18
Mike Birkett setzte seine Kinder an der Schule ab und fuhr weiter zum Büro. Auf halbem Weg zwischen der Dunmore Middle School, wo M. J. die sechste Klasse besuchte, und dem Sheriff-Büro klingelte sein Telefon. Per Sprachbefehl nahm er den Anruf über die Freisprechanlage an.
»Mike, hier ist Jack. Bist du irgendwo, wo du den Fernseher einschalten kannst?«
»Nein, ich sitze im Wagen und bin auf dem Weg zur Arbeit. Was ist los?«
»Cathy und ich haben die Morgennachrichten an. Special Agent Wainwright wird gerade vor einem Nachtclub in Atlanta interviewt. Der Club heißt Rough Diamond. Ist Wainwright nicht der FBI-Agent, der die Ermittlungen zum Mitternachtsmörder leitet?«
»Ja, das ist er.« Der Clubname kam Mike bekannt vor. Und dann fiel es ihm ein. »Der Club gehört Shontee Thomas’ Verlobtem! Sie war in Mitternachtsmaskerade und hat dieselben Briefe bekommen wie Lorie.«
»Das dachte ich mir schon, nach dem, was Wainwright bisher gesagt hat.«
»Ist sie tot?«
»Ja«, antwortete Jack. »Wainwright nennt nur die groben Fakten, keine Details. Miss Thomas wurde ermordet, und er sagt, es gebe Grund zu der Annahme, dass sie das vierte Opfer in einer Mordserie ist.«
»Jeden Monat eines«, murmelte Mike.
»Was?«
»Bisher hat er seit Jahresbeginn jeden Monat einen Mord begangen.«
»Heißt das, Lorie wäre momentan sicher, zumindest bis Mai?«
»Vorausgesetzt, er bleibt bei seinem Tatmuster, ja. Aber wir haben keine Garantien, dass er nicht abweicht.«
»Vielleicht solltest du Lorie informieren. Wenn es dir lieber ist, kann ich das natürlich übernehmen. Cathy und ich wollen sowieso gleich zu ihr.«
Eigentlich hatte Mike vorgehabt, zu warten, bis Jack heute wieder zur Arbeit kam, und ihm dann Lories Fall zu übergeben. Doch unter den gegebenen Umständen war es wohl besser, er tat es gleich.
»Hör zu, ich wollte eigentlich später mit dir reden …« Er machte eine kurze Pause. »Ab heute übernimmst du Lories Fall und leitest die Ermittlungen. Ich, ähm …« Für einen Moment erwog er, seinen langjährigen Freund zu belügen, indem er eine halbwegs glaubwürdige Ausrede erfand, nur kannte Jack ihn viel zu gut. Also blieb er bei der Wahrheit. »Ich brauche ein bisschen Abstand zu Lorie. Die Dinge werden zu kompliziert.«
»Verstehe. Klar übernehme ich den Fall. Kein Problem.«
»Danke. Ich bin froh, dass du nicht versuchst, mir meine Entscheidung auszureden.«
»Ich denke mal, sie ist dir nicht leichtgefallen. Dein Gefühl sagt dir, dass du Lorie beschützen musst, aber dein Verstand warnt dich, ihr nicht zu nahe zu kommen, richtig?«
»Ja, ungefähr so.« Als Jack schwieg, fuhr Mike fort: »Halte mich bitte trotzdem auf dem Laufenden! Mir ist schließlich nicht egal, was mit ihr passiert.«
»Na klar! Dein Problem ist eher, dass es dich zu sehr interessiert, würde ich meinen.«
Lorie hatte den kleinen Fernseher in der Küche eingeschaltet, allerdings auf stumm, als sie sich vor einer halben Stunde ihren ersten Kaffee einschenkte. Morgens sah sie gern den Wetterbericht, solange sie noch in der Küche war, Kaffee trank und entschied, was sie essen wollte. An Sonntagen bereitete sie sich gewöhnlich ein richtiges Frühstück, aber unter der Woche wählte sie eine von drei Varianten: Cornflakes mit Früchten, Joghurt mit Früchten oder ein Muffin und Obstsaft. Lorie hielt eine Menge von festen Gewohnheiten, weil sie ihr Stabilität verliehen. Umso mehr, nachdem sie gesehen hatte, wohin ihr Drang nach Aufregung und Abenteuer sie führte – in eine Welt, die sie beinahe zerstört hatte. Zwar mutete ihr heutiges Leben bisweilen langweilig und öde an, aber wenigstens war es sicher. Oder zumindest bis vor kurzem gewesen.
