Die Fahrt nach Bresnach verlief problemlos. Daniel fuhr einen Teil der Strecke über die Autobahn, bevor er auf eine malerische Landstraße abbog, die ihn durch dichte Wälder führte. Schließlich lichteten sich die Bäume und machten einer weiten Ebene Platz. Die Straße brachte ihn mitten in eine moderne Kleinstadt und Daniel las überrascht auf einem Schild, dass er sich nun fast elfhundert Meter über dem Meeresboden befand. Der lang gezogene Anstieg hatte ihn getäuscht. Daniel fuhr durch ein Wintersportgebiet, von dem im Moment allerdings nur die zahlreichen Lifte zeugten, deren Stahlskelette die Hänge hinaufkletterten. Im Geschäftszentrum entdeckte Fischer eine Bushaltestelle, die neben dem Fahrplan auch einen Ortsplan bereithielt. Der Herderweg war darin eingezeichnet und nachdem er mehrfach abgebogen war, las er auch das Straßenschild. Die Hausnummer 1 war das letzte Gebäude einer Reihe von schmucken Einzelhäusern. Gepflegte Vorgärten und betonierte Hofeinfahrten säumten die Sackgasse, als Fischer parkte und langsam auf das Haus zuging.
Daniel bemerkte auf den ersten Blick, dass Nummer 1 verlassen war. Die dunkelbraun gestrichenen Fensterläden waren geschlossen. Unkraut wucherte in der Hofeinfahrt und der Rasen vor dem Haus sah aus, als wäre seit Jahren nicht gemäht worden. Obwohl der Briefkastenschlitz mit einem Klebeband zugeklebt war, stapelten sich Wurfsendungen davor, die der Regen aufgeweicht hatte.
Daniel versprach sich zwar nichts davon, aber er öffnete trotzdem das niedrige Gartentor und ging über ehemals weiße Steinplatten, die inzwischen von Moos bewachsen waren, den Weg zum Haus hinauf. Das Klingelschild war verdreckt, der Name des Eigentümers kaum noch lesbar. Daniel drückte den Klingelknopf, hörte aber nicht, ob die Glocke auch funktionierte. Zwei Minuten lang stand er unschlüssig da, dann wandte er sich ab und ging zurück zu seinem Wagen.
Er wollte gerade einsteigen, als er hinter dem Fenster eines Nachbarhauses eine Bewegung wahrnahm. Der Vorhang wurde beiseite geschoben und eine alte Frau um die Achtzig öffnete das Fenster. Sie lehnte ihren Oberköper hinaus und starrte Daniel an.
„Guten Abend“, sagte Daniel höflich.
Die Alte erwiderte seinen Gruß mit starkem bayrischen Dialekt, dann fragte sie unverblümt: „Suchen Sie jemand?“
Fischer deutete auf das Haus. „Die Familie Tepes, aber so wie es aussieht, wohnen sie nicht mehr hier.“
„Die Eltern sind schon vor Jahren gestorben. Seitdem steht das Haus leer. Eine Schande.“
„Was ist mit dem Sohn?“
Sie zuckte die Schultern. „Der ist kurz nach der Beerdigung weg. Ich habe ihn nie wieder gesehen. Komischer Kerl.“
„Warum sagen Sie das?“
„Hier in der Straße haben sich alle vor ihm gefürchtet. Er war groß wie ein Ochse und hatte keine Haare auf dem Kopf. Ich glaube, er war krank, denn man musste schon Glück haben, um ihn zu Gesicht zu bekommen.“
„Wissen Sie an welcher Krankheit er litt?“
Die Miene der Alten verkniff sich zu einem misstrauischen Ausdruck. „Warum wollen Sie das wissen?“
Daniel trat näher und zückte seinen Dienstausweis. „Ich bin von der Polizei.“
„Aha, ich wusste immer, dass mit denen etwas nicht stimmt.“
„Wie meinen Sie das?“
„Der Herr Tepes war immer sehr freundlich, wenn man ihm begegnete, aber seine Frau hat man nie gesehen. Nicht einmal beim Einkaufen. Und der Sohn, wie gesagt, der war etwas unheimlich.“
„Ist er jemals auffällig geworden oder hat er Schwierigkeiten mit der Polizei gehabt?“
„Nein, nein, so war er auch wieder nicht. Es war seine Art zu gehen, die hatte etwas Bedrohliches. Tagsüber hat man ihn kaum gesehen, aber im Dorf erzählte man sich, dass er nachts um die Häuser schlich.“
„Wissen Sie wo er hingezogen ist?“
Die Frau schüttelte energisch den Kopf. „Nein, und ehrlich gesagt, will ich es auch nicht wissen. Alle hier in der Straße sind froh, dass er weg ist.“
„Gibt es jemanden, der mir vielleicht weiterhelfen kann?“, fragte Daniel.
