30. 30 weitere beschissene, vergeudete Tage und dann war er für immer draußen – hoffte er; die Chance, den gleichen Fehler nochmal zu machen, standen gering, obwohl die meisten Gefangenen sicher die gleichen Träume hatten, während sie in ihrer Zelle lagen, nur um dann in der realen Welt aufzuwachen, um am Ende doch wieder kriminell zu werden.
Shane Bridge seufzte. Seine verdreckte Matratze müsste ausgetauscht werden – obwohl er das in seiner Zelle 101 in den drei Jahren noch nie erlebt hatte. Er fragte sich, ob Billy das Knarzen auch hörte.
Billy Toombs, der Mann, der im oberen Teil des Stockbettes der Zelle 101 lag, hatte Shane immer in Schutz genommen. Shane wäre nur ein weiterer toter Mann im Gefängnis gewesen, läge da nicht der schlafende Riese über ihm. Billy war halb amerikanisch-indianisch, halb irischer Abstammung und in irgendeiner seltsamen Kampfkunst trainiert. Verdammt, wie auch immer – Shane kümmerte es nicht im Geringsten –, der Mann war ein Riese und Shane war dankbar, dass dieser Oger weder ein Vergewaltiger noch ein Mörder war.
»Wichst du da unten?«, fragte Billy, bevor er zu kichern anfing.
»Gefällt dir das etwa nicht?«, fragte Shane in sich hineingrinsend. »Wenn ich du wäre«, setzte er an, »würde ich sichergehen und runtersehen, ob es wirklich stimmt, was alle sagen.«
»Was sagen denn alle?«, fragte Billy immer noch kichernd.
»Sie sagen«, lächelte Shane, »dass der weiße Mann, ein armer Amerikaner so wie ich, den größten Penis der Welt hat, und dass eine Halbrothaut und Halbire, so wie du, die Kleinsten haben, und das, obwohl ihr so toll mit eurem Tomahawk umgehen könnt, noch besser mit einem Krug Guinness, und ihr seid absolut Scheiße darin, wenn es darauf ankommt, die Hauptwaffe einzusetzen.«
Shane lachte, wie auch Billy.
Dann änderte Billy seine Tonlage und fragte aufrichtig: »Gehört er ihr? Holly meine ich?«
»Natürlich«, antwortete Shane. »Ich habe sie schon so lange nicht mehr gesehen. Ich kann es kaum glauben, dass ich bald nach Hause gehe.«
Es wurde still, was keineswegs unwillkommen war. Shane war dankbar, dass keine weiteren Fragen mehr kamen. Billy hatte eine Art, mit seinen Fragen immer ein wenig auszuholen, dennoch hatte sie Shane immer beantwortet.
»Ich wünschte, ich wäre du«, sagte Billy, ein Seufzen beendete den Satz. »Nicht, weil du in weniger als einem Monat hier rauskommst, sondern weil du Leute da draußen hast, die dich lieben.« Kurze Pause. »Ich beneide dich, Shane Bridge. Du hast alles, was ich auch hätte haben sollen.«
Shane fühlte einen Moment lang den Anflug von Mitgefühl. War er dabei, seinen Kameraden zu verlassen? War er ein Deserteur? Billy hatte noch zehn Jahre abzusitzen, sollte seine Berufung tatsächlich durchgehen – doch Shane hatte seine Zweifel. In wie vielen Fällen war es schon glaubhaft, seine Unschuld zu beteuern, wenn man genau dann eine blutige Axt in der Hand hält, als der Sheriff auftaucht, um dem ›Lärm‹ nachzugehen.
Hoffnungslos, es gab keinen Ausweg. Billy Toombs musste den Liebhaber seiner Frau zerhackt haben, die Chance vom Teufel persönlich überreichtes Eiswasser aus der Hölle zu bekommen, stand da weitaus größer.
Mit der Inhaftierung hatte sich Billy auf die bedeutsamste spirituelle Reise, die er je erlebt hatte, begeben; der Mann war sehr gläubig, durch und durch, was er auch Shane drei Jahre lang, Tag für Tag, bewiesen hatte. Shane konnte sich zu den wenigen Glücklichen zählen, die nicht in ihrer Zelle zu Tode geprügelt, für eine Zigarette vergewaltigt, oder für lächerliche Informationen, wer inhaftiert oder wer entlassen wurde, gequält wurden. Das Leben für Shane Bridge war ein viel Besseres, als für die Meisten die hier waren, und dieses Glück war ihm mehr als bewusst.
»Gehst du morgen in den Hof?«, fragte Shane, er hoffte insgeheim, so das Thema wechseln zu können. »Ich denke, ich muss ein wenig trainieren, damit ich bald ebenso dämlich wie du aussehe.«
Billy lachte.
»Ich werde da sein. Wenn du eine kleine Rauferei möchtest, kleiner Bridge, dann wirst du sie bekommen.«
Shane lächelte und fiel in den Schlaf.
***
»Mein Sohn, du musst dich nicht mit mir unterhalten. Doch ich bin
hier, um mich mit dir zu unterhalten, und das, was du zu hören
bekommen wirst, wird nicht höflich sein, und es interessiert mich
einen feuchten Dreck, was du darüber denkst. Du bist ein
Schwanzlutscher, und du hast es
verdient hier zu sein. Du hast nicht nur unser Land sondern die
ganze Welt entehrt, deswegen ist es vollkommen berechtigt, dass du
in einem der härtesten Gefängnisse eingebuchtet wirst, das hast du
dir ja selbst …« Einatmen, ein Schluck Wasser, ein Biss in den
Apfel. »Du Scheißkerl hast Glück
… ich hätte dich an Ort und Stelle umgelegt. Doch nun bist du hier,
ein weiteres erbauliches Zeichen. Ich bin nicht das Gesetz, aber
ich bin hier die Jury und der Scharfrichter, und du Hurensohn
kannst dich glücklich schätzen, solltest du hier die nächsten zehn
Jahre mit all deinen Gliedmaßen überleben. Verstehst du mich? Ähm,
wie soll ich es dir am Besten beibringen? Du hast eine bestimmte
Art und Weise deine Mitinsassen zu reizen, nun, bestimmte Menschen
brauchen Abstand und du mein
Freund – ich hasse es dich so zu nennen, Arschloch –, fällst unter
die Kategorie Alarm. Ich wünsche dir einen schönen Tag, Carlos, und
alles Gute in meinem Gefängnis. Du wirst es brauchen.«
***
»Sie bringen ihn heute hierher«, grinste Rooster. »Ich schwöre bei
Gott, dieses Arschloch ist
gerade auf dem Weg hierher.«
Dennis Hart grinste. »Na dann kann er sich auf eine Behandlung gefasst machen. Ich nehme nicht an, dass er weiß, dass wir hier sind?«
Roosters Grinsen verbreitete sich. »Er hat keine beschissene Ahnung, was auf ihn zukommen wird, Boss. Er ist nicht ganz bei sich.«
»Warum, ist er besoffen?«, fragte Dennis, und dann dachte er. Egal, der Verräter war auf dem Weg hierher, das war das Einzige, was zählte. Carlos war ein toter Mann, sobald er in Reichweite war.
»Wir werden morgen zur Mittagszeit auf den kleinen Dreckskerl treffen«, sagte Rooster. »Dann können wir ihn loswerden.«
Rooster grinste.
Das war alles was zählte, niemand mochte Verräter, vor allem nicht Dennis Hart. Morgen zu Mittag würde Carlos Silva ein toter Mann sein.
***
Es war nach 19:00 Uhr, als Carlos Silva in seine Zelle geführt
wurde. Er taumelte herum, stammelte etwas Unverständliches, dann
wurde er in das untere Bett gedrückt. Nach einem Hustenanfall
versuchte er sich aufzusetzen, doch es gelang ihm nicht.
»Ich würde unten bleiben, wenn ich du wäre«, schmunzelte Michaelson. »Ich habe gehört, dass Clay sanfter ist, wenn du dich weniger zur Wehr setzt.«
Dann wurde die Zellentür zugeschlagen. Der Klang der Gitterstäbe schallte durch den Zellenblock. Einige Stimmen beschwerten sich über den Lärm. »Verflucht, es gibt hier Leute, die versuchen zu schlafen.«
Carlos hustete; diesmal kam Blut mit. Es tropfte ihm aus der Nase, floss ihm aus dem Mund und er spürte, dass sogar seine Hose nass wurde, als ob er sich angepisst hätte, doch er wusste, dass dem nicht so war.
Das Bett über ihm knarrte. Carlos gelang es, kurz seine Augen zu öffnen. Lange genug, um zwei große Beine zu erkennen – wahre Baumstämme –, die sich über die Bettkante schwangen. Obwohl es in der Zelle dunkel war, war es der Schweiß, der in Carlos Augen floss, und der es ihm unmöglich machte, etwas zu erkennen.
Die Beine trafen auf den Boden, ein tätowierter Rücken war zu sehen; womöglich eine Art Gang-Merkmal, es war schwer zu sagen. Die Gestalt – Carlos konnte Umrisse sehen – grunzte, als seine Füße den Boden berührten. Der Kerl musste über zwei Meter groß sein. Er hatte einen langen, schwarzen Pferdeschwanz, und obwohl Carlos fast blind war, konnte er diesen zwischen zwei riesigen Schulterblättern hin und her baumeln sehen.
»B-bitte«, flehte Carlos. »Ich möchte keinen Ärger.«
Der Mann drehte sich um und setzte sich neben ihn. Sein Gesicht, wenn auch verschwommen, konnte als ›ramponiert‹ beschrieben werden. Sein Grinsen offenbarte nur drei Zähne, und selbst diese waren beschädigt. Carlos brauchte seine Augen nicht, um den Atem, der ihm ins Gesicht wehte zu riechen, was ihm die Galle zusammen mit frischem Blut hochkommen ließ.
»Sei ein braver kleiner Junge«, grunzte Cyrus Clay, »dann wird dir nichts passieren.«
Das war das Letzte, woran sich Carlos erinnern konnte, bevor er sein Bewusstsein verlor und Wasser aus seinem Hosenschlitz tropfte. Der letzte Gedanke in seinem Kopf war: Bitte, bring mich jetzt um. Ich bin bereit für die Hölle.
***
Da war sie, wie immer die schönste Frau
die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. So fingen seine Träume
immer an und diesen Teil mochte er davon. Die Ruhe vor dem Sturm,
um es so auszudrücken. Sie schlenderte dabei immer mit einem
knappen Seidennachthemd – demjenigen, das er ihr in London gekauft
hatte, und welches kaum Raum für Phantasien übrig ließ – durch den
Raum. Sie war entzückend. Ihre Lippen glänzten von dem, was sie vor
dem Schlafengehen auftrug, es machte sie speckig, doch Shane störte
es nicht, denn es ließ sie so verdammt gut aussehen.
»Ist Megan im Bett?«, flüsterte Shane, seine Augen konnte er dabei nicht von seiner Frau lassen.
Holly nickte. »Sie hatte heute einen großen Tag in der Schule«, sagte sie, während sie ihr Haar vor dem Spiegel am Ende des Bettes bürstete. »Etwas mit der Mensch-zu-Tier-Beziehung, und dann hat sie drei niedliche kleine Kaninchen gestreichelt.«
Shane lächelte. »Jetzt möchte sie wohl eines haben.«
»Nun, sie musste ohne eines gehen«, sagte Holly. »Wir sind schon ohne zusätzliche Kosten knapp.«
Sie hatte recht, wie sie es immer hatte. Shane konnte weder mit Rechnungen noch mit Steuern oder Lebensmittel umgehen; er hatte nur das Geld, was er vom Staat bekam, und das war beinahe nichts. Er konnte noch nie gut mit Zahlen umgehen, und beide hatten zugestimmt, dass Holly es sein sollte, die für die Einnahmen und Ausgaben verantwortlich war.
Dennoch, dachte Shane, als er im Bett lag und ihr zusah, wie sie ihr langes braunes Haar bürstete, konnten sie beide nicht gut damit umgehen.
»Ich brauche eine Arbeit«, seufzte Shane. »Diese verdammte Rezession, wir haben nichts zurzeit.«
»Ich weiß«, stimmte Holly zu und wandte sich vom Spiegel ab. »Es ist nicht deine Schuld. Es liegt …«, kurze Pause, »Ich glaube nicht, dass wir das Haus länger halten können. Mama sagt, dass wir für eine Weile bei ihnen wohnen könnten, bis wir –«
»Keine Chance«, sagte Shane und erhob sich aus dem Bett. »Soweit wird es nie kommen.«
Das würde er nicht zulassen, verflucht, sie würden nicht zu Hollys Eltern ziehen, so nett Hollys Mutter auch sein mochte, diesmal war er derjenige, der die Dinge in Ordnung bringen musste. Es lag nicht nur an Shanes Sturheit, sondern auch an seinem Stolz, der jegliche Nächstenliebe ablehnte. Wenn er nicht in der Lage war, etwas dagegen zu unternehmen, dann ging es nicht.
Obwohl er es diesmal nicht alleine war, um den es ging. Er musste an Megan denken. Sollte es so schlimm kommen, würde er dann immer noch so stur sein? Würde er in der Lage sein, Abend für Abend seine Tochter auf der Rückbank seines Wagens schlafen zu legen und das in ihrer Schuluniform?
Das bezweifelte er.
»Ich verspreche, ich werde in den nächsten Tagen alles unternehmen«, sagte Shane. Er legte seine Hand auf Hollys seidige Schultern. »Lass mich nur machen.«
Holly blieb keine andere Wahl. Was sollte er tun? Monatelang war er schon auf Jobsuche. Wie standen die Chancen jetzt, wenn die Kacke so richtig am Dampfen war?
»Okay«, seufzte sie. Sie schmiegte sich sanft an seine Fingerknöchel. »Doch wenn es wirklich zum Äußersten kommt, dann werden wir zu meiner Mutter ziehen.«
Shane seufzte. »Okay.« Insgeheim wusste er jedoch, dass er dies nicht zulassen würde.
Niemals.
***
Sein Herz raste, alles, was er tun konnte war, nur nicht ohnmächtig zu werden. Schweiß floss in Sturzbächen von seiner Stirn und Nase. Das Autoradio übertönte seine panische Atmung.
War er wirklich dabei, es zu tun? Konnte er …?
Seit einer Stunde saß er bereits im Wagen, eine leere Wasserflasche und ein voller Aschenbecher erinnerten ihn an die bereits verstrichene Zeit.
Die Sonne schien durch die Windschutzscheibe, und obwohl die Fenster und das Schiebedach vollkommen offen waren, schien die Hitze unerträglich zu sein.
Er zog einen Spaziergang in Erwägung, dabei hätte er vielleicht auch einen genaueren Blick in den Laden werfen können, doch er entschied sich dagegen. Den Wagen würde er nur für den Job verlassen.
Er hatte etwa 100 Meter von dem Schnapsladen entfernt geparkt, und er war sich sicher, dass niemand ihn dort bemerkt hatte. Er hatte Gruppen beobachtet, weit unter dem erlaubten Alter, die in den Laden gingen und mit einer Flasche Schnaps wieder herauskamen, zweifellos für eine College-Party in einem schäbigen Haus, dass die Eltern aufgrund der verdammten Rechnungen leer stehen haben lassen. Unzählige Männer im mittleren Alter waren ihm aufgefallen, sie gingen kurz nach ihrem Tagesverlust bei ihren Buchmachern in den Laden und kamen gleich wieder heraus, mit irgendeinem batteriesäureähnlichen billigen Gesöff. 20 Zigaretten hatte es ihm gekostet, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, um das zu tun, was er tun musste.
Er griff nach oben und öffnete die Sonnenblende. Auf einem Foto, 6 x 8 cm, waren Holly und Megan auf einer alten rostigen Schaukel, einem Ding, das man weder aus gesundheitlichen noch aus Sicherheitsgründen mehr zu kaufen bekam, zu sehen.
»Ich tue es euretwegen«, sagte er.
Er klappte die Blende zu, stieg aus dem Auto und ging auf den Schnapsladen zu.
***
Shane war nicht aufgefallen, dass die Frau, die hinter der Theke stand, den Knopf darunter betätigt hatte; sie musste es aber getan haben; die Cops waren überall, noch bevor er das ganze Geld einsacken konnte.
»Du Schlampe!«, schrie er die Frau an, deren Make-up über ihr Gesicht verlief und ihr das Aussehen von jemandem aus einem billigen Horrorstreifen verlieh. »Du verdammte Schlampe!«
Die Sirenen und Klänge von quietschenden Reifen machten vollkommen klar, dass das halbe Revier hierher unterwegs war. Shane versperrten aufgetürmte Schachteln und Bierkisten die Sicht nach draußen. Nur durch den Kühlventilator drang das Sonnenlicht in den Laden und traf auf die gegenüberliegende Wand, was einen unheimlichen Schatten verursachte.
Er dachte schnell nach.
»Gibt es hier eine Hintertür?«, schrie er die Kassiererin an.
Die Frau – Arleen, dies hatte er von ihrem Namensschild abgelesen, als er ihr gedroht hatte, ihr eine Kugel in den Schädel zu verpassen –, keuchte als wäre der Sauerstoff im Laden ausgegangen. Sie konnte nicht sprechen; stattdessen stammelte sie etwas Unverständliches, dabei wies sie auf die Rückseite des Raumes.
»HIER IST DAS JACKSON POLICE DEPARTMENT«, hallte eine Stimme, die Shane erwartet hatte, von draußen herein. »KOMMEN SIE LANGSAM UND MIT ERHOBENEN HÄNDEN HERAUS.«
Wie wenn es passieren hätte sollen, dachte Shane. Er drehte sich um und ging auf die Hinterseite des Ladens, vorbei an der zitternden, aufgelösten Arleen.
Er konnte das Knistern von Polizeifunkgeräten hören und einen entfernten Hubschrauber, doch der war nicht wegen ihm hierher unterwegs. Oder doch?
Er stürzte durch die Tür nach draußen, wischte sich den Schweiß aus den Augen, dabei hoffte er, dass er in einer Gasse landen würde. Läden wie dieser hatten oftmals eine Laderampe oder einen Ort, wo Kisten angeliefert und gelagert wurden.
Der hier nicht. Shane stolperte in die womöglich schlimmste Toilette, die er jemals gesehen hatte.
»Verfluchte Schlampe, Arleen!«, schrie er.
Im Inneren befanden sich zwei Kabinen, ein Urinal und ein Waschbecken. Shane nahm an, dass es schon ewig nicht mehr benutzt worden war. Darüber war ein Fenster, mattiert und schimmlig.
Ohne weiter darüber nachzudenken, kletterte Shane auf das Becken und packte den Griff.
Sein Herz versank in der Hose, als es sich nicht rührte. Weder nach links noch nach rechts.
Er griff an die Rückseite seiner Jeans und fischte eine Pistole heraus. Eine Waffe, die genauso echt war, wie jene, die man auf der Promenade für Kinder kaufen konnte. Immerhin war sie schwer genug, um damit die Scheibe einzuschlagen.
Mit dem Kolben seiner Luftdruckpistole – um Himmels willen! – schlug er auf das Glas, Splitter rasselten nach draußen. Als er sich versichert hatte, dass keine scharfen Kanten mehr übrig waren, kletterte er hinaus und hüpfte auf die Straße.
Sonnenstrahlen trafen ihn.
Danach ein Taser.
***
Shane erwachte, als die Elektrizität heftig durch seinen Körper fuhr. Ein dünner Schweißfilm bedeckte ihn von Kopf bis Fuß. Diesen Traum durchlebte er Nacht für Nacht so intensiv – es war nicht nur ein Traum, sondern eine Rückblende seines Fehlers –, dass er immer noch den Schrecken und den Schmerz fühlen konnte.
Er seufzte.
Für heute würde er nicht mehr schlafen.
***
Billy Toombs schob sein Tablett vorwärts zu dem Matschhaufen, den sie als Frühstück bezeichneten. Heute Morgen teilte ein Neuankömmling mit dem Schöpfer aus. Es sah aus, als hätte irgendwer da hineingespuckt, oder noch Schlimmeres. Da der Neuling so zitterte, landeten die Rühreier neben Billys Teller. Shane tippte Billy am Arm und sie tauschten ein stilles Lächeln aus, welches sagte: Leck mich! Der Junge wird es hier nicht lange machen!
Im Saal war es laut, wie immer. Das Frühstück war die einzige Mahlzeit zu der alle erschienen.
Der nervöse Schöpferjunge schwappte nun die Eier auf Shanes Teller, Shane sah sich um. Irgendetwas Seltsames ging vor sich, das spürte er.
Die Atmosphäre hatte sich verändert. Nicht die Lautstärke, sondern die Spannung. Billy war es auch aufgefallen.
Sie bewegten sich in einer Schlange weiter, erhielten Wurst, die fast unkenntlich war, und eine Scheibe Speck, die aussah, wie das raue Knie eines Kindes, Tage später nach einem schweren Sturz.
Als sie sich setzten, sah Billy zu Shane und fragte: »Fühlst du es auch?«
»Ja«, sagte er, während er sich mit einer Gabel Ei in den Mund schaufelte. »Ich werde auf deinen Rücken aufpassen.«
»Und ich auf deinen«, sagte Billy, der nun auch zu schaufeln anfing.
Als sie halb mit dem Frühstück fertig waren, passierte es. Es war eines der seltsamsten Ereignisse, die sie je gesehen hatten.
Ein Mann, auch Frischfleisch, fing in der Reihe beim Frühstück zu schwanken an, Schweiß strömte von seinem Kopf und landete auf dem Teller. Der Mann hinter ihm, der so viel Billy und Shane wussten, Paulie Sorvino hieß, beobachtete wortlos, wie der Mann anfing sein Frühstück anzusabbern, und plötzlich wie berauscht hin und her taumelte.
»Das ist ja verflucht ekelhaft!«, stieß Paulie hervor, er entfernte sich einen Schritt. Es wurde leiser, als hätte jemand die Kontrolle über die Lautstärke mittels eines Schalters. Alle Augen waren auf die Schlange gerichtet. Ein paar Männer an der Rückseite des Saales erhoben sich, sie wollten den womöglich bevorstehenden Kampf nicht verpassen.
Der Mann drehte sich aus der Linie und blickte sich um. Ihm war offensichtlich übel. Seine Augen drehten sich herum, Schweiß floss ihm in Strömen hinunter.
Er taumelte einen Schritt nach vorne … zwei Schritte, dann rückwärts, was dazu führte, dass die meisten Insassen heiser lachten und aufheulten.
Shane hielt sich ein Lachen zurück. Etwas stimmte mit dem Mann nicht.
»Hey!«, rief Paulie, als er bemerkte, dass er die ganze Aufmerksamkeit des Raumes besaß. »Bringt mal jemand diesem verdammten Scheißkerl noch ein Bier!«
Weiteres Gelächter. Paulie beugte sich nach vorne, als der Mann von Tisch zu Tisch taumelte. Einige der gewalttätigen Gefangenen fingen an, ihn zu stoßen, dabei lachten sie und verlangten, dass der kränkelnde Mann etwas anderes Lustiges tat.
Cyrus Clay stand auf. »Das ist alles für euch, ihr Scheißkerle«, lachte er. »Ich muss mir mit diesem verfluchten Schwanz eine Zelle teilen.«
Der Saal verstummte. Nicht über Cyrus Clays Witz zu lachen war eine schlechte Idee.
Carlos Silva stolperte noch ein paar Sekunden umher, bevor er stehenblieb. Er sah verwirrt aus; fast so, als hätte er die ganze Nacht schlafgewandelt und war gerade ahnungslos aufgewacht und wüsste nicht, wo er war.
Sein Blick war leer. Eigentlich wirkte sein ganzes Gesicht ausdruckslos. Er sah aus wie ein Gemälde. Irgendetwas von Goya vielleicht. Dann übergab er sich.