Sie nahm die Kanne von der Heizplatte und goss sich ihren dritten Kaffee ein. »Möchtest du noch Kaffee?«, fragte sie Shelley.
Ihre Leibwächterin schüttelte den Kopf, denn sie hatte den Mund voller Cornflakes mit Bananenscheiben und gehackten Walnüssen.
Lorie umfing ihren Becher mit beiden Händen, als sie sich wieder an den Küchentisch setzte und zum Fernseher sah. Erschrocken hielt sie den Atem an, denn dort war Special Agent Wainwright zu sehen, der offensichtlich eine Presseerklärung abgab. Eilig suchte sie nach der Fernbedienung, fand sie mitten auf dem Tisch und stellte den Ton ein.
Die Laufzeile am unteren Bildschirmrand lautete: Viertes Mitternachtsmörderopfer im Nachtclub des Verlobten in Atlanta ermordet?
Shelley ließ ihren Löffel in die beinahe leere Müslischale fallen, so dass ein lautes Klimpern durch den Raum ging.
»Gehörte Shontee Thomas zu den Darstellern im Pornofilm Mitternachtsmaskerade?«, fragte gerade eine Fernsehreporterin den Special Agent.
Wainwright wirkte unsicher, als wüsste er nicht recht, wie viel er preisgeben sollte. Andererseits dürfte diese Information ohnedies jedem zugänglich sein, der über einen Internetanschluss verfügte, also antwortete er: »Ja, Miss Thomas hatte eine kleine Rolle in dem Film.«
»Ist es dann nicht offensichtlich, dass sie das vierte Opfer des Mitternachtsmörders ist?«, fragte ein zweiter Reporter, während mehrere andere gleichzeitig ihre Fragen riefen.
Wainwright wurde von einer wahren Fragensalve bombardiert, als er das kurze Interview beendete und sich von den Mikrophonen abwandte. »Glauben Sie, dass alle Schauspieler aus diesem Film in Gefahr sind?« – »Haben Sie schon irgendwelche Verdächtigen?« – »Was können Sie uns über die Vorgehensweise des Täters sagen?« – »Gibt es noch eine andere Verbindung zwischen den Morden?« – »Stimmt es, dass Miss Thomas einen Bodyguard hatte, der ebenfalls ermordet wurde?«
Die Kamera schwenkte zu der Traube von Reportern vor dem Rough-Diamond-Nachtclub, dann darüber hinaus zu der Masse Schaulustiger, die sich trotz der frühen Stunde schon eingefunden hatte.
Lorie stellte ihren Becher ab und knallte die Fernbedienung auf den Tisch. »Shontee hatte einen Bodyguard!«
Ihrer Verunsicherung begegnete Shelley mit einem selbstbewussten Blick. »Ich weiß, was du denkst. Lass es! Nur weil der Mörder an Shontee Thomas’ Bodyguard vorbeikommen konnte, heißt das noch lange nicht, dass er an mir vorbeikommt.«
»Ich zweifle ja gar nicht daran, dass du mich beschützen kannst«, erwiderte Lorie, »aber du bist auch bloß ein Mensch, genau wie Shontees durchtrainierter Leibwächter. Sie haben eben gesagt, dass er ebenfalls ermordet wurde.«
»Du hast nicht nur mich, sondern auch noch das Sheriff-Büro, das dich bewacht, nicht zu vergessen dich selbst. Du besitzt eine Waffe und weißt, wie man sie benutzt. Aber falls du dich mit mehr Schutz sicherer fühlst, kann ich bestimmt noch einen zweiten Bodyguard anfordern.«
»Einen zweiten Bodyguard?« Eine halbe Minute dachte Lorie sogar über den Vorschlag nach. »Nein, ich komme mir sowieso schon wie ein Fall für die Wohlfahrt vor. Ich kann die Powell Agency unmöglich bitten, mir zwei Leibwachen zu stellen, wenn ich mir nicht einmal eine leisten kann.«
Da sie beide für einen Moment verstummten, hörten sie, was der Nachrichtensprecher als Nächstes verkündete: »Wir schalten jetzt zu Joelle Piette aus unserem Senderbüro in Atlanta. Joelle spricht mit Calvin James, dem Sicherheitschef des Nachtclubs, in dem Shontee Thomas und ihr Bodyguard Tyrell Fuqua letzte Nacht ermordet wurden.«
Die Kamera zoomte auf eine junge attraktive Schwarze mit auffallend grünen Augen, die sich mit ernster, sorgenvoller Miene an den Mann neben ihr wandte. Er war gute eins neunzig groß, hatte sehr breite Schultern und einen Stiernacken. Vor allem aber fiel auf, dass sein weißes Hemd unter dem dunklen Anzugjackett voller Blutflecken war.
