12. Kapitel

»Also hast du doch wieder das Auto von deinem Vater bekommen«, sage ich, als wir losfahren. »Ich hab’s stibitzt. Er will nicht mehr, wenn ich es nehme. Irgendwas sagt mir, dass er es nie gemocht hat, aber er hat versucht, nett zu sein, nachdem ich aus dem ›Programm‹ zurückgekommen bin.«

Ich knete nervös meine Finger, unsicher, ob ich unsere frühere Beziehung erwähnen soll. Als mein Blick dann auf seine Hände fällt, die auf dem Lenkradkranz liegen, bemerke ich, dass er den Faden von meinem Shirt immer noch um seinen kleinen Finger gewickelt hat.

»Wohin fahren wir?«, will ich wissen.

»Da gibt es eine Stelle, die ich neulich entdeckt habe. Dort ist es … wunderschön. Ich wollte diesen Ort jemandem zeigen, aber … nun ja, ich hab keine Freunde.«

»Vielleicht liegt das an deiner überwältigenden Persönlichkeit?«

Er lacht. »Jetzt komm, Sloane. So übel bin ich doch gar nicht, oder?«

»Du bist grässlich.«

Er scheint über etwas nachzudenken, und sein Lächeln verblasst. »Ich mag nicht verletzt werden«, sagt er, während wir an Feldern und Weideflächen vorbeifahren. »Daran kann ich mich erinnern, das war schon so, als ich noch ein Kind war. Ich denke, es hat was damit zu tun, dass meine Mutter fortgegangen ist, auch wenn ich nicht weiß, warum und wie. Ich halte lieber alles auf Distanz. Weil mich dann nichts zerstören kann.«

»Aber du musst Brady an dich herangelassen haben«, sage ich ruhig. Genauso, wie er mich an sich herangelassen haben muss.

James nickt. »Und jetzt gibt es diese Freundschaft nicht mehr. Es schmerzt zu wissen, dass ich einmal etwas besessen habe, was nun nicht mehr existiert. Es ist, als hätte ich ein Loch in meiner Brust. Manchmal denke ich, dass dieser Schmerz mich umbringt.«

Ich verstehe, was er damit ausdrücken will. Diese Leere, für die es keinen Grund zu geben scheint. Etwas, was nicht wieder aufgefüllt werden kann. Ich weiß nun auch, was Realm meinte, als er gesagt hat, ein oder zwei Erinnerungen zu behalten könnte mich verrückt werden lassen.

James atmet tief durch, dann stellt er das Radio an. »Du machst den ganzen Spaß kaputt, Sloane. Das hier sollte uns beide aufheitern.«

»Du hast recht.« Ich lehne mich zurück und beobachte ihn. Ich mag den ruhigen, gelassenen Ausdruck auf seinem Gesicht. Zumal ich weiß, dass sich etwas Dunkleres darunter verbirgt. Und dass vielleicht die andere Seite dieser Dunkelheit leidenschaftliche Liebe ist.

Liebe, wie er sie einmal für mich empfunden hat.

James biegt auf eine schmale Straße ab, und wieder fallen mir die weißen Narben an seinem Arm auf. Unwillkürlich strecke ich die Hand aus, fahre mit dem Zeigefinger darüber.

James zieht hörbar den Atem ein.

»Entschuldigung«, sage ich und lasse die Hand sinken. »Ich habe mich nur gefragt, woher du sie hast.«

»Ist schon okay«, erwidert er. »Als ich zurückkam, habe ich meinen Dad gefragt. Er sagte, ich hätte dort ein hässliches Tattoo gehabt, das man mir im ›Programm‹ entfernt hat. Komisch, oder? Dass sie mir auch noch die Tinte von meinem Körper entfernen. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mir eine spezielle Botschaft für sie auf den Hintern tätowieren lassen.«

»Ziemlich drastisch, oder?«

Er lacht. »Sorry.« James schaut mich an, sein Blick wandert über mich, als würde er versuchen, aus mir schlau zu werden. »Es hat sich gut angefühlt«, sagt er. »Als du mich so berührt hast.«

Schmetterlinge flattern in meinem Bauch, aber James konzentriert sich wieder auf die Straße. Erneut strecke ich die Hand aus, meine Finger zittern leicht, als ich vorsichtig über die Narben fahre, den Linien folge.