Der Tisch vor ihm bekam das Schlimmste ab, die Tische links und rechts blieben ebenso wenig verschont. Carlos Silva spie alles von sich. Die Gefangenen sprangen beiseite, fielen von ihren Stühlen, ihr Lachen verwandelte sich in Ekel, als der Mann eine nicht enden wollende Flut von Eingeweiden vor ihnen hinkotzte.
***
Es folgte ein unglaublicher Ausbruch von Gewalt. Carlos Silva
konnte von Glück reden, dass er noch atmete, als es den Beamten
gelang, die anderen von ihm zu zerren. Wachmann Tyler, einer der
erfahrensten Wächter, hatte die ganze Sache von der anderen Seite
des Saals mitbekommen, und dabei beschlossen, erst einzuschreiten,
wenn einer der dreckigen Mexikaner dabei war, Vergeltung gegen die
angekotzten Schläger zu üben.
»Okay, okay, alle wieder zurück auf ihren Platz«, befahl Tyler, seine Hand ruhte auf dem Taser. Sollte einer von den Bastarden auf die Idee kommen, seine Stiefel anzukotzen, war es wohl besser, ein paar tausend Volt bereit zu haben.
Die Insassen verteilten sich. Rooster Hill, Marvin ›Der Mörder‹ Manson und Jimmy ›Der sanfte Vergewaltiger‹ Kelly gingen auf die Ecke zu, in der Dennis Hart saß – der Rudelführer –, der lässig sein Mahl zu sich nahm. Von diesen drei hatte nur Jimmy Kelly sich übergeben, doch es war klar, dass einige den Mund voll hatten; er wischte sich seine Lippen und Zunge so fest ab, als ob er gerade etwas Ranziges zu sich genommen hatte. Von der Seite bekamen sie mit, wie Cyrus Clay einen letzten Tritt austeilte, bevor er zurückwich. »Sehen Sie den kranken Scheiß, Boss?«, fragte Cyrus und deutete auf den sich windenden Mann am Boden.
»Halt’s Maul, Clay!«, befahl Wachmann Tyler. »Wenn ich hier unter euch Drecksäcken mein Essen zu mir nehmen müsste, würde ich es auch nur äußerst schwer in mir behalten.«
Der Aufseher forderte über Funk Untersützung, dabei erklärte er, dass er es nicht zulassen werde, seine Uniform verdrecken zu lassen. Michaelson sagte, dass er in ein paar Minuten da sein werde.
In der Zwischenzeit war es Carlos Silva gelungen, auf die Knie zu kommen. Eine lange ekelhafte Schleimspur hing ihm aus seinem Mund bis zum Boden. Stöhnend hielt er seinen Bauch. Alle paar Sekunden entwich ihm ein seltsames Zischen, es klang wie das Fauchen einer Katze.
Tyler stellte sich neben den kranken Mann und schubste ihn.
»Schwachkopf«, sagte er, seinen Taser hielt er immer noch bereit. Da Carlos nicht reagierte – sein dunkler Sabber hatte mittlerweile Ausmaße einer tödlichen Lache am Boden gebildet –, sagte Tyler: »Ich werde den Scheiß Taser einsetzen, wenn du nicht hochkommst!«
Shane sah mit Billy zu, wie der Wachmann nochmals zutrat. Diesmal machte der kranke Mann etwas Unerwartetes. Er packte den Aufseher am Knöchel und biss zu.
Der Ausdruck in Tylers Gesicht hätte unter anderen Umständen komisch ausgesehen. Als er schrie, zog er den Taser und zielte damit auf Carlos Silva. Der Mann auf dem Boden bekam jedoch nichts davon mit; er war zu sehr damit beschäftigt, ein Stück Fleisch zu ergattern. Und das Komische war, trotz allem was geschah, rührte niemand auch nur einen Finger. Wenn überhaupt, dann zogen sich die Menschen zurück, als ob sie kein Teil dieser Veranstaltung sein wollten. Trotz der Schreie und des Keuchens war niemand bereit einzugreifen.
Während Tyler den Taser stärker einstellte, versuchte er aufrecht zu bleiben, doch ihm war bewusst, dass er nicht schießen konnte. Der Kontakt zwischen ihm und dem knurrenden Stück Scheiße zu seinen Füßen würde bedeuten, dass beide von ihnen etwas abbekommen würden, und aus seinen vorigen Schüssen – aus dem Training –, war ihm klar, dass er das Ding nicht einsetzen konnte.
Glück hatte er heute keines. Das Fleisch von Tylers Bein wurde wie von einem Hühnerflügel des Sonntagsbratens abgerissen. Der Wachmann stolperte ein paar Meter rückwärts, bevor er zwischen den Sesseln zu Boden ging.
Dies war der Moment, der Shane bestätigte, dass etwas im Argen lag. Dies war keine Krankheit, keine dumme Reaktion auf Inhaftierung, da lag etwas weitaus Schlimmeres mit dem Neuen im Argen, etwas sehr Übles. Die Art von Knurren, dieser dicke, schwarze Schleim, der ihm aus seinem Gesicht hing, wie ein höllischer Wasserfall, die Art, wie seine Augen sich in nichts verwandelten, wie ein schwarzes Loch gefüllt mit Wut und Hass. Er war verstört, doch jetzt schien er zu grinsen. Der Mann hatte nur ein paar Monate hier abzusitzen, aufgrund seines Bisses wurden daraus Jahre. Es war, als ob er wusste, dass es vorbei war.
Wie ein tollwütiger Wolf in freudiger Erwartung auf seine Beute, erhob er sich auf seine Beine. Er röchelte, einmal, zweimal, dann befand er sich über ihm.
Wachmann Tyler öffnete gerade noch rechtzeitig seine Augen, um die Abgründe des Mannes zu erkennen, als dieser mit gefletschten Zähnen näher und näher kam.
Tyler schrie lauthals.
Der Klang einer Schrotflinte war das Letzte, was er hörte, bevor der Mann auf ihm landete.
***
Das Gefängnis wurde 24 Stunden komplett verriegelt. Ein Ereignis
wie dieses, der Gipfel der Gewalt gegen einen Aufseher, führte
immer zu solchen Maßnahmen. Keine Aussichten auf Hofzeiten,
Mahlzeiten wurden ohne Besteck in die Zellen geschoben. Dies war
die Art und Weise, mit der die Wachen den Häftlingen in Erinnerung
riefen, dass sie das nicht tolerierten. Was auch beinhaltete, dass
es ebenso wenig toleriert wurde, dass Häftlinge sich in den Zellen
gegenseitig etwas antaten. Die Anstaltsleitung war vehement gegen
solche Aktionen und nahm diese sehr persönlich.
***
Tyler wurde in die Krankenstation gebracht, obwohl Shane nicht
glaubte, dass dessen Wunde mit ein paar Stichen und einer Handvoll
Tylenol geheilt werden konnte. Ein ordentliches Stück fehlte ihm,
eine Transplantation war vermutlich die einzige Lösung.
Billy Toombs saß in der Zellenecke. Das Buch, das er hielt und begierig las, und von dem Shane seinen Blick nicht abwenden konnte, war von Kurt Vonnegut. Billy lachte gelegentlich, wie auch Shane; es war ein seltsamer Anblick, dass Literatur einen Mann mit seiner Statur zum Schmunzeln bringen konnte. Er sah mehr wie ein Mann aus, der wilde Hundekämpfe komisch fand.
So sehr es Shane auch versuchte, er konnte die Gedanken an die Ereignisse von heute Morgen in der Kantine nicht aus seinem Kopf bekommen. Wie konnte dieser Mann, der so krank war, von einem auf den anderen Moment, die Kraft eines wilden Tieres aufbringen?
Für einen Biss in die Knochen von Tyler, als ob diese nichts anderes als Fensterkitt waren, war etwas mehr als nur bloße Kraft nötig.
Jeder Mann, egal wie verrückt er war, wusste, dass die Chancen eine Wache erfolgreich außer Gefecht zu setzen, nur sehr gering waren, genauso wie die Wahrscheinlichkeit auf eine Fluchtmöglichkeit, die ebenso mager schien, wie die Chancen darauf, dass die anderen Wachen ihn am Leben ließen.
Doch diesem Mann war es egal gewesen; sein einziges Ziel hatte darin bestanden, so viel Schaden wie möglich anzurichten.
Das hatte er in seinen Augen gelesen. Sein Blick war leer, dunkel und diabolisch.
In einem der härtesten Gefängnisse im Staat zu sein, brachte ständig das Aufeinandertreffen mit etwas Bösen mit sich; immer und überall. In der Dusche den Rücken zuzuwenden, zog mit großer Sicherheit die Blicke der Zellenkumpanen auf sich – vorausgesetzt, man war nicht der Hauptvergewaltiger. Gegenstände gerieten ständig abhanden; alles mit dem geschnitten oder rasiert werden konnte, wurde als Waffe verwendet. Shane hatte drei Zahnbürsten auf diese Weise verloren.
Der Wille der Verdammten war eine unaufhaltsame Kraft.
Doch der Mann – Carlos, so hatte Michaelson ihn beim Namen genannt, nach dem er ihm den Schädel weggeblasen hatte –, war nicht nur böse gewesen, oder irrtümlicherweise in die Krankenstation gebracht worden. Er war der Tod selbst gewesen.
»Du denkst auch, dass mit dem etwas nicht stimmte, oder?«, fragte Billy, ohne aufzusehen. »Hey, ich habe so einiges erlebt, seit ich hier bin, Mann«, fuhr er fort, »aber ich hab noch nie so etwas Verrücktes erlebt.«
Er drehte sich auf die Seite, als ob er seine Aussage nur nebenbei erwähnte.
Shane seufzte. Auch er hatte diesen Scheiß miterlebt, und dies war der Gipfel einer Liste von Dingen, die er niemals wieder zu Gesicht bekommen mochte, niemals.
»Ich habe keine Ahnung, was da draußen geschehen ist, Billy«, sagte Shane. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die letzten zwei Stunden war es spürbar wärmer in der Zelle geworden; eine weitere Maßnahme, die unternommen wurde, wenn der eine oder andere Insasse aus der Reihe tanzte, die Heizung auf unerträgliche Temperaturen zu erhöhen. »Ich denke nicht, dass er verrückt war. Ich denke, dass er irgendwie kontrolliert wurde.«
»Kontrolliert?«, fragte Billy, sein Roman fiel von seinem Schoß. »Von wem?«
Shane schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Satan persönlich?«, fügte er an.
Dies führte dazu, dass Billy Toombs in Gelächter ausbrach. »Du glaubst also, dass der Mann besessen war?«, höhnte er. »Ich bin der verdammte Indianer hier. Sollte nicht ich derjenige sein, der sich Gedanken über so eine Scheiße wie unerklärliche Kräfte oder Geister macht?«
»Er war kein Geist«, korrigierte ihn Shane. »Aber glaubst du ernsthaft, dass er menschlich war?«
Einen kurzen Moment lang dachte Billy über die Frage nach. Wie konnte der Mann etwas anderes als ein Mensch sein? Monster existierten nicht, außer die, die Kinder vergewaltigten oder Häuser in Brand steckten, in denen sich schwangere Frauen aufhielten, in der Hoffnung, dass sie damit die Geburt eines ›falsch farbigen‹ Babys verhindern konnten.
»Von was redest du da, Shane?«, fragte Billy. Er legte das Buch neben sich auf den Tisch. Dies bedeutete, dass er entweder wirklich angetan oder mordsmäßig sauer war.
Shane seufzte. »Denkst du, dass was da passiert ist, dass da einfach nur etwas im Argen lag? Ich meine, der Typ war verdammt krank und kurz darauf hatte er die Kraft eines Panthers.«
»Der Typ hat seine Schwäche nur vorgetäuscht«, kicherte Billy. »Wir haben uns schon alle darüber den Kopf zerbrochen, wie wir die Wachen überlisten können. Dieser Typ hatte tatsächlich die Eier es zu versuchen. Er ist gescheitert und nun fehlt ihm sein Kopf.« Er nahm sein Buch und kehrte auf die von ihm markierte Seite zurück. »Ich würde nicht allzu lange darüber nachdenken, wenn ich du wäre.«
Shane grinste. »Du hast recht, Billy.« Und doch wusste er, dass auch er recht hatte, irgendetwas Schlimmes stand bevor.
So nah und doch so fern, dachte er.
Die Freiheit, so vermutete er, musste warten.
***
Marla Emmet öffnete die Schublade mit den gefährlich aussehenden Gegenständen. Sie war schön, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn. Sie hatte Augen, Lippen und Brüste, und doch schien ihr Vertrauen ihr Hauptanziehungsmerkmal zu sein. Sie war jener Typ Frau, die keinen Mann brauchte; ihre eigene Kraft und ihre Kühnheit waren mehr als genug, um ihren Alltag meistern zu können. Ihre schwarzen Haare verteilten sich auf ihrem Rücken in Richtung ihrer üppigen Oberschenkel, die von ihrem Anstaltsarbeitsgewand umhüllt waren, und doch konnte diese vage Beschreibung niemals die Tatsache verbergen, dass sie die einzige Hochschulabsolventin in diesem Gefängnis im Staat Phoenix war, und dass sie besser Karten zählen konnte, als jeder professionelle Pokerspieler im Umkreis. Sie war tatsächlich dazu in der Lage, ein Sudoku in weniger als einer Minute zu meistern, und selbst ihre Bilder hatten Auszeichnungen gewonnen, eine Kritikerstimme sagte sogar: ›Erinnert mich an einen frühen Renoir.‹
»Wird es weh tun, Doc?«, winselte Tyler wie ein Kind, das zum ersten Mal beim Friseur war.
Marla blickte beiläufig auf die Wunde, bevor sie sagte: »Vermutlich. Es ist ein tiefer Biss, ich wäre also überrascht, wenn es das nicht täte.«
Tyler verdrehte seine Augen. »Scheiß typisch. Mir wurde ein Stück gestohlen, und er sitzt vermutlich wieder in seiner Zelle, bekommt eine Mahlzeit und eine verdammte Auszeichnung für seine Tugend von den anderen. Ich hasse diese Scheiße.«
Marla lachte. »Machen Sie sich bereit«, sagte sie, während sie die Watte in das Jod tauchte. »Das wird brennen.«
Um ehrlich zu sein, wollte sie das sogar. Tyler war nichts anderes, als ein notgeiler Schädling seit ihrer Ankunft gewesen. Sie hatte versucht den Fall aufzudecken, doch fehlten ihr dazu die Beweise und er kam als freier Mann davon. Ihm war bewusst, dass seine Annäherungsversuche unangebracht gewesen waren. Was war das für ein Gefängnis, in dem männlichen Mitarbeitern vollständige Immunität zugesprochen wurde? Marla Emmet hatte keine Ahnung. So hoffte sie, dass dies diesem Scheißkerl wirklich, wirklich brannte. Der Bastard hatte das verdient.
Er schnappte nach Luft, als die Watte mit seinem Bein in Berührung kam; er geiferte wie ein Kind, das sich weigerte, die Medizin zu sich zu nehmen. »Fuck! Das tut verdammt weh«, fluchte er mit verzogenem Gesicht.
»Wirklich?«, fragte Marla, obwohl es sie überhaupt nicht interessierte, was er sagte. Eigentlich hatte sie etwas mehr Reaktion erwartet; sie hatte extra Salz in das Jod gestreut, um dem Perversling noch mehr Qualen zu bereiten. »Sollte es eigentlich nicht. Es ist nur Jod.«
»Es fühlt sich wie reine Säure an«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das schmerzverzerrte Gesicht brachte Marla zum Lachen; er sah kurz aus, als würde er ohnmächtig werden. Sie hatte gehofft, dass er es werden würde, doch schien es so, als würde er die Schmerzen wegatmen oder wegblinzeln, obwohl das kaum zu glauben war.
Sie tupfte die Wunde und legte die blutige Watte in eine Aluminiumschale. »Sieht aus, als müssten wir ein paar Stiche machen«, sagte sie. »Dieser Mann hat ja wirklich ein gutes Stück herausgebissen.«
Was für ein reizvoller und wundervoller Mann das wohl sein musste, dachte sie.
Mit dem Blick auf die Wunde gerichtet, schüttelte Tyler seinen Kopf. »Er war wie ein verdammtes Tier«, sagte er. »Ein total Irrer. Ich hatte nicht mal Zeit gehabt, diesen Bastard zu Tasern. Scheiße, ich war nicht einmal in der Lage, mein Bein aus seinem Mund zu ziehen.«
Dies brachte Marla zum Lächeln. Der Gedanke daran, dass Tyler, dieses sexuelle Raubtier sich eine Sekunde lang hoffnungslos fühlte, schien etwas Licht in die Dunkelheit zu bringen, die sie während des Tribunals gefühlt hatte.
»Wenn ich wieder ganz bin, werde ich das Leben von diesem Bastard zur Hölle machen«, knurrte Tyler. »Da hat er sich mit dem verflucht Falschen angelegt.«
Marla zögerte eine Sekunde, bevor sie sagte: »Haben sie es Ihnen nicht erzählt? Sie haben ihm in den Kopf geschossen.«
Tyler blinzelte, vermutlich hatte er die Information nicht verstanden. »Sie haben was?«
»Offenbar hatte Michaelson den Funkruf nach Unterstützung wahrgenommen, doch als er angekommen war, waren die Dinge bereits aus dem Ruder gelaufen.« Sie hielt ihren Blick auf die Nadel gerichtet, die sie fachmännisch einfädelte. »Hat ein wahres Massaker angerichtet. Der Mann ist jetzt unten in der Leichenhalle.«
Tyler war kurz in Gedanken versunken, dann lachte er. »Hat dieser verdammte Hurensohn für das, was er mir angetan hat bezahlen müssen!«, stellte er fest. »Der gute alte Michaelson. Wusste schon immer, dass er die Eier hat, jemand umzulegen.«
»Ja«, sagte Marla. Sie setzte sich zurecht. »Wie auch immer. Legen wir los. Es kann ein wenig ziepen.«
Sie verwendete nur sehr wenig Betäubungsmittel.
Er fühlte jede Menge Schmerz.
***
In der Nacht, in der Tyler qualvoll zusammengeflickt wurde, lag Carlos Silva auf einem Tisch, besser gesagt, das Meiste von ihm lag darauf.
Doktor Jacob Strauss, ein kleiner, behäbiger Mann mit einer drahtigen Brille, war über den Körper gebeugt, dabei hielt er ein Diktiergerät in der einen Hand, ein Schinkensandwich in der anderen. Zwischen den Bissen diktierte er etwas, ab und an war sein Mund dafür zu voll.
Strauss war gut in seinem Job; das musste er sein. In einem Gefängnis zu arbeiten, hatte ihm einiges über Leichen gelehrt, und obwohl viele Leichen seine Leichenhalle passiert hatten, war er sich bei vielen sicher, dass diese an natürlichen Ursachen gestorben waren, weitaus häufiger waren jedoch andere Theorien.
Er stopfte den Rest des Sandwichs in seinen Mund und streifte seine doppelt dicken Handschuhe über. Dann sprach er in das Diktiergerät, Zeit und Datum der Autopsie. Es war jedoch vollkommen klar, was die Todesursache war; der Mann, der auf dem Tisch lag, war kopflos. Strauss lachte in sich hinein. »Ja, dann fangen wir mal an.«
Er fing an, durch das Brustbein zu schneiden, dabei sprach er weiter. Er fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte, denn die meisten Bänder wurden sowieso unter M, ›Muss man sich nicht nochmals anhören‹ abgelegt.
Als das Brustbein knirschte, stieg ihm ein übler Geruch entgegen. Sofort dachte er an die Maske, die er vergessen hatte aufzusetzen. Nur selten trug er sie, doch dieser ranzige Gestank stach ihm in die Nase und reizte seine Kehle.
Als er seine Fassung wieder erlangt hatte, sprach er laut weiter, obwohl es mühsam war; in all seinen Jahren als Bestatter, hatte er noch nie so etwas Widerliches gerochen, es forderte ihm alles ab, nicht das Schwein, das vor ihm auf dem Tisch lag, anzukotzen.
Er griff nach der Schere und legte sie an. Nach weiterem Knirschen war die Brusthöhle vollständig geöffnet.
Zuerst bildete er sich ein, zu halluzinieren, oder das es ein Nebeneffekt wegen des wenigen Schlafes oder von zu wenig Essen war. Er blinzelte, dann starrte er erneut in das Chaos.
Dort wo die Lungen hätten sein sollen, war eine schwarze Masse, so dunkel, was es unmöglich machte, den Rest der Organe zu beschreiben. Der Herzbeutel war schwärzer als die Nacht. Alles war von einer Schmiere bedeckt. Es sah eher wie ein Abwasserkanal aus, als das Innere eines Menschen.
»Heilige Scheiße!«, keuchte Strauss. »Was ist das?«
Er nahm seine Kamera und machte ein paar Fotos von den Innereien. Als er damit fertig war, fotografierte er noch außen herum. Noch nie war ihm in den Sinn gekommen, dass ihn jemals etwas so verstören konnte.
Was ist das? Was ist dieses ganze schwarze verfluchte Zeug?
Er machte noch ein paar Aufnahmen, dann legte er die Kamera unter den Tisch. Immer noch sprachlos trat er näher, sah wieder nach unten in den schrecklichen, schwarzen Schlamm und die nicht identifizierbaren Eingeweide. Der Gestank schien schlimmer geworden zu sein; der ganze Raum roch mittlerweile danach. Für ein paar Sekunden dachte Doktor Jacob Strauss, dass er sich übergeben musste, dann schloss er die Augen und die Übelkeit ließ etwas nach.
Wieder zwang er sich, in die offene Brust des toten Mannes zu sehen, denn er wollte seine Untersuchung fortführen. Er griff nach seinem Skalpell.
Nichtsahnend, wo er genau schnitt – und ohne etwas Genaues sehen zu können –, beschloss er einfach, am Herzen anzusetzen, um zu sehen, was geschah.
Sein Herz raste.
Er ließ die Klinge über den schwarzen Klumpen, der das Herz sein sollte, gleiten. Innerlich konnte er sein eigenes Herz schlagen hören.
»Scheiß drauf«, sagte er zu sich.
Er schnitt mit der Klinge in das Organ.
Sofort schoss ihm ein grauenhafter Sprühregen aus dunklem Sekret entgegen. Strauss blieb keine Zeit seinen Mund zu schließen, somit wurde dieser mit der widerlichen Flüssigkeit gefüllt. Er taumelte rückwärts, krachte in einen Tisch, klappernd fielen Werkzeuge und Geräte zu Boden, das war ohrenbetäubend. Der Arzt würgte und spuckte, als er versuchte, das schwarze Dreckszeug aus seinem Mund zu bekommen. Es schmeckte schlimmer als ranzige Milch. Es war warm und brachte ihn dazu, sich zu übergeben.
Als seine Geräte und Werkzeuge schließlich liegen blieben, kehrte wieder Stille ein und Strauss war es gelungen, sich aufzuraffen. Er zog seine Zunge mit dem behandschuhten Finger heraus, mit der Hoffnung, jedes Stück dieser ekelhaften Masse aus seinem Mund zu bekommen, befürchtete aber, dass der Geschmack nie wieder zur Gänze zu beseitigen sein werde.
Nach ein paar Minuten schluckte er. Er ignorierte den toten Leichnam, er ging zum Waschbecken, wo er gierig etwas kaltes Wasser gurgelte.
»Kranke Scheiße«, spuckte er, sein Hintern schmerzte aufgrund des Falles und seine Ellbogen waren so stark aufgeprallt, dass nun kleine Blutflecken durch den Kittel kamen.
Als Doktor Jacob Strauss sich wieder etwas erholt hatte, nahm er ein paar weitere Aufnahmen des Körpers auf, bevor er mit der mühsamen Einbalsamierung anfing.
Die Oberseite des Schädels machte es unmöglich, ihn zuzunähen.
»Ihn werden sowieso keine Leute zu Gesicht bekommen«, murmelte Strauss, bevor er seinen Tag ohne jede weitere Katastrophe fortsetzte.
