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Barbara Jean empfing den potenziellen Klienten an der Vordertür, stellte sich als Sanders’ Assistentin vor und führte ihn den Flur hinunter zu Griffs Büro. Die Tür stand weit offen. Hinter dem antiken Schreibtisch saß Sanders mit ernster Miene. Sie wusste, dass Sanders ein freundlicher, fürsorglicher Mann war, dass er seinen Tee ohne Zitrone, Sahne oder Zucker trank, dass er es vorzog, auf der rechten Seite des Bettes zu schlafen, einen trockenen Humor besaß und klassische Musik mochte. Seine Lieblingsfarbe war Gelb, sein Lieblingssnack waren Cheetos, und seine Lieblingsjahreszeit war der Sommer. Dennoch wusste sie selbst nach fast drei Jahren, die sie beide ein Paar waren, sehr wenig über die mysteriöse Vergangenheit, die er mit seinem besten Freund und Arbeitgeber Griffin Powell sowie der betörend schönen Dr.Yvette Meng teilte. Und jene Geschichte machte ihn zu dem Mann, der er heute war. Obwohl sie einander sehr vertraut waren, sich liebten, bezeichnete sie ihn nur als Sanders, denn alle sprachen ihn ausschließlich mit seinem Familiennamen an – sogar Griff und Yvette. In ihren intimsten Momenten nannte Barbara Jean ihn gelegentlich Damar, aber im Grunde war Damar ein Mann, den sie nicht kannte, denn er gehörte der Vergangenheit an, die ihr stets verschlossen bliebe. Sie war seiner toten Frau und seinem Kind vorbehalten.
Im Gegensatz zu ihrer guten Freundin und Griffs Frau Nicole konnte Barbara Jean die Tatsache akzeptieren, dass Sanders Geheimnisse hatte, die er nicht mit ihr teilte. Während sie es schaffte, ihre Neugierde bezüglich des Mannes, den sie liebte, zu unterdrücken, bohrte Nic unablässig nach. Sie wollte alles über die Jahre erfahren, die Griff, Sanders und Yvette als Gefangene eines Irren verbracht hatten. Sie musste es wissen, Barbara Jean nicht. Ihr genügte, dass Sanders sie jetzt liebte und zu dem Treueversprechen stand, das sie sich gegeben hatten. Vielleicht konnte sie es aushalten, weil sie von Anfang an gewusst hatte, dass sie nicht Sanders’ große Liebe war.
Als sie ihren Rollstuhl an der Tür stoppte und ihr Gast bei ihr stehen blieb, erhob Sanders sich. »Kommen Sie bitte herein, Mr.Chambless!«
Der große breitschultrige Athlet sah den Fotos sehr ähnlich, die Barbara Jean von ihm kannte: ein gutaussehender Mann mit einem durchtrainierten Körper – nur dass er auf sämtlichen Bildern lächelte, wohingegen er heute aussah, als könnte er nie wieder lächeln. Trauer umhüllte ihn wie ein schweres Gewand. Erst vor einem Monat hatte er seine Frau verloren.
Während Tagg Chambless das Büro betrat und auf den Schreibtisch zuschritt, kam Sanders ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Sanders war deutlich kleiner als der über zwei Meter große Ex-Footballstar, auf seine Weise jedoch auch sehr eindrucksvoll. Als Barbara Jean Sanders zum ersten Mal begegnet war, hatte sie gedacht, er wäre derselbe Typ wie Yul Brynner, jener exotisch schöne Schauspieler, der Mitte des letzten Jahrhunderts mit seiner Rolle als König von Siam in dem Film Der König und ich berühmt geworden war. Derselbe kahle Kopf, dieselben glühenden dunklen Augen, dieselbe majestätische, strenge Haltung.