Wieder das Kopfschütteln. „Niemand hatte zu den Leuten Kontakt. Ich bin eine alte Frau und habe nicht viel zu tun, deswegen habe ich die Tepes’ manchmal gesehen. Ich meine ihn und den Sohn, sie hat das Haus nie verlassen, aber die Nachbarn hier... Nein, von denen kann ihnen keiner etwas sagen.“
„Sie haben gesagt, sie glauben, der Sohn wäre krank gewesen.“
„Ja, er sah nicht gut aus. Bleich und mit so merkwürdigen Narben um die Augen herum.“ Ihre Stirn legte sich in Falten. „Auch sein Mund und seine Nase sahen seltsam aus. Krustig, als würde er ständig daran herumkratzen.“
Fischer dachte er nach. Alles passte. Inzwischen waren auch die letzten Zweifel ausgeräumt. Er hatte Adam gefunden. Die Beobachtungen der Alten bestätigten es ohne Wenn und Aber. Zwar wusste er nun, wo Adam gelebt hatte, aber er hatte keinen Hinweis darauf bekommen, wo er sich jetzt aufhielt oder sich in den letzten Jahren aufgehalten hatte.
Sein Blick wanderte zurück zum Haus mit der Nummer ‚1’. Dort drin konnten sich Informationen befinden, die ihm weiterhelfen würden. Jetzt am Tag einzudringen, würde er nur für Aufsehen sorgen. Allein sein Auftauchen in dieser ruhigen Gegend und sein verunstaltetes Äußere würden für Gesprächsstoff sorgen, da kam es nicht in Frage, sich am helllichten Tag mit einem Brecheisen bewaffnet die Tür vorzunehmen oder ein Kellerfenster einzuschlagen. Er würde in der Nacht wiederkommen.
„Was ist denn mit Ihnen passiert?“, fragte die alte Frau. Ihr knorriger Finger deutete in sein Gesicht.
„Ein Unfall.“
„Mit dem Auto?“
„Ja.“
„Mein Schwager, Gott hab ihn selig, ist nach dem Krieg mit seinem Arm in eine Druckerpresse geraten. War auch kein schöner Anblick. Sie mussten ihm den Arm abnehmen. Wollen Sie vielleicht einen Kaffee, ich habe gerade einen frisch aufgebrüht.“
„Danke, aber ich muss jetzt leider gehen.“
„Ja, alle sind heute im Stress. Wir haben früher auch hart gearbeitet, aber Stress kannten wir nicht.“
„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“
„Schon recht.“
Als Daniel in sein Auto stieg, winkte ihm die Alte zu. Er winkte zurück.
Fischer hielt am Stadtrand und überdachte seine nächsten Schritte. Es war jetzt kurz nach 18.00 Uhr. Vor Mitternacht brauchte er keinen Gedanken daran zu verschwenden, in das Haus einzubrechen. Ihm blieben also mindestens noch sechs Stunden Zeit, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte.
Da er nicht wusste, ob seine Suche im Haus der Tepes’ etwas bringen würde, entschloss er sich die Strecke zurückzufahren und sein Glück in Kleinwestdorf, Adams Geburtsstadt, zu versuchen. Vielleicht würde er dort etwas erfahren, das ihm weiterhalf.