***
Nachts, als die Lichter ausgingen, saß Jimmy ›Der sanfte
Vergewaltigter‹ Kelly auf seiner Pritsche und griff sich auf den
Bauch.
»Was verflucht nochmal ist nur los mit dir?«, fragte Dennis Hart mit dem Mitgefühl eines Gestaposchlägers. »Du jammerst jetzt schon über eine Stunde lang herum.«
Jimmy sah auf. Schweiß strömte ihm über sein Gesicht, seine Augen waren eingesunken, als ob er eine besonders schlechte Dosis Crack zu sich genommen hätte.
»Ich fühl mich nicht gut, Den«, sagte er atemlos. »Seitdem mich der Dreckskerl angekotzt hat, geht’s mir dreckig.«
Dennis Hart lächelte. »Ich mach dir keine Vorwürfe. Wenn der alles über mich gekotzt hätte, würde ich mich auch elend fühlen.«
Er legte seine Zeitung ab – er las sie nicht, allerdings sah er sich die Titten von einem Model an – und stand auf. »Zumindest hat es uns bei unserem Job geholfen. Ich habe bereits 20 Mücken bekommen; weitere zehn für das Verprügeln von Dago.«
Dann lachte er. Jimmy Kelly nicht.
»Oh, was bist du nur für eine Pussy«, knurrte Dennis. »Jeder hier denkt, du liegst im Sterben. Lass mich dir mal etwas sagen, Jimbo: Noch nie ist jemand von ein bisschen Kotze abgekratzt.«
Jimmy richtete sich auf, selbst wenn er den Schmerz hätte offen zeigen können; es war nicht klug Dennis Hart zu ignorieren. Wenn er einem befahl, frisch und munter zu sein, dann musste man aus dem Bett springen und einen beschissenen Macarena für ihn tanzen. Dies war einer der Nachteile, wenn man sich mit so einem Mann eine Zelle teilte. Auch wenn die meisten Leute immer sagten, es sei ein Privileg; Jimmy Kelly stimmte nicht zu.
»Soll ich zusehen, dass ich wieder einen reinen Kopf bekomme, Den?«, grinste Jimmy mit zusammengebissenen Zähnen. »So etwas ist mir in meinem Leben noch nie passiert.«
»Ich wünschte, ich hätte eine dieser Kanonen«, sagte Dennis. »Dann würde ich diesen Wachen zeigen, wie man damit umgeht. Tyler, Michaelson und diesem Jenson. Und dann würde ich in dieses beschissene Büro gehen und dieses Arschloch Charles Dean damit umblasen.«
Charles Dean, der Befehlshabende, hatte Dennis Hart all sein Rechtsbewusstsein spüren lassen. Jahre der Erpressung und Erniedrigung; Drogenanbau und organisierte Vergewaltigung. Gefängnisdirektor Dean hatte eine enorme Abneigung gegen Dennis Hart empfunden, mehr als gegen jeden anderen Straftäter in dieser Anstalt.
Hart hatte dies immer als Kompliment betrachtet.
»Denkst du, dass du in der Lage sein wirst, in absehbarer Zeit eine Kanone in die Finger zu bekommen?«, fragte Jimmy. Schweiß tropfte von der Nasenspitze auf den Zellenboden. Dennis Hart blickte nach unten und bemerkte, dass die Schweißtropfen bereits eine kleine Pfütze gebildet hatten.
»Es wird nie und nimmer so eine Chance geben«, sagte Dennis. »Obwohl, wenn es mir irgendwie gelingen würde, an eine heranzukommen, weißt du, durch Zufall, dann würde ich dieses verdammte Ding verwenden, und ich rede nicht davon, denen einfach den Schädel wegzupusten. Ich würde den Amoklauf aller Amokläufe begehen.«
»Ich würde dich begleiten, Boss.« Jimmy verzog sein Gesicht vor Unbehagen. »Den ganzen Weg lang.«
»Ich weiß, dass du das tun würdest, Jim«, sagte Dennis, der immer noch die Pfütze auf dem Boden anstarrte. Vielleicht war er krank; vielleicht hatte ihn die Kotze angesteckt – was er so wusste, war dies möglich, weil sie sich nicht immer wuschen und sie immer von Farmtieren und Scheiße umgeben waren. »Ich würde mir auch keinen anderen an meiner Seite wünschen.«
Diese Nacht tat Dennis Hart kein Auge zu.
***
Direktor Charles Dean schenkte sich ein Glas Whiskey ein und nahm
einen Schluck. Die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete, war
wunderbar. So wunderbar, dass er sich gleich ein weiteres Glas
einschenkte.
Er griff nach der Holzkiste, die auf seinem Schreibtisch stand, und entnahm ihr eine Zigarre, eine der Besten, die er je geraucht hatte. Als sie brannte, lehnte er sich in seinen Sessel und blies zufrieden den Rauch aus.
Aus dem Plattenspieler dröhnte Beethovens fünfte Sinfonie in C-Moll, eines seiner Lieblingsstücke. Sein Plattenspieler war ein alter Dansette, keines dieser neumodischen Dinger die diese »alle singen und tanzen« CDs abspielten. Wenn es etwas gab, dass Charles Dean mehr als Kriminelle hasste, dann waren es sinnlose technologische Dinge. Was brachte es schon für einen Nutzen, wenn man auf einem Gerät stundenlang Musik speichern aber diese nicht anhören konnte? In diesen Belangen war er mehr als eigen – er liebte es Bücher in den Händen zu halten, die Rillen auf den Platten zu sehen, eine vollständige Bibliothek zu besitzen, und diese nicht auf einem verdammten Miniaturding zu haben, auf dem alles verloren war, wenn es mal zu Boden oder in die Toilette fallen sollte.
Beethovens Klänge breiteten sich im Büro aus, der Rauch von blauem Miasma gesellte sich dazu, und Direktor Dean wurde bewusst, dass sein Leben weitaus beschissener sein könnte. Natürlich hatte auch er Probleme, er war seit knapp zehn Jahren geschieden, doch um ganz ehrlich zu sein, während er in seinem Ledersessel lehnte und am Whiskey nippte, wurde er sich zum ersten Mal gewahr, dass er noch nie so glücklich gewesen war – selbst wenn die Schlampe von Frau immer noch da war.
Es war ein harter Tag im Büro gewesen (so ging das Klischee) und einer der Neuankömmlinge wurde umgebracht – vielleicht zu übereifrig, vielleicht auch nicht –, doch jetzt war er entspannt. Der Mann namens Carlos Silva besaß keine Familie, was die ganze verdammte Sache noch viel einfacher machte. Keine Familie bedeutete, keine unangenehmen Anrufe; Carlos Silva würde vom Erdboden verschwinden, bis zum Ende des morgigen Tages würde er verbrannt sein, was noch besser war.
Charles Dean grinste.
Er fiel fast rückwärts über den Stuhl, als das Telefon läutete. Durch den Ruck hatte er zu viel Rauch eingeatmet, weswegen er einige Male husten musste, bevor er in der Lage war abzuheben. Als er sich wieder fing, legte er die Zigarre in den Aschenbecher und nahm den Hörer ab.
»Hallo?«, fragte er ein wenig barsch. »Hier spricht Gefängnisdirektor Dean. Ich hoffe, es ist wichtig.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich, dann fing er mit zittriger Stimme zu sprechen an. »Herr Direktor, hier spricht Doktor Strauss. Ich habe, ähm, ich habe diesen Körper, sie wissen schon, wieder zusammengeflickt und all –«
»Oh, Doktor Strauss«, lächelte Dean. »Das sind gute Neuigkeiten, obwohl sie sich ihr Geschick mit dem Nähen hätten sparen können. Wie sich herausgestellt hat, gibt es keine nächsten Angehörigen, somit gibt es niemanden, der den Leichnam sehen möchte.« Er machte eine kurz Pause, zog an seiner Zigarre, blies den Rauch aus und sprach weiter. »Der arme Junge ist noch nicht einmal richtig alt geworden und hat keinen mehr, fürchte ich. Also werden wir ihn der alten Bessie übergeben.«
Alte Bessie war der Spitzname des Krematoriums, den der Direktor immer verwendete. Bessie war auch der Name seiner Ex-Ehefrau. Er hatte das Krematorium nach ihr benannt, weil sie ihm auf schmerzhafte Weise die Lebenskraft ausgesaugt hatte, wodurch nur noch seine Hülle zurückgeblieben war. Er fand es komisch, obwohl es niemand im Gefängnis verstand.
»Was für eine Schande«, sagte Doktor Strauss. »Stellen Sie sich mal vor zu sterben, ohne dass es jemand kümmert, oder um einen trauert.«
»Ich bin mir sicher, wenn es so weit ist, Doktor, werden weder Sie noch ich uns den Kopf darüber zerbrechen.«
Dann wurde es still, nur ein Rascheln war zu hören, von dem Charles Dean annahm, es handle sich um ein zustimmendes Nicken des Doktors. »Ich bin mir sicher, dass Sie Recht haben«, sagte Strauss schließlich. »Soll ich heute Abend noch alles fertigmachen, Herr Direktor, oder hat es bis morgen Zeit?«
Strauss täuschte ein Lachen vor. Natürlich hat es Zeit! Leichen stehen nicht einfach auf und gehen davon. »Ich werde es morgen früh erledigen.«
»Tun Sie das, Doktor«, sagte Dean und hing den Hörer wieder auf die Gabel.
Er rauchte seine Zigarre, lauschte den Klängen von Beethovens Sinfonie eins bis neun und leerte dabei die Flasche. An diesem Abend schlief er im Sessel ein, und machte sich über nichts Sorgen.
Als er am nächsten Morgen aufwachte, schien es, als würden alle Probleme der Welt auf ihm lasten.
***
»Was meinen Sie damit, er hat sich krankgemeldet?«, blaffte Gefängnisdirektor Dean. »Er hat heute eine äußerst wichtige Aufgabe zu erledigen, und um ehrlich zu sein, er klang verflucht fit, als er mich gestern Abend angerufen hat.«
»Ich habe keine Ahnung, Boss«, sagte Michaelson und wich einen Schritt vor Charles Dean zurück; es zahlte sich nicht aus, zu nahe bei ihm zu stehen, wenn seine Stimmung so unausgewogen war. »Er konnte sich nicht mal persönlich melden. Ich habe mit seiner Frau gesprochen. Sie klang sehr besorgt.«
»Sollte sie auch«, schnappte Dean. »Der Arsch kann um seinen Job fürchten, falls er wieder kommt.«
Michaelson wusste, dass dies keine leere Drohung war, der Direktor hatte alleine in den letzten zwei Jahren fünf Leute gekündigt. Einer von ihnen – ein Aufseher namens Carson – hatte heimlich ein paar Pornohefte für einen Häftling hereingeschmuggelt. Dabei war es nicht mal richtige gute Pornografie. Es war eines jener Hefte, in denen die Models ihre Schlüpfer an hatten und einfach nur vorgaben, einen Orgasmus zu haben, und sie sahen aus, als würden sie, kaum waren die Kameras wieder aus, weiter Kreuzworträtsel lösen. Carson, das arme Arschloch, wurde in das Büro zitiert, nachdem er bereits vorgewarnt wurde. Charles Dean erwartete ihn bereits, ein Softcore Magazin lag ausgebreitet auf seinem Tisch, als ob er eine Masturbationsorgie vor sich hätte. Als er sich erklären musste, gab Carson keine Antwort, somit wurde er von den schichthabenden Wachen Tyler und Jenson hinaus eskortiert.
Gefängnisdirektor Dean hatte alle Wachmänner daran erinnert, dass Schmuggelware jeglicher Art, egal ob Soft- oder Hardcore, mit oder ohne Pussy auf dem Bild, innerhalb dieser Mauern nichts zu suchen hatten. Und das, wer auch immer gegen diese Regel verstieß, dasselbe, wie dieser »Perversling« Carson zu erwarten hatte.
Michaelson vermutete, dass der Direktor seinen Affen wiederholt über den geöffneten Zeitschriften ausgewürgt hatte.
»Also, was ist heute passiert?«, fragte Dean.
»Wie üblich ein paar Besucher am Nachmittag«, schilderte Michaelson und zuckte die Schultern. »Nichts Großartiges.«
Ach, diese Scheiß Besuche. Die rutschten immer komplett durch Charles Deans Kopf. Wenn es etwas gab, was Dean mehr hasste als Gefangene, sinnlose Technologien, oder seine Ex-Frau, dann waren es die verdammten Besuchstage.
»Behalt die sogenannten Besucher von dem Pack im Auge«, sagte Dean und verzog sein Gesicht. »Ich will nicht noch mehr Waffen hier drin haben, die durch Händeschütteln übergeben werden.«
Das Wort Pack bezog sich natürlich auf Dennis Harts Leute: Rooster Hill, Marvin Manson und Jimmy Kelly. Dean war misstrauisch – und eigentlich, ziemlich sicher –, dass deren Besucher jeden erdenklichen Scheiß hereinbrachten. Obwohl es keine Anzeichen von illegalen Gegenständen oder Waffen in Block D gab, wurden die meisten Messerstechereien nicht durch irgendwelche selbstgebastelten Klingen oder geschnitzten Gegenständen verübt. Die Größe der Stichwunden ließ auf professionelle Waffen schließen, und irgendwer von denen hatte die hier rein gebracht.
»Ich werde meine Augen offen halten«, sagte Michaelson, er versuchte seinen Chef zu beruhigen, obwohl er wusste, dass er nicht alle vier im Auge behalten konnte.
»Dann ist es gut.«
Als Michaelson aus dem Büro ging, konnte Charles Dean nur an eine Sache denken.
An die verfaulende, kopflose Leiche, die in der Leichenhalle darauf wartete, verbrannt zu werden.
Nur ein paar Stunden später würde sich Direktor Dean wünschen, dass es sich bei Carlos Silva um die einzige Leiche in seinem Gefängnis handelte.
***
Cyrus Clay saß in der Krankenstation und wartete auf das geile Stück Arsch namens Emmet, das sich im angrenzenden Raum befand. Er sah sich um, dabei wurde ihm klar, dass er noch nie zuvor in einer Krankenstation war; er war noch nie krank oder wackelig auf den Beinen gewesen. Doch jetzt war er hier, und er fühlte, wie die Scheiße zum Dampfen anfing.
Sein Magen gurgelte, fast so, als hätte er ein Zäpfchen bekommen und sein Kopf pochte so stark, dass er weiße Flecken vor seinen Augen tanzen sah.
Die Tür schwang nach innen auf und Marla Emmet schritt selbstbewusst in den Raum. In ihrer Hand hielt sie einen dicken Ordner. Cyrus Clay fragte sich, was sich wohl in diesem fetten Ordner befand.
Vermutlich ebenso viel Scheiße, wie er Tattoos, oder Narben von alten Wunden besaß, die er seit seiner Inhaftierung hatte. Papierkram war sowieso reinste Zeitverschwendung.
Emmet öffnete den Ordner und las darin ein paar Minuten schweigend, bevor sie zu sprechen anfing. Während sie las, warf Cyrus Clay einen Blick auf ihre Brüste und fragte sich, wie sich sein Schwanz wohl dazwischen anfühlen würde. Selbst wenn der Schmerz in seinem Magen fast unerträglich zu sein schien und zu zerplatzen drohte, kämpfte er damit, seine Erektion zu verbergen.
»Ich fragte«, schnappte sie, »seit wann fühlen Sie sich krank?« An ihrer Stimmlage war zu erkennen, dass sie diese Frage nicht zum ersten Mal stellte.
»Ähm. Seit gestern, Doc«, antwortete Clay, dabei griff er auf seinen Bauch, so als wolle er dem Schmerz entgegenwirken. »Seit dieser Arsch die Kantine vollgekotzt hat.«
Marla Emmet sah Clay an; es war zu erkennen, dass er Fieber hatte. Schweiß hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Seine Augen waren dunkel, fast so, als wären sie eingestanzt worden.
»Nun gut«, sagte sie, »ich werde Ihnen ein paar Pillen geben, Ihnen etwas Blut abnehmen, das Übliche eben.«
Cyrus Clay fragte sich, ob das Übliche auch seinen Schwanz zwischen ihren Brüsten beinhaltete. Das Witzige war: Er wäre dazu in der Lage gewesen, hätte er es gewollt. Wenn er mit seiner Hand ihren Mund zugehalten hätte, könnte er mit ihr machen, was immer er wollte; er hätte sie sieben Mal ordentlich ficken können und die Wachen hätten nichts davon mitbekommen, bis er sie wieder losließ. Er hatte lebenslänglich, was konnten sie ihm schon antun? Ein weiteres Leben anhängen? Wenn er schon dabei war, im Gefängnis zu sterben, dann könnte er auch seinen Schwanz befeuchten.
Sie nahm ihm Blut ab. Cyrus sah auf ihren Kopf, während sie es tat. Dabei verspürte er einen Drang, sich darin zu verbeißen, so fest er nur konnte. Kurz bildete er sich ein, dass er das auch tat, doch dann fing sie genau im richtigen Moment zu sprechen an.
»Haben Sie gerade Schmerzen?«, fragte sie.
Er sah weg, da er sich plötzlich einbildetete, ihr in den Schädel beißen zu müssen; woher kam das?
»Ständig«, sagte er. »Fühlt sich an, als hätte mich wer vergiftet. Dieser dreckige beschissene Spaghettifresser muss wirklich übel drauf gewesen sein.«
Das stimmte. Der Schmerz den Cyrus fühlte, reichte aus, dass er mit Carlos Silva mitfühlen konnte. Letzte Nacht hatte er jemand so hart vergewaltigt, dass sein Schwanz mit Blut bedeckt war. Clay war kein Kerl, der Reue verspürte, doch nun verstand er, warum sein Zellengenosse sein Schicksal einfach akzeptiert hatte.
Er hatte keine Kraft besessen, sich zu wehren.
»Da muss wohl eine Art Virus umgehen«, sagte Marla. »Hoffen wir nur, dass er nicht alle ansteckt. Ich habe keine Zeit, alle zu testen.«
Cyrus Clay biss sich auf die Zunge, als die Ärztin sein Blut abnahm. »Gute Arbeit, ich bin zum ersten Mal hier«, sagte er. Wieder verspürte er den unerklärlichen Drang, sich zu ihr zu beugen und ihr ein Stück aus ihrem Gesicht zu beißen. Ihr Ohr, insbesondere, es wirkte plötzlich sehr verlockend.
Als sie fertig waren, rief Marla eine der Wachen, die vor der Tür gewartet hatten, doch es schien ewig zu dauern, bis sie kam.
»Ist er fertig?«, fragte Michaelson. »Sie haben ihm doch nicht weh getan, Doc?«, spottete er.
Marla lachte. Cyrus nicht. »Es liegt nicht in meiner Natur, den Gefangenen unnötige Schmerzen zu bereiten.« Als sie das sagte, dachte sie an Tyler und daran, wie er gequietscht hatte, während sie seine Wunde reinigte. Nicht in meiner Natur, dachte sie, doch manchmal … da liegt es in meinem Interesse …
»Das ist eine Schande«, kicherte Michaelson. Er zog Cyrus hoch und legte ihm Handschellen an. Cyrus fühlte wieder den Schmerz; sein Magen schien sich zu umzudrehen, tief drinnen, als ob er total verstimmt war und er nichts von sich geben konnte.
»Wage es ja nicht krank zu werden«, sagte Michaelson, dabei bemerkte er die seltsame Art und Weise, wie sich der Gefangene verkrümmte. »Und komm nicht auf seltsame Gedanken. Nur weil du behauptest, du seist krank, garantiert das nicht, dass du zart behandelt wirst. Du hast einige Scheiße zu tun, und wenn sie sagt, dass du fit genug dafür bist, dann bist du fit genug dafür. Es steht fest, dass das Beste für kranke Ärsche wie dich, Arbeit ist. Die wird dich von den Schmerzen ablenken.«
Wird es nicht. Cyrus glaubte nicht daran, nichts würde ihn davon ablenken. Er versuchte sich daran zu erinnern, wann er sich das letzte Mal so schlecht gefühlt hatte. Er war so weit, dass er sich beinahe den Tod wünschte.
»Ich würde nicht behaupten, dass er für alles fit ist, im Moment«, erklärte Marla. »Er scheint hohes Fieber zu haben, was bedeutet, dass er nicht lügt und er scheint erhebliche Schmerzen zu haben.« Sie begann etwas zu notieren, ihr Stift kratzte auf dem Papier, dies war das einzige Geräusch für ein paar Sekunden. Als sie fertig war, riss sie das Stück Papier heraus und überreichte es Wachmann Michaelson. »Stellen Sie sicher, dass er die Pillen bekommt. Er muss sie alle vier Stunden zu sich nehmen, bis seine Schmerzen nachlassen.«
Dies machte Michaelson keineswegs glücklich. Er riss ihr das Papier aus der Hand. »Soll ich ihm auch noch den Arsch auswischen«, knurrte er. Marla fühlte sich plötzlich unwohl. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und starrte den Aufseher an, dem das offensichtlich gar nicht passte.
»Ich denke, Sie sollten einfach nur sicherstellen, dass er alle vier Stunden seine Tabletten bekommt«, erklärte sie. Die Wache schien bei jedem Wort zu nicken, doch innerlich sträubte er sich, Befehle von einer Ärztin anzunehmen. »Ich muss ihn morgen wieder sehen, damit ich seinen Zustand überprüfen kann. Wenn er mir dann erzählt, dass er die Pillen nicht bekommen hat, werde ich eine formelle Beschwerde aufsetzen und sie Dean persönlich überreichen. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Michaelson wusste nicht, was ihn mehr aufregte: Die Art und Weise, wie sie mit ihm sprach, oder die Tatsache, dass sie das Recht dazu hatte, sollte der Arsch seine Medizin nicht bekommen. So sehr Charles Dean die Gefangenen auch hasste, pisste er sie nicht grundlos an.
»Er wird die Scheiß Pillen bekommen«, grunzte Michaelson. »Hast du das gehört, Tuntenjunge? Du wirst deine Muschi Medizin bekommen, damit dein Bauchweh weggeht.« Er schob Cyrus Richtung Tür, während er sprach. »Die nette Frau Doktor hier wird mich schimpfen, wenn ich dir nicht das gebe, was du brauchst.«
Er verließ das Zimmer, schlug die Tür so laut hinter sich zu, dass der gesamte Raum zu zittern schien.
Marla lehnte sich in ihren Stuhl. Sie nahm das Fläschchen Blut und starrte es an. »Lass uns dich abschicken«, sagte sie.
Wachmann Michaelson war den ganzen Weg am Gang entlang zu hören.
***
Den Gefangenen wurde schließlich eine Hofzeit gestattet, was eine gute Nachricht für manche von ihnen war, da einigen von ihnen bereits die Decke auf den Kopf zu fallen schien. Vier Wände waren für viele alles, was sie bis zum Rest ihres Lebens zu sehen bekommen würden.
Es war bewölkt, als Shane hinaus auf den Basketballplatz ging. Kaum war er draußen, trafen bereits einige Tropfen auf ihn. Kleine Pfützen bildeten sich.
»Kaum lassen sie uns raus, werden wir schon angepisst«, sagte Shane, als ihm Billy Toombs den Ball zuwarf. »Hätte ahnen sollen, dass es einen Haken an der Sache gibt.«
»Sei dankbar, dass wir überhaupt hier sein dürfen«, sagte Billy. »Von dem was ich mitbekommen habe, haben sie darüber abgestimmt. Mir ist es egal, solange es keine Golfbälle regnet und ich mir die Beine vertreten kann.«
Von dem Besuch am Nachmittag erwartete Billy auch nichts anderes. So weit sich Shane erinnern konnte, hatte er noch nie Besuch gehabt, seit sie zusammen in der Zelle waren. Wenn Shane ihn danach gefragt hatte, hatte Billy immer nur geantwortet: »Meine Freunde sind hier«, und deutete auf einen Stapel Bücher auf dem Tisch vor sich. Für einen Mann der Menschen in seinem Leben verwarf – oder in diesem Fall, akzeptierte, dass sie ihn verwarfen –, war Literatur genau das Richtige. Und für Billy waren Worte alles, was er brauchte, um durch den Tag zu kommen. Solange er ausreichend Lesematerial besaß, war er glücklich; die Tage gingen flüssig ineinander über.