»Mein Anwalt Robert Talbot sagte mir, die Powell Agency wäre die beste, die man für Geld anheuern kann«, begann Tagg noch beim Handschlag. »Wie es scheint, sind Bobby und Ihr Anwalt alte Freunde.«
»Ja, so habe ich es auch verstanden«, bestätigte Sanders. »Camden Hendrix rief mich am Samstag an und vereinbarte diesen Termin.«
»Ja, und ich sage Ihnen vielleicht gleich, dass ich eigentlich mit Griffin Powell selbst sprechen wollte. Aber dann erfuhr ich, dass er nicht da ist.«
»Mr. und Mrs.Powell sind im Urlaub.«
Tagg nickte. »Also bekomme ich stattdessen seine rechte Hand.« Er drehte sich zu Barbara Jean an der Tür um. »Was ist mit Miss Hughes?«
»Komm rein, Barbara Jean!« Sanders blickte nur kurz zu ihr, ehe er sich wieder zu Tagg wandte. »Ich bin Mr.Powells rechte Hand und Vertretung, wenn er und seine Frau nicht da sind, und genauso ist Miss Hughes meine rechte Hand. Sie ist in alles eingeweiht, was die Powell Agency betrifft.« Als Tagg schwieg, deutete Sanders auf den Sessel vor dem Kamin. »Bitte, setzen Sie sich!«
Nachdem Tagg Platz genommen hatte, setzte Sanders sich ihm gegenüber, und Barbara Jean rollte neben Sanders.
»Ich denke, Mr.Hendrix hat bereits erklärt, warum ich hier bin«, fuhr Tagg fort.
»Er lieferte mir die grundlegenden Fakten, dass Ihre Frau vor nicht ganz einem Monat ermordet wurde, die Polizei alles getan hat, was sie konnte, ohne einen Verdächtigen zu ermitteln, und Sie die Powell Agency engagieren wollen, damit wir den Fall unabhängig untersuchen.«
Tagg lehnte sich vor, die großen Hände zwischen seinen gespreizten Knien gefaltet, und ließ seine Schultern nach vorn sacken. Den Blick zu Boden gerichtet, atmete er tief ein und seufzte gequält.
»Sie machen sich keine Vorstellung, wie es ist, seine eigene Frau tot in einer Blutlache aufzufinden … zu wissen, dass sie gelitten hat, ehe sie starb.« Taggs Stimme bebte.
Barbara Jean sah zu Sanders und vermittelte ihm wortlos ihr Mitgefühl. Für eine Sekunde schloss er die Augen. Sie wusste genau, dass er jenen finsteren Moment wiedererlebte, denn die Worte des anderen hatten eine schneidende, schmerzliche Saite in Sanders angerührt.
Er räusperte sich. »Ich übernehme persönlich die Leitung der Ermittlungen, auf die ich einen unserer Topagenten ansetze. Sein Name ist Holt Keinan. Ich habe ihn gestern Abend von Knoxville herkommen lassen, und er begleitet Sie heute nach Memphis, um die Arbeit vor Ort zu machen. Er braucht allerdings Ihre volle Kooperationsbereitschaft. Können wir uns darauf verlassen?«
»Ja, natürlich«, versicherte Tagg ihm.
»Was Sie uns erzählen, bleibt unter uns, selbst wenn Sie in irgendwelche illegalen Aktivitäten verwickelt sein sollten. Wir können unseren Job nur erledigen, wenn wir alles wissen, was auch bloß entfernt mit der Ermordung Ihrer Frau zu tun haben könnte.«
»Niemand, mit dem ich zu tun habe, hat sie umgebracht. Dessen bin ich mir sicher. Keiner legte es darauf an, über Hilary an mich ranzukommen.«
»Dennoch werden wir in Ihrem Privatleben und dem Ihrer Frau herumstochern, in der Vergangenheit und der Gegenwart.«
Tagg biss die Zähne zusammen und nickte.