»Was können Sie uns über die Morde letzte Nacht im Rough Diamond erzählen?«, fragte Joelle.
»Die Tat ereignete sich gegen Mitternacht«, antwortete Calvin, dessen Blick auf Joelle gerichtet war, nicht auf die Kamera. »Wir haben Überwachungskameras im ganzen Gebäude. Der Unbekannte wurde kurz vor Mitternacht mit Miss Thomas im obersten Stock vor den Privaträumen von Mr.Johnson gesehen.«
»Mr.Johnson ist Anthony Trice Johnson, der Besitzer des Rough Diamond und mehrerer anderer Nachtclubs im Süden.« Joelle schaute in die Kamera, während sie sprach. »Shontee Thomas war seine Verlobte.«
»Das ist richtig«, bestätigte Calvin, als wäre Joelles Bemerkung eine Frage gewesen. »Sobald ich von dem Eindringling erfuhr, bin ich mit zwei von meinen Männern zum Aufzug gegangen.« Er schüttelte den Kopf. Anscheinend konnte er immer noch nicht glauben, was er gesehen hatte. »Wir fanden Tyrell und eine rothaarige Frau in der Fahrstuhlkabine, beide tot.«
»Und was haben Sie dann gemacht?«, wollte Joelle wissen.
»Wir sind die Treppe in den zweiten Stock hinaufgelaufen.«
»Haben Sie dort Miss Thomas’ Leiche gefunden?«
Calvin nickte. »Sie lag da, hatte mehrere Schusswunden und war blutüberströmt.«
Vier uniformierte Polizisten erschienen gleichsam aus dem Nichts. Zwei stellten sich neben Calvin, während ein dritter mit Joelle redete und der vierte dem Kameramann bedeutete, die Aufnahme zu beenden.
»Sie haben kein Recht, mir zu verbieten, mit der Presse zu reden«, beschwerte Calvin sich bei den Polizisten. »Mr.Johnson will, dass die Leute wissen, was mit seiner Verlobten passiert ist. Er will dem Mörder eine Nachricht zukommen lassen.«
Plötzlich verschwamm das Bild, alles wurde schwarz, und im nächsten Augenblick war der Nachrichtensprecher wieder da. »Wie es aussieht, wurde die Verbindung unterbrochen. Nach der Werbepause berichten wir weiter von den schrecklichen Morden in Atlanta.«
Er stand ganz hinten in der Menge der Schaulustigen vor dem Rough Diamond und beobachtete, wie die Polizei Calvin James von der Nachrichtenfrau, Joelle Piette, wegführte. Niemand – nicht die Polizei, nicht das FBI, nicht die Presse und auch nicht Tony Johnsons Sicherheitsleute – ahnte, dass die Person, die erst vor wenigen Stunden drei Leute in dem Nachtclub ermordet hatte, sich nun den Medienrummel aus der Nähe ansah.
Nachdem er Ebony O. gegen Mitternacht erledigt hatte, war er in sein Hotel zurückgekehrt. Er hatte ihr den tödlichen Kopfschuss verpasst, sie ausgezogen und ihr dann die Maske aufgesetzt, die er in einer Aktentasche im zweiten Stock versteckt hatte. Sobald sie maskiert gewesen war, hatte er ihre Sachen in die Aktentasche gesteckt und war den Flur zu einem Fenster hinuntergegangen, von dem aus eine Feuerleiter nach unten führte. Er war kaum in der Seitengasse hinter dem Club angekommen, da hörte er schon Rufe aus dem offenen Fenster oben. Er hätte sich die Zeit nehmen sollen, das Fenster wieder zu schließen, aber ihm war klar gewesen, dass jede Sekunde zählte. Die Aktentasche vor die Brust geklemmt, war er die Gasse entlang zwei Blocks weitergelaufen und hatte sein Hotel über den Hintereingang betreten.