»Kommt Holly heute?«, fragte Billy. Er warf den Ball über Shane und versenkte ihn im Korb. »Netter Wurf.«
Shane hob den Ball auf. »Sie sagte, sie würde«, sagte er. »Ich hoffe, dass sie kommt, aber ich bin mir nicht sicher, ich möchte nicht, dass sie hier auftaucht, wenn irgendein seltsamer Virus hier umgeht.«
Shane warf Billy den Ball zu. »Ich habe gehört, dass es Cyrus ziemlich schlecht gehen soll«, sagte er. »Was auch immer es ist, ich will es nicht. Die Leute erzählen sich so einige verrückte Dinge darüber. Du weißt, wie es hier ist, und was für Geschichten man hier erzählt. Das Letzte was ich gehört habe ist, das Clay Blut pisst und ständig zu Gott betet. Dieser Scheißkerl war der Letzte, von dem ich gedacht hätte, dass er religiös sei. Er muss wohl wirklich üble Schmerzen haben.«
»Von wem hast du das gehört?«, wollte Shane wissen. Er blieb stehen, er war etwas außer Atem.
»Dem neuen Jungen, dem mit dem Schöpfer. Ich nehme mal nicht an, dass er der Typ ist, der sofort Gerüchte in Umlauf bringt.«
»Er ist der Typ, der all die Scheiße glaubt, die man herumerzählt«, sagte Shane, dabei streckte er seine Hände aus. Billy warf ihm den Ball zu. Er fing ihn und warf ihn zum Korb.
Der Ball kreiste am Korb und fiel dann seitlich hinab.
Der Regen war nun so stark, dass die Tropfen vom Boden abprallten.
»Scheiß typisch.« Shane verzog sein Gesicht.
Der Hof leerte sich. Die Gefangenen hatten sich ihre Beine vertreten und begaben sich hinein. Familie und Freunde trafen bald ein, um den ganzen Bullshit zu erzählen, der draußen vor sich ging. Shane würde seine Frau wieder sehen, vielleicht das letzte Mal vor seiner Entlassung.
»Lass uns gehen«, sagte Billy. »Du siehst wie ein begossener Pudel aus.«
***
Gefängnisdirektor Dean war so angepisst, dass er einen von seinen Wächtern zu sich holen wollte, damit dieser einen Fehler beging und er den Arsch daraufhin feuern konnte.
Er lud die Überreste von Carlos Silva in der Alten Bessie ab und suchte nach dem Bedienfeld für das Feuer. Er hatte erwartet, dass es der große rote Schalter war, oder ein Schalter mit einem Flammensymbol darauf – wie am Gasherd –, doch da war nichts in der Art. Wer auch immer dieses Stück erfunden hatte, hatte offenbar nicht berücksichtigt, dass auch jemand der kein Ingenieur war, es bedienen wollte. Gefängnisdirektor Dean war ein kluger Mann, zumindest hatte er das von sich gedacht, also, warum hatte der Österreicher, oder der Deutsche oder wo auch immer verflucht nochmal dieser Strauss herkam, eine Maschine mit solcher Raffinesse gebaut. Es war schon fast peinlich.
»Leck mich am Arsch«, murmelte er vor sich hin. »Er wird erleben, was krank sein heißt, wenn er wieder zur Arbeit kommt. Auf das kann er sich verlassen.«
Auf den Wänden, seitlich der Verbrennungsanlage, befanden sich laminierte Anweisungen, doch genauso gut hätte man dort Hieroglyphen annageln können, so wie sie geschrieben waren. Da stand etwas über Druckkontrolle, und dann etwas über die Temperaturanzeige. Charles Dean entschied sich dazu, dass es am Besten wäre, zu warten, bis der Bestatter wieder da war. Er hielt es für keine gute Idee, in seinem Gefängnis mit dem Feuer zu spielen, denn das könnte alles zum Explodieren bringen.
Nachdem er sichergestellt hatte, dass alles verschlossen war, begab er sich in das obere Stockwerk zurück.
»Scheiß Besuche«, grummelte er. »Wie ich die hasse.«
***
Sie wurden in den Raum zu Jenson und Tyler geführt. Letzter
humpelte immer noch aufgrund seiner Beinverletzung, und mit jedem
Schritt war der Schmerz in seinem Gesicht erkennbar. Shane hatte
fast Mitleid, aber nur ein wenig.
Eine laute Sirene ertönte, das Signal, dass die Besuchsstunde begonnen hatte. Shane hatte seinen Platz noch nicht eingenommen.
»Wie geht’s dir?«, fragte Holly. Das Lächeln, das sich über ihrem Gesicht breit machte, wärmte Shane innerlich. Es war ein Lächeln, das sagte: Bald wird alles wieder in Ordnung sein.
Shane zog den Sessel unter dem Tisch hervor und setzte sich. »Du siehst wunderschön aus«, sagte er. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest, weißt du, wegen dem Wetter und so.«
»Es braucht schon etwas mehr als das Wetter, um mich von dir fernzuhalten«, sagte sie und griff nach seiner Hand über dem Tisch. Aus der Ecke beobachtete sie Wachmann Tyler wie ein Falke, um sicherzugehen, dass kein Schmuggelgut ausgetauscht wurde, obwohl er wusste, dass es mit Shane Bridge noch nie Probleme gab. Der Mann stand kurz vor seiner Entlassung, somit standen die Chancen, dass er etwas hier hereinschmuggeln wollte sehr gering, noch dazu wäre es auch ziemlich dumm.
»Wie geht’s Megan?«, fragte Shane. »Ist alles ok in der Schule?«
Das letzte Mal als Holly zu Besuch war, hatte Megan eine Auszeichnung zur Klassenbesten erhalten, was Shane etwas übertrieben in ihrem Alter fand, doch heutzutage war alles anders. Sie hatte sogar ihren eigenen Abschlussball … mit sieben Jahren!
»Sie macht das super«, nickte Holly. »Sie vermisst ihren Daddy, doch sie weiß, dass du bald zu Hause sein wirst.« Sie lachte. »Sie ist immer total aufgeregt, wenn sie davon spricht. Manchmal muss ich ihr sogar sagen, dass sie sich wieder beruhigen soll.«
Shane grinste. »Wirklich?«
»Ich schwöre«, sagt Holly. »Sie hat sogar ein paar Lieder geschrieben, solche Dinge.«
Kurzzeitig vergaß Shane, wo er sich befand; zu hören, dass seine Tochter sein Heimkommen zelebrierte, war großartig, und er konnte es kaum erwarten, endlich wieder nach Hause zu kommen und sie in seinen Händen zu halten, so wie er es die letzten drei Jahre hätte tun sollen. Er hatte nicht mitbekommen, wie sie größer wurde, aus ihr ein Mädchen wurde, doch er war dankbar dafür, dass sie ihn wenigstens nicht hasste.
»Wie geht’s deiner Mutter?«, fragte Shane.
»Nicht sehr gut«, antwortete Holly, das Lächeln verblasste in ihrem Gesicht. »Die Ärzte glauben, dass sie womöglich ein Emphysem haben könnte. Ich hab ihr schon immer gesagt, sie soll mit dem Rauchen aufhören, und was hat sie getan? Nichts ... und sieh sie dir jetzt an.«
Dies war das erste Mal, dass Shane von einem Problem von Hollys Mutter hörte, doch kam es wenig überraschend; die Frau rauchte 30 Zigaretten am Tag und das tat sie, seit sie 20 war. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es Spuren zeigte.
»Sie wird schon wieder«, sagte Shane, obwohl er daran zweifelte.
»Shane, sie ist 60 und sie muss Steroide inhalieren. Was denkst du, was man dagegen tun kann? Yoga?«
Obwohl er es besser nicht tun sollte, fing er zu lachen an. Das Bild von Hollys Mutter, in einer unnatürlichen Position, eine Zigarette auf der einen Seite, ein Glas Wein auf der anderen, war zu viel.
»Das ist nicht witzig«, blaffte Holly – doch dann fing auch sie zu lachen an. »Shane, hör auf damit. Sie wird nicht mehr lange leben.«
»Dann sag ihr, Yoga ist eine schlechte Idee«, kicherte Shane.
Sie lachten eine Weile. Das Problem zu beschönigen, schien Wirkung gezeigt zu haben, und obwohl Holly sich darüber Sorgen machte, minimierte ein Witz das Problem ein wenig.
»Habt ihr schon eure Sachen gepackt?«, fragte Shane.
Holly sah überrascht aus. »Was meinst du damit?«
»Bei deinen Eltern«, erklärte er. »Habt ihr schon all eure Sachen zusammen, wenn ich entlassen werde?«
Sie runzelte die Stirn. »Shane, wir werden nirgendwohin gehen. Du wirst mit mir für eine Weile bei meinen Eltern wohnen, bis du wieder auf die Beine kommst.«
Die Wut, die in Shane aufkeimte, schien fast unerträglich. Das war der Grund, warum er im Gefängnis war, weil er sich hartnäckig geweigert hatte, die Hilfe von Hollys Mutter in Anspruch zu nehmen, und nun war er hier, kurz vor seiner Freiheit, und wurde wieder gezwungen, bei seinen Schwiegereltern zu wohnen.
»Wir haben uns darüber unterhalten«, sagte Shane.
»Du«, sagte Holly. »Für dich ist es leicht darüber zu sprechen, weil du hier drin bist, doch wir können nirgendwo hin, und solange wir nicht wieder allein klarkommen, und du einen Job hast, werden wir keine andere Möglichkeit haben, als bei Mom und Dad zu wohnen.«
Großartig, dachte Shane, ich durfte hier drei Jahre absitzen, und nun stellt sich heraus, dass wir genau da wieder anfangen.
Streiten war nicht das, was Shane wollte. Es gab wohl nichts Schlimmeres, als mit Holly zu streiten und danach in eine Zelle gesperrt zu werden, in der er nichts anderes tun konnte, als über all die schlechten Dinge die sie zueinander gesagt hatten, nachzudenken. Es war genug, um einen Mann in den Wahnsinn zu treiben. Er lächelte.
»Du hast Recht«, sagte er. »Sobald ich hier raus bin, werde ich mir einen Job suchen. Wer weiß, hmm? Vielleicht bekomme ich sogar so einen, wie die hier.« Er deutete mit seinem Finger zu Wachmann Tyler. Dieser drehte sich ein seinem Stuhl. »Wie viel bleibt Ihnen nach Abzug der Steuer?«, fragte er den Wachmann.
»Nicht genug, um deine hässliche Visage Tag für Tag ertragen zu müssen«, sagte Tyler, doch irgendwie klang es seltsam: atemlos. Vielleicht hatte er Schmerzen.
Als Shane sich wieder zurück an den Tisch drehte, fragte Holly ihn. »Was ist los mit ihm?«
»Irgendein Virus geht hier um«, erklärte Shane. »Lass uns nur hoffen, dass ich ihn nicht bekomme, bevor ich Megan abschmatzen kann.«
»Ich werde es ihr ausrichten«, lächelte Holly. »Das wird sie riesig freuen.«
Die folgenden 15 Minuten unterhielten sie sich über Hollys Kunstkurs, den sie an der Hochschule belegte und darüber, dass sie hoffte, ihre Kunststücke eines Tages in einer Galerie ausstellen zu können. Sie unterhielten sich über Hollys Vater, der einen weiteren Schuppen im hinteren Garten errichtet hatte, vier waren es inzwischen, als sie nachgezählt hatte. Shane fragte sich, ob er diese zwecks Vermietung an Einwanderer errichtet hatte, um damit etwas Geld zu bekommen. Sie sprachen über Megans frisch entstandenes Interesse Justin Bieber gegenüber, von dem Shane noch nie etwas gehört hatte, doch das würde er, sobald er frei sein würde. Im Gespräch wurde Shane klar, dass er dabei war, einen neuen Lebensabschnitt anzutreten. Er würde nach Hause kommen, endlich, und obwohl sich die Dinge geändert hatten, waren die wichtigsten Menschen in seinem Leben die gleichen geblieben.
Als die Sirenen ertönten, die das Ende der Besuchszeit verkündeten, fühlte Shane nicht jenes Gefühl, das er sonst immer fühlte. Er küsste Holly, dabei ignorierte er Wachmann Jensons Blick, der an die Wand gelehnt da stand und seine Frau begaffte.
»Wir sehen uns bald«, sagte Holly, als sie zur Tür verwiesen wurde, in der sich bereits eine Flut von Besuchern befand. Sie blies ihm einen letzten Kuss zu, bevor sie außer Sicht war.
Die Gefangenen im Besucherraum beobachteten, wie der Aufseher zu schwanken anfing, sein Kopf schlug gegen die gegenüberliegende Wand, was einen dumpfen Ton machte.
»Heilige Scheiße!«, schrie Jenson. Er griff nach seinem Funkgerät und forderte Unterstützung an.
Mit dem Geschmack von Hollys Lippen auf den seinigen, beobachte er, wie der Wächter sich an der Wand verkrampfte, was die Gefangenen dazu animierte zu jubeln, da es für sie die beste Show seit Langem darstellte.
Etwas, dachte Shane, lag hier wirklich im Argen.
***
»Ich muss nach Hause«, sagte Marla, obwohl Gefängnisdirektor Dean einfach nichts begriff. »Ich weiß, dass etwas umgeht, doch ich kann nicht zaubern. Ich kann es nicht einfach so aufhalten.«
»Warum verdammt noch mal, hab ich Sie dann eingestellt?«, fluchte Charles Dean. »Sie scheinen nicht die geringste Ahnung zu haben, was hier vor sich geht. Ich weiß nur, dass einer meiner Männer gestern gebissen wurde, und nun liegt er bewusstlos mit irgendeinem Virus flach, und korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber Sie sollten doch darüber informiert sein. «
»Ich bin doch nicht vom Zentrum der Krankheitskontrolle und Prävention, meinte Marla. »Wann haben Sie mich zum letzten Mal in einem Schutzanzug gesehen? Hä? Nie! Weil ich es noch nie mit einer Epidemie zu tun hatte. Ich flicke Ihre Gefangenen zusammen, wenn sie sich gegenseitig niederstechen. Ich stelle sicher, dass sie ihr Aspirin bekommen, wenn sie Migräneanfälle haben. Doch ich habe nie behauptet, dass ich eine Seuche verhindern könnte.«
»Sie denken, dass es so etwas ist?«, fragte Charles mit einem Ausdruck, als hätte er bereits selbst an so etwas gedacht. »Eine Art Supervirus?«
Marla trat einen Schritt zurück. Der Raum schien plötzlich nicht mehr groß genug für sie beide zu sein. »Ich behaupte nicht, dass alles darauf hindeutet«, sagte sie. »Alles was ich sage ist, dass ich auch ein Leben neben meiner Arbeit habe, und dieses würde ich gerne leben. Sie kennen das Protokoll. Die Infizierten sollten unter Aufsicht in ein Krankenhaus gebracht werden. Ich kann nichts für sie tun.«
»Protokoll«, grunzte Charles. »Was zum Teufel wissen Sie schon über das Protokoll? Sie treiben sich hier herum, stacheln alle auf und dann beschweren sie sich, wenn jemand auf ihr Angebot einsteigt.«
Marla wusste nicht, wie ihr geschah, und bevor sie noch darüber nachdenken konnte, landete ihre Hand im Gesicht des Gefängnisdirektors. Sein Kopf flog zurück, seine Augen weiteten sich schockiert.
»Wie können Sie es wagen!«, schnaubte sie. »Sie wissen ganz genau, dass Ihr verdammter Wachmann eine Grenze überschritten hat.«
Charles erwiderte nichts darauf. Er konnte es nicht. Er war tödlich beleidigt, dass sie ihn geschlagen hatte. Er wurde auch ziemlich rot, was ihn so aussehen ließ, als ob er jeden Moment explodieren würde.
»Wenn Sie nicht eine Wache damit beauftragen, Cyrus Clay zu überstellen, dann werde ich es tun.« Sie sagte es in dem Wissen, dass es eine Antwort von ihm forderte, denn so etwas ließe er nie zu.
»Ich werde anrufen«, sagte er. »Und wenn ich Sie wäre, würde ich mir einen anderen Job suchen, weil ich denke, dass Sie keine Zukunft in dieser Anstalt haben werden.«
Marla lächelte. »Das werde ich gleich morgen als Erstes tun«, sagte sie und wandte sich zur Tür. Sie schaffte gerade zwei Stufen, bevor der Alarm losging. Es war kein Feueralarm, den sie schon des Öfteren gehört hatte. Diese Art von Alarm kannte sie nicht.
Sie drehte sich um, und traf auf Charles Dean bangen Blick.
»Sieht so aus, als würden Sie nirgendwo hingehen«, sagte er.
***
»Kannst du etwas sehen?«, fragte Billy Toombs. Er las immer noch
sein Buch, die Möglichkeit, dass ein Aufruhr bevorstand, war
gering.
»Ich sehe ein paar Wachen herumlaufen, am Ende des Ganges«, sagte Shane. »Außer denen scheint jeder in seiner Zelle zu sein.«
Er blickte an den Zellen vorbei zur Treppe. Die Gefangenen pressten sich alle gegen die Gitterstäbe, um einen besseren Blick zu erhaschen. Einige von ihnen beleidigten die Wachen, die mit verdutzten Gesichtern vorbeieilten. Der Alarm schien ewig zu dauern, und nach einer Weile pochte allen der Schädel von dem schrillen Geräusch der Sirene.
»Vermutlich ein Selbstmord«, meinte Billy und hob wieder seinen Vonnegut von da auf, wo er ihn liegengelassen hatte.
»Vielleicht«, sagte Shane. »Aber für gewöhnlich versuchen sie doch Selbstmorde stillzuschweigen, oder? Warum besetzen sie die Dächer mit den Schlägern, wenn sich nur jemand mit der Bettwäsche erhängt hat?«
Nein, etwas ging vor und Shane wusste genau, dass es etwas mit den Kranken zu tun hatte.
***
»Ist er tot?«, stotterte Dennis Hart, dabei griff er auf die offene Wunde an seinem Hals, damit wollte er verhindern, dass noch mehr Blut spritzte. »Sicher, dass er diesmal wirklich tot ist?«
Jimmy Kellys Leiche lag ausgestreckt vor der Zelle. Jimmy hatte Dennis attackiert, ihm ein Stück aus dem Hals gerissen und solange damit weitergemacht, bis ihn die Wache aufgehalten hatte. Michaelson war der Erste, der eingetroffen war, er wusste nicht sofort, was los war, bis er die Zellentür geöffnet hatte. Da drehte sich Jimmy um, knurrte und sprang den Aufseher an, seine Augen waren dunkel, seine Kehle mit dem Blut seines Zellengenossen gefüllt. Zu Michaelsons Glück, hatte der Knüppel den Verrückten sauber getroffen. Ein paar Zähne klapperten und flogen gegen die Zellenwand. Doch selbst das hielt Jimmy Kelly nicht ab, er stand immer noch auf seinen Beinen und fiel erneut den Wächter an.
Er hatte mindestens 15 Schläge ausgeteilt, um ihm beizukommen. Ein Schlag auf den Kopf reichte für gewöhnlich, das war auch der Punkt, auf den sich der Wachmann konzentriert hatte.
Dann wurde der Alarm ausgelöst.
Dennis Hart rappelte sich auf und ging zu Michaelson, der immer noch atemlos und verwirrt an den Zellstäben halt suchte.
»Ist er endlich tot?«, brachte Dennis hervor, dann fingen weiße Lichter vor seinen Augen zu tanzen an und er rutschte zu Boden.
Der Wachmann richtete sich auf und atmete tief durch. Er warf einen Blick zu Jimmy Kelly, der still da lag. »Der ist verdammt tot«, sagte er. »Sieh dir mal seinen Schädel an.«
So war es, auf der Rückseite von Jimmys Kopf befand sich ein Loch, durch das man seinen Fuß hätte stecken können. Gehirnmasse und ein paar Knochen traten daraus hervor, es sah wie ein exotisches Küchengericht aus.
Dennis schüttelte seinen Kopf. »Ich kann es nicht glauben, dass er mich gebissen hat«, sagte er. »Er ist grundlos auf mich losgegangen. Ich schwöre bei Gott, wenn irgendwer ihn auf mich angesetzt hat –«
»Halt’s Maul«, brüllte Michaelson. Dennis kroch zurück. Die Wache, wenn auch etwas angeschlagen, hielt immer noch den Stock in der Hand und sah aus, als wolle sie diesen jederzeit einsetzen. Der Lärm des Alarms machte es unmöglich nachzudenken, doch gerade eben brauchte man Ruhe, um seine Gedanken zu sammeln, damit man herausfinden konnte, was soeben vorgefallen war.
In der Zelle krachte Dennis mit dem Gesicht in den unteren Teil des Stockbettes gegen den Holzrahmen. Er hatte jede Menge Blut verloren, er wusste das, weil es immer noch wie ein Geysir aus ihm spritzte. Es beschmutzte die Bettwäsche und die Wände. Für die Reinigung dieser Zelle würde man ewig brauchen, dachte Dennis, als er regungslos dalag.
»Wenn ich herausfinde, dass die mir …«, begann Dennis, doch die Bewusstlosigkeit würgte ihm den Satz ab, bevor er ihn beenden konnte.
Hinter den Gitterstäben wartete Michaelson auf Unterstützung.
***
Charles Dean marschierte die Treppe hinauf in den oberen Stock, gelegentlich grunzte er dabei. Wenn wieder mal jemand versuchte zu fliehen, würde er diesmal ein Exempel statuieren. Es war ihm unbegreiflich, warum ein Gefangener überhaupt versuchte zu fliehen. Dies war eines der sichersten Gefängnisse der Welt, die Chancen hier auszubrechen standen in etwa, wie die in Alcatraz.
Er griff nach seinem Funkgerät und forderte Unterstützung an, offenbar war diese bereits auf dem Weg. Als er den dritten Stock erreicht hatte, erwartete ihn bereits eine kleine Armee, einige von ihnen hatten keinen Dienst, doch das machte für Charles Dean keinen Unterschied. Er wollte so viele wie möglich hier haben, selbst wenn das ihre Rauchpause kostete, denn er wollte keineswegs den Ruf der Anstalt zerstören.
Er war gerade am Ende des zweiten Ganges, als er ein Röcheln hörte. Ein leises, animalisches Knurren, das ihm die Nackenhaare aufstellte. Er drehte sich um, da er sichergehen wollte, dass keiner hinter ihm war, und als er den ganzen Lärm ausblendete, hörte er es wieder.
Diesmal sah er genauer hin. Irgendjemand verarschte ihn; das war keine gute Idee.
Er sah in die erste Zelle, jene in der Ecke. Zwei Gefangene starrten ihn an. Einer von ihnen zuckte mit den Schultern, was soviel bedeuteten konnte wie, dass er auch das Grunzen gehört hatte.
Er ging zur nächsten Zelle, seine Hand bewegte sich langsam zur Pistole. Wieder starrten ihm die Insassen entgegen, allerdings deutete diesmal einer von ihnen zur Nachbarzelle.
Cyrus Clay, dachte Charles. Er hätte wissen müssen, dass es dieses Stück Dreck war.
Er ging näher, erwartete dabei Cyrus zu sehen, wie der aus seiner Zelle grinste – dem war allerdings nicht so. Cyrus befand sich auf allen vieren, sein Rücken war zu Charles gewandt. Auf dem Boden glänzte ein nasser Fleck rund um seine zusammengekauerte Gestalt.