»Je mehr Sie uns erzählen können, umso mehr Zeit sparen wir bei der Ermittlung von Dingen, die wir gleich von Ihnen erfahren können.« Sanders legte eine Pause ein, um Tagg Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Er schwieg, also fuhr Sanders fort: »Sie glauben offenbar, dass es niemanden in Ihrem Leben gibt, der für Sie oder Ihre Frau eine Bedrohung darstellt. Was ist mit Leuten aus dem Leben Ihrer Frau? Jemand aus ihrer Vergangenheit? Oder jemand …«
»Es ist ein offenes Geheimnis, was meine Frau in ihren frühen Zwanzigern gemacht hat. Sie war ein Showgirl in Las Vegas und spielte eine Weile in mehreren billigen Erwachsenenfilmen mit.«
»Mit Erwachsenenfilmen meinen Sie Pornofilme?«
»Ja. Hilary war eine wunderschöne Frau mit einem phantastischen Körper. Und sie hat es geliebt, ihn zu zeigen. Sie liebte das Leben … liebte Sex. Als wir uns kennenlernten, gab sie das Filmgeschäft auf, worüber ihr Agent nicht froh war. Der Typ fuhr zweigleisig, war Agent und gleichzeitig Produzent von Pornofilmen. Er prophezeite Hilary, dass sie es bereuen würde, ihn zu verlassen und mich zu heiraten und dass sie sowieso wieder bei ihm angekrochen käme, sowie sie mich das erste Mal mit einer anderen im Bett erwischt.«
»Und – hat sie?«, fragte Sanders.
Als Tagg verwirrt zu ihm aufsah, wurde Sanders konkreter. »Hat Ihre Frau Sie je mit einer anderen erwischt?«
»Von dem Tag unserer Hochzeit an gab es für uns beide nie jemand anders. Und so blieb es die letzten sieben Jahre.«
»Wer war dieser Kerl, der Agent und Produzent?«
»Travis Dillard.«
»Hatte Ihre Frau in den letzten sieben Jahren oder vielleicht vor kurzem Kontakt zu ihm?«
»Nein, nie.«
»Wir überprüfen das, damit wir ausschließen können, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat.« Sanders sah zu Barbara Jean. »Sieh doch bitte nach, ob Holt sich zu uns setzen kann, und lass uns einen Kaffee kochen, der in etwa zwanzig Minuten serviert wird!«
»Ja, klar.« Barbara Jean rollte hinaus und direkt in die Küche. Dort saß Holt noch bei einem späten Frühstück. Sie hatte erst eine Viertelstunde vor Tagg Chambless’ Ankunft mit ihm gesprochen.
In dem Moment, in dem Cam Hendrix bei Sanders angerufen und ihm von Hilary Chambless’ Ermordung erzählt hatte, hatte sie gewusst, dass er den Fall annehmen würde. Er identifizierte sich mit jedem Mann, der seine Frau auf solche brutale Weise verlor. Und jedes Mal, wenn er mit Fällen dieser Art befasst war, durchlebte er abermals den Tod seiner eigenen Frau, die von einem Monster umgebracht worden war.
Charles Wong steckte den Brief in den Umschlag zurück, zerriss ihn in zig kleine Fetzen und warf sie in den Küchenmülleimer.
»Wir sind dann weg«, rief seine Frau Lily ihm aus dem Wohnzimmer zu. »Vergiss nicht, dass du die Mädchen heute von der Schule abholen musst!«
»Nein, vergesse ich nicht«, antwortete er. »Ich bin rechtzeitig da, um Punkt drei.«
»Ach, und Charlie, ruf mich nach dem Vorstellungsgespräch an, okay? Viel Glück, Babe!«
»Ja, danke.«
Als er hörte, wie die Vordertür ins Schloss fiel, atmete er erleichtert auf, goss sich eine zweite Tasse Kaffee ein und riss sich einen Karamellfrühstücksriegel auf, den er auf den Küchentresen gelegt hatte, nachdem er die Frühstücksschüsseln der Kinder abgeräumt hatte. Im Moment ernährte Lily sie alle vier – sich, ihn und ihre Zwillingstöchter, Jenny und Jessy. Als er kurz vor Weihnachten, vor über drei Monaten, entlassen worden war, hatte er sich arbeitslos gemeldet und die Rolle des Hausmannes übernommen. Er war bei zahlreichen Vorstellungsgesprächen gewesen. Heute stand das zwölfte an. Leider war er nicht für vieles qualifiziert. Sein letzter Job war der eines Hausmeisters in einer örtlichen Fabrik gewesen. Heute bewarb er sich als Einpacker in einem Supermarkt zwei Blocks von ihrer Maisonettewohnung entfernt.