16. Zwei Menschen.
Kleinwestdorf entsprach in seiner Erscheinung seinem malerischen Namen. Es war ein winziges Dorf inmitten von weiten Feldern und Obstbaumhainen. Hier schien die Zeit stillzustehen und die Geschichte des Landes schwang im Geruch der feuchten Erde mit. Daniel fuhr ziellos durch den Ort, ohne zu wissen, wo er mit seiner Suche beginnen sollte. Er hatte keinerlei Hinweise darauf, wo die Tepes vor so langer Zeit gewohnt hatten.
Sein Magen knurrte vernehmlich und erinnerte ihn daran, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Es gab nur einen Gasthof im Ort. „Schwarzes Lamm“ stand in verblassten, auf die Wand gemalten Buchstaben über dem Eingang. Merkwürdiger Name, dachte Daniel und betrat eine düstere Schankstube mit lang gestreckter Theke. Die Holzdielen knarrten unter seinen Füßen, als er sich einen Weg durch eng gestellte Tische und Stühle suchte und am Fenster Platz nahm. Es waren nur wenige Gäste anwesend. Drei Männer an einem runden Tisch auf dem ein kleiner Wimpel mit dem Schriftzug „Stammtisch“ stand. In einer Ecke des Raumes saß ein Ehepaar in mittleren Jahren und verzehrte schweigend ihre Mahlzeit. Das Ehepaar beachtete ihn nicht, aber die Männer, Einheimische mit blauen Latzhosen und Arbeitsjacken, schweren Gummistiefeln an den Füßen und teilweise altmodischen Hüten auf dem Kopf, sahen ihn neugierig an, bevor sie sich abwandten und leise ihre Unterhaltung wieder aufnahmen.
Die Küchentür hinter Theke öffnete sich und eine stämmige Frau Anfang Dreißig mit pausbäckigen Gesicht trat in den Gastraum. Als sie auf Daniel zukam, folgte ihr der Geruch von gebratenem Fleisch.
„Guten Abend“, murmelte sie. „Was möchten Sie haben?“
„Ein Bier und die Speisekarte.“
„Wir haben nur Tagesessen.“
„Was gibt es?“
„Hirschbraten mit Rotkohl und Knödeln.“
„Dann nehme ich den. Danke.“
Die Frau wirkte nicht sonderlich begeistert, bei dem Gedanken zurück in die Küche zu müssen. Sie wandte sich mit missmutigem Gesichtsausdruck ab, brachte aber zügig sein Bier. Die Einheimischen sahen herüber und Daniel hob grüßend sein Bier. Der Gruß wurde von den drei Männern freundlich erwidert.
Zehn Minuten später stand sein Essen auf dem Tisch. Heißhungrig machte sich Daniel über die großzügige Portion her. Das Gericht war einfach, aber schmackhaft. Nachdem Daniel seine Mahlzeit beendete, fühlte er sich satt und zufrieden. Die Bedienung kehrte an seinen Tisch zurück.
„Hat es geschmeckt?“
„Danke, sehr gut.“
„Möchten Sie noch etwas bestellen?“
„Ja.“ Daniel dachte kurz nach. „Bringen Sie mit bitte noch ein Bier und den Männern dort drüben eine Runde Obstler auf meine Rechnung.“
Die Frau verschwand hinter der Theke und stellte kurz darauf sein Bier vor ihm ab. Danach brachte sie drei gefüllte Schnapsgläser zum Stammtisch. Daniel sah, wie sie erklärte, wer der Spender sei. Die Männer wandten sich zu ihm um und winkten ihn zu ihrem Tisch heran. Fischer nahm sein Glas und ging hinüber.