»Clay, auf die Beine«, befahl Charles, seine Hand packte fest den Griff seiner Pistole. Unter den gegenwärtigen Umständen wollte Charles keine Sekunde lang zögern. Cyrus Clay knurrte wieder, was den Gefängnisdirektor anpisste. »Ich sagte, komm hoch, verflucht noch mal!«
Cyrus Clays Kopf fuhr herum und schnappte. Seine Zähne waren von einer dicken, schwarzen Flüssigkeit umgeben, die für Charles Dean wie Teer aussah. Er blieb weiterhin gebückt, doch sein Blick glich der einer Eule, als er seinen Kopf vollständig umdrehte. Seine Augen waren blutig und mit dem gleichen schwarzen Zeug umgeben, das auch aus seinem Mund tropfte. Charles blickte ihm kurz in die Augen, bevor er wegsah. Die Dunkelheit war zu viel für ihn. In diese Leere starren, trieb einen Mann wie ihn in den Wahnsinn.
»Verflucht, Clay?«, stieß Charles aus. Er hatte es nicht bemerkt, doch instinktiv hatte er die Waffe gezogen und sein Finger befand sich am Abzug.
Cyrus grunzte, stand auf und wandte sich zum Direktor. Von seinem Arm, bemerkte Charles, hing eine ganze Menge Fleisch, was das Schlamassel rund um seinen Mund erklärte. Er hatte begonnen, sich selbst aufzufressen.
Charles wollte nicht wahr haben, was er da sah, doch das musste er. Seine eigenen Augen trogen ihn nicht. Er starrte den Mann an, der eben noch damit beschäftigt gewesen war, seinen Arm bis auf die Knochen abzunagen. Hatte Cyrus seinen Verstand verloren? War er wirklich geisteskrank? Charles hoffte es nicht, er wollte keine Formalitäten mit dem Gefangenentransport in ein sicheres Krankenhaus auf sich nehmen.
»Keinen Schritt weiter –«, setzte Charles an, doch es kam zu spät. Clay hastete auf die Gitterstäbe zu, seine Arme griffen durch die Stäbe, seine Zähne waren gebleckt. Er sah ohne Zweifel wie ein psychisch Gestörter aus.
Als er auf die Stäbe traf, brach seine Nase. Es schmatzte, und Blut lief Clay über das Gesicht. Eine schwarze, schmierige Masse, die auch aus seinem Mund, über die Zähne hinweg auf den Boden platschte. Er blinzelte überrascht, als er gegen das Gitter prallte, doch hielt es ihn keineswegs davon ab, es nochmals zu versuchen. Er schoss nach vorne, traf erneut dagegen, jedes Mal grunzte und stöhnte er laut. Sein Kopf spaltete sich in zwei Hälften, was ihm eigentlich zusetzen sollte – zumindest einer normalen Person –, doch auf Clay zeigte es keinerlei Wirkung.
»Brauche Unterstürzung!«, rief Charles, doch er blieb ungehört. Clay fuhr fort und mit jedem Mal schien er stärker auf die Stäbe zu treffen. Zuguterletzt entschied der Direktor, dass er sich später um den gestörten Gefangenen kümmern werde.
Er musste in die dritte Etage.
»Lassen Sie uns nicht mit dem hier alleine«, flehte ein Gefangener Charles Dean an, als er um die Ecke verschwand.
»Halt die Klappe«, entgegnete er ihm und eilte in den darüberliegenden Stock.
***
»Musstest du ihm so zusetzten, dass seine Gehirnmasse herauskommt?«, fragte Jenson Michaelson. »Das ist ziemlich übel Mann, oder nicht?«
Und das war es. In all den Jahren als Gefängniswärter hatte Michaelson noch nie so etwas wie das hier erlebt.
»Er hat immer weiter und weiter gemacht«, verteidigte sich Michaelson. »Mir blieb nichts anderes übrig. Du siehst doch, wie er Hart zugerichtet hat?«
Jenson sah in die Zelle. Er konnte Dennis Harts Beine sehen, die über das Bett hingen, doch das war schon alles. Das Blut, das überall verteilt war, bestätigte Jenson: Er wollte die Wunde auf Harts Kehle gar nicht erst sehen.
»Was ist hier verdammt noch mal passiert?«, forderte Charles Dean zu wissen, als er nach Luft schnappte. »Will hier denn keiner diesen beschissenen Alarm beenden, hier wird man ja taub!«
Einer der anderen Aufseher, ein kleiner stämmiger Mann namens Reynolds, salutierte und eilte die Treppe nach unten. Reynolds war eifrig, manchmal auch zu eifrig, und als er sich auf der Suche nach dem Alarmknopf begab, versuchte sich Charles Dean an den Vornamen zu erinnern, doch wollte ihm dieser nicht einfallen.
»Was ist mit Kelly passiert?«, fragte Charles. Der Körper wurde umgedreht. Eines seiner Augen hing ihm seitlich über das Gesicht.
»Ich musste es tun«, sagte Michaelson. »Er wollte mich umbringen, Sir. Ich denke, er wollte mich beißen.«
»Schert mich einen Dreck, ob er das wollte, Michaelson. Deswegen müssen Sie ihn ja nicht gleich niederstrecken.«
»Wie ich schon sagte, Boss, ich hatte keine andere Wahl. Ich hab ihn geschlagen, doch er machte weiter und weiter. Er hatte bereits ein Stück aus Hart gerissen.«
Charles Dean lächelte. Zumindest war etwas Gutes dabei herausgekommen. »Wo ist er?«
»Auf seinem Bett«, sagte Jenson. »Doch so wie es aussieht, macht er es nicht mehr lange, Boss.«
Charles linste mit der Erwartung Dennis Hart sterbend auf dem Bett liegen zu sehen in die Zelle. Doch das Gegenteil war der Fall, der Mann stürmte auf ihn zu, keinerlei Abgrenzung war zwischen ihnen und er fluchte: »Heilige Scheiße!«
Als Hart auf den Direktor traf, flogen beide rückwärts, stolperten über das Geländer und fielen drei Stockwerke nach unten.
***
Marla wusste nicht, was sie tun sollte. Langeweile hätte sie sicherlich geplagt, wäre da nicht die einzigartige Musiksammlung in Charles Deans Büro gewesen. Zwischen Jazz-Schallplatten waren auch Klassik und Blues zu finden. Sie fand sogar eine signierte Erstausgabe von Michael Jacksons Thriller, die sich etwas abseits der Sammlung befand.
Das Büro, so fand sie, bewies eindeutig die überhebliche Männlichkeit des Gefängnisdirektors. An den Wänden hingen einige Auszeichnungen des Waffenclubs, die Charles Dean für den Umgang mit der Waffe verliehen bekam. Trophäen, deren Spitzen kleine Männer mit einem Golfschläger zierten, standen verstreut im Raum. Marla entdeckte die Hausbar, die klugerweise in einem Globus verborgen war. Sie schenkte sich etwas Whiskey ein und seufzte.
»Will denn keiner diesen gottverdammten Alarm ausmachen?«, murmelte sie, nippte an ihrem Glas und las die Notizen, die auf dem Schreibtisch lagen. Sie schienen jedoch völlig belanglos.
Am Tischende, in einem silbernen Fotorahmen, befand sich ein Foto mit Charles und zwei jungen Mädchen. Es war ein typisches Vater-Tochter Bild, auf dem alle lächelten und ihre Augen strahlten. Sie fragte sich, ob die beiden Mädchen die Brutalität ihres Vaters kannten, oder ob sie auf der behüteten Seite aufwuchsen.
Es würde sie nicht überraschen.
Weitere Minuten verstrichen. Marla füllte ihr Glas nach, sie wusste, dass es keinen Unterschied machte, ob sie die ganze Flasche leerte oder nicht. Sie musste nach Hause fahren, und das Letzte was sie heute noch brauchte, war, dass ihr die Polizei den Führerschein abnahm. Morgen würde sie nach einem neuen Job suchen, etwas anderem, hoffentlich würde sie da mehr geschätzt werden. Sie könnte versuchen wieder ins Russell zu kommen, in das Krankenhaus, in dem sie vor dem Gefängnisjob gearbeitet hatte. Es war kein schlechtes Krankenhaus gewesen und sie war mit den dortigen Kollegen immer gut ausgekommen. Wenn sie sie zurücknehmen würden.
Der Alarm dröhnte weiter, während sie ihren zweiten Whiskey trank.
***
»Der Sturz hat ihnen sicher das Leben gekostet«, schrie Jensons. »Es ist hoffnungslos!«
Kurz darauf starrten sie über das Geländer auf die beiden Männer, die auf dem Boden lagen. Dennis Hart knurrte und fraß sich durch Charles Deans Eingeweide. Er zog das Gedärm heraus und riss es mit seinen Zähnen entzwei.
»Wir müssen uns in Sicherheit bringen«, rief Michaelson. »Ich hab schon viel kranke Scheiße erlebt, aber das toppt alles.«
Er wusste einen sicheren Ort – die Waffenkammer, wo alles gebunkert war.
Dennis Hart nagte ungehindert an der Leiche weiter. Der Alarm hallte immer noch schrill und laut. Es schien von Minute zu Minute alles grauenvoller zu werden.
***
Die Karten wanderten zur Tischmitte. Rooster sah nicht glücklich aus, als er das dritte Mal in Folge verlor. Marvin Manson ihm gegenüber, konnte sein Glück nicht fassen. So schnell hatte er noch nie 20 beschissene Mentholzigaretten gewonnen – und keine davon hatte Rooster geraucht –, dazu kamen noch 23 Dollar in Cash, um die man eine ganze Menge bekommen konnte, wenn man wusste wo. Der anhaltende Alarm schien ihn ganz und gar aus dem Konzept zu bringen.
»Du bist dran«, sagte Marvin und schob seinem Zellengenossen die Karten hin.
Rooster nahm die Karten und fing zu mischen an. »Wenn ich auf Wetten stehen würde,«, setzte er an, während er die Karten fachmännisch mischte, »dann würde ich sagen, dass Dennis der Grund für den Alarm ist.«
»Glaubst du?«
»Wer sonst würde ein solches Ärgernis im Dritten verursachen?«
Marvin nickte zustimmend. »Er würde aber nicht versuchen zu fliehen«, meinte er. »Er weiß es besser.«
»Vermutlich hat er einen Neuling etwas zu grob rangenommen«, kicherte Rooster. »Du weißt ja, wie er drauf ist, wenn ihn etwas aufregt.«
Rooster fing an, die Karten auszuteilen.
»Wie stehen die Einsätze?«, fragte Marvin, immer noch glücklich.
»Ich bin pleite«, gestand Rooster, als er die restlichen Karten in der Tischmitte ablegte. »Was, wenn ich gewinne, darf ich dann an deine Mama ran? Wenn du gewinnst, kriegst du meine Schwester.«
Marvin lachte. »Hast du meine Mutter schon mal gesehen?«, fragte er.
»Klar, aber du hast meine Schwester noch nicht gesehen«, gackerte Rooster. »Also ich würde sie nicht ficken.«
»Wenn das so ist, du bist dran«, lachte Marvin.
Sie spielten weiter. Rooster verlor und Marvin fing an Pläne zu schmieden, was er machen würde, sobald er entlassen wurde.
***
Reynolds eilte zum Ende des Blocks. Als er dort ankam, war er
völlig außer Atem. Er griff in seine Tasche und holte seinen
Inhalator heraus an dem er kräftig sog, drückte einige Male den
Drücker und schüttelte ihn, dann versuchte er es erneut. Sein
Asthma war noch nie ein Problem bei seiner Arbeit gewesen. Noch nie
hatte er es bei seiner Arbeit so eilig gehabt, jedoch fühlte es
sich so an, als hätte er keine andere Wahl gehabt.
Er suchte die Wände ab. Wenn man nicht genau weiß, wonach man suchen soll, ist es verdammt hart, es zu finden. Es gab eine Menge Hebel und Knöpfe, alle schienen für die Elektrik zu sein. Die meisten von ihnen waren mit farbigen Aufklebern gekennzeichnet, einer davon war für das Hauptlicht, ein anderer für den Hof. Der Nächste war ohne farbigen Aufkleber und eine Markierung befand sich über dem Hebel: Nicht betätigen. Für Wachmann Reynolds war dies die Art von Beschreibung für den Alarmknopf, somit betätigte er ihn. Als nichts geschah, zumindest nichts, was er bemerkt hätte, ging er weiter an der Wand entlang.
Schließlich fand er einen Steuerkasten – auf dem stand: Manuelle Alarmsteuerung, in großen gelben Lettern – er öffnete die kleine Tür und steckte seinen Schlüssel hinein. Es war der Schlüssel, den alle Wachen bekamen, doch seiner war noch nie im Einsatz gewesen. Er drehte ihn um und sofort hörte der Alarm auf. Die Gefangenen waren kurz lauter, dann wurden sie still, und alle waren glücklich endlich Ruhe zu bekommen.
»Ah« Reynolds lächelte. Bestimmt würde man ihn loben, und vielleicht stellte Charles Dean einige Wachen unter sein Kommando. Alles, was er dazu tun musste war, Wachmann Michaelson, Jenson, Tyler und ein paar andere finster anzusehen. Was natürlich nicht schwer war. Und bald würde ihm klar werden, dass sie alle korrupt waren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis dem Direktor endlich dämmerte, dass Reynolds der Gute von dem üblen Haufen war.
Er schloss den Steuerkasten und ging in den dritten Stock, wo er hoffte, einen Handschlag vom Chef zu erhalten.
***
Shane war gerade dabei, Billy Toombs über Kurt Vonnegut auszufragen, als es Klick machte. Ein Geräusch, welches sowohl ihm als auch all den anderen Insassen vertraut war. Doch warum jetzt? Warum öffneten sie die Türen gerade jetzt und vor allem nachts?
»Probier mal«, sagte Billy und deutete auf die Tür. »Muss wohl ein technischer Fehler sein.«
Shane ging auf die Tür zu und zog daran. Als sie aufging und gegen den Stopper traf, konnte er es nicht glauben.
»Pst«, machte Billy. Er konnte erkennen, dass Shane ebenso fassungslos war. Ihm war bewusst, dass nun alle Zellen offen waren. Billy erinnerte ihn gerade noch rechtzeitig, dass jegliche Aktion keine gute Idee war. Der Alarm hatte vermutlich das mechanische Klicken für die meisten Gefangenen übertönt, und diejenigen, die es gehört hatten, waren sich vermutlich nicht sicher.
Dann ging der Alarm aus. Das Heulen hielt in Shanes Ohren weiter an. Er fragte sich, wie lange das wohl noch so sein würde.
»Technischer Fehler?«, fragte Shane. »Das ist noch nie passiert.«
Billy nickte. »Irgendjemand wird mit Sicherheit dafür gefeuert werden.«
Shane drehte sich um und blickte hinaus. Überall fingen die Insassen zu schreien und zu jubeln an, als sie ihre Türen aufschoben. In der zweiten Etage hörte man genau das Gleiche. Shane musste nicht lange eins und eins zusammenzählen, um zu wissen, dass auch die dritte Etage davon Wind bekam und diese würden ihre Zellen wenn nötig mit Gewalt verlassen.
»Irgendjemand wird dafür hängen«, brummte Shane.
***
Wachmann Reynolds erstarrte, als er ein Knistern hinter sich hörte. Es klang, als würde jemand über Luftpolster gehen. Die Dunkelheit machte es ihm beinahe unmöglich zu erkennen, wohin er trat, und er machte eine mentale Notiz, die ihn daran erinnern sollte, sobald er Charles Dean traf, dass in der Krankenstation ein regelrechter Mangel an Beleuchtungskörpern herrschte.
Das Knistern hatte aufgehört, Reynolds atmete schwer. Durch die Dunkelheit konnte er erkennen, dass die Tür zur Krankenstation offen stand. Sie schwang hin und her. Als sie auf den Türstopper traf, war wieder das Geräusch zu hören und sein Verstand setzte kurz aus.
Eine Brise wehte durch den Gang und brachte Reynolds zum Frösteln. Er machte sich auf den Weg zur Krankenstation, da er die Quelle des Luftzugs lokalisieren wollte. Er vermutete, dass es ein Fenster war. Es stand etwas offen, zweifellos um demjenigen, der auf der gegenüberliegenden Seite im Bett lag, etwas Kühlung zu verschaffen. Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, wagte er einen Rundumblick. Er wollte sichergehen, dass alles in Ordnung war. Alles würde zu seinen Gunsten stehen, wenn er dem Direktor Bericht erstatten würde, und je mehr Dinge er fand, desto dienlicher würden diese seiner Beförderung sein, nach der er sich so sehnte.
Die Bettwäsche im leeren Bett war blutgetränkt. Auch das würde er bei Charles Dean erwähnen, denn das war offensichtlich eine Verletzung der Vorschrift, die ihm nicht unbekannt war.
Neben dem Bett stand ein Infusionsständer, offenbar hatte der Patient die Infusion hastig abgenommen – ein Stück Fleisch hing noch an der Nadel. Das, dachte Wachmann Reynolds, war nicht richtig, und so sehr er Doktor Emmet auch mochte, – er mochte sie so sehr, dass er sogar ein paar heimliche Bilder von ihr auf seinem Handy hatte – er würde ihre Anstellung hier im Gefängnis durchaus zu seinen Gunsten opfern.
»Was zum …?«, seine Stimme hallte durch den Raum, als er blutiger Fußspuren gewahr wurde, die vom Bett wegführten. Zu wem auch immer sie gehörten, derjenige musste ein verletztes Bein haben, dass er hinter sich her schleifte.
Heldenhaft zu sein, stand außerhalb seiner Gehaltsklasse, doch er konnte nicht umhin. Er fühlte, wie seine Beine ihn in dieselbe Richtung der Blutspur trugen. Er folgte ihnen in den Nebenraum. Das Schild an der Tür verriet Reynolds, dass er sich nun im Raum für medizinische Versorgung befand.
Das Licht, das vom anderen Raum hereindrang, wich der Dunkelheit, und Reynolds fand sich im Finstern wieder und wünschte sich, dass er nicht so blöd gewesen wäre, seiner eigenen Dummheit zu folgen.
Er konnte ein paar Gegenstände in den Regalen ausmachen. Schachteln, in denen sich Latexhandschuhe befanden und er konnte eine Reihe von leeren Urinprobefläschchen erkennen, doch das war es schon. Kein Fenster brachte etwas Licht herein, und er konnte auch keinen Schalter finden.
Allerdings hatten ihn die Fußspuren in diesen Raum geführt. Er stand auf ihnen, und er konnte die klebrige Masse unter seinen Füßen bei jeder Bewegung spüren.
Da wurde er sich einer Bewegung gewahr, gefolgt von einem Aufprall, als würde etwas aus einem Regal fallen.
»Hallo?«, rief er. Wer auch immer das war, hörte ihn. Der Angesprochene drehte sich um. Er konnte seine Augen schimmern sehen. »Sind Sie okay?«
Es war der Patient, der sang und klanglos seinen Tropf abgelöst hatte. Man erkannte unschwer, dass er verwirrt war und zufällig im Raum für medizinische Versorgung gelandet war. Wenn dieser Patient immer noch mit Drogen vollgepumpt war, wovon Reynolds ausging, war vermutlich das der Grund, warum er nicht vor Schmerzen laut aufschrie – aufgrund der Wunde an seinem Arm, wo mal der Tropf hing.
»Ich glaube nicht, dass Sie hier sein sollten«, sagte Reynolds. Er zog seinen Schlagstock aus seinem Gürtel und hielt ihn fest im Griff. Er wollte kein Risiko eingehen. Er wusste nichts über die schattenhafte Gestalt, es könnte sich um einen gewalttätigen Insassen handeln, und vermutlich war es sein Plan gewesen, sich während des Alarms hier zu verstecken.
Der Patient stieß ein furchterregendes Knurren aus, als er sich plötzlich aufrichtete und in der Dunkelheit zwei Meter groß zu sein schien.
Reynolds blieb keine Zeit zu schreien, als der Patient auf ihn zuhinkte. Das Licht aus dem Nebenraum reichte aus, dem Grunzen ein Gesicht zuzuordnen.
Es war zum Glück nur Tyler, einer der Wachleute.
Doch dann verbiss sich Tyler in Reynolds Brustkorb und riss ihm Fleischfetzen heraus.
Reynolds schrie und schrie, während ihn die Dunkelheit vereinnahmte.
***
Sie kauerten in der Zelle, wie zwei kleine Jungs im Keller, bevor Dad heimkam und sie suchte, weil sie frech gewesen waren. Nur war es nicht Daddy, vor dem sie Angst hatten.
Es war Cyrus Clay.
Terry Lewis und Jared Cole teilten sich die Zelle seit sieben Jahren, in dieser Zeit hatten sie einige Dinge über einander erfahren, die nicht mal ihre Familien wussten. Dies war einer der Gefahren, die so ein enges Leben mit sich brachten.
Zwischen ihnen gab es keinerlei Geheimnisse.
Terry wusste auch, als sich die Zellentür plötzlich von selbst entriegelte, dass Jared wie ein kleines Mädchen kreischen konnte. Wäre Terry nicht da gewesen, um den Mund seines Zellengenossen mit seiner großen Hand zuzuhalten, hätte Cyrus Clay den Schrei ohne Zweifel gehört.
Terry zog die Matratze gerade rechtzeitig vom Etagenbett. Der Klang der Zellentür neben ihnen, als sie aufsprang, war ein Zeichen dafür, dass Cyrus frei war und jetzt würde er kommen, um sie zu suchen.
Terry zerrte Jared in die Zellenecke, dabei schlug sein Kopf gegen die Aluminiumtoilette, als er hinfiel. Er zog die Matratze über sie, ein notbedürftiges Versteck, welches wahrscheinlich niemanden etwas vormachen konnte. Doch es war besser als nichts.
Cyrus Clay erschien vor ihrer Zelle, aus seinem Mund triefte schwarzer Sabber und seine Augen waren dunkler als die tiefsten Abgründe der Hölle. Er drehte sich in die Richtung der entriegelten Zellentür, ging schlussendlich aber weiter. Terry spähte durch einen schmalen Schlitz zwischen Matratze und Wand. Neben ihm wimmerte Jared und er deutete ihm, ruhig zu sein. Warme Spucke lief ihm dabei über die Knöchel.
Cyrus Clay trat plötzlich wieder vor die Zelle und schnupperte dabei wie ein wildes Tier. Er röchelte, und genau da wurde Terry Lewis klar, dass er keinen Menschen vor sich hatte.
In der Sonntagsschule war dem jungen Terry Lewis klar geworden, dass seine einzige Option der Glauben sein durfte. Er fing mit einem solchen Enthusiasmus zu beten an, dass er damit selbst die Anspruchsvollsten übertraf. Seine Eltern schickten ihn zu ein paar Seminaren, weil sie ihn schon als Priester vor Augen hatten. Bis da war es ihm gelungen, sich von sämtlichen Schwierigkeiten fernzuhalten. Er studierte eifrig, um seinen Eltern zu gefallen und um den Anforderungen der Kirche gerecht zu werden. Er lernte viel über den Teufel, Dämonen, die Versuchung und den Verrat. Alles davon sog er wissbegierig in sich auf, und seine Sehnsucht nach weiterem Wissen über das Böse, trieb ihn an. Ein Jahr später wurde Terry Lewis wegen Mordes hinter Gitter gebracht. Er hatte seinen Mentor getötet, einen Mann namens Vater Bennet. Auf seine Weise wurde er zu dem Bösen, von dem er so leidenschaftlich viel las, während er sich auf seine Priesterschaft vorbereitet hatte. Und doch war das Böse, auf das er soeben starrte und durch die Luft schnupperte wie ein Bär, der herausfinden wollte, ob sich jemand im Blockhaus aufhielt, etwas gänzlich anderes. Wenn es sich hierbei um die Hölle handelte, und dessen war sich Terry ziemlich sicher, dann wurde Cyrus Clay von dunklen Mächten ausgeschickt.
Die Kreatur wandte sich zur Zelle und hielt mit beiden Händen die Gitterstäbe fest.