Als er Lily vor drei Jahren kennengelernt hatte, war er kurz davor gewesen, aufzustecken, sich eine Überdosis zu geben oder von der nächsten Brücke zu springen. Sie waren sich bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker begegnet. Eine Frau wie sie hatte er noch nie erlebt, und für ihn war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatte eine Teenager-Schwangerschaft und einen gewalttätigen Freund überlebt, Eltern, die sie im Stich ließen, und ein Alkoholproblem, das sie beinahe das Sorgerecht für die Mädchen gekostet hatte. Aber sie hatte ihr Leben in den Griff bekommen und ihm geholfen, es ebenfalls zu schaffen.
Seit einem Jahr waren sie verheiratet, lebten in einer anständigen Wohnung, kamen mit einem Gehalt über die Runden und gaben ihr Bestes, um gute Eltern zu sein. Er vergötterte Jenny und Jessy. Wer hätte das nicht? Sie waren siebenjährige Kopien ihrer Mom. Und sie nannten ihn inzwischen Daddy. Ihr leiblicher Vater hatte sich nie um die beiden geschert.
Charlie setzte sich an den kleinen Küchentisch, wickelte den Karamellriegel aus, biss hinein und spülte ihn mit Kaffee hinunter. Als er im Dezember seinen Job verlor, hatte er geglaubt, das wäre das Schlimmste, was ihm passieren könnte. Aber das war ein Irrtum gewesen. Anfang Januar war der erste Brief gekommen. Er hatte ihn als blöden Scherz abgetan und weggeworfen. Im Februar dann hatte ihn der zweite erreicht, unmittelbar vor dem Valentinstag und mit demselben Text wie der erste. Obwohl er ihm unheimlich war, hatte er ihn zerrissen und in den Müll geworfen. Soweit er wusste, hatte er keine Feinde, die ihn so sehr hassten, dass sie seinen Tod wünschten.
Und jetzt, am Samstag, hatte der dritte Brief im Kasten gelegen, wieder Wort für Wort von den ersten beiden abgeschrieben. Inzwischen kannte er den Text auswendig.
Mitternacht naht. Sprich deine Gebete, und bitte um Vergebung! Regle deine Angelegenheiten! Du stehst auf der Liste. Sei vorbereitet! Du weißt nicht, wann du an der Reihe bist. Wirst du der Nächste sein, der stirbt?
Die letzten zwei Tage hatte er überlegt, was er machen sollte. Lily hatte mit ihrem Job als Kellnerin, den beiden Mädchen und ihren Geldsorgen schon genug um die Ohren. Das Letzte, was sie brauchte, war, zu erfahren, dass jemand ihrem Mann Morddrohungen schickte. Er könnte zur Polizei gehen, doch was sollten die schon tun? Gar nichts. Und was konnte er unternehmen? Er hatte keinen Schimmer, wer die Briefe geschrieben hatte. Nicht einmal als er vor ein paar Jahren in der Gosse gelandet war – wortwörtlich –, hatte er jemanden getroffen, der ihn umbringen wollte. Alles, was er machen konnte, war, die Augen offenhalten und keine Risiken eingehen. Und soweit er es beurteilen konnte, waren Lily und die Mädchen sicher. In den Briefen hatte nichts von seiner Frau oder den Kindern gestanden, also hoffte er, dass nur er bedroht wurde. Aber von wem? Und wieso?
Maleah hätte lieber direkt mit Nic gesprochen, aber das war im Augenblick nicht möglich, und sie brauchte die Erlaubnis, Lorie Hammonds’ Fall zu übernehmen, in dem sie ohne die Quellen und Mittel der Powell Agency ohnehin nichts ausrichten könnte. Was bedeutete, dass sie Sanders um sein Okay bitten musste. Als sie morgens auf Griffins Rest anrief, hatte sie Barbara Jean am Apparat gehabt.
