ZEIT DER ABSAGEN
Er war ein Dichter. Brandnarben bedeckten seine Unterarme. Wenn das heiße Fett vom Grill hochspritzte und ihn traf, trat er immer einen Schritt zurück, wischte sich den Arm an seiner schmutzigen weißen Schürze ab und starrte die brutzelnden Hamburger an, als wären sie Verräter. Als ich das erste Mal dabei war, als das passierte, rannte ich zur Eismaschine, um einen Eiswürfel zu holen, kam zurück und presste ihn auf die feuerrote Stelle auf seiner Haut. Er schaute mir lächelnd zu. Er hatte die dunkelsten Augen, die ich bei einem Weißen je gesehen hatte, und die größten Hände.
Das war an meinem ersten Tag als Bedienung im Wiley’s. Nachdem der mittägliche Ansturm vorbei war, machte er Pause und kam auf eine Tasse Kaffee heraus an den Tresen. Ich schenkte ihm Kaffee ein, und er lächelte mich an. Sam war kein besonders gut aussehender Mann, aber wenn er lächelte, wollte man bei ihm bleiben, sich zurücklehnen und eine Weile baden. Nach einem langen Tag auf den Beinen war Sam wie eine Wanne voll warmem Wasser.
»Wie ich höre, bist du Schauspielerin.«
Ja, ich war Kellnerin, und ja, ich wollte Schauspielerin werden. Wenn ich auf Partys Leute traf und ihnen erzählte, dass ich Kellnerin war, sagten sie immer: »Aber du willst sicher Schauspielerin werden, stimmt’s?« Als ob sie so furchtbar originell wären, diese PR-Typen und Software-Entwickler und Produktionsleiter.
Es hatte keinen Zweck, Sam mit solchen Ärgernissen zu belasten, und so sagte ich: »Ich versuche es jedenfalls.«
»Du siehst ein bisschen wie Cassie Whitelaw aus. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«
Ich stöhnte. »Das kriege ich ständig zu hören. Ich wünschte, ich hätte ihren Schönheitschirurgen.«
Cassie Whitelaw, der Star der Krankenhausserie St. James Infirmary, war meine persönliche Nemesis, die bildhübsche Version von mir. Als ich sie zum ersten Mal sah, in einem Werbespot für Schuppenshampoo, war es komisch. Wir sahen uns gerade die Oscar-Verleihung an, und alle meine Freundinnen wieherten und bewarfen mich mit Popcorn. Jetzt, mit ihrem Bild auf den Titelseiten und Auftritten bei Jay Leno und ihrem Filmstar-Lover, ist sie nicht mehr komisch. Ich sah sie einmal auf der Third Street Promenade und folgte ihr, vorbei an den Kinos und Sportbars und Straßensaxofonisten, beobachtete ihre dünnen Fesseln und ihre Eidechsenhautpumps, beobachtete die Promenierenden, die sie erkannten und sich anstießen, beobachtete, wie sie sich in der Beobachtung sonnte.
Sam sagte: »Quatsch, du bist hübscher als sie.«
035
Am ersten Morgen in Sams Wohnung weckte mich so etwas wie Knallen, laut und unregelmäßig, wie Schüsse aus einer Spielzeugpistole. Ich wankte zum Badezimmer, machte die Tür auf und zuckte zusammen, als mich das Sonnenlicht traf. Unter dem grellen Fenster saß Sam auf dem geschlossenen Klodeckel, eine alte mechanische Schreibmaschine auf dem Schoß. Die Schreibmaschine wirkte wie ein Spielzeug in seinen riesigen Händen. Er trug karierte Boxershorts und ein T-Shirt der L. A. Raiders und eine lächerliche Hornbrille.
»Tut mir leid«, sagte er. »Habe ich dich geweckt?«
»Was treibst du da?« Ich legte schützend die Hand über die Augen, versuchte mir gar nicht erst vorzustellen, wie ich in dem Moment aussah, welchem dem Meer entstiegenen Monster ich am meisten ähnelte.