Terry Lewis fing leise zu beten an.
Sollte Cyrus die Zelle betreten, würde er die beiden Insassen hinter der Matratze kauernd auffinden. Jared konnte zum Glück nicht das sehen, was sein Zellengenosse sah, doch er konnte fühlen, wie angespannt Terry war.
»Hey, Cyrus«, rief eine Stimme und Terry war sich plötzlich sicher, dass seine Gebete erhört wurden. Die Kreatur stand immer noch außerhalb der Zelle und drehte sich zu der Stimme. Terry konnte den Mann nicht erkennen, jedoch erkannte er die Stimme. Es war Dale McCarthy.
Cyrus Clay brüllte und Terry verlor ihn aus dem Blickfeld. Er konnte Dale noch hören. »Was zum Teufel, Alter? Was ist los mit –«
Dann kamen Schreie.
Terry drückte seine Hand fest auf Jareds Mund.
»Wir müssen ganz ruhig sein«, flüsterte er. »Vielleicht verschwindet er.«
Jared nickte. Ich hoffe es.
***
Das Bett herumzudrehen war der einfachste Teil,
dies jedoch innerhalb der Zelle zu tun, gestaltete sich
schwierig.
»Solange es den Großteil des Eingangs verdeckt«, fing Billy an, »ist es okay.«
Sie hatten nicht vor, die Zelle zu verlassen, sollte ein Aufruhr bevorstehen. Die Chancen standen hoch, dass sich ihre Gefängniszeit erhöhte – das wollte Shane keinesfalls riskieren – und noch schlimmer wäre es, wenn sie dabei ums Leben kamen.
Beide waren sich sicher, dass es wohl das Beste wäre, sich zu verbarrikadieren. Mit den Jahren hatten sie einige Aufstände miterlebt, die meisten von denen hatten sie auf das Dach geführt, wo sie sich bei den Wachen befanden. Eine der Anforderungen auf der Liste der Wachen war, was auch die Strafvollzugspolitik vorschrieb, niemals mit Insassen zu verhandeln, unter keinen Umständen.
Billy hob den Tisch, der fast 50 Kilogramm wog, hoch und verkeilte diesen mit dem Bett, damit wollte er verhindern, dass jemand hereinkletterte.
Nicht dass es einer versuchen würde. Nicht wenn sich ein riesiger Halbire, Halbindianer darin befand. Und würde es ein Eindringling wagen, hätte er einen unmenschlich großen Fußabdruck in seinem Gesicht. Sollte er trotz alledem weiter hereinkommen, so würde Shane demjenigen den Schädel spalten, mit einem Vonnegut womöglich?
Als sie ihre Zellentür ordentlich blockiert hatten, traten sie zurück, um ihre Arbeit zu bewundern.
»Die Wachen werden das sehen«, fing Shane an, »und erkennen, dass wir kein Teil von denen waren.«
Billy nickte. »Lass uns nur hoffen, dass es nicht so lange wie das letzte Mal dauert«, sagte er. »Sonst werden wir verhungern.«
Shane lachte. »Wir werden schon nicht verhungern«, sagte er. »Ich verspreche dir, bevor hier irgendjemand verhungert, werde ich derjenige sein, den man essen kann.«
»Das würde ich niemals tun«, sagte Billy.
»Nicht?«
»Ah. Ich hab dich bei vielen Begebenheiten gerochen. Glaub nicht, dass es eine gute Idee wäre, etwas auszuhöhlen, aus dem solche Gase entweichen.«
»Fick dich, Rothaut!«, kicherte Shane.
Sie setzten sich auf die Bettkante und warteten darauf, dass sich die Dinge beruhigten.
***
Die Waffenkammer war von keinem verrückten Gefangenen besetzt, was
keine Überraschung war, denn dazu war entweder Jensons oder
Michaelsons Tastenreihenfolge erforderlich, und das
Fingerabdrucksystem an der Wand stellte ebenso ein Hindernis dar.
Jenson hielt seine Hand an die Maschine, doch es brauchte drei
Versuche, weil er so zitterte. Schließlich leuchtete ein grünes
Licht auf – Zugang genehmigt – und sie stürmten gleichzeitig
hinein.
Innen waren Käfige mit Waffen gefüllt. Es gab einige M16 Standard Militärausstattung und ein paar Browning A5 Halbautomatik und Schrotflinten. Jenson öffnete sofort einen Käfig und packte seine Waffe, die er während des Trainings oft benutzt hatte. In dieser Zeit hatte er das Gewehr zu seinem Liebling auserkoren.
Michaelson lud zwei Walther P99 Pistolen. Wenn er schon in den Kampf ging, wollte er nicht einfach so sterben, wenn dann sollte es mit Stil sein. Er befestigte die Holster an seinem Gürtel und steckte die Pistolen hinein.
»Was verflucht, war dieses Ding?«, fragte Jenson. »Ich meine, das war doch nicht mehr Dennis Hart da draußen.« Er deutete mit dem Finger zur Tür. »Das hätte er unter keinen Umständen überleben können. Niemals! Das waren zwölf Meter, wenn nicht mehr!«
»Sei nicht so laut«, schnaubte Michaelson, er steckte weitere Patronen ein. »Was auch immer es war, es ist nicht taub.«
»Hast du gesehen, was es mit Dean angestellt hat?«, fügte Jenson an, sein Gesicht verzerrte sich vor Ekel. »Es hat ihn einfach so in Stücke gerissen!«
»Ich hab’s gesehen«, sagte Michaelson. Er klemmte weitere Magazine an seinen Gürtel und fing an, die Käfige nach brauchbaren Waffen abzusuchen. »Und das werde ich, so lange ich lebe, nicht mehr vergessen. Ich möchte das nur überstehen.« Er nahm ein paar Rauchgranaten vom Haken und befestigte sie an seinem Gürtel, und suchte ein weiteres US–Army Gurtband.
»Denkst du, dass irgendjemand Unterstützung anfordert?«, fragte Jenson.
Das war eine gute Frage. Der Alarm war deaktiviert, was zur Folge hatte, dass jede Kavallerie da draußen wieder umdrehen würde. So lief es ab. Das Alarmsystem war mit der Jackson Polizeistation verlinkt, und auch mit dem Armeestützpunkt Neill. Wäre der Alarm weitergegangen, würde kein Zweifel bestehen, dass Hubschrauber unterwegs waren, und wahrscheinlich weitere Einsatzkräfte. Auf diese Made zu vertrauen, die Charles Dean geschickt hatte, war der größte Fehler gewesen.
Michaelson verzog sein Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wir sind hier auf uns allein gestellt, Mann«, sagte er. »Zumindest so lange, bis wir an ein Funkgerät kommen.«
Das Funkgerät war in Charles Deans Büro. Ein altes UHF-Gerät, mit dem man die Jackson Polizeistationen und den Armeestützpunkt auf Knopfdruck erreichen konnte. In den letzten Jahren hatte es zwei Mal Einsatz gefunden, einmal aufgrund eines Aufstandes, ein anderes Mal, wegen einem Ausbrecher-Trio.
»Wir müssen ins Büro und Hilfe rufen«, sagte Michaelson.
Jenson fuhr sich durch die schweißnassen Haare, die wüst vom Kopf abstanden.
»Es liegt an uns beiden, wir müssen uns gegenseitig den Rücken decken.«
»Verlass dich drauf, verflucht noch mal«, sagte Jenson. Er schwang sich die Schrotflinte über die Schulter.
Sie packten ihre Munition und traten aus der Waffenkammer.
***
Dale McCarthy warf sich auf den Boden. Einen Moment lang sah er verwirrt aus, er starrte vor sich hin und versuchte herauszufinden, was los war. Von seinem Bein fehlte ein Stück und auch von seinem Nacken. Wenn er es sehen könnte, hätte er herabhängende Fleischfetzen entdeckt und seine Wirbelsäule lag frei. Nur drei Finger waren von seiner rechten Hand übrig, zwei von seiner linken. Jemand hatte ihn ordentlich zugerichtet, jedoch verspürte er keinerlei Schmerzen. Er starrte auf sein Bein, auf das Loch das sich auf seinem Oberschenkel befand, doch es machte ihm nichts aus. Auch die fehlenden Finger waren kein Problem. Was jedoch ein Problem darstellte, war sein Hunger. Es war das einzige Gefühl, das er verspürte, und zwar so intensiv, dass er alles tun würde, um ihn zu stillen.
Er schnüffelte in der Luft, er roch etwas, es war irgendwo in der Nähe.
Sein Speichel floss und er stöhnte, zwar nicht laut, allerdings laut genug, um alle in ihren Verstecken wissen zu lassen, dass er sehr hungrig war. Etwas weiter vorne konnte er eine Gestalt davonschlingern sehen. Ein Mann auf der Suche nach etwas, der seinem schmerzvollen Hunger ein Ende setzen könnte.
Cyrus Clay stolperte weiter und verschwand aus dem Blickfeld, doch Dale war nicht bewusst, dass es Cyrus war, der Mann, der sich einige Momente zuvor noch an ihm gelabt hatte. Was er allerdings wusste, war, dass er dem Mann der auf der Suche nach Nahrung war, folgen sollte. Die Körper, die sich hier in der Nähe versteckt hielten, waren vielleicht nicht alles, es gab sicherlich noch mehr, und dorthin trieb es den Mann.
Er machte einen Schritt nach vorne und stöhnte. Sein Bein schmerzte nicht mehr, obwohl es das tun sollte. Für Dale McCarthy schien alles in Ordnung zu sein, bis auf das, dass er nichts zu essen hatte.
Er ging weiter, da traf ihn etwas am Hinterkopf.
***
»Nochmal!«, schrie Jared.
Terry Lewis hob den behelfsmäßigen Schläger erneut an – den hatte er seit fast einem Monat in der Zelle versteckt gehalten, nur für den Fall – und schlug damit auf Dale McCarthys Schädel ein. Ein dumpfes Pochen war zu hören. Ähnlich dem Schlag eines Fleischerbeils, das ein Stück Fleisch zweiteilte. Dales Kopf kippte seitlich, dennoch drehte er sich um und seine Hände grabschten nach ihnen. Jared trat einen Schritt zurück, er wollte nicht von den rudernden Armen erwischt werden.
»Beschissene Bestie!«, stieß Terry heraus. Er richtete sich auf und trat der Kreatur in den Magen. Während er sich vom Boden hochrappelte, platschte etwas Widerliches nach unten. Dunkler Schleim triefte aus jeder Pore aus Dale McCarthys Gesicht.
Ein weiterer Hieb mit dem Schläger landete diesmal im Gesicht der Kreatur. Terry war glücklich, dass er endlich seinen Schläger, mit dem er sich eigentlich gegen die Insassen zur Wehr setzen wollte, einsetzen konnte. Nun kam er gegen schäbige Dämonen zum Einsatz, von denen er so viel in den Bibelstunden gehört hatte.
»Pass auf seine Zähne auf!«, schrie Jared gerade noch rechtzeitig auf. Dem Ding war es irgendwie gelungen aufzukommen, und es war dabei, nach Terrys Bein zu schnappen.
Terry wich zurück und starrte das Gesicht an, dass einst Dale McCarthy gehörte. Die Reißzähne flogen ihm aus dem Mund, klackerten gegen die Zellengitter und kamen schlussendlich wie ein paar Casino-Würfel am Zockertisch zum Stillstand. Gräuliches Sekret floss aus dem Mund der Kreatur, Jared fühlte fast mit ihr, als sie aufstöhnte, es klang nicht nach Schmerz, sondern mehr nach ihrer Niederlage.
Terry Lewis begann zu beten. Keineswegs leise, wie er es in seiner Zelle kauernd tat, als er sich vor Cyrus Clay versteckte, sondern so laut er konnte.
»Ehrfürchtigster Prinz der himmlischen Heerscharen, Sankt Michael der Erzengel, beschütze mich in diesem Kampf gegen die finsteren Mächte ...«
Dales Schädel knackste laut, als der Schläger erneut auf ihn traf. Terry Lewis atmete tief ein und aus, bevor er fortfuhr.
»Gegen die Herrscher der Welt der Finsternis, gegen die Geister der Bosheit in der Himmelswelt ...«
Er stieß den Schläger wieder nach unten, Knochen knackten. Die Kreatur sackte zu Boden, knurrte und röchelte und schnappte mit den Resten ihrer Zähne. »Komm und unterstütze die Menschen, die Gott als sein Ebenbild erschaffen hat.«
»Beschissenes Ding!«, schnappte Jared, er trat seitlich dagegen und spuckte es an.
Terry hob seine Hand und bat seinen Zellengenossen, einen Schritt zurückzugehen, was dieser auch tat. »Für diejenigen, die Er zu einem hohen Preis von der Tyrannei des Teufels erlöst.«
Er fuhr mit seinem Schläger mit einer solchen Kraft durch die Luft, dass er beim Aufprall durch das Gesicht der Kreatur bis auf den Beton traf. Der Stock ragte senkrecht aus dem Kopf von Dale McCarthy, ähnlich einer Kerze auf der Geburtstagstorte. Beide Gefangenen wichen zurück. Terrys Hände zitterten.
»Was sollte das alles?«, fragte Jared. »Ich wusste gar nicht, dass du ein religiöser Freak bist.«
Terry wischte sich den Schweiß von der Stirn. »War ich«, sagte er. »Vor langer, langer Zeit.«
Sie starrten die Kreatur an, die noch einmal kurz zuckte, bevor sie regungslos liegen blieb.
***
»Wie oft?«, fragte Shane Billy, der lachte. »Ich habe mich noch nie als Frau verkleidet. Das ist dein Wunschtraum.«
»Mein Wunsch«, sagte Billy, »ist es, hier herauszukommen, nur um dich dann aufzuspüren, um dir mal zu zeigen, wie richtige Männer kämpfen.«
»Du hast mich noch nie kämpfen sehen«, sagte Shane.
»Richtig«, sagte Billy. »Was mich vermuten lässt, dass du wie ein Mädchen kämpfst.«
Ihr Geplänkel verblasste, als etwas gegen die Zellentür prallte. Shane sprang auf, bereit gegen alles anzukämpfen, was auch immer in ihre Festung kommen würde. Billy presste sich gegen die Wand und griff in seinen Schuh. Ein kleines Messer, allerdings groß genug um jemanden damit töten zu können, kam zum Vorschein. Shane warf Billy einen stummen Blick zu. Er fragte sich, wie Billy diese Waffe aufgetrieben hatte und wofür er diese überhaupt gebraucht hatte.
Erneut knallte etwas gegen die Zellentür, doch keiner von ihnen konnte erkennen, was oder wer es war. Die Möbel waren dermaßen gut verkeilt, dass sie ihnen jegliche Sicht nach außen verwehrten.
»Verpiss dich!«, schrie Shane, doch er
wusste, wer auch immer dagegen knallte, würde nicht darauf hören.
Hier
handelte es sich um schwer Kriminelle und nicht um unverschämte
Kinder. Ihnen zu sagen, sich fernzuhalten, war ungefähr so
hilfreich wie sie aufzufordern, ihr Glück dabei zu versuchen,
hereinzukommen.
Es folgte ein weiterer Knall, gefolgt von einem Schrei, dann ein so nahes Gurgeln, dass Shane beinahe den Atem riechen konnte. Durch einen Spalt zwischen dem Schrank und einem Stuhl konnte Shane schließlich doch die Hautfarbe und ein kleines Blutrinnsal erkennen. Dann starrte er in weit aufgerissene, blutunterlaufene Augen eines Mannes, der vor der Zellentür zu Boden rutschte.
»Es wird immer übler da draußen«, sagte Shane, während er vom Bett zurücktrat.
Eine Blutpfütze breitete sich in der Zelle aus. Als Billy Toombs sie sah, kommentierte er: »Kein Scheiß?«
Die nächste Stunde war von Schreien erfüllt. Shane und Billy warteten sitzend, während sie grübelten, was da vor sich ging.
Nur über eines waren sie sich einig: Die Hölle war ausgebrochen.
***
Bei Marla machten sich langsam die Auswirkungen des Whiskeys bemerkbar, was bedeutete, dass sie wohl genug hatte, obwohl ihr eine kostenlose Bar zur Verfügung stand.
»Arschloch«, murmelte sie, das bezog sich auf Charles Dean, der von all dem selbstverherrlichenden Bullshit an seinen Bürowänden herunter lächelte. Mittlerweile war ihr langweilig, nachdem Marla bereits zweimal die Auszeichnungen gelesen hatte, verspürte sie mehr denn je den Drang nach Hause zu gehen.
Sie wischte mit dem Hemdärmel ihrer Bluse das Glas sauber und stellte es zurück in den Globus, wo es eine der Miniaturen am unteren Ende zerschlug. Sie lächelte und sagte: »Hoppla«, und beschloss, dass es das Beste war zu gehen, und das sie so schnell wie möglich Ausschau nach einem neuen Job halten sollte.
Es ging ihr wirklich am Allerwertesten. Sie steckte bereits über eine Stunde im Büro fest. Was erwartete er? Dass sie so lange auf ihn warten würde, bis er willig und bereit war, zurückzukommen? Bestand die Möglichkeit, dass er sie vergessen hatte, und trieb sich mit den Wächtern herum, während sie gemeinsam feine Zigarren rauchten?
Genau das vermutete sie.
Sie wollte nicht länger warten. Er konnte sie nicht feuern, weil sie nach Hause ging – sie war bereits gefeuert, wenn auch einvernehmlich.
»Scheiß drauf!«
Sie öffnete die Bürotür und trat in den Gang hinaus.
***
Das Licht flackerte an und wieder aus. Dampfende Kunststoffkörbe
voller Wäsche, warteten darauf, in die Waschmaschinen an der Wand
gestopft zu werden. Ein paar Maschinen waren noch an, das verrieten
die roten Lichter auf der Vorderseite. Wer auch immer zuletzt in
diesem Raum gewesen war, hatte vergessen, sie ordnungsgemäß
auszuschalten. Unter normalen Umständen hätte es von den Wachen
einen Anschiss gegeben, doch nun konnte man darüber
hinwegsehen.
»Schhh«, machte Terry. Jared hatte eine Waschmittelschachtel umgeworfen, stand nun in einem weißen Pulverhaufen und starrte seinen Zellengenossen an.
»Was ist, wenn eines dieser Dinger hier ist?«, fragte er. Er stieg aus dem Pulver und hinterließ weiße Fußspuren.
»Hier sind keine«, flüsterte Terry.
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
Terry griff nach unten und durchwühlte einen Wäscheberg. »Kannst du jemanden sehen?«
Jared sah sich um, er sah niemanden. Der große Raum bot ein paar Möglichkeiten sich zu verstecken, doch er hatte den Eindruck, dass diese Kreaturen nicht die schlauesten waren und dieses Versteck wäre das Letzte auf ihrer Liste, selbst wenn sie die geringste Chance für einen Angriff hatten.
Terry Lewis zog seinen Gefängnisoverall aus. Jared sah ihm mit zunehmender Verwirrung dabei zu.
»Was machst du da?«, fragte Jared.
Terry stand bis auf seine Boxershorts nackt da. »Wonach verflucht sieht das wohl aus?«, fragte er. »Ich ziehe das hier aus«, er deutete auf seinen orangefarbenen Gefängnisanzug, »und das hier an.« In seiner Hand hielt er einfache weiße Kleidung, ein T-Shirt und eine Hose. Dies war das offizielle Gewand der weniger gewalttätigen Gefangenen, denen aus Block D. Das Weiß markierte die Pussys, im Gegensatz zu denen, die wirklich Schaden anrichten konnten. Es wäre nicht fair, einen einfachen Steuersünder zu einem Serienmörder zu stecken. Dies würde nur den Systemhassern Zündstoff bieten.
»Was ist mit mir?«, wollte Jared wissen, als er mit offenem Mund den orangefarbigen Overall anstarrte.
Terry schüttelte den Kopf. »Such dir selbst deine verdammte Größe«, sagte er. »Bin ich deine Mutter?«
Er zog sich schnell um, bedeckte seinen mageren Körper vor Terry Lewis, der daran nicht im geringsten interessiert schien. Sich eine Zelle zu teilen, bedeutete nicht gleich jedem seine Eier zu zeigen, und Jared war nicht die Art Kerl, der alles raushängen ließ, nicht so wie die anderen hier.
»Was zum Teufel sollen wir jetzt tun?«, drängte Jared.
In Wahrheit hatte Terry keinen Plan. Etwas Schlimmes ging vor sich, etwas wirklich Böses. Er hatte viel darüber gelesen, es studiert, doch er hätte nie für möglich gehalten, sich inmitten davon zu befinden.
»Ich habe keine Ahnung«, gestand er schließlich. »Doch ich bin nicht bereit, heute zu sterben. Du etwa?«
Jared schüttelte seinen Kopf. »Scheiße, nein!«
»Ich möchte, dass du dir das vor Augen hältst«, schaffte ihm Terry an. »Dann werden wir hier heil herauskommen.«
Innerlich nagten jedoch Zweifel an ihm.
***
Der gesamte Komplex, einschließlich Block D, war zu einer Zeit erbaut worden, zu der die Chancen hochstanden, in ein Gefängnis ein aber nicht auszubrechen. Im späten 18. Jahrhundert war es ein paar Leuten erfolgreich gelungen, die Sicherheit von ähnlich großen Gefängnissen zu überlisten, die sechs Meter hohen Mauern zu erklimmen und Vergeltung an den Häftlingen zu üben, die etwas falsch gemacht hatten. Das war ein Ereignis, das Jackson niemals mehr vergessen hatte. So wurden rund um das Gefängnis drei Mauern, von der jede mindestens zwölf Meter hoch war, aufgezogen. Zwischen der ersten und der zweiten Wand befand sich ein elektrischer Boden. Sollte jemand zwischen diese beiden Mauern fallen, standen die Chancen auf ein Überleben sehr gering, sollte es dennoch der Fall sein, würde man sich einen schnellen Tod herbeiwünschen, um die Schmerzen loszuwerden.
Zwischen der zweiten und der dritten Wand patrouillierten durchgängig acht Mann. Vier Deutsche Schäferhunde begleiteten sie.
Mit ihren bellenden Hunden hatten sich die acht Wachen in einem Bereich zwischen den Mauern versammelt und rätselten, warum sie von ihrer Schicht nicht abgelöst wurden. Ein paar von ihnen hatten zögerlich angemerkt, dass sie nach Hause zu ihren Frauen mussten, weil sich diese sicherlich Sorgen um sie machten. Einer der Männer versuchte durchgehend, mit seinem Funkgerät jemanden zu erreichen, doch seit Stunden herrschte nur Stille.
***
Es war kein Wunder, dass die Gefangenen Charles Dean so dermaßen verabscheuten. Er hatte sich ein schönes Heim auf der gegenüberliegenden Seite der Strafanstalt errichtet. Alles, so schien es, war antik, oder zumindest sah es so aus, als wurde es Ende des letzten Jahrhunderts errichtet worden. Als Direktor einer Strafanstalt war er sehr scharfsinnig, was dazu führte, dass er als Kunstsammler bei Auktionen auf denen es auch unbezahlbare Gegenstände zu kaufen gab, ein kluger Verhandlungspartner war. Marla fragte sich, ob einer der Gefangenen jemals auf den Gedanken gekommen war, eines dieser wertvollen Gegenstände zu klauen. Wahrscheinlich. Eigentlich sollte es kein Problem darstellen, sollte ein Gefangener in das Büro von Charles Dean eskortiert werden. Üblicherweise waren zwei Wachen dabei, die dann an den kunstbehangenen Wänden und den verführerischen Nischen vorbeikamen. Da war es einem unmöglich nicht hinzusehen, der Drang etwas schnell einzustecken war hoch. Das führte gleich zum nächsten Gedanken, ob noch nie eine der Wachen auf solche Ideen gekommen war. Sie wusste, dass Tyler ein korrupter Scheißkerl war, da war es bestimmt möglich, dass er bei diesen Gegenständen einer gewissen Versuchung unterlag, wie es auch bei Marla der Fall war. Sie war sich sicher, dass es für einen Mann mit schwachem Willen, fast unmöglich war, die Antiquitäten mit offensichtlichem Wert, einfach zu ignorieren. In der Tat wäre sie wenig überrascht gewesen, wenn Wachmann Tyler nicht bereits ein paar Gegenstände entwendet hatte, nur um die Besessenheit des Direktors zu testen. Es wäre ganz einfach. Sich von den kleinen Dingen zu den großen vorarbeiten, bis genügend Geld für den Ruhestand vorhanden war. Charles Dean wurde auch nicht jünger und sein Erinnerungsvermögen war vermutlich nicht mehr das Beste. Scheiße, vermutlich hätte man die Hälfte dieser Dinge einstreifen können, denn er war so in den Gefängnistätigkeiten vertieft, dass er es nicht einmal bemerken würde, wenn man schon auf halben Weg zur Grenze unterwegs war.