Dort hatte er sich sorgfältig den falschen Schnauzbart, Nase, Kinn und Haarteil abgenommen, die Theaterschminke abgewischt und geduscht. Wenige Stunden erholsamer Schlaf reichten ihm, um hinreichend erfrischt zu sein. Auf dem Weg zurück zum Rough Diamond hatte er in einem Fast-Food-Restaurant einen Kaffee getrunken und ein Gebäckstück gegessen. Eigentlich hatte er geplant, nur kurz vorbeizuschlendern, sich anzuschauen, was los war, und in sein Hotel zurückzukehren. Sein Rückflug ging um fünf vor zwölf. Als er jedoch die Menge sah, die sich angesammelt hatte, schloss er sich ihr an. Er benahm sich ganz wie ein neugieriger Passant.
Bevor er Atlanta verließ, würde er den neuen Stapel Briefe von hier abschicken – an Puff Raven, Cherry Sweets, Sonny Shag Deguzman, Lacey Butts und Candy Ruff. Vier waren geschafft, fünf blieben noch.
Als Jack und Cathy wenige Minuten vor neun an ihrer Hintertür erschienen, wusste Lorie, dass sie ebenfalls Special Agent Wainwrights Interview in den Morgennachrichten gesehen hatten.
Shelley schloss auf und ließ die beiden herein. Sofort lief Cathy zu Lorie und nahm sie in die Arme. Eine Weile sagte keiner etwas, während Lorie von ihrer Freundin getröstet wurde.
»Wir lassen den Laden heute geschlossen«, teilte Cathy ihr mit, die zu ihrem Mann sah. »Jack bleibt erst einmal hier bei dir und Miss Gilbert.«
»Nein, es besteht kein Grund, weshalb ich nicht zur Arbeit gehen sollte«,widersprach Lorie. »Wenn ich zu Hause bleibe, drehe ich noch durch. Außerdem ändert es nichts, weder an der Tatsache, dass Shontee tot ist, noch daran, dass ich die Nächste auf der Liste des Mörders sein könnte.«
»Zeig ihr die Zeitung!«, bat Cathy Jack.
Mit einer Grimasse reichte er ihr die Morgenzeitung, und Lorie beäugte sie, als wäre sie eine zuckende Giftschlange. »Ist das meine Zeitung?«
»Nein, deine steckt noch im Kasten. Das ist unsere Ausgabe der Huntsville Times«, antwortete Jack. »Auf der Titelseite des Lokalteils.«
Cathy starrte auf die Zeitung, während Lorie den Lokalteil herausnahm und den Rest einfach auf den Boden fallen ließ. Die Schlagzeile lautete: Pornostar auf Todesliste. Bei dem körnigen Foto handelte es sich um eine Aufnahme, die sie vor elf Jahren für ihre Agenturmappe hatte machen lassen. Es zeigte sie in einem Tanga und sonst nichts, mit einem verführerischen Lächeln auf den Lippen. Über ihren nackten Brüsten prangte ein schwarzer Balken, um die Leser in Nordalabama nicht zu empören.
»O Lorie, es tut mir so leid!«, brachte Cathy hervor.
»Die halbe Stadt hat die Huntsville Times abonniert.« Lorie überflog den Artikel und las einen kurzen Absatz laut vor. »Miss Hammonds, Mitinhaberin von ›Treasures of the Past‹, einem Antiquitätengeschäft in Dunmore, ist die frühere Verlobte des County-Sheriffs Michael Birkett. Das Sheriff-Büro engagiert sich sehr für den Schutz von Miss Hammonds, auf Kosten der Steuerzahler, obwohl Miss Hammonds rund um die Uhr eine private Leibwächterin bei sich hat.«
»Dieses verfluchte kleine Frettchen!« Lorie blickte auf den Namen unter der Titelzeile: Ryan Bonner. »Mike platzt vor Wut, wenn er das sieht.«
»Er hat es schon gesehen«, sagte Cathy. »Jack hat heute Morgen bereits zwei Mal mit ihm telefoniert – das erste Mal, um ihm von Special Agent Wainwrights Fernsehinterview zu erzählen und dann um ihn wegen des Artikels vorzuwarnen.«
»Wie unfair, dass Mike derart haltlosen Vorwürfen ausgesetzt wird!« Lorie zerknüllte die Zeitung mit beiden Händen.