»Wenn ich morgens nicht schreibe, komme ich den ganzen Tag nicht mehr dazu. Es ist ein Gedicht.«
»Ein Gedicht? Du schreibst Gedichte?«
»Ja«, sagte er, und in der Art, wie er es sagte, lagen Stolz und Resignation zugleich. »Ja, das tue ich.«
»Ach«, sagte ich nur. Vor allen Dingen wollte ich dem Sonnenlicht entrinnen. Ein Mann, der morgens Gedichte schrieb, war irgendwie wunderbar und bewundernswert, aber auch irgendwie peinlich, und ich wollte wieder ins Bett, in mein eigenes Bett.
036
Meine Mutter billigte die Sache mit Sam nicht.
»Und was macht er?«
»Er ist Dichter.«
Schweigen in der Leitung. »Aber was macht er beruflich?«
»Das habe ich doch gesagt, er ist Dichter.«
»Verstehe. Und womit verdient er sein Geld?«
Ich seufzte. »Er ist Koch in einem Schnellrestaurant.«
»Vielen Dank«, sagte sie. »Und wie alt ist er?«
»Fünfunddreißig.«
»Ach, fünfunddreißig. Tja, wie schön. Und das genügt ihm, Koch in einem Schnellrestaurant zu sein? Damit ist er glücklich?«
»Was heißt schon glücklich. Es ist ein Job. Irgendwie muss man ja die Miete bezahlen.«
»June …«
»Da kann er immerhin Brötchen mit heimbringen«, sagte ich, und dann lachte ich und lachte. Das war ein alter Witz von Sam. Ich lachte und lachte, nicht weil das so komisch war, sondern weil ich, je länger ich lachte, desto länger meiner Mutter nicht zuhören musste.
»Großartig«, sagte sie, als ich endlich aufhörte. »Wirklich großartig.«
037
Mitte Mai änderte sich alles. Nach monatelangem Schweigen rief mein Agent an, und ich fragte ihn, ob er sich verwählt habe. Er lachte und sagte: »Von wegen, Süße, ich habe nur auf die richtige Rolle gewartet. Was soll ich dich dauernd zum Vorsprechen schicken, wenn die Rolle nichts für dich ist? Aber die da ist dir auf den Leib geschrieben.«
Ich stellte mir das Wort June einhundertmal auf eine Tafel geschrieben vor. June wird diese Rolle nie bekommen. June wird diese Rolle nie bekommen. Nach sieben Jahren in der engeren Wahl und viel Pech hatte ich gelernt, dass Hoffnung ein gefährliches Gefühl ist, die Mutter allen Leidens. Aber ich rief Showfax an und ließ mir das Drehbuch postlagernd faxen. Zwei Freundinnen von mir kamen rüber und probten mit mir, bis mein Timing perfekt war. Mein Agent hatte recht: Die Rolle war mir auf den Leib geschrieben. Linda McCoy, die drittgrößte Rolle in Joe’s Eats, war eine schlagfertige Kellnerin in einem schmuddeligen kleinen Lokal. Irgendjemand, der das Sagen hatte, machte sich einen Jux, und ich spielte nur zu gerne mit.
An einem Dienstagvormittag sprach ich der Assistentin des Casting-Directors vor. Sie war ungefähr so alt wie ich und hübscher, und sie lieferte mir die Stichworte so roboterhaft und monoton, als hätte sie es darauf angelegt, mich aus dem Konzept zu bringen. Aber ich war stark. Ich war Linda McCoy. Am Ende der Szene kicherte die Assistentin des Casting-Directors, ohne es zu wollen.
Sie riefen tatsächlich wieder an, und eine Woche später sprach ich dem Casting-Director vor, und eine Woche später den Produzenten. Bucky Lefschaum, der Mann, der Mr Midnight und The Campus Green erfunden hatte, ein Mann, den ich bei den Golden Globe Awards mit den Stars hatte herumstolzieren sehen, stand mitten in meinem Text auf. Sein lockiges Haar wich an der Stirn bereits zurück, aber er war fit und braun gebrannt. Er sah aus wie der Tennistrainer, den alle Ehefrauen im Country-Club vögeln.