»Er ist gerade in einem Gespräch mit einem potenziellen Klienten. Ich sorge dafür, dass er dich baldmöglichst zurückruft.«
Das war vor zweieinhalb Stunden gewesen. Wäre Nic da, hätte sie Maleah nicht so lange warten lassen. Aber Maleah und Sanders waren keine engen Freunde, sondern lediglich Kollegen. Nicht dass sie etwas gegen Sanders hatte – ganz im Gegenteil: Sie mochte Griffs rechte Hand und hatte großen Respekt vor ihm. Nur fand sie seine förmliche Art und diese militärische Haltung ein bisschen einschüchternd, bisweilen beinahe furchteinflößend. Gleich beim ersten Mal, als sie die Security-Leitung auf Griffins Rest übernommen hatte – diese Position rotierte unter den Agenten –, war es ihr seltsam und zugleich rührend vorgekommen, dass der strenge, distanzierte Sanders und die liebenswerte, offenherzige Barbara Jean ein Paar waren. Es war für jeden offensichtlich, dass Barbara Jean ihn bewunderte und er sie auf seine Weise liebte.
Erst nachdem Maleah sich mit Nic angefreundet hatte, erfuhr sie von ihr, dass Sanders vor Jahren seine Frau und sein Kind verloren hatte. Falls sie Näheres dazu wusste, hatte Nic es nicht für angebracht gehalten, es Maleah zu erzählen. Sanders selbst schwieg sich genauso wie Griff über seine Vergangenheit aus, wenn nicht gar noch eiserner. Barbara Jean hingegen war wie ein offenes Buch. Alle wussten, dass sie seit einem schweren Autounfall gelähmt war und nach vielen Operationen und jahrelanger Physiotherapie auch keine Chance mehr bestand, dass sie jemals aus dem Rollstuhl herauskäme. Aber sie empfand es als Glück, dass sie überlebt hatte, und genoss jeden Tag ihres Lebens. Das Thema jedoch, über das sie nicht sprach, obwohl alle in der Powell Agency Bescheid wussten, war, dass ihre jüngere Schwester eines der Opfer des Schönheitsköniginnenmörders gewesen war, der auch die erste Frau von Griffs gutem Freund Judd Walker ermordet hatte.
Maleah war ganz in ihre Erinnerung an das letzte Mal versunken, das sie die Walkers gesehen hatte – Judd und seine zweite Frau mit ihren beiden kleinen Töchtern –, als das Telefon klingelte. Sie erkannte die Nummer sofort: Griffins Rest.
»Hallo?«
»Ich habe deine Nachricht bekommen«, sagte Sanders.
»Dann weißt du, dass ich dein Okay möchte, eine neue Klientin aufzunehmen.«
»Lorie Hammonds ist eine Freundin deiner Schwägerin, richtig?«
»Ja, Lorie und Cathy sind sehr gut befreundet.«
»Und Miss Hammonds hat zwei Briefe erhalten, in denen ihr Leben bedroht wurde?«
»Ja.«
»Hast du die örtlichen Behörden benachrichtigt?«
»Habe ich. Ich war gestern Abend bei Sheriff Mike Birkett.«
»Aber du glaubst, dass die Powell Agency parallel ermitteln sollte?«
»Ja, pro bono allerdings. Miss Hammonds ist nicht reich.«
»Verstehe.«
Maleah konnte an seinem Ton erkennen, dass Sanders überlegte, ihre Bitte abzuschlagen. »Hör zu, ich mache hier Urlaub, aber mit deiner Zustimmung würde ich Lorie als Klientin übernehmen und unbezahlt an dem Fall arbeiten, solange ich noch frei habe.«
Stille.
Sag doch was, verdammt! Sein beharrliches Schweigen bedeutete zumindest, dass er über ihren Vorschlag nachdachte.
»Abgemacht«, stimmte er schließlich zu. »Du hast dir zwei Wochen Urlaub genommen, um in Dunmore zu bleiben. Fang in der Zeit mit den Ermittlungen an, und wenn du bis dahin Beweise hast, dass Miss Hammonds’ Leben in Gefahr ist, übernehmen wir den Fall.«
Sie unterdrückte einen erleichterten Seufzer. »Danke. Heißt das, dass ich auf unsere Ressourcen zugreifen kann?«
»Sicher. Aber solange du mich nicht von der Notwendigkeit überzeugen kannst, weitere Agenten in den Fall einzubeziehen …«
»Ich glaube nicht, dass Lorie jetzt schon Personenschutz braucht – und falls doch, kümmere ich mich darum.«
»Gut, du hast freie Hand. Und solltest du irgendetwas brauchen, solange Griffin und Nicole weg sind, lass es mich wissen.«
»Ja, danke.«
»Auf Wiederhören, Maleah«, sagte Sanders, der allzeit vollendete, wenn auch etwas strenge Gentleman.
