte, den Deckel der Urne aufzubekommen. Einen Moment lang fürchtete ich, er säße hoffnungslos fest, aber dann nahm ich den Wagenschlüssel zu Hilfe und schaffte es, ihn aufzustemmen. Ich schloss die Augen. Ich hatte gelesen, dass menschliche Asche selten reine Asche ist, dass sie mit Knöchelchen und Splittern des Schädels und feuergeschwärzten Resten des Femur vermischt ist wie ein Eimer Sand mit Muscheln. Was ich in meinen Händen hielt, war ein Topf verbrannter Mensch. Die einzigen Geräusche, die ich hören konnte, waren der Wind, der gegen meinen Körper wehte, über das Wasser des Neversink wehte, und das leise Summen eines Motors irgendwo in der Ferne. Ich griff in die Urne, und meine Finger berührten Papier. Ich schlug die Augen auf. Ich schaute hinein - eine gelbe Papiertüte. Ich stellte das Tongefäß wieder auf der Stufe über mir ab und zog die Tüte heraus. Gold Medal Flour war auf dem gelben Papier zu lesen. Amerikas Brotmehl Nr. 1. Ich stand lange Zeit im Wind, las immer wieder diese Worte. Vielleicht ist er da drin, dachte ich. Vielleicht ist Leonard darin verpackt, damit er nicht verschüttet wird. Ich machte die Tüte auf und holte eine Handvoll heraus. Was ich in der Hand hielt, war weißes Mehl.
Das Summen wurde lauter. Hoch über mir riss ein Propellerflugzeug den Morgenhimmel auf. Ich trat an den Rand der Stufe, streckte die Hand über dem Wasser aus und ließ das Mehl durch meine Finger rieseln. Der Wind trieb es rasch zu einer Wolke zusammen. Ich leerte die ganze Tüte aus und sah zu, wie sich das Mehl weiter und weiter ausbreitete, bis es dann, als es das Wasser erreichte, nicht mehr Substanz besaß als der flaumige Samen des Löwenzahns.
046
Am nächsten Abend rief ich dich an. »Hallo«, sagte ich. »Hier spricht Frankie.«
»Hallo, Frankie. Mann, du klingst ja so förmlich.«
»Ich habe das Buch von Hunter Thompson gelesen«, teilte ich dir mit. »Hell’s Angels.«
»Wirklich? Warte mal einen Moment.« Ich stellte mir vor, wie deine Hand die Sprechmuschel zuhielt, die Stimmen dämpfte, die ich hörte, das Gelächter. »Da bin ich wieder.«
»Okay.«
»Hat es dir gefallen?«, fragtest du.
»Ja. Es ist nur so, dass Leonard gar nicht darin vorkommt.«
»Im obersten Regal.«
Ich blinzelte. »Im obersten Regal? Was meinst du damit?«
»Das war nicht an dich gerichtet.«
»Ich habe das Buch gelesen, weil du gesagt hast, dass Leonard darin vorkommt.«
»Er kommt darin vor.«
»Nein«, sagte ich. »Ich habe das ganze Buch gelesen. Er kommt nicht darin vor.«
»Er hat ja auch nicht seinen richtigen Namen benutzt, als er in der Gang war. Glaubst du vielleicht, dass ihn alle Leonard nannten? Er hatte irgendeinen Decknamen.«
»Ach. Ist dir übrigens aufgefallen, dass er sich nicht mehr in deinem Wohnzimmer befindet?«
»Was?« Ich stellte mir vor, wie du zum Verstärker blickst, zum ersten Mal bemerkst, dass die falsche Urne fehlt. »Wo ist sie? Bist du hier reingekommen?«
»Ja.«
»Du bist in mein Apartment eingebrochen?« Du lachtest. »Meine Güte, Frankie, das ist ja fast ein bisschen unheimlich.«
»Ich habe Leonard gestohlen. Weißt du, warum? Ich habe Leonard gestohlen und ihn in die Catskills gebracht.«
Einen Moment lang war es still in der Leitung. Im Hintergrund hörte ich, wie jemand einen Nagel in die Wand hämmerte. Dann sagtest du: »Frankie …«
»Ich habe ihn an den Neversink gebracht und habe seine liebste Melville-Passage gelesen und habe die Urne aufgemacht.«
»Das darf doch nicht wahr sein.«
»Warum hast du mir das angetan?«, fragte ich.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein, dass du mir die Schuld gibst. Du kommst hier rein und raubst mein Apartment aus, und dann gibst du mir die Schuld? Ich vertraue dir meinen Schlüssel an, und du raubst mich aus, und jetzt, jetzt bin ich schuld?«
»Ich will ja nur wissen …«
»Okay, willst du es genau wissen? Mein Vater lebt in Pasadena. Ich habe ihn seit neun Jahren nicht gesehen. Jetzt weißt du es. Zufrieden? Sonst noch was? Willst du seinen Namen wissen?«
»Er lebt in Pasadena?«
»In Pasadena. Er ist Steueranwalt. Alles klar? Zufrieden jetzt?«
»Leonard existiert gar nicht?«, fragte ich.
»Frankie existiert gar nicht«, antwortetest du und legtest den Hörer auf.
047
Jedes Mal wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die Stadt, in der du lebst, und ich frage mich, wo du bist und was du gerade tust, verborgen hinter all den hohen Gebäuden. Nichts so Banales wie Wäsche waschen oder Lebensmittel einkaufen - nein, für dich gelten die Gesetze der hässlichen Realität nicht, du bringst tote Väter zur Welt.
Irgendwo in der Stadt existiert Leonard, spukt im Kopf eines anderen abservierten Verehrers herum. Ich trauere nicht um einen Mann, den es nie gegeben hat, so viel steht fest, aber ich hoffe trotzdem, Leonard eines Tages zu begegnen, vielleicht beim Würfeln im Hinterzimmer einer mit Sägemehl ausgestreuten Bar, das wenig kunstvolle Tattoo einer Meerjungfrau auf dem Unterarm, ein zerfleddertes Exemplar des Moby Dick in der Tasche seiner Lederjacke. Ich werde ihm ein Glas Whiskey spendieren und seinen Geschichten lauschen.