»Stopp«, sagte er. Er nahm seine Sonnenbrille ab und hängte sie am Bügel in den Kragen seines Polohemds. »Stopp, das reicht. Den Rest können wir uns schenken. Sie sind Linda McCoy. Sie sind genau die Richtige.«
Er schüttelte mir die Hand und ging, einfach so. Ich sah den Casting-Director an.
»Habe ich die Rolle?«
»Noch nicht«, sagte er. »Sie müssen erst noch dem Sender vorsprechen.«
»Masel tov«, sagte mein Agent, als ich es ihm mitteilte. »Wenn du Lefschaum gefallen hast, liegst du goldrichtig. Sieh einfach zu, dass du für die Fernsehfritzen so gut wie möglich ausschaust. Alles andere ist denen egal. Was verstehen die schon von der Schauspielerei!«
Ich sprach dem Sender in einem Konferenzraum in ihrem Studio in Century City vor. An den Wänden hingen gerahmte Poster von Sitcomstars, die ihre gebleichten Zähne und ihre glatt gebügelten Dekolletés blitzen ließen. Die Produzenten, einschließlich Bucky Lefschaum, saßen auf der einen Seite des Tisches. Die Bosse des Fernsehsenders saßen auf der anderen Seite. Es war Casual Friday, und es war Strandwetter, die stupide kalifornische Sonne verströmte ihre Liebe unterschiedslos an jedermann, und die Bosse trugen kurze Ärmel. Sie waren viel jünger, als ich erwartet hatte. Ich kannte nur einen der Namen, Elliot Cohen, den Senior Vice President von irgendwas. Er lümmelte in der Ecke, trug ausgeblichene Cordhosen und ein Leinenhemd und hatte den hageren Körper und das offen herabfallende Haar eines Surfers. Ich kannte seinen Namen, weil er ein prominenter Hollywood-Schwertkämpfer war, und berüchtigt, weil er mit zwei der drei Freundinnen in Friends schlief, obwohl ich mich in dem Moment nicht erinnern konnte, mit welchen zwei. Er war ein Mann von Rang in der Branche. Er sah aus, als würde er gut riechen.
Ich stand in meinen Kellnerinnenklamotten am Kopfende des Tisches, knallte mit meinem Kaugummi und überlegte, ob ich noch rasch auf die Toilette gehen konnte. Ich kam zu dem Schluss, dass das keine gute Idee wäre, und versuchte, den wachsenden Druck in meiner Blase zu ignorieren.
Bucky Lefschaum zwinkerte mir zu und hielt beide Daumen hoch. Der Casting-Director begann mir die Stichworte zu liefern. Inzwischen kannte ich die Szenen so gut, dass ich sie im Schlaf spielen konnte, was ich manchmal auch tat. Ich legte los. Das erste gute Zeichen folgte auf meine erste Pointe. Alle im Raum bogen sich vor Lachen. Dabei war die Pointe gar nicht so toll.
Das zweite gute Zeichen waren die unbenutzten Notizblöcke der Bosse. Die Fernsehleute hatten ihre kleinen gelben Blöcke vor sich liegen, ihre Stifte gezückt, bereit, ihre Kommentare festzuhalten. Etwa zehn Sekunden nachdem ich angefangen hatte, die schlagfertige Kellnerin Linda McCoy zu sein, lagen alle Stifte auf dem Tisch, die gelben Blätter unbeschrieben.
Als ich fertig war, klatschten alle.
»Na?«, fragte Bucky Lefschaum. »Was habe ich Ihnen gesagt?«
»Das war wunderbar, June.«
»Sie ist das ideale Pendant zu Delilah Cotton.«
»Alles klar?«, fragte Bucky. »Dann haben wir unsere Linda?«
Meine Augen waren geöffnet, aber ich schwebte im Äther. Alle Ängste und Enttäuschungen und Ressentiments, die Jahre der Absagen, all die Alumni-Zeitschriften, die groß über all die Erfolgstypen aus meiner Klasse berichteten, all das war von mir abgefallen und ließ mich so schwerelos zurück, dass ich meinen Körper nicht mehr spürte, den Boden unter meinen Füßen nicht mehr spürte.