»Nun ja, die meisten Leute wussten auch vorher, dass er früher einmal mit dir verlobt war«, beruhigte Cathy sie.
»Aber das war längst Schnee von gestern. Ryan Bonner macht es wieder zum Tagesthema. Wie wird sich das auf Hannah und M. J. auswirken? Denkst du nicht, dass sie von anderen Kindern in der Schule darauf angesprochen werden? Und ganz sicher ist auch ein besonders vorwitziges unter ihnen, das sie fragt, wie sie es finden, dass ihr Dad fast ein Playmate geheiratet hätte.«
»Mike kann sich selbst um seine Kinder kümmern«, erinnerte Cathy sie. »Du hast genug eigene Sorgen, ohne dass du …«
Das Telefon läutete. Vier Augenpaare richteten sich auf den schnurlosen Apparat auf dem Küchentresen. Shelley nahm ihn in die Hand.
»Das ist eine örtliche Nummer.« Sie drückte den Knopf und meldete sich. »Bei Hammonds.« Dann runzelte sie die Stirn. »Rufen Sie nie wieder an, oder ich zeige Sie bei der Polizei an!« Nachdem sie das Telefon wieder hingelegt hatte, drehte sie sich zu den anderen um. »Es fängt wieder an. Ich muss alle Festnetzstecker herausziehen, sonst bimmelt das Telefon den ganzen Tag durch. Würden wir für die Alarmanlage keine Telefonleitung brauchen, hätte ich die Stecker gleich draußen gelassen.«
»Sollen die Telefone ruhig heißklingeln«, meinte Lorie. »Ich bin sowieso nicht zu Hause. Ich mache mich fertig und fahre zur Arbeit.«
»Davon rate ich dir ab«, mischte Jack sich nun ein.
»Bist du jetzt mein Bewacher? Hat Mike mich an dich weitergegeben?«
»Er übertrug mir die Leitung in deinem Fall.«
»Prima! Ich wusste, dass er es vorhatte …« Lorie atmete einmal tief durch und überdachte ihre Entscheidung, ins Geschäft zu gehen. »Was meinst du, wie lange wir den Laden nicht mehr öffnen können?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Jack. »Ein paar Tage, vielleicht länger. Je nachdem, ob noch mehr Artikel über dich in der Zeitung erscheinen.«
»Und wenn noch mehr folgen?«
»Dann wäre es das Beste, das Geschäft auf unbestimmte Zeit zu schließen.«
Maleah und Derek waren frühmorgens im Powell-Jet nach Knoxville zurückgeflogen und trafen zum Frühstück auf Griffins Rest ein. Obwohl Griff und Nic selbst im Mord an Kristi Arians ermittelten, hatten sie ein Meeting aller im Mitternachtsmörderfall ermittelnden Agenten anberaumt. Die Agency war bereits von den nächsten Angehörigen zweier Opfer engagiert worden, und sie rechneten damit, dass sich noch heute Anthony Johnson oder sein Anwalt bei ihnen melden würde. Außerdem vertraten sie Charlie Wongs Familie pro bono. Die Tatsache, dass Lorie Hammonds die beste Freundin von Maleahs Schwägerin war und Jared Williams zu Griffs engsten Bekannten zählte, machte den Fall für sie alle zur persönlichen Angelegenheit.
Die Zentrale der Powell Agency saß in der Innenstadt von Knoxville in einem renovierten Gebäude, das Griff vor einigen Jahren gekauft hatte. Zu Ehren des schwerreichen Eigentümers war es von der Stadt »Powell-Haus« getauft worden. Eine kleine Gruppe von Verwaltungsassistenten kümmerte sich hier unter Leitung eines Büromanagers um das Tagesgeschäft. Der Manager war direkt Griff und Nic unterstellt. Fünfzig Leute, einschließlich der Agenten im Außendienst, arbeiteten für die Powell Agency. Die Computerfachleute waren für mehrere Bereiche zuständig, hauptsächlich aber für die Recherche. Die Buchhalter regelten alle Finanzen, Steuern und Lohnabrechnungen. Darüber hinaus beschäftigte Griff den ehemaligen FBI-Profiler Derek Lawrence und Camden Hendrixes Anwaltskanzlei sowie einen Psychologen als feste Berater.