Ich bemerke, wie sich seine Schultern lockern, wie sein Mund weich wird und er lächelt. Seine Haut ist so warm, und ich denke, dass ich es früher geliebt haben muss, ihn zu berühren. Ich beuge mich vor und hauche einen Kuss auf die Narben. Und dann richte ich mich wieder auf und blicke aus dem Seitenfenster. Mein ganzer Körper ist von Verlangen erfüllt.

»Ein kleiner Kuss, und schon ist alles wieder heil«, sage ich.

Stille herrscht, bis James schließlich antwortet: »Ja, das ist es.«

Mein Puls hat sich halbwegs beruhigt, als James unterhalb eines grasbewachsenen Hügels parkt. Er stellt den Motor aus und greift nach hinten, um eine Decke hervorzuholen.

»Hier sind wir«, sagt er und klingt zufrieden.

Ich blicke aus dem Fenster, und das Herz schlägt mir bis zum Hals.

»Stimmt was nicht?«, will James wissen.

»Es ist …« Ich versuche, gleichmäßig zu atmen, die Traurigkeit wegzuschieben. »Wir sind am Fluss«, sage ich.

»Okay, eigentlich ist es noch ein bisschen zu kühl, aber trotzdem ist es so herrlich hier«, erzählt er mir, als müsse er mich davon überzeugen. Als ob ich zum ersten Mal hier wäre.

Ich schaue ihn an, mit Tränen in den Augen. »Ich weiß. Brady hat mich immer hierher mitgenommen.«

James scheint enttäuscht und blickt auf das Handtuch, das er in den Händen hält. Ich sehe, dass er nach Erinnerungen sucht, und ich sehe auch sofort, dass er keine findet.

»Tut mir leid«, murmelt er. »Wir sollten …«

»Nein«, unterbreche ich ihn. »Ich liebe diesen Ort. Ehrlich.« Und ich meine es auch so. Wenn ich jemals einen Ort gebraucht habe, dann ist es dieser, weil ich mich hier meinem Bruder ganz nahe fühlen kann.

James scheint wieder zufrieden und steigt aus dem Auto. Er wartet auf mich, dann gehen wir gemeinsam über das Gras Richtung Ufer.

Der Fluss ist atemberaubend. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, kleine Wellen kräuseln sich um die größeren Felsen.

»Das ist noch besser als in meiner Erinnerung«, sage ich.

»Ich hatte gehofft, dass es dir gefällt.«

Ich schaue ihn von der Seite her an. »Du hast an mich gedacht?«

Er zuckt mit den Schultern, und ich frage mich, ob er das lieber nicht zugegeben hätte. Wir blicken auf das langsam dahinfließende Wasser, Vögel zwitschern in den Bäumen, die diesen Ort umschließen und ihm etwas Intimes geben. Etwas Privates.

Jahrelang bin ich immer wieder hierhergekommen, jahrelang habe ich meinen Bruder dabei beobachtet, wie er ins Wasser sprang. Er war so gern hier, und die Tatsache, dass James ebenso für diesen Ort empfindet, bestätigt mir, wie nahe sie einander waren. Dass wir alle viel Zeit zusammen verbracht haben.

James breitet die Decke aus, und ich lasse mich neben ihm nieder. Still sitzen wir da, die Arme auf die angezogenen Knie gelegt, und beobachten das Wasser.

Für einen Moment habe ich das Gefühl, als sei ich nach Hause gekommen. Nicht in mein offizielles Zuhause, das mich erstickt mit all den Lügen, die man mir aufgetischt hat. Sondern in mein wirkliches Zuhause, hier am Fluss mit James, mit den Erinnerungen an Brady. Mich überkommt das Verlangen, meinen Kopf an James’ Schulter zu lehnen, doch ich denke, es ist besser, wenn ich es nicht tue.

James rutscht hin und her, dabei stößt er gegen mich, und ich kippe zur Seite. Er murmelt eine halbherzige Entschuldigung, dann legt er sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrt hinauf in die Wolken.

Ich lege mich neben ihn, lasse den Blick schweifen und bekomme Gänsehaut von der kühlen Brise. Es ist so friedlich hier, dass ich am liebsten für immer bleiben würde.

Nach einiger Zeit gähnt James übertrieben laut. »Hey«, sagt er, »hast du Lust zu schwimmen?« Er schaut zu mir herüber, kneift die blauen Augen gegen die Sonne zusammen.

»Es ist kalt. Und außerdem kann ich nicht schwimmen.«

»Echt?«

Ich nicke.