»Ich habe da ein Problem.«
Und in null Komma nichts befand ich mich wieder in meinem Körper, der Höhenflug vor einer Sekunde ein fast vergessener psychedelischer Trip. Der Mann mit dem Problem war Elliot Cohen. Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der Handfläche über die stoppelige Wange.
»Sie sieht genauso aus wie Cassie Whitelaw.«
»Wie wer?«, fragte Bucky.
»Ach herrje«, sagte eine Dame aus der Runde. »Stimmt. Das ist mir gar nicht aufgefallen.«
»Ich verstehe nicht ganz«, sagte Bucky. »Wen interessiert schon Cassie Dingsbums?«
»Mich«, sagte Cohen. »Ich werde nämlich dafür bezahlt, dass ich ihre Interessen vertrete. Und sie sieht nun mal so aus wie Cassie Whitelaw aus St. James Infirmary
»Na und?«
»Das verwirrt nur unsere Zuschauerschaft. Die Leute denken ja, sie sehen das falsche Programm.«
»Was? Ihre was? Ihre Zuschauerschaft? Was ist denn das, Jiddisch vielleicht? Ihre verdammte Zuschauerschaft!?«
Bucky Lefschaum, Gott segne ihn, brüllte und fluchte aus Leibeskräften. Ich verließ den Raum und ging so lange weiter, bis ich die Damentoilette fand.
038
»Dumm gelaufen«, meinte mein Agent. »Ich habe denen gesagt, dass ich ihnen keine Schauspieler mehr schicke, wenn man so mit ihnen umspringt. Aber du weißt ja, wie das bei den Sendern ist. Die wissen, dass sie am längeren Hebel sitzen. Aber Kopf hoch, Süße. Deine Stunde kommt schon noch.«
Sam gab mir eine einstündige Massage, knetete die müden Muskeln in meinen Waden, rieb die schmerzende Stelle zwischen meinen Schultern, küsste meinen Nacken.
»Weißt du eigentlich, wie schön du bist?«, fragte er, als er fertig war, die Knie rechts und links von meinem Bauch. »Hast du auch nur die leiseste Ahnung?«
»Sam?«
»Was ist?«
»Was wäre, wenn du eines Tages das perfekte Gedicht schreiben würdest …?«
»Was ist das perfekte Gedicht?«
»Nehmen wir einfach mal an, du hast das perfekte Gedicht geschrieben. Oder sagen wir, ein großartiges Gedicht. Du weißt, dass es ein großartiges Gedicht ist. Du bist dir absolut sicher.«
»Genau das ist der springende Punkt bei Gedichten. Du bist dir nie sicher.«
»Aber gehen wir mal davon aus, dass du dir diesmal sicher bist. Okay? Angenommen, du hast ein Gedicht geschrieben, es ist wirklich gut, die Menschen werden es noch in tausend Jahren lesen. Und du schickst es ab, und du wartest und wartest, und dann, eines Tages, machst du den Briefkasten auf, und da liegen hundert Briefe, und jeder ist ein Formbrief, und jeder ist eine Absage.«
»Kapiert.«
»Und? Was würdest du tun?«
»Ich würde ein neues Gedicht schreiben. Vielleicht würde ich ein Gedicht darüber schreiben, wie es ist, an einem einzigen Tag hundert Absagen zu bekommen.«
»Dann bist du vermutlich stärker als ich.«
»Nein, bin ich nicht. Schau mal«, sagte er, beugte sich über das Bett und nahm ein getipptes Schreiben vom Nachttisch. »Ich habe heute eine bekommen. Willst du mal hören?«
Ich wollte nichts hören, aber Sam hatte schon begonnen vorzulesen.