Marla spürte die Auswirkungen des Whiskeys, denn ihr Kopf fing zu schmerzen an. Sie musste noch nach Hause fahren, was wohl keine so gute Idee war, doch je früher sie ins Bett kam, desto besser.
Da wurde sie sich der unheimlichen Stille bewusst und rief: »Hallo?« Das war, so wusste sie, das Blödeste was man tun konnte. Denn in einem Gefängnis gab es immer jemanden, der darauf antwortete, vor allem wenn darin Hunderte gewalttätiger Männer inhaftiert und selbst die Wachen nicht viel besser waren. Also war eine Antwort nicht unbedingt eine gute Sache.
Sie schlenderte ziellos den Gang entlang. Sie war erst einmal im Büro von Charles Dean gewesen, und das bei ihrem Vorstellungsgespräch. Sie konnte sich nicht mehr recht erinnern, aus welcher Richtung sie noch vor ein paar Stunden gekommen war, warum sollte sie auch? Sie hätte auch nicht erwartet, sich selbst den Rückweg suchen zu müssen.
Sie erreichte eine T-Kreuzung am Ende des Ganges.
»Na großartig!«, sagte sie. Sie sah von rechts nach links. »Entscheide dich, entscheide dich.«
Doch zu ihrem Glück wurde ihr die Entscheidung abgenommen.
Rechts tauchte ein Mann auf, er schleppte sich durch den Flur und zog eine Blutspur entlang der Wand. Er knurrte und aus seinem Gesicht quoll eine dunkle Masse.
Als er näher kam, fing Marla zu schreien an.
***
Sie lief in Charles Deans Büro zurück, in der Hoffnung, dass man
dort die Tür von innen absperren konnte. Sie hoffte, dass dem so
war, warum nur hatte sie nicht darauf geachtet, und sich von den
ganzen selbstverherrlichenden Auszeichnungen an den Wänden ablenken
lassen? Aber aus welchem Grund hätte sie vorhin überprüfen sollen,
ob das Büro sicher war?
Der Mann kam näher, er schob sich an der Wand entlang. Seine verletzte Schulter hinterließ eine blutrote Spur. Er versuchte keineswegs zu laufen oder sein Tempo zu beschleunigen. Vermutlich war er zuversichtlich, dass er Marla einholen würde. So oder so, es kümmerte Marla nicht. Sie würde um Hilfe rufen, und sie brauchte etwas, mit dem sie sich im Büro verbarrikadieren konnte. Als sie durch die Tür schlüpfte, schrie sie hinter sich in den Gang: »Bleiben Sie weg von mir! Bleiben Sie mir verflucht nochmal vom Leib!« Den Mann berührte das nicht im Geringsten, er schlurfte näher und näher.
Sie warf die Tür zu und drückte dagegen. Es gab nichts – nicht einmal eine Kette. Charles Dean hatte anscheinend sehr viel Vertrauen in seine Wachen, genug um die lasche Sicherheit in seinem Büro zu rechtfertigen. Der fehlende Riegel war sehr schlecht, erkannte Marla, nach einem dumpfen Schlag von außen. Ihre Schulter bebte von den Auswirkungen, als der Mann dagegen hämmerte. Sie biss sich auf die Zunge, bis sie blutete. Es tat weh, doch sie hatte keine Zeit sich darum zu kümmern. Der Mann vor der Tür knurrte und schaffte es die Tür weit genug aufzustoßen, damit seine Hand hineinschlüpfen konnte.
Marla schrie. Ihre Instinkte rieten ihr, ihn in die Hand zu beißen, doch das konnte sie nicht. Der Blick hinunter offenbarte ihr eine große Wunde. Die Knöchel waren zu sehen, das sehnige Fleisch hing über den Daumen.
Ein Handgelenk folgte und bevor sie noch merkte wie ihr geschah, näherte sich die Hand ihrem Gesicht und versuchte sie von der Tür wegzuschieben.
Marla machte atemlos einen Schritt zur Seite, ihr blieb keine andere Wahl. Wenn der Mann in das Büro fiel, würde sie ihre Chance ergreifen. Sie wusste, wo eine Waffe zu finden war und was sie tun musste.
Sie wich von der Tür zurück, ein ängstliches Wimmern entwich ihr. Tat sie das Richtige?
Die Tür krachte weit auf. Der Mann stürzte auf die Knie und knallte auf den Teppich.
Marla hatte nur ein paar Sekunden, das war alles, und sie durfte keine verschwenden. Sie eilte hinüber zum Schreibtisch und schnappte sich den Briefbeschwerer. Der war ihr schon zuvor ins Auge gefallen, als sie an dem Whiskey genippt hatte. Sie hasste ihn – das kleine Boot in der Glasmitte bewies, was für ein Arschloch Charles Dean war. Als sie es zuvor angestarrt hatte, hatte sie es sich nicht als Waffe vorgestellt, doch jetzt war es für genau das gut.
Sie trat zu dem Mann, der gerade versuchte sich aufzurichten.
»Scheren Sie sich zum Teufel«, schrie sie. Sie schlug ihm seitlich ins Gesicht, doch bei Weitem nicht so fest, wie sie es gerne gehabt hätte. Der Mann zuckte kaum, seine Augen schienen dunkler geworden zu sein und er war bereits auf einem Bein, bevor Marla ein weiterer Hieb möglich war. Es gelang ihr, ihn wieder zu Boden zu stoßen.
»Fick dich«, keuchte sie. Der Mann stöhnte und versuchte hochzukommen, doch Marla ließ es nicht zu. Sie schlug erneut auf ihn ein. Ein Stück vom Schädel fiel durch den Hieb ab. Hatte sie denn wirklich so fest zugeschlagen? Blieb ihr eine andere Wahl?
Er rollte auf den Rücken, starrte sie mit schwarzen Augen an und seine Lefzen verzogen sich zu einem grotesken Grinsen. Erneut schlug sie mit dem Briefbeschwerer zu.
***
»Wie viele sind es?«, fragte Billy Toombs.
Shane starrte durch die Lücke und sagte: »Schwer zu sagen. Ich sehe drei.«
Bei den Treppen auf der gegenüberliegenden Seite schlichen drei Männer vor den Zellen auf und ab. Shane hatte sie aus ihren Zellen kommen sehen, und auch beobachtet, wie sie gegenseitig über sich hergefallen waren und sich dabei getötet hatten. Nun wanderten sie von Zelle zu Zelle und fraßen auf allen vieren jene, die im Kampf gefallen waren. Die Angst vor der Realisierung dessen, was er da sah, war so stark, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Das letzte Mal hatte er sich so hilflos und unsicher gefühlt, als er im Auto vor dem Spirituosenladen saß und auf den Moment wartete, in dem er zuschlagen sollte.
»Wir müssen hier raus«, sagte Billy. Sein Messer hatte er so fest im Griff, dass seine Knöchel weiß waren. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie uns hier finden. Wir müssen weg.«
Das war wahr. In ihrer Zelle konnten sie nicht bleiben. Mit einem oder vielleicht zwei von denen würden sie fertig werden, mit mehr jedoch nicht, dessen war sich Shane sicher.
»Wir gehen«, sagte Shane, »aber wir müssen vorbereitet sein. Ich habe gesehen, dass diese Dinger keine Schmerzen mehr fühlen.«
Billy zuckte mit den Schultern und sah sich in der Zelle nach etwas um, irgendetwas, dass sie schützen würde.
Er hatte sein Messer, das reichte für ihn, doch Shane war unbewaffnet. Die Zelle ohne irgendetwas zu verlassen, womit man diese Dinger fernhalten konnte, war Selbstmord. Shane entfernte sich vom Bett, welches die Zellentür blockierte und half bei der Suche.
»Wo sind die Wachen«, fragte Billy.
»Die haben es auch nicht geschafft die Kreaturen aufzuhalten«, sagte Shane. »Sie haben zwar mit ihren Schlagstöcken widerstand geleistet, doch diese Dinger waren unerbittlich.«
»Du meinst, sie sind alle tot?«, fragte Billy. Er öffnete die Schublade seines Nachttischs, entnahm die Bücher, die er darin aufbewahrte, und legte sie neben sich auf dem Boden ab.
»Ich sage nur, dass es so aussieht, als hätten die Wachen erkannt, dass sie chancenlos und dann abgehauen sind, zumindest die, die Glück gehabt haben.«
Shane beobachtete Billy Toombs dabei, wie er die Schublade von ihrem Inhalt befreite und sie dann herauszog. Neben dem knirschenden Geräusch des Holzes, war da noch etwas Metallenes zu hören. Zufrieden warf Billy die leere Schublade beiseite und zog am Aluminium, welches mit dem Hauptkonstrukt des Nachtisches verbunden war.
»Weißt du«, fing Shane an, als er seinem Zellengenossen frustriert dabei zu sah, wie dieser mit der widerspenstigen Schubladenführung kämpfte. »du solltest dir wirklich mal bei so etwas zusehen.«
Billy lachte, seine Atemnot hinderte ihn jedoch daran, es laut zu tun.
Mit einer letzten Drehung und einem Fremdwort, das Shane als etwas Unschönes übersetzte, war der Aluminiumschiene entfernt.
»Nett«, sagte Shane. Billy überreichte ihm die Stange, die sich großartig in der Hand anfühlte. Sie war nicht schwer, was gut war, und das Ende war messerscharf. Das war angesichts dieser Umstände das Beste, was sie aufbringen konnten.
Sie gingen zurück zum Bett und versuchten ihre Geräusche auf ein absolutes Minimum zu reduzieren. Shane hielt Ausschau, und soweit er sehen konnte, waren nur vier auf ihrer Etage. Im oberen Teil hingegen schienen sie alles überschwemmt zu haben. Zehn Stufen trennten sie nur voneinander, das forderte, sich so leise wie möglich zu bewegen.
Im hinteren Teil der Anstalt schrie jemand. Obwohl der Schrei nur schwach zu hören war, wussten Shane und Billy sofort, dass er von einer Frau kam.
Während sie das Bett beiseiteschoben, sah Shane in Billys Augen, und zum ersten Mal seit drei Jahren, sah dieser massige Halbire, Halbindianer ängstlich aus.
»Bereit?«, fragte Shane.
Billy schluckte schwer. »Wie immer.«
Shane schob die Tür auf.
***
Anfangs schien es so, als würden sie von ihnen keine Notiz nehmen.
Es gelang ihnen, leise genug an ihnen vorbeizuschleichen, und kurz
glaubte Shane, dass es so weitergehen würde und sie an den
sanitären Einrichtungen vorbeihuschen konnten.
Doch sie wurden entdeckt, einer von ihnen prallte gegen die Metallstäbe, starrte sie an und stieß einen markerschütternden Laut aus. Die anderen drehten sich um und fixierten sie.
»Oh, Shit«, fluchte Shane. Nun war es an der Zeit, viel Abstand zwischen sich und denen zu bringen.
»Hier lang«, sagte Billy. Shane warf einen Blick über die Schulter, zwei von den Kreaturen nahmen die Verfolgung auf. Die eine auf allen vieren war zu beschäftigt mit dem Kadaver eines armen Teufels, die andere stieg über ihn und nahm die Verfolgung auf.
»Sie sind langsam«, meinte Shane. »Die sollten wir locker abhängen können.«
Billy schüttelte seinen Kopf. »So eine Scheiße hab ich im Film schon gesehen«, sagte er und sprang über zwei Körper, die vor ihm verteilt den Weg blockierten. Shane tat dasselbe. »Wenn man sie unterschätzt, ist man tot. Glaub mir.«
Shane glaubte ihm. Bedingungslos.
Die beiden hängten ihre Verfolger etwas ab, sie befanden sich auf der gegenüberliegenden Seite, hinter Gittern, und Shane wollte zukünftig nicht mehr so vorschnell mit seinen Vermutungen sein.
»Welchen Film hast du vorhin gemeint?«, fragte Shane, als sie eine Ecke erreichten.
»Du weißt schon, der –«, doch Xander Formen – der Hurensohn – schnitt ihm das Wort ab und schickte sie beide auf den Boden. Xanders Zähne schnappten nach Billy Toombs. Sie hatten ihn viel zu spät bemerkt. Auch die Ankunft von weiteren Kreaturen.
»Billy!«, schrie Shane. Er wusste nicht, was er sonst tun sollte, er schlug die Aluminiumschiene in das Gesicht, das war das Einzige, was ihm dazu einfiel.
»Ich bin okay«, sagte Billy, obwohl er alles andere als okay aussah. Die Kreatur hatte um ein Haar ein Stück seiner Wange erwischt. »Behalt nur die anderen im Auge.«
Shane drehte sich um. Die anderen beiden kamen stetig näher und würden sie bald erreicht haben, wenn sie nicht aufpassten.
»Schnell«, warnte Shane. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«
Billy war es gelungen, sich herumzudrehen: Der große Mann – obwohl beide von ihnen riesig waren, es sah aus, als kämpfe Godzilla gegen Mech–Godzilla –, war nun unter ihm, seine dunklen Augen starrten Billy Toombs mit vehementer Entschlossenheit an.
Billy verlagerte sein Gewicht so, dass sein Ellbogen sich über Xanders Hals befand, der unter seinem Gewicht röchelte. Billy hob das Messer und stach es in dessen Auge. Es machte ein hörbares Plopp, als er den Augapfel herauszog, dunkler Schleim quoll nach und zog sich über die Wange des Monsters.
Shane beurteilte schnell die Lage und zählte die herankommenden Kreaturen. Sie waren schon viel zu nahe, ein paar Sekunden, maximal, waren alles, was ihnen geblieben war.
Als Shane sich wieder umdrehte, kam Billy gerade auf die Beine und wischte die Klinge in seinem Overall-Ärmel ab.
»Können wir jetzt verschwinden?«, fragte Shane, dabei trat er immer weiter von den beiden Monstern weg, die mit ihren Zähnen nach ihm schnappten.
»Das wäre gut«, Billy verzog sein Gesicht.
Sie drehten sich um und liefen davon.
***
Sich am Ende des Ganges zu befinden, hatte auch seine Nachteile. Zum einen hatten Rooster und Marvin keine Ahnung, dass sie die Einzigen waren, die noch in ihrer Zelle saßen. Sie hatten es einfach nicht mitbekommen, dass die anderen alle ihre Zellentüren geöffnet hatten, und zum anderen verbanden sie die Geräusche der letzten drei Stunden mit dem Aufruhr, nicht mit einem Angriff höllischer Monster, die durch das Gefängnis fegten. Ja, am Ende zu sein, hatte seine Nachteile.
»Ist ziemlich still hier, was«, stellte Marvin fest, der die Karten so schlecht mischte, dass Rooster sich fragte, ob der Mann irgendeine Krankheit ausbrütete. »50 Mücken.«
»50?«, fragte Rooster kopfschüttelnd. »Wie wär’s mit 100?«
»Du bist dran«, grinste Marvin. »Schnell verdiente Kohle.«
Rooster wurde das Kartenspiel langsam zu öde, doch es gab nichts, was sie sonst tun konnten. Zu Bett gehen war keine Alternative, nicht während ein Aufstand voll im Gang war. Mitbekommen war eine Sache: wenn ein Aufstand angezettelt wurde, war es nicht nur die Minderheit, die bestraft wurde, diejenigen die ihn gestartet hatten … alle würden bestraft werden. Jetzt in den Schlaf zu fallen, gab den Wachen ein leichtes Ziel, die ohne Zweifel bald ihre Runde machten, was einige Probleme mit sich bringen würde. Vermutlich würde man von einem Stahlkappenschuh an der Backe aufwachen, was immer wieder schön war ...
»Ich wünschte, wir hätten ein Schachbrett«, seufzte Rooster. »Das könnte ich stundenlang spielen.«
»Das ist ein wenig wie Dame, nicht?«, fragte Marvin.
Für Rooster stellte die Frage ziemlich klar, dass ein Schachbrett sinnlos gewesen wäre, es sei denn, der Zellengenosse hätte auch nur ansatzweise die Regeln gekannt, denn ihm diese näherzubringen wäre wie ein Versuch, einem Schimpansen das Singen von Operetten beizubringen.
»Es ist nicht wie Dame«, antwortete er schließlich. »Möchtest du mir einreden, dass du nicht weißt, wie Schach geht?«
Marvin nickte. »Einige von uns sind eben ohne Schachbrett aufgewachsen«, rechtfertigte er sich. »Ich hatte nur ein Taschenmesser und eine Angelrute.«
Rooster versuchte sich Marvin ›Den Mörder‹ Manson als Kind vorzustellen, unschuldig, auf dem Weg zum Fluss mit einer Kiste voller Köder und voll aufgeregter Erwartung. Vielleicht war es die Isolation, die aus Marvin einen kaltblütigen Mörder machte. Fischen war ein gefährlicher Sport, wenn man mit der Angel nicht umgehen konnte, und auch nicht in der Lage war, stundenlang ruhig zu sitzen. Marvin hatte seine psychotischen Anwandlungen entwickelt, während er ein Gurkensandwich aß, dabei hatte er Enya aus einem alten Radio krächzen gehört, das neben ihm auf der Bank stand.
»Früher habe ich viel gespielt«, sagte Rooster. »Eigentlich zu viel. Meine Schwester konnte nie verstehen, warum die Läufer sich diagonal bewegen, und die kleinen Pferdchen einen dummen Haken machen, so hat sie die immer bezeichnet. Ich konnte ihr auch nicht erklären, warum, aber ich habe ihr immer gesagt, sie soll einfach still sein und weiter spielen.« Rooster pausierte. Die Erinnerungen schienen klarer zu werden, klarer als er erwartete, und das Gefühl, das damit einherging, hatte er auch nicht erwartet. »Dad nahm mir irgendwann das Brett weg. Er sagte, das Schach nur was für Pussies sei, und er wolle keine Schwuchtel großziehen, oder? Meine Schwester nannte mich danach nur noch Schwuchtel und sie und Dad, haben dann immer laut gelacht.«
»Das ist ziemlich beschissen, Kumpel«, sagte Marvin, während er die Karten vom Boden aufhob.
»Ich habe sie dafür verflucht«, fuhr Rooster fort. »Ich habe mit Schach aufgehört, weil ich ihnen geglaubt habe. Hältst du das für möglich? Ich dachte, mein Dad lag richtig.«
»Dein Dad klingt nur wie ein Arschloch«, lachte Marvin.
»War er«, stimmte Rooster zu. »Was auch der Grund war, warum ich ihn umgelegt habe. Im Nachhinein«, lächelte er. »wünschte ich, ich hätte ihm ein paar Schachfiguren in sein Scheiß Maul gestopft, damit hätte die Forensik etwas zu tun gehabt.« Er brach in Gelächter aus.
»Da hast du Recht.«
Rooster stand auf und streckte sich. Sein Rücken knackste furchterregend, Marvin sah ihn schief an. Sie spielten schon seit Stunden Karten und hörten nebenbei dem Aufstand draußen zu. Doch nun war es bedrohlich still geworden.
Rooster ging ein paar Schritte. »Was würdest du tun, wenn du nicht hier wärst?«
»Was ich tun würde, wenn sie mich nicht erwischt hätten?«, fragte Marvin verwirrt.
Rooster nickte. »Weiß der Henker. Vielleicht immer noch töten. Vielleicht hätte ich mich auch irgendwo niedergelassen, mir eine Schlampe namens Crystal gesucht und sie geheiratet.«
Rooster grinste. »Das gefällt mir«, sagte er. »Ich würde vermutlich quer durchs Land ziehen. Das wollte ich schon immer, weißt du? Einfach einen Wagen nehmen und damit herumkurven.«
Marvin lächelte vorsichtig. »Würdest du den Wagen jemals zurückbringen?«
Rooster zuckte mit den Schultern. »Was würde das schon für eine Rolle spielen, wenn mich die Schweine aufgegabelt haben?«
»Klingt großartig, Kumpel«, sagte Marvin. Er erhob sich und streckte sich ebenfalls. Sein Rücken knackste jedoch nicht.
»Witzig wie sich die ganze Scheiße entwickelt, was?«, flüsterte Rooster.
Marvin fand es ganz und gar nicht witzig, dennoch nickte er.
Rooster umklammerte die Gitterstäbe, die etwas nachgaben. Die plötzliche Erkenntnis traf ihn.
»Als du wissen wolltest, was ich tun würde, wenn ich nicht hier wäre …?«, sagte er.
Marvin nickte. »Ähm, ja?«
»Nun, wir werden es herausfinden«, sagte er.
Mit diesen Worten schob er die Zellentür auf.
***
Terry Lewis riskierte einen schnellen Blick um die Ecke. Sieben von denen waren da, vier am Boden, drei standen. Die vier am Boden zehrten an Knochen und anderen unkenntlichen Dingen, während die anderen sich im Gang bewegten, verwirrt und hungrig.
Terry machte ein Kreuzzeichen vor seiner Brust.
»Wie viele?«, fragte Jared. Er kam aus der Waschküche.
»Sieben«, flüsterte Terry. »Doch wir sollten es schaffen, ohne dass sie was mitbekommen.«
Die Tür, die sie erreichen mussten, befand sich ein paar Meter von den Kreaturen entfernt. Terry hoffte, dass sie zu sehr mit ihrem Fleischverzehr beschäftigt waren, um sie rechtzeitig zu entdecken, wenn sie an ihnen vorbeischlichen. Sie mussten nur schnell genug sein und kurz warten, bis die einen in die entgegengesetzte Richtung unterwegs waren. Vielleicht würden sie es schaffen, ohne viel Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ich bin dagegen«, sagte Jared ängstlich. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er erkannte, dass sein Zellenkumpel das überhaupt nicht interessierte.
»Willst du hier bleiben?«, fragte Terry. »Soll ich dich hier alleine im Versteck zurücklassen?«
Jareds Augen weiteten sich, ihm fiel seine Kinnlade herunter. »Was, wenn sie mich entdecken?«, brachte er heraus.
Terry war sich der Folgen dieser Zwangslage durchaus bewusst, doch sein Glaube war irgendwie zurückgekehrt. Anders als früher. Nicht ganz so wie in den Jahren, als er zum ersten Mal die Religion für sich entdeckte, denn da war er noch jung gewesen und hatte an alles geglaubt. Allerdings reichte es aus, ihn glauben zu lassen, dass Gott ihn noch nicht sterben lassen wollte. Schließlich war er einmal Diener des Herrn gewesen, das musste etwas zählen.
»Uns bleibt nichts anderes übrig«, sagte Terry. »Wir müssen den Hof erreichen und beten, dass diese Kreaturen nicht auf dieselbe Idee kommen.«
»Ich vertraue dir«, sagte Jared, dann klappte sein Mund zu.
Terry wusste nur zu gut, dass er nicht nur sein eigenes Überleben sichern musste. Er musste auch auf die andere Seele aufpassen.