Vier Mal hatte Lorie sich an diesem Morgen umgezogen. Für gewöhnlich dauerte das morgendliche Baden; Frisieren, Schminken und Anziehen ungefähr eine Stunde, wenn sie sich beeilte, noch kürzer. Heute jedoch hatte es geschlagene zwei Stunden verschlungen. Als sie mit ihrem ersten Outfit vor dem Spiegel stand, hatte sie entsetzt festgestellt, dass ihre Brüste in dem gelben Kaschmirpullover, den sie letzte Weihnachten von Cathy und Jack bekommen hatte, viel zu groß wirkten. Sie wollte ganz bestimmt nicht, dass Mike ihr vorwarf, sie würde mit ihrem Sexappeal auf sich aufmerksam machen oder gar einen seiner Deputys verführen wollen. Das zweite Outfit war viel zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen, denn in dem langärmeligen wadenlangen Kleid wirkte sie, als wollte sie sich betont unattraktiv stylen. Der dritte Versuch bestand in Jeans, schwarzen Stiefeln und schwarzem Strass-Kapuzenshirt. Viel zu jugendlich! Mike würde denken, dass sie wie ein Teenager auszusehen versuchte. Schließlich entschied sie sich für eine anthrazitfarbene Stoffhose, eine silbrig graue Seidenbluse und einen schlichten schwarzen Pulli.
Als sie ins Sheriff-Büro kam, richteten sich alle Augen auf sie. Was war denn mit diesen Leuten los? Andererseits wusste sie ja, dass Mikes Mitarbeiter sämtlichst über sie und ihn Bescheid wussten. Sie hatten entweder von ihm oder aus den einschlägigen Quellen erfahren, dass sie früher ein Paar gewesen waren und Mike sie seither nicht mehr ausstehen konnte.
Ihr Herz klopfte, und ihre Handflächen begannen, zu schwitzen. Sie war so nervös, dass man hätte glauben können, sie wäre eine Kriminelle, die auf frischer Tat ertappt worden war. Dabei war sie das Opfer oder zumindest ein potenzielles Opfer.
Ein weiblicher Deputy in mittleren Jahren mit kurzem braunen, zottelig gestylten Haar steuerte auf Lorie zu. Ihre Miene war völlig neutral, weder freundlich noch unfreundlich.
»Guten Morgen, Miss Hammonds. Ich bin Deputy Ladner. Der Sheriff hat mich beauftragt, Ihre Aussage aufzunehmen.«
Lorie nickte und lächelte verhalten, was nicht erwidert wurde. Stattdessen sagte die Frau: »Kommen Sie bitte mit!«
Wie befohlen, folgte Lorie ihr zu einem Tisch, von dem sie annahm, dass es sich um ihren Schreibtisch handelte. Deputy Ladner zog einen Stuhl hervor und bot ihn Lorie an, während sie sich hinter den Metalltisch setzte, Stift und Papier nahm und anfing, Lorie zu verhören. Jedenfalls kam Lorie sich wie bei einem Verhör vor. Fünf Minuten später waren sie offenbar schon fertig, denn der Deputy schob Lorie den Stift und das Formular hin.
»Wenn Sie dann unterschreiben wollen«, sie tippte auf eine gepunktete Linie, »hier, bitte.«
Lorie las sich eilig alles durch, unterschrieb und legte den Stift hin, bevor sie zu Deputy Ladner aufsah. »Vielen Dank.«
Als sie aufstand, tat Deputy Ladner es ebenfalls. »Geben Sie uns Bescheid, falls noch ein Brief kommt oder Sie angerufen werden oder …«
»Ja, selbstverständlich«, fiel Lorie ihr ins Wort. Was soll mir das wohl bringen? Diese Frau glaubt mir kein Wort. Sie denkt, ich erfinde das alles bloß. Bestimmt hat Mike ihr gesagt, sie soll ihre Pflicht erfüllen, und sie gleich gewarnt, mich ja nicht ernst zu nehmen.
»Ist Sheriff Birkett in seinem Büro?«, fragte Lorie.