»Vielen Dank für das eingesandte Manuskript. Die Rücksendung Ihrer Arbeit impliziert nicht zwangsläufig Kritik an deren künstlerischem Wert, sondern kann schlicht bedeuten, dass sie nicht unseren derzeitigen redaktionellen Bedürfnissen entspricht. Bedauerlicherweise erlauben uns die Umstände keine persönlichen Bemerkungen. Die Redaktion.«
Er lachte. »Wenn ich sterbe, werden mir die Himmelstore verschlossen sein, und auf einem Schild wird stehen: ›Bedauerlicherweise erlauben uns die Umstände keine persönlichen Bemerkungen.‹«
Ich streckte die Hände aus und zog seinen Lockenkopf an mich heran, damit ich die nagelneue kahle Stelle küssen konnte.
»Du könntest jederzeit wieder herunterkommen und mir Gesellschaft leisten«, sagte ich zu ihm.
039
Eine Woche später rief mein Agent an. »Ich habe gerade mit Lefschaum telefoniert«, verkündete er. »St. James Infirmary wurde abgesetzt.«
»Ach ja?«
»Das heißt, Cassie Whitelaw ist out. Das heißt, sie wollen dich.«
»Ach ja?«
Und so bekam ich endlich meine Sitcom und spiele jetzt die Linda McCoy in einem schmuddeligen Lokal namens Joe’s Eats. Der Name meines Chefs ist Mr Lee, und er wird von einem Mann gespielt, der tatsächlich Mr Lee heißt, einem berühmten Komiker aus China. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es in China berühmte Komiker gab. Als ich das Sam sagte, lachte er mich aus. »Mein Gott, June, in China gibt es eine Milliarde Menschen. Meinst du nicht, dass einige davon komisch sind?«
Ich war so an Absagen gewöhnt, dass mir der Durchbruch, als er endlich kam - der Durchbruch, von dem ich seit Jahren geträumt hatte, Tag und Nacht -, völlig unwirklich erschien. Im April nahm ich noch Bestellungen für Truthahnfrikassee und Fritten auf, und im September hatte ich schon einen festen Platz in einem großen Sender und warf in 6,5 Millionen Haushalten mit Buletten und Pointen um mich.
Zur Feier des Tages, an dem ich meinen Vertrag unterschrieb, führte mich Sam abends ins Dan Tana’s aus. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, trug er Jackett und Krawatte und hatte sich einen akkuraten Seitenscheitel gezogen. Wenn wir ausgingen, setzte mich Sam normalerweise vor dem Lokal ab und fuhr dann zehn Minuten um den Block, bis er einen Parkplatz fand; an diesem Abend überließ er sein Auto dem Valet-Service des Restaurants und eskortierte mich zum Pult des Oberkellners.
Als wir in unserer Nische Platz genommen hatten, bestellte Sam eine Flasche guten Champagner, eine Flasche, die er sich nicht leisten konnte, und da wusste ich sofort, was passieren würde. Ich sah, wie nervös er war, mit seiner Gabel herumspielte, sich im Nacken unter dem engen Hemdkragen kratzte, sein Eiswasser hinunterstürzte, und ich wusste Bescheid.
Nachdem der Kellner den Champagner eingeschenkt hatte, erhob Sam sein Glas und sagte: »Auf Linda McCoy. Möge ihr ein langes und glückliches Leben beschieden sein.«
»Auf Linda McCoy.«
Wir tranken, und als ich mein Glas abstellte, sah Sam mich noch immer an. Ich wollte ihn aufhalten, ich wollte seinen Lockenkopf an meine Brust drücken und ihm zuflüstern, wie schrecklich ich bin, wie unbeherrscht und eifersüchtig ich bin, wie eitel und unsicher, eine Frau, von der man vernünftigerweise nicht erwarten konnte, dass sie einen Mann glücklich macht.
Stattdessen sagte ich nichts, schaute nur zu, wie er in seiner Jackentasche kramte. Es war, als sähe man einen Selbstmörder von einem hohen Gebäude springen - man hatte genug Zeit, seinen Fall zu verfolgen, sich zu fragen, warum er gesprungen war.