»Ich werde noch einen Blick wagen«, sagte Terry, er drückte seine Hand gegen Jareds Brust. »Ich warte, bis die Luft rein ist, und wenn ich gehe, wirst du mir folgen. Es wird uns keine Zeit bleiben, uns anzupissen. Wir müssen die Tür erreichen, die Zweite von rechts, und wir werden so lange rennen, bis wir sie erreicht haben. Hast du mich verstanden?«
Jared nickte.
»Gut.«
Terry steckte seinen Kopf hinaus. Über die eine Kreatur, die zuvor noch stand, machten sich nun die anderen her, was bedeutete, dass nur noch zwei herumwankten, die ihnen möglicherweise den Weg zur Tür versperrten. Die beiden schlurften den Gang entlang, stießen aneinander oder prallten gegen die Wände wie fleischgewordene Flipperkugeln.
»Jetzt«, flüsterte Terry und lief los. Ohne seinen Blick von der Tür zu wenden, hörte er die Monster, wie sie an den Knochen nagten und das Fleisch der armen Seele verzehrten. Es wurde so übermächtig, dass ihm etwas die Kehle hochkam, doch er schluckte es schnell wieder runter. Er hoffte, dass Jared ihm folgen würde, denn falls nicht, würde es zu spät für ihn sein.
Eines der Monster drehte sich um und hinkte nun mit gefletschten Zähnen den Gang entlang. Es grunzte, doch die fünf anderen bemerkten nichts, selbst als es über sie stieg und beinahe über den Leichnam stolperte, an dem sie sich labten.
Terry erreichte die Tür und registrierte, dass Jared weniger als einen Schritt hinter ihm war. Als er sich umdrehte, stießen ihre Köpfe zusammen.
»Los, rein!«, sagte Terry, er schob Jared durch die offene Tür. Er folgte ihm und schloss die Tür so leise er konnte.
Auf halben Weg befand sich ein Riegel, Terry zog ihn zu. Das sollte reichen, um die Kreaturen draußen zu halten. Das Glasfenster in der Tür würde zwar nicht standhalten, allerdings würde es einigen Aufwand benötigen, das Glas zu zerbrechen, und sie schienen nicht genug Köpfchen zu haben, dies mit einem Stein oder einem Besenstiel zu bewerkstelligen.
Terry wollte dennoch kein Risiko eingehen und nahm vom Glas abstand. Es war mattiert, was aber nicht bedeutete, dass man auf der anderen Seite keine Bewegung sehen konnte.
»Der Hof«, flüsterte Terry und deutete auf die andere Seite des Raumes, »ist dort, nach dem Gang, ein paar Meter entlang. Wenn dort keines dieser verdammten Kreaturen ist, sollten wir das problemlos schaffen.«
Jared ging einen Schritt auf die Tür zu. Eine Hand zog ihn zurück. Er stand von Angesicht zu Angesicht mit Terry Lewis, der einen Finger vor seine Lippen hielt.
»Pssst«, dabei zeigte er auf das mattierte Glas, durch das sie gerade gekommen waren.
Vor der Tür stand ein Monster, dessen Silhouette durch das Glas zu sehen war. Mit einer Hand drückte es gegen die Tür. Blut tropfte von den Fingern, die einen roten Abdruck bildeten.
Etwas rüttelte an der Türklinke, immer schneller. Terry konnte erkennen, dass Jared einen Schrei zurückhielt, den er irgendwann loswerden musste.
Die flache Hand schlug nochmal gegen das Glas, doch es war nicht zu befürchten, dass es zersplitterte. Das Ding stöhnte, versuchte es nochmals an der Klinke, dann entfernte es sich langsam. Licht drang wieder in den Raum, als sich die Gestalt entfernte.
Beide atmeten erleichtert auf, sie waren froh, dass die Kreatur aufgegeben hatte, und die anderen keine Notiz von ihnen nahmen. Terry lächelte süffisant, was Jared nicht gerade schätzte.
»Lass uns gehen«, sagte Terry und führte seinen Zellengenossen auf die andere Seite des Raumes. Als sie die Tür erreichten, atmete Terry tief durch, Jared machte einen Schritt zurück und Terry griff nach dem Türknauf.
Er drehte ihn.
***
Nichts passierte. Die Tür war abgeschlossen. Selbstverständlich war sie das, genau das
hatte Terry erwartet. Es wäre auch zu einfach gewesen, ohne
jegliche Hürde in den Hof zu gelangen.
»Ich nehme mal an, du hast keine Ahnung, wie man Schlösser knackt?«, fragte Terry.
»Ich war sogar einer der Besten«, sagte Jared. »Gib mir ein Dietrich-Set und ich erledige den Rest.« In seiner Stimme klang Sarkasmus mit.
Terry drehte sich um und begann den Raum zu durchsuchen.
Schachteln verschiedenster Größen und Farben stapelten sich an den Wänden. Es war eine Art Aktenraum, ohne Zweifel reichten die Unterlagen Jahre zurück.
»Warte hier«, sagte Terry. Er zog mit wachsamen Augen durch den Raum. Er nahm eine Kiste aus dem unteren Regal und öffnete sie. Wie er vermutet, befanden sich darin Akten aus Zeiten, in denen er noch kein Häftling war. Jeder der Ordner war mit Permanentmarker beschriftet, doch keiner davon weckte sein Interesse.
Er öffnete einen anderen Karton und entdeckte schließlich, wonach er suchte.
Niemals hätte er gedacht, dass eine Büroklammer ihn einmal so glücklich machen würde. Er entfernte sie vom Papier, das er wieder hineingleiten ließ.
»Wie wär’s damit?«, flüsterte er und hielt die Klammer wie den Heiligen Gral empor.
»Sollte gehen«, meinte Jared.
Mit der Büroklammer machte sich Jared sofort am Schloss zu schaffen. Terry fragte sich, warum er Vertrauen in einen Mann steckte, der immer nur Angst vor den Ereignissen hatte. Als er seinen Zellengenossen mit dem winzigen Stück Metall in seinen zittrigen Händen sah, bestätigte es ihm, dass er Jared hinter sich lassen musste, sollte es darauf ankommen. Wenn es ums Überleben ging, dann durfte er keine Minute zögern, Jared zu opfern.
Jared war dabei, ihr Leben aufgrund seiner Nervosität zu riskieren, und das sollte nicht passieren, zumindest nicht für Terry Lewis, der seinen Glauben wiederentdeckt hatte und von Gott erwartete, dass dieser hier und jetzt seine Entscheidung traf.
Dann war ein Klicken zu hören. Jared zog seine Büroklammer heraus und trat einen Schritt zurück.
»Versuchs mal«, sagte er.
Terry kam heran, legte seine Hand um den Türknauf und drehte ihn vorsichtig. Als die Tür aufschwang fühlte sich Terry schlecht über die Gedanken, die er vorher über seinen Freund gehabt hatte.
»Sehr gut«, flüsterte Terry. »Das hast du gut gemacht.«
Jared lächelte. »Danke.«
Sie standen kurz da, atmeten tief durch und machten sich auf das bereit, was auf der anderen Seite der Tür auf sie warten mochte. Terry konnte die Angst beinahe fühlen. Die Luft rund um sie war dick genug, um sie mit einer Klinge zu durchschneiden. Es war, als ob sie auf die Apokalypse warteten – die Pilzwolke sehen und wissen, dass man ihr nicht entfliehen konnte.
»Warte hier«, sagte Terry. »Ich werde mal einen Blick riskieren.«
Jared verharrte.
***
Marla bog um die Ecke in einen weiteren Gang, sie wusste immer noch nicht, wo sie war. Alle Gänge in diesem Gefängnis schienen gleich auszusehen, die einzige Möglichkeit sich zu orientieren schien die zu sein, sich die Lackschäden an den Wänden einzuprägen, die in all den Jahren aus welchen Gründen auch immer nicht beseitigt wurden.
Die Hitze nahm spürbar zu, so als hätte jemand die Lüftung abgedreht. Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, die sie mit dem Handrücken abwischte.
Einen Moment lang fühlte sie sich, als wurde sie beobachtet, doch unter diesen Umständen war es durchaus möglich, dass ihr Verstand ihr einen Streich spielte.
Was war passiert? Wurden sie angegriffen? Was war mit Charles Dean und den vielen Wachen passiert? Nichts schien Sinn zu ergeben. Obwohl sie natürlich einiges vermuten könnte, wegen der Krankheit die hier im Umlauf war. Sie war eine gute Ärztin, zumindest dachte sie das. Sie konnte normales Fieber mühelos erkennen, doch der plötzliche Temperaturanstieg – fast 30 Grad in weniger als ein paar Stunden – und dieses merkwürdige Verhalten der Infizierten konnte sie sich nicht erklären. Das überstieg ihre Kompetenz.
Langsam setzte sie ihren Weg durch den Flur fort, passierte Türen, die entweder zugesperrt oder durch Reinigungsgegenstände verstellt waren. Gerade wollte sie sich dazu entscheiden, es bei einer Tür zu versuchen, als ein Mann aus dem Nichts auftauchte.
Marla schrie nicht – sie konnte nicht. Ihr Herz schien so laut zu klopfen, als wolle es aus der Brust springen.
»Ist schon okay«, sagte der Mann. »Ich werde Ihnen nichts tun.«
Sie war sich ziemlich sicher, dass sie genau diese Worte zu einem anderen Zeitpunkt in ihren Leben schon mal gehört hatte. Sie wollte kein Risiko eingehen. Ihre Hand umklammerte immer noch den Briefbeschwerer, den sie jetzt anhob und ihn drohend schwang.
»Bleiben Sie zurück«, rief sie. »Oder ich werde Sie töten.«
Sie wusste nicht, woher diese Worte kamen, doch sie klangen ernst.
»Sie brauchen mich nicht zu töten«, sagte der Mann. »Bleiben Sie einfach ruhig.«
Marla musterte den Mann, der einen weißen Overall trug, was bedeutete, dass es sich um keinen gewalttätigen Häftling handelte. Er trug keine Waffe mit sich, sollte er dennoch eine besitzen, so war diese ziemlich gut versteckt.
»Wer sind Sie?«, brachte sie hervor, sie schluckte schwer.
»Ich heiße Terry«, stellte sich der Mann leise vor. »Terry Lewis.«
Marla senkte ihren Briefbeschwerer, als ob der Name ihn weniger bedrohlich machte. Sie wollte gerade jene Frage stellen, auf die der Mann vermutlich eine Antwort hatte, bevor ein weiterer Mann hinter Terry auftauchte.
Er lief auf sie zu, er hatte einen gewalttätigen Ausdruck im Gesicht und schien etwas schreien zu wollen.
Marla hob wieder ihren Briefbeschwerer und wartete auf den Mann. Er schaffte es nicht bis zu ihr.
Als er sich auf Terrys Höhe befand, streckte Terry einen Arm aus, mit dem er ihn an der Gurgel erwischte.
Der Mann fiel zu Boden, wo er sich herumwälzte, seine Hand hielt die Stelle, wo die Faust ihn getroffen hatte.
»Nehmen Sie es ihm nicht übel«, sagte Terry, der versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen. »Er neigt bei Frauen etwas nervös zu werden, weil seine Mama nie da war.«
Marla entspannte sich ein wenig.
»Ich vermute mal, Sie wissen nicht, was hier zum Teufel los ist?«, fragte sie.
»Keinen blassen Schimmer«, Terry zuckte mit den Schultern. »Doch wir versuchen so weit es uns möglich ist, hier lebend rauszukommen.«
Für Marla klang das nach einem guten Plan.
***
Sie trafen auf über zehn Kreaturen, als sie den Flur entlang
liefen. An einer Stelle saßen sie fast in der Falle, doch es gelang
ihnen, die Monster wegzustoßen und sich durchzuquetschen, ohne auch
nur einen Kratzer abzubekommen. Länger als nötig stehen zu bleiben,
war keine gute Idee und deshalb blieben sie in Bewegung und
versuchten immer einen Schritt vor den Dingern zu sein. Shane bekam
Seitenstechen – er war schon lange nicht mehr so viel gelaufen.
Warum eigentlich? In ein paar
Wochen war er ein freier Mann und er war sich bewusst, das es zu
Hause bei seiner Frau und seiner Tochter, die in die Schule ging,
das Beste für ihn sein würde. Er hoffte, dass er wegen dem Stechen
in seinen Rippen nicht zu irgendwas von denen wurde.
»Wie geht es dir?«, fragte Billy, als er bemerkte, dass Shane mit der Hand seine Seite hielt. »Du wurdest doch nicht verletzt, oder doch?«
Shane lachte, verlangsamte sein Tempo. »Verflucht, nein«, sagte er. »Du weißt genau, dass ich seit einigen Wochen kein Workout mehr gemacht habe.«
Billy nickte.
»Das war dumm«, sagte Shane. »Ich fühle mich, als würde ich jede Sekunde umkippen.«
Billy wurde langsamer. Es waren keine Kreaturen zu sehen. »Du solltest etwas Wasser trinken«, sagte er. »Möchtest du in die Kantine?«
Die Kantine befand sich unten. Wer wusste schon, an wie vielen Kreaturen sie auf dem Weg dorthin vorbeikommen würden? Doch es machte Sinn. Shane war durstig.
»Klingt gut«, sagte er. »Vermutlich haben alle Überlebende dieselbe Idee und gehen dahin, wo es Essen und Trinken gibt.«
Billy hoffte nicht. Er war nicht in der Stimmung für Gesellschaft, vor allem nicht für einen Haufen Leute, die entweder infiziert waren oder es verdienten zu sein.
Sie schlugen den Weg zur Kantine ein, obwohl ihnen bewusst war, dass die Chancen gering waren sie offen vorzufinden. Und doch mussten sie irgendwohin, herumzustehen und auf die Kreaturen zu warten, war keine Option.
Shane war es zuvor nicht aufgefallen, doch die Klänge, das Stöhnen und das Knurren, zogen sich durch das ganze Gefängnis. Er glaubte sogar, wenn er ganz genau hinhörte, dass er die Dinger fressen hörte, doch vermutlich war es nur die Ausgeburt seiner Fantasie.
Auf dem Weg fing Billy ein sinnloses Gespräch an: Würden sie auf Hilfe stoßen? Shane ging nicht davon aus. Billy schon. Wenn die Nachricht von den Vorfällen nach außen dringen würde, dann war vermutlich ein Notfallkommando hierher unterwegs, oder nicht? Billy meinte, dass dieses vermutlich eingeschaltet wurde, um das Gefängnis und dessen Insassen nicht ausarten zu lassen. Die Regierung war für ihren Mangel an Mitgefühl bekannt, außer es ging ums allgemein Wohl. Shane wollte nicht erwähnen, dass jegliches Flehen und Bitten aus dem Gefängnis vermutlich unerhört blieb.
War es wirklich besser, das für sich zu behalten?
Ein paar Stockwerke über ihnen hallten Schreie. Sie klangen männlich, obwohl es schwer zu sagen war. Billy und Shane teilten einen aufschlussreichen Blick, bevor sie die Treppen hinabgingen.
Und da stießen sie auf einen Toten.
***
»Kennst du ihn?«, fragte Shane, als er die verstümmelte Leiche am
Treppenabsatz ansah.
Billy schüttelte seinen Kopf. »Mh-m.«
»Ich auch nicht«, sagte Shane mit zusammengebissenen Zähnen. »Was auch immer ihm das angetan hat, war verflucht hartnäckig.«
Ein Bein und ein Arm fehlte dem Körper und ein großer Teil seiner rechten Seite war aufgefressen. Freistehende Rippen ragten heraus. Das Gesicht war auf der einen Seite bis auf die Knochen freigelegt, beide Augen waren entfernt worden, man sah nur noch dunkle Höhlen.
»Verfluchte Kreaturen«, murmelte Billy, er hielt sich die Hand vor sein Gesicht, dabei hoffte er, dass ihm nichts hochkam. Sein Mund fühlte sich staubtrocken an.
Shane stieg über das Bein des Körpers, dabei rutschte er fast in der Blutlache aus, die sich darum gebildet hatte. Billy hielt ihn gerade noch fest.
»Alles okay?«, fragte Billy.
»Wäre fast am Arsch–«
Plötzlich durchzuckte Leben die Leiche, sie packte Shanes Knöchel. Zuerst begriff Shane nicht, was los war, dann starrte er in Billys Augen, als ob er es ihm sagen konnte.
Billy zog Shane weg. Die Hand rutschte von Shanes Fuß und landete auf der Treppe. Doch was alles tausendmal gruseliger machte, waren diese Augen – besser gesagt das Fehlen von ihnen. Der Kiefer der Leiche schnappte herum, versuchten irgendwo halt zu finden, doch so blind wie sie war, waren es auch ihre Sinne – es war ein erbärmlicher Anblick.
Shane wischte sich die Spucke aus dem Mundwinkel und fragte: »Möchtest du die Ehrenaufgabe übernehmen?«
Billy zuckte mit den Schultern. »Ist mir ziemlich egal«, sagte er. »Wenn du mich fragst, ist es eine Sache der Menschlichkeit.« Er trat vor, achtete dabei auf genügend Abstand zwischen sich und dem Arm, der immer noch verzweifelt um sich griff, und trat in das Gesicht der Leiche. Unter seinem Schuh verteilte sich der Inhalt des Kopfes auf eine Weise, wie es für gewöhnlich bei Hundescheiße passierte, wenn man reintrat. Es knirschte, als er seinen Fuß drehte. Der Schädel knackste, Knochen splitterten. Nach ein paar unfreiwilligen Krämpfen blieb die Kreatur regungslos liegen. Billy trat zurück, und bekreuzigte sich.
»Das war widerlich«, sagte Shane.
Billy lächelte. »Erinnere mich daran, dass ich ein paar neue Schuhe brauche«, sagte er und wischte sich die Sohle am Boden ab, als versuche er, sie von einem Kaugummi zu befreien.
»Kumpel, die machen keine mehr in deiner Größe, außer du gehst zu Bigfoots-R-Us.«
Billy lachte. »Tja, und ich würde sie lieber bei Leprechauns4U kaufen.«
Shane lachte laut auf. Es war überraschend einfach, den Schrecken um sie herum zu vergessen. Mit Lachen schien man diesen Albtraum leichter zu verdauen.
Sie erreichten die Tür der Kantine, wo sie erkannten, dass ihre Reise vergeblich gewesen war. Die Tür stand weit offen. Shane blickte auf das Chaos am Fliesenboden. Überall lagen Essensreste. Rohes Fleisch verteilte sich von der Tür bis zu den Wänden. Es sah nach einem Massaker aus, nur dass es diesmal tierische Teile waren.
»Nach dir«, sagte Billy und wirbelte seine Hand mit affektierter Nonchalance. Doch seine künstlich aufgesetzte Etikette brachte Shane diesmal nicht zum Lachen. Er betrat voller Beklommenheit den Raum. Er hielt seine Waffe vor der Brust, wie ein Jäger der die Witterung aufnahm.
Das Geräusch seiner Schritte klang ekelerregend. Es war schwer, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass es tierische Reste waren, die zu einem anderen Zeitpunkt von den Insassen gegessen worden wären. Es klang, als würde er über menschliche Überreste waten.
Überraschenderweise war der Geruch in der Kantine halb so schlimm. Ein buntes Potpourri, wo man hinsah, doch der Gestank einer Schlacht blieb aus.
»Etwas ist hier«, sagte Shane, dabei war er sich ziemlich sicher. Das »Etwas« stellte klar, dass er unmenschlich meinte.
Billy nickte. »Eines dieser Dinger«, sagte er. »Ist ihm wohl gelungen, uns vom Fleisch zu unterscheiden. In diesem Fall müssen sie klüger sein, als sie aussehen. Wenn sie den Unterschied zwischen Menschenfleisch und Speck kennen, sollten wir vorsichtig sein.«
Shane stimmte zu. Die Kreaturen schienen dumm zu sein, zumindest wenn sie gegeneinander liefen und von hier nach da stolperten, doch wenn sie in der Lage waren, Situationen und Entscheidungen einzuschätzen, dann hatten sie wohl komplexere Funktionen. Das stellte Shane die Nackenhaare auf.
Als sie tiefer in den Raum eindrangen, sahen sie dessen Ausmaße, die ihnen zuvor nicht bewusst waren. Das Licht vom Flur reichte nicht einmal bis zur Hälfte. Die vergitterten Fenster ließen nur ein paar Lichtstreifen herein, nicht ausreichend, um zu sehen, ob ihre Erkundungstour sicher genug war.
Shane ging zu einem der größeren Fenster und blickte hinaus in den Hof.
»Ist da draußen jemand?«, fragte Billy, er senkte sein Messer.
Shane schüttelte den Kopf. »Ich sehe niemanden«, sagte er. »Ich nehme mal an, dass das Haupttor immer noch zu ist. Es ist unmöglich in den Hof zu kommen, es sei denn, einer der Wärter ist da, der die Kombination kennt.«
Die Kombination wurde täglich auf automatischer Basis gewechselt, es war eine Zufallskombination von einem Computer, der in Charles Deans Büro stand. Wenn es jetzt nach Mitternacht war, von dem Shane ausging, dann wurde ziemlich sicher eine neue Kombination errechnet. Somit war jede Möglichkeit verschwunden, diese Kombination zu erfahren, außer eine der Wachen kannte sie, und konnte diese um 07:00 Uhr morgens der Wachablöse mitteilen.
»Könnte irgendwer an den Computer des Gefängnisdirektors rankommen?«, fragte Billy, er dachte an genau das gleiche wie Shane.
»Möglich«, antwortete Shane. »Aber unwahrscheinlich. Diese Dinger sind überall, und Deans Büro ist am anderen Ende des Gefängnisses, die Wachen müssten schwere Geschütze auffahren, um es zu erreichen.«
»Geschütze?«
»Genau.«
»Die Waffenkammer ist auf der anderen Seite des A-Blocks«, fügte Billy hinzu. »Sollten sie es zu den Waffen geschafft haben, könnten sie schon auf dem Weg hier raus sein.«
Leider war das wahr, Shane biss den Kiefer fest zusammen.
Neben dem Hof, der nicht als der wünschenswerteste Fluchtweg galt, gab es noch zwei weitere Eingänge in das Gefängnis. Einer war im unteren Stockwerk, wo die Wachen ihre Autos parkten, da gab es eine Tür, die direkt in die Anlage führte. Auf die Außentür folgten weitere, für jede benötigte man einen vierstelligen Code. Für die Letzte brauchte man einen Fingerabdruck. Wenn das nicht sicher war, was dann.
Die zweite Möglichkeit war noch komplizierter und beinhaltete alle Sicherheitsmaßnahmen der Ersten, plus einen Retina-Scan, ein Sicherheitscheck der Wachmänner und eine Röntgenmaschine. Dieser Ausgang befand sich im Erdgeschoss.
Es war möglich, dass überlebende Wachmänner es durch einen dieser Ausgänge geschafft hatten, allerdings durfte dann nichts anderes mehr zwischen ihnen und dem Tor stehen.
Was sehr unwahrscheinlich war.
Shane verließ seinen Posten am Fenster und ging ein paar Schritte in den Raum. Beide Männer fuhren hoch, als etwas in der Küche klirrte.
Billy hob instinktiv sein Messer. Shane griff seinen Aluminiumstab fester und fuhr mit einem Finger zu seinem Mund: »Psst.«
Die Küche, wenn diese als so etwas bezeichnet werden konnte, erreichte man durch Doppeltüren an der westlichen Seite. Sie hatte keine Fenster, durch die man sehen konnte, weil die Wachen glaubten, es wäre keine gute Idee, wenn die Gefangenen sehen konnten, wie ihr Essen zubereitet wurde.
Billy hob seine Faust an und Shane verstand sofort. Shane hob ebenfalls seine Hand. Ein Duell, Schere, Stein, Papier, folgte und Shane verlor.
»Großartig!«, flüsterte Shane. Billy machte eine Geste, die seinem Zellengenossen verriet, dass er mit seinem Gejammer auf taube Ohren stieß.
Shane näherte sich den geschlossenen Doppeltüren, die in die Küche führten, hielt jedoch an, als sie sich plötzlich öffneten.