Nicht zu vergessen Dr.Yvette Meng und ihre Assistenten. Maleah hatte zwar keinen konkreten Beweis, vermutete jedoch, dass Griff erwog, Dr.Mengs spezielle Talente und jene ihrer kleinen Konklave auf Griffins Rest zu nutzen, um gewisse Fälle zu lösen, in denen sie nicht weiterkamen. Auch wenn Maleah nicht viel von solchem Hokuspokus hielt, bemühte sie sich, für alles offen zu sein. Eines jedenfalls wusste sie mit Sicherheit, nämlich, dass Dr.Meng eine außergewöhnliche Wahrnehmung besaß. Ob Griffs alte Freundin und ihre Schüler tatsächlich über hellseherische Fähigkeiten verfügten, konnte sie allerdings nicht sagen.
Griff arbeitete die meiste Zeit von seinem Anwesen aus und hatte sich im letzten Jahr selten in der Zentrale aufgehalten. Das eigentliche Zentrum des Unternehmens bildete ein riesiges, hochmodernes Heimbüro in Griffs und Nics Wohnhaus. Es war in drei Bereiche unterteilt, von denen einer einen Konferenzraum mit zwei Plasmafernsehern, DVD- und CD-Playern und einer Wand voller Bücher und Zeitschriften bildete. In der Mitte stand ein großer eckiger Tisch, der von weichen Lederstühlen umgeben war.
Maleah und Nic hatten nach dem Frühstück ein paar Minuten allein reden können. Bis sie in den Konferenzraum kamen, saß Griff schon vorn am Tisch. Die übrigen Agenten standen noch in Grüppchen im Raum verteilt. Derek hatte sich einen Platz nahe bei Griff gewählt, und die beiden waren ins Gespräch vertieft.
»Keine Sorge, sie reden nicht über den Mitternachtsmörder«, sagte Nic zu Maleah. »Griff wollte mit Derek über den Mord an Kristi sprechen. Wir warten immer noch auf einen Bericht mit den Einzelheiten vom Knoxville PD, aber sie behandeln den Tathergang topsecret.«
Maleah nickte. Sie hatte Griffs Methoden, an die Informationen zu gelangen, die er brauchte, noch nie in Frage gestellt. Nur sehr selten stießen sie auf eine rare Spezies: einen Mann oder eine Frau, die sich nicht kaufen ließen – egal, zu welchem Preis. Und Maleah fragte sich, wenn es hart auf hart käme, welches wohl ihr Preis wäre, denn sie wusste nur zu gut, dass es sich dabei nicht immer um Geld drehte.
Nic begrüßte jeden Agenten einzeln, ehe sie sich an das Tischende Griff gegenübersetzte. Maleah schaute sich um. Nic, Griff und Derek hatten bereits am Tisch Platz genommen. Holt Keinan, der in dem Mord an Hilary Finch Chambless in Memphis ermittelte, suchte sich den Stuhl neben Derek aus. Ben Corbett und Michelle Allen unterhielten sich mit Maleah, als sie mit Kaffeetassen in der Hand zum Tisch gingen.
Als alle sich hingesetzt hatten und leise miteinander plauderten, kam Sanders herein, der auf einem Stuhl in der Ecke, etwas entfernt von den anderen, Platz nahm. Griffs rechte Hand beteiligte sich so gut wie nie an den Meetings, sah aber häufig zu. Maleah wusste nicht, wieso, und hatte nie gefragt.
Shaughnessy Hood, der diesen Monat die Security auf dem Anwesen leitete, schloss die Tür und stand Wache. Es war eigentlich unnötig, doch so sah es nun einmal das Protokoll vor. Dies hier war schließlich ein privates Meeting, in dem die Agenten wichtige Angelegenheiten diskutierten und vertrauliche Informationen austauschten.
Griffin Powell beendete seine Unterhaltung mit Derek und wandte sich den anderen zu. Sein Blick wanderte über die Anwesenden, die sofort verstummten und sich ganz auf ihn konzentrierten.
»Kristi Arians Autopsie findet morgen statt«, eröffnete Griff. »Die Beerdigung ist vorläufig für Donnerstagmittag angesetzt. Am Abend gibt es eine Trauerfeier für geladene Gäste hier im Haus.«
»Wird die Agency in dem Fall unabhängig ermitteln?«, fragte Michelle Allen.