Bitte, Sam, wollte ich sagen, bitte nicht, schau bitte woandershin. Denn das Wort näherte sich bereits, und das Wort war so laut, dass das ganze Restaurant es bestimmt schon hören konnte, das Wort war so laut, dass es die Jazzmusik übertönte, die aus den Lautsprechern kam, das ganze betrunkene Gelächter übertönte, alle Mobiltelefongespräche und die Gäste sich schon anstießen und sich zu uns umdrehten: Schaut mal, schaut euch den armen Trottel an, der hat doch keine Chance, ist der taub?
Das Wort war Nein, und ich war das Wort, das Fleisch geworden war. Ich war die Abfuhr in einer mexikanischen Bauernbluse, die mit dem Finger über den Rand der Champagnerflöte strich, um das Glas summen zu hören. Sam zog den Ring aus der Tasche und begann auf seiner Bank ganz dicht an den Tisch zu rücken. Ich legte die Hand auf seine Schulter und hielt ihn auf.
»Sam«, sagte ich, und alles Weitere schien sich zu erübrigen, und so küsste ich seine rasierte Wange, stand auf und ging rasch zur Tür. Ich dachte, dass mich jemand packen und zurück an den Tisch zerren würde, irgendein Gesetzeshüter. Damit konnte ich doch nicht ungestraft davonkommen. Das war doch eine derart unglaubliche Taktlosigkeit, dass ich am liebsten aus meiner Haut geschlüpft wäre, meine äußere Hülle auf den Boden des Restaurants geworfen hätte und weggerannt wäre, mit meinen nassen hautlosen Füßen blutige Abdrücke auf dem Bürgersteig hinterlassen hätte.
Niemand hielt mich auf, und niemand zog die Abhäutemesser, und so ging ich zwei Meilen den Santa Monica Boulevard hinunter und wünschte, es würde regnen, um wenigstens die Heldin des Dramas sein zu können, schluchzend, während mir die Wimperntusche die Wangen hinunterlief. Aber ehrlich gesagt, je weiter ich ging, desto besser fühlte ich mich. Als ich Fairfax erreichte, sang ich bereits vor mich hin, alte Radiomelodien und Songs, die ich mir an Ort und Stelle ausdachte.
Vor Canter’s Deli hielt mir ein alter vornübergebeugter Penner einen Styroporbecher hin und klimperte mit dem Kleingeld. »Geben Sie mir was fürs Abendessen, Miss?«
»Nein«, sagte ich energisch.
Ich stieß die Tür auf und ging hinein, vorbei an dem fein säuberlich hinter Glas aufgestapelten Gebäck, und der Penner rief mir nach: »Vielleicht beim Rausgehen?«
Am Tisch bestellte ich Hühnersuppe mit Matzenbällchen und Blintze mit Käsefüllung, und als das Essen kam, verschlang ich es, wischte mir mit dem Handrücken den Mund ab, fischte Pickles aus der salzigen Brühe. Um mich herum plapperten die jungen Möchtegern-Hollywoodstars drauflos. Damals war gerade Leopardenfell in Mode, und alle weiblichen Wesen trugen es: Leopardenfellmäntel, Leopardenfellhosen, schenkelhohe Leopardenfellstiefel, ein kokettes junges Ding hatte sogar ein Leopardenfellhütchen auf.
Die Decke im Canter’s soll aussehen wie Buntglas. Das wirkt irgendwie merkwürdig. Was hat eine Buntglasdeckenimitation in einem jüdischen Delikatessengeschäft zu suchen? Aber sie gefiel mir, mir gefielen die aufgemalten Zweige, der aufgemalte blaue Himmel, das herabfallende weiche Licht.
Die jungen Leute um mich herum waren laut und aufdringlich, brüllten nach der Kellnerin, stampften mit den Stiefelabsätzen, stießen aus vollem Hals Beleidigungen aus, liefen von Tisch zu Tisch, tauschten Telefonnummern aus, prahlten mit ihren Plänen für das Wochenende. Ich mochte sie. Sie alle wollten etwas, und die meisten würden es nie bekommen. Ich kannte keinen einzigen Menschen im Restaurant, aber ich wusste, was sie waren: Schauspieler und Musiker und Autoren und Komiker und Regisseure. Die meisten gaben diese Berufe nicht auf ihrer Einkommensteuererklärung an, und die meisten würden dies auch nie tun, aber genau das waren sie.