James setzt sich auf, zieht die Beine unter sich und schaut ungläubig drein. »Das ist aber verdammt schade, Sloane. Wie alt bist du? Fünf? Zieh dich aus. Ich bring es dir bei.«

Ich lache. »Zu eins: nein. Ich habe Angst vor dem Wasser. Und zu zwei: Warum willst du wirklich, dass ich mich ausziehe?«

Er lächelt. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dich schon nicht ertrinken lassen.«

Mein Herz pocht vor Aufregung bei der Vorstellung, ins Wasser zu gehen. Und James’ Nähe trägt auch nicht dazu bei, meinen Herzschlag zu beruhigen. »Und wie war das mit dem Ausziehen? Hast du Badezeug dabei?«

»Och, das wäre nur Spaß. Ich hab dir doch Spaß versprochen, oder?«

Ich schubse ihn und lache. James steht auf, ragt über mir auf, während ich auf der Seite liege und zu ihm hochschaue.

»Komm schon«, sagt er ernsthaft. »Komm mit mir ins Wasser. Du darfst deine Klamotten auch anbehalten.«

»Und du?«

Er lacht auf. »Ich geh doch nicht angezogen ins Wasser!«

»Irgendwas sagt mir, dass du unbedingt möchtest, dass ich dich nackt sehe.«

»Vielleicht bist du beeindruckt.«

O mein Gott. James hat echt eine Begabung dafür, mich die Welt um uns herum vergessen zu lassen, mir das Gefühl zu gebe, es wäre alles ganz normal. Ich bin sicher, dass ich ihn deswegen geliebt habe. Dass es zumindest einer der Gründe war.

Obwohl es kaum sechzehn Grad sind, legt James sein Shirt ab. Seine Muskeln sind fest und gut ausgebildet. Er zieht die Hose aus, steht dann nur noch in seinen Boxershorts da und dreht die Arme wie Windmühlenflügel, als er sich dehnt.

Dann blickt er zu mir hin. »Siehst du – du bist beeindruckt.«

Ich lächele. »Ein bisschen vielleicht.«

»Brauchst du Hilfe bei deinem Shirt?«

»Nein, ich werde es anlassen. Aber ich werde gern zusehen, wie du dir den Hintern abfrierst.«

»Du bist wirklich beeindruckt«, sagt er über die Schulter, als er hinunter zum Ufer geht. Er schwimmt zu einem kleinen Bootssteg auf der anderen Flussseite, winkt mir kurz zu, nachdem er sich hinaufgezogen hat. Dann macht er einen Salto und klatscht ins Wasser – und erinnert mich damit an meinen Bruder.

Seine Sachen liegen unordentlich im Gras. Ich überlege, ob ich sie verstecken soll, sodass er in seinen nassen Boxershorts nach Hause fahren muss. James planscht herum, ruft mit zittriger Stimme, dass ihm überhaupt nicht kalt wäre. Ich nehme seine Jeans, falte sie über meinem Arm und blicke mich suchend um. Als ich losgehe, fällt etwas aus seiner Hosentasche.

Zuerst fürchte ich, es könnte etwas so Wichtiges wie seine Hausschlüssel sein, aber dann entdecke ich ein Stückchen entfernt etwas … anderes. Ich sinke auf die Knie, lasse James’ Hose fallen. Und hebe das auf, was ich beinahe verloren hätte.

Es ist ein Ring. Ein herzförmiger rosafarbener Plastikring, ganz ähnlich dem, den ich in meiner Matratze gefunden habe. James muss mir den anderen geschenkt haben, und er muss mir so viel bedeutet haben, dass ich ihn retten wollte. Nur für eine Sekunde blitzt eine Erinnerung auf, wie ich ihn in die Matratze stopfe, doch ich kann sie nicht festhalten. Ich fange an zu weinen. Ich drücke den Ring an meine Brust, klappe nach vorn, meine Wange liegt auf dem Gras.

Ich bin nicht vollständig. Mir fehlt ein riesiges Stück aus meinem Herzen, Erinnerungen an Dinge, die ich gesagt und getan haben muss, Dinge, die ich nicht zurückgewinnen kann. Aber ich will sie, ich will sie alle wiederhaben. Ich will wieder ich selbst sein.

»Sloane?« In James’ Stimme liegt Panik. Wasser tropft auf mich, bevor er sich neben mich ins Gras kniet. Er legt die Arme um mich, seine Haut ist so kalt an meiner.