»Ähm … ja, ich glaube ja«, antwortete Deputy Ladner. »Aber … äh … er ist beschäftigt. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Miss Hammonds?«
Wortlos machte Lorie auf dem Absatz kehrt und ging eilig los, mit jedem Schritt etwas näher zu Mikes geschlossener Bürotür. Sie war gerade dort und konnte Mike durch die halb verglaste Tür an seinem Schreibtisch sitzen sehen, eine Tasse Kaffee in der Hand, als Deputy Ladner ihren Arm packte.
Lorie brauchte sich lediglich umzudrehen und die Frau bitterböse anzufunkeln, da ließ diese sie schon los.
»Sie können den Sheriff jetzt nicht sprechen«, erklärte sie.
Lorie blickte sich um und bemerkte, dass alle zu ihnen sahen. Sie lächelte. »Und warum nicht? Es ist offensichtlich, dass er nicht beschäftigt ist.«
Ehe Mikes Deputy mehr tun konnte, als sich zu räuspern, hatte Mike auch schon seine Tasse abgestellt, war aufgestanden und zur Tür gegangen.
Als er öffnete, machte der Deputy einen Satz rückwärts. »Sir, ich habe Miss Hammonds gesagt, dass Sie nicht zu sprechen sind.«
»Ist schon gut, Lana. Miss Hammonds hält nichts davon, Regeln zu befolgen. Du kannst jetzt gehen. Ich kümmere mich um das hier.«
Lana Ladner? Der Name passte überhaupt nicht zu dieser etwas molligen, unscheinbaren Frau. Er war viel zu ausgefallen für eine solch durchschnittliche Erscheinung.
Während Lana wegging, warf Lorie Mike ein strahlendes Lächeln zu – ein aufgesetztes strahlendes Lächeln natürlich.
»Ich nehme an, ich bin ›das hier‹, um das du dich kümmern willst«, sagte sie.
Mike packte sie am Arm, zog sie in sein Büro und schloss die Tür hinter ihr. »Du wolltest mich sehen. Hier bin ich.«
»Du bist wirklich angefressen, stimmt’s?« Da er nur eine Braue hochzog, als hätte er keine Ahnung, was sie meinte, fügte sie hinzu: »Dir gefällt nicht, dass ich in dein Territorium eindringe, nicht einmal, wenn ich es mit einem berechtigten Anliegen tue.«
Mike stieß einen abfälligen Laut aus.
»Ich weiß, du glaubst nicht, dass ich in Gefahr bin. Du denkst, ich hätte mir diese beiden Morddrohungen ausgedacht, richtig?«
»Einen Brief«, korrigierte Mike. »Maleah sagte, du hättest den ersten weggeworfen … sofern es einen ersten gab.«
»Du egoistischer Mistkerl! Bildest du dir tatsächlich ein, ich wäre so wild darauf, mich in dein Leben zu drängen, dass ich sogar Drohbriefe fälsche?« Sie piekte ihm mit dem Zeigefinger in die Brust. »Dann wollen wir gleich einmal einiges klarstellen: Ich habe deine ach so subtilen Botschaften allesamt verstanden. Du willst mich nicht, du wünschst dir, ich wäre nie nach Dunmore zurückgekommen. Du hältst mich für pures Gift. Prima! Und jetzt hör mir gut zu! Ich bin über dich hinweg, längst. Ich würde dich nicht einmal wollen, wenn du mir auf einem Silbertablett mit einem goldenen Apfel im Maul serviert wirst!«
Er stand da und sah sie an, die blauen Augen vor Schreck weit aufgerissen.
Erst jetzt nahm sie ihren Finger von seiner Brust und ballte ihre rechte Hand zur Faust. »Jemand hat mir zwei Briefe geschickt, in denen er mir erzählt, dass ich sterben werde. Es kann ein perverser Scherz sein, oder aber dort draußen ist wirklich irgendwo ein Irrer, der mich umbringen will. Also, mach deinen Job, Sheriff! Ich bin eine Steuerzahlerin aus deinem Zuständigkeitsbereich!«
Mit diesen Worten verließ Lorie sein Büro und marschierte schnurstracks hinaus, wobei sie die Blicke der Deputys ignorierte.