Ein paar Minuten lang mochte ich sie an diesem Abend alle. Ich wollte sie beschützen. Sie wirkten so jung und tapfer, verwegen selbstbewusst, so großspurig und viril und amerikanisch. Sie alle wollten Stars werden, und sie probten schon ihre Rollen, überzeugt, dass man sie beobachtete, dass man sich für sie interessierte. Sie waren Optimisten, und wenn sie keine Optimisten waren, dann taten sie zumindest so, und sie glaubten fest daran, dass irgendwo ein Mann im Anzug nur darauf wartete, ihre Gesichter zu sehen oder ihre Songs zu hören oder ihre Drehbücher zu lesen, und der Mann im Anzug würde nicken und sagen: Ja. Nur dass es nicht genug Jas für alle gibt.
Mitten in meiner Träumerei war das Mädchen mit dem Leopardenfellhütchen mir gegenüber in meine Nische geschlüpft. Sie beugte sich über die Schale mit den Pickles und flüsterte: »Wir wollten Sie nur wissen lassen, dass Sie für uns die Größte sind.«
Ich starrte sie ihn. Ihre Haut war sehr blass, fast durchscheinend. Ich konnte das feine blaue Geflecht der Adern an ihren Schläfen sehen. Sie trug eine Halskette aus künstlichen Smaragden.
»Sagen Sie es ruhig, wenn ich Sie störe«, sagte sie rasch. »Ich bin keine Psychopathin, ehrlich. Aber wir haben Sie alle beobachtet, und ich musste einfach rüberkommen. Ist das okay?«
»Nur zu. Möchten Sie ein Gürkchen?«
»Ich hatte schon vier. Warum essen Sie allein?«
»Tja«, sagte ich, »mein Freund hat mir gerade einen Antrag gemacht, und ich bin weggelaufen. Und weil ich Hunger hatte, bin ich hier reingekommen.«
»Klar«, sagte sie und nickte, als ob sie diese Antwort erwartet hätte, als ob die meisten Gäste im Canter’s gerade vor einem Heiratsantrag geflüchtet wären. »Ich finde, es ist eine Schande, ja kriminell, dass sie St. James Infirmary abgesetzt haben. Das war die beste Serie aller Zeiten.«
»Ach. Ach so. Vielen Dank. Sie hat großen Spaß gemacht.«
»Und ich wollte Ihnen nur sagen, und zwar von uns allen« - sie deutete auf ihren Tisch am anderen Ende des Lokals, und ihre Freunde winkten mir zu -, »wir meinen alle, dass Sie wirklich klasse sind und dass Sie nicht traurig sein sollten, weil Sie ganz bestimmt bald was anderes finden. Wir sind alle große Fans von Ihnen. Könnte ich vielleicht, ich weiß, das ist ziemlich unverschämt, tut mir leid, aber …«
Sie hielt einen Kugelschreiber hoch und sah mich nervös an.
»Gern«, sagte ich und nahm den Kuli. »Wie heißen Sie?«
»Mira. M-I-R-A.«
Ich zog eine Papierserviette aus dem Spender und begann zu schreiben.
»Sind Sie Schauspielerin, Mira?«
»Ja! Ich meine, ich will es werden. Ich habe mir sogar gerade einen Agenten genommen.«
»Gratuliere.« Ich gab ihr die Serviette, und sie las laut vor.
»Mira: Wenn Sie Ihren Oscar entgegennehmen und Ihre Rede halten, möchte ich, dass Sie mir danken, und ich möchte, dass Sie allen erzählen, dass ich gesagt habe, dass Sie ihn bekommen werden. Ihre Cassie Whitelaw.«
Sie blickte zu mir hoch, die braunen Augen weit aufgerissen, die blassen Wangen gerötet.
»Das ist einfach fantastisch. Vielen Dank! Glauben Sie wirklich, dass ich eine Chance habe?«
»Ja«, versicherte ich ihr. »Ja.«