»Dieser Ring«, sage ich und halte ihn ihm hin. »Woher hast du ihn?«

»Nachdem wir uns gestern Abend geschrieben hatten, bin ich zu Denny’s gegangen, um zu schmollen. Ich hab den Ring dann in einem Kaugummiautomaten entdeckt.« Er streckt die Hand aus und nimmt ihn mir weg, irgendwie besitzergreifend. »Ich hatte ein schlechtes Gewissen wegen all dem, was ich zu dir gesagt hatte, und als ich ihn sah … ich weiß nicht. Ich musste ihn einfach für dich haben.« Er mustert mich eindringlich. »Ist das albern?«

Ich schüttele den Kopf. »Nein. Du hast … ich glaube, du hast mir schon mal einen geschenkt. Einen anderen Ring.« Ich lächele, wische mir die Tränen weg. »Aber genauso kitschig.«

James zieht die Augenbrauen zusammen, während er nachdenkt, und blickt auf den Ring in seiner Hand. Dann nimmt er meinen Finger und streift mir den Ring über.

Wir sitzen beide da, blicken auf den Ring und versuchen zu entscheiden, ob er dorthin gehört. Als James und ich uns wieder ansehen, sind wir beide verwirrt, unfähig, uns daran zu erinnern, weshalb er für uns so wichtig ist.

»Darf ich etwas tun?«, fragt James, der immer noch meine Hand hält.

»Was denn?«

»Darf ich …« Er zögert. »Darf ich dich küssen, Sloane?«

Das hatte ich nicht zu hören erwartet. Ich antworte nicht gleich, und James lässt meine Hand los, rutscht näher an mich heran. Er beugt sich über mich, sein Gesicht ist meinem ganz nahe. Mein Herz rast, als ich seinen Blick erwidere. Er ist so schön.

»Bitte!«, flüstert er. »Ich wünsche es mir so sehr.«

Die Art, wie er mich ansieht, dringt mir bis ins Herz. »Ich weiß nicht«, erwidere ich, und meine Brust wird ganz eng. Dann überfluten mich meine Gefühle, und ich bin ganz schutzlos und verletzlich. James schaut mich ernst an, als ob ich ihn zurückweisen würde.

Doch dann lege ich meine Hand an seine Wange, die Hand mit dem Ring. »Einverstanden. Ja«, sage ich.

James lächelt, und dann neigt er sich noch näher zu mir, presst seine Lippen auf meine, drückt mich hinunter ins Gras, während er mich leidenschaftlich küsst. Seine Lippen sind heiß, und ich grabe meine Finger in seinen bloßen Rücken, erwidere seinen Kuss, als hätte ich James mein ganzes Leben lang vermisst. Wie er sich bewegt, wie er schmeckt – das alles ist so vertraut und dennoch … unbekannt.

Allmählich geht die Sonne unter, es wird noch kälter, doch das hält uns nicht auf. Jede Sekunde scheint eine Ewigkeit zu dauern und ist doch nicht lang genug. Und als wir schließlich völlig erschöpft sind, immer noch angezogen, bricht James laut lachend neben mir zusammen.

»Das ist das erste Mal in drei Monaten, dass ich überhaupt etwas empfunden habe«, sagt er.

»War es gut?«

»O ja. Gut und gut und gut.«

Ich gebe ihm einen Klaps. »Ich meinte deine Empfindungen. Waren sie gut?«

James bewegt sich, dreht sich so, dass ich unter ihm liege. Er bläst mir das Haar aus der Stirn. Er ist zärtlich und wehrlos, hat sich mir völlig geöffnet. Er ist nicht länger das Arschloch, für das ich ihn gehalten habe, nicht einmal annähernd. Was ich sehe, ist ein Mensch, der gebrochen ist und stark. Loyal und gestählt. Jemand, der mir bedingungslos zur Seite stehen will, genau wie ich ihm.

James lächelt, als er mit dem Finger die Linien meines Mundes nachzieht. »Ich glaube …« Er hält inne, sieht mir in die Augen, und sein Blick ist zwingend, lässt mich regungslos werden. »Ich glaube, ich liebe dich«, flüstert er. »Ist das verrückt?«

Seine Worte dringen tief in mein Herz, lassen den Schmerz in meiner Brust, der mich unablässig gequält hat, komplett verschwinden. Ich lecke mir über die Lippen und lächele: »Absolut verrückt!«

»Dann liebe ich dich wie verrückt!« Und damit beugt er sich vor und küsst mich erneut.