»Ja, das werden wir«, antwortete Griff. »Mitch Trahern leitet die Ermittlungen.« Griff wartete auf weitere Fragen, und als diese ausblieben, fuhr er fort: »Nun zu den laufenden Ermittlungen: der Mitternachtsmörderfall.« Er nahm einen Ordner von dem Stapel rechts neben sich zur Hand. »Reicht bitte diese Akten herum, und seht euch an, was wir bisher an Informationen haben!«
»In den Mappen findet ihr die Berichte von sechs Agenten, die an diesem Fall arbeiten«, erklärte Nic. »Shelley Gilbert ist nicht hier, weil sie einem potenziellen Opfer, Lorie Hammonds, Personenschutz gibt. Aber sie hat heute Morgen ihren Bericht geschickt. Derek hat anhand unserer bisherigen Informationen ein grobes Profil des Täters erstellt, und Maleah hat die Befragungen der möglichen Verdächtigen zusammengefasst.«
Derek erläuterte: »Sobald ich alle anderen Berichte durchgesehen habe, überarbeite ich das Profil, falls ich Informationen erhalte, die meine Meinung ändern.«
»In meinem Bericht sind die Angaben von vier Männern zusammengefasst, die wir als mögliche Verdächtige befragt haben«, führte Maleah aus. »Auf unserer Liste stehen noch drei weitere Namen, und wir hoffen, die Betreffenden bis Ende dieser Woche befragt zu haben.«
Die Akten wurden herumgereicht, und alle nahmen sich Zeit, um die Berichte zu überfliegen.
»Wie ihr seht, ist noch ein Bericht in der Mappe, den das Rechercheteam anhand eurer Informationen sowie Computer- und sonstiger Nachforschungen zusammengestellt hat«, sagte Griff.
Maleah las die Berichte von Holt Keinan über den Mord an Hilary Chambless und von Michelle und Ben über den Mord an Dean Wilson nur quer, wohingegen sie sich Dereks Profil genauer ansah. Obwohl sie als Team an diesem Fall arbeiteten, hatte er sein Profil nicht mit ihr besprochen, und sie hatte ihn nicht gefragt – auch wenn sie neugierig gewesen war.
Modus Operandi des Mitternachtsmörders: Opfer waren alle Darsteller in Pornofilmen. Jedes Opfer hatte eine Rolle in dem Film Mitternachtsmaskerade. Drei von vier Opfern erhielten zwei oder mehr Drohbriefe, in denen ihnen die Ermordung angekündigt wurde. (Es wird angenommen, dass das erste Opfer gleichlautende Briefe bekam, was sich allerdings nicht mehr nachweisen lässt.) Alle Morde wurden um Mitternacht verübt. Auf alle Opfer war mehrfach geschossen worden, bevor der tödliche Schuss erfolgte.
Handschrift des Mitternachtsmörders: Der Mörder setzt seinen Opfern post mortem Karnevalsmasken auf (möglicherweise identisch mit denen, welche die Opfer in dem Film trugen).
Der Mitternachtsmörder weist Züge eines planenden Serientäters auf, was bedeutet, dass er wahrscheinlich hochintelligent, sozial und sexuell kompetent ist, charmant sein kann, geographisch und/oder beruflich flexibel, die Medienberichte zu seinen Taten verfolgt und vermutlich als Kind grob diszipliniert oder missbraucht wurde.
Gemäß den vier unterschiedlichen Kategorien für Serientäter dürfte der Mitternachtsmörder in die des auftragsorientierten Tätertypus fallen. Seine Außenwelt nimmt keine psychotischen Störungen an ihm wahr, obgleich er von einem überwältigenden Drang getrieben ist, die Welt von Leuten zu befreien, die er als amoralisch oder unwert erachtet.
Soweit wir bisher wissen, hat unser unbekannter Verdächtiger im Januar mit dem Morden begonnen und seither vier Menschen umgebracht. Sein Tötungswunsch wird wahrscheinlich von bestimmten Phantasien geschürt, die er schon seit einer Weile hegt und die nun eskalieren.
Maleah unterbrach, um über das nachzudenken, was sie eben gelesen hatte. Sie stimmte vollkommen mit Dereks professioneller Einschätzung des Täters überein.
Eilig las sie den Rest seines Berichts, in dem er die vier Männer beschrieb, die sie bislang befragt hatten.
Travis Dillard: Bleibt auf der Liste der Verdächtigen. Passt teils in das Muster des planenden Täters. Besitzt die Intelligenz, um die Morde zu planen, und die finanziellen Mittel, um sie von einem Auftragsmörder ausführen zu lassen.
Duane Hines: Von der Verdächtigenliste gestrichen. Passt nicht ins Profil. Verfügt nicht über die intellektuellen Fähigkeiten, die nötig sind, um solche Taten zu planen und auszuführen, und ist praktisch mittellos.
Kyle Richey: Wurde ans Ende der Liste gesetzt. Passt teils ins Profil des planenden Täters, ist vorbestraft, entspricht aber eher dem Typ, der Verbrechen aus Leidenschaft begeht, nicht von langer Hand plant.
Casey Lloyd: Bleibt auf der Verdächtigenliste. Ein geläuterter Drogenabhängiger und Alkoholiker, der aufgestaute Wut zeigt. Kommt am ehesten als möglicher auftragsorientierter Täter in Frage.
»Behaltet die Akten, seht sie euch noch einmal in Ruhe durch, und nutzt sie als Hilfe bei euren Ermittlungen!«, bat Griff, worauf alle wieder von ihren Papieren zu ihm aufblickten. »Wir konnten schon eine Menge herausfinden, trotzdem kommen wir einer Lösung nicht einmal nahe. Obwohl wir vier Opfer und noch mehr potenzielle Opfer haben, handelt es sich hier um einen einziger Fall.«
»In der Akte steht, dass unser Verdächtiger wahrscheinlich Souvenirs von den Tatorten mitnimmt«, meldete sich Holt Keinan.
»Ja«, antwortete Nic. »Die Kleidung der Opfer war nach den Morden verschwunden. Wir glauben, dass der Mörder sie mitgenommen hat, sich wahrscheinlich ein Teil aussucht und den Rest wegwirft. Es wurden allerdings keine blutigen Kleidungsstücke in der Nähe der Tatorte gefunden, weder in Mülltonnen noch in größeren Containern.«
»Und er wechselt die Tatwaffe«, ergänzte Ben Corbett.
»Richtig«, sagte Griff. »Die Ballistiker bestätigen, dass jedes Opfer mit einer anderen Waffe erschossen wurde.«
»Warum macht er das?«, fragte Michelle Allen. »Er kann doch unmöglich glauben, dass er mit unterschiedlichen Tatwaffen verhindert, dass die Polizei eine Verbindung zwischen den Morden herstellt – nicht, wenn er sich solche Mühe gibt, jeweils gleich vorzugehen, die Masken als Visitenkarte hinterlässt und die Opfer vorher mit identischen Briefen warnt.«
»Gegenwärtig wissen wir nicht, warum er die Waffen wechselt«, gab Griff zu. »Er könnte es schlicht aus dem Grund tun, dass er keine Waffe durch die Flughafenkontrollen schleusen will, die dort womöglich auf dem Sicherheitsscanner auftaucht. Für einen Mann mit Geld ist es kein Problem, in jeder größeren Stadt eine Waffe zu kaufen.
Wir glauben, dass unser Täter gefälschte Papiere vorlegt, wenn er seine Flüge und Hotels bucht. Und es ist anzunehmen, dass er sich verkleidet, damit niemand vom Personal ihn später identifizieren kann. Das macht es für uns schwieriger, zu erkennen, ob einer unserer Verdächtigen an den jeweiligen Tattagen oder um sie herum gereist ist. Aus demselben Grund können wir auch noch keinen der Verdächtigen streichen.«
»Eine Überprüfung der Passagierlisten und Hotelanmeldungen am Tag der Tat oder davor könnte vielleicht einen Namen ergeben«, schlug Holt vor.
»Ja, das haben wir überprüft, konnten aber bisher nichts entdecken. Es wiederholt sich kein einzelner Name, weshalb wir glauben, dass er unter mehreren falschen Identitäten agiert.«
»Unser Täter ist nicht bloß schlau, sondern auch finanziell abgesichert«, ergänzte Derek. »Und er befindet sich auf einer Mission. Er will die Welt vom Übel befreien, das für ihn von zehn Pornostars verkörpert wird.«