„Guten Abend“, sagte er, als einer der Männer einen Stuhl zurechtrückte und ihm einen Platz anbot. Die Bauern hoben ihre Gläser und stießen mit Fischer an. Sie hatten früh gealterte, aber freundliche Gesichter, deren natürliche Bräune von einem Leben in der freien Natur zeugte. Alle drei waren Ende Fünfzig oder Anfang Sechzig und sahen sich so ähnlich, dass sie durchaus Brüder sein konnten. Gedrungener Körperbau mit breiten Schultern, graue Haare, die nun ins Weiß übergingen und schwielige Hände.
„Mein Name ist Eberhard Traut“, stellte sich der Mann links von Daniel vor. „Das sind Hermann und Willy Lautenschlager.“
Daniel reichte jedem die Hand. „Daniel Fischer.“
„Was treibt Sie in die Gegend?“, wollte Eberhard wissen. Seine kleinen, klugen Augen forschten in Fischers Gesicht, aber er sprach ihn nicht auf die Entstellungen an.
Daniel entschied sich, es mit der Wahrheit zu probieren. Hier auf dem Land zählte die Polizei noch etwas und er konnte sich nicht vorstellen, dass einer der Anwesenden in Lichtenfels anrief, um die Rechtmäßigkeit seiner Fahndung zu überprüfen.
Fischer zückte seinen Dienstausweis und legte ihn offen vor sich auf den Tisch. „Ich suche einen Mann. Einen Kriminellen namens Adam Tepes.“
Schweigen. Dann sagte Eberhard: „Den Mann kenne ich nicht, aber der Name sagt mir etwas.“
„Tepes?“ fragte Willy Lautenschlager in die Runde. „Haben die nicht auf dem Maurerhof gewohnt, bevor sie weggezogen sind?“
Sein Bruder Hermann nickte. „Die kamen kurz nach dem Krieg. Ich glaube aus Siebenbürgen. Haben immer so ein komisches Deutsch gesprochen, so eine Art gedehnter Singsang.“ Er imitierte die Sprechweise. „Er hat in der Stadt in einer Maschinenfabrik gearbeitet und sie hat den Hof geführt. Nette Leute, aber früh gestorben.“
Offensichtlich sprachen die Männer von Adams Großeltern. „Was ist mit Nikolai Tepes?“
„War hier auf der Grundschule im Dorf, später bestimmt auf dem Gymnasium in der Stadt.“
„Und Sie?“
„Das Mädchen hatte irgendeine Krankheit, lief selbst im Sommer total dick eingepackt herum und trug ein Tuch vor dem Gesicht. Sie sind weggezogen, nachdem ihre Eltern gestorben sind. Es hieß, sie wäre schwanger gewesen und hätte ein Kind bekommen, aber genaues weiß man nicht.“
„Ihre Eltern?“, wiederholte Daniel. „Das verstehe ich nicht. Ich dachte, es waren seine Eltern. Wann haben die beiden eigentlich geheiratet?“
Verblüffung stand auf den Gesichtern geschrieben.
„Geheiratet?“, echote Eberhard. „Quatsch, das waren doch Geschwister.“
Daniel fühlte sich vor den Kopf geschlagen. Es war da gewesen, hatte die ganze Zeit vor seinen Augen gelegen und er hatte es nicht wahrgenommen.
Nikolai und Irina waren Bruder und Schwester. Er zog den Computerausdruck aus seiner Jackentasche. Da stand es schwarz auf weiß. Beide hatten den gleichen Geburtsort in Rumänien und er hatte geglaubt, da hätten zwei Menschen geheiratet, die aus der alten Heimat stammten, wie es bei Spätaussiedlern so oft der Fall war. Russendeutsche heirateten Russendeutsche. Deutschpolen ehelichten andere Deutschpolen.
Der entscheidende Hinweis war der fehlende Geburtsname von Irina Tepes, denn ihr Geburtsname war Tepes. So einfach war das.
Und was hatte er im Internet über ihre Krankheit gelesen?
Porphyria erythropoetica congenita war ein erbliche Krankheit, die fast nur bei Verwandtenehen auftrat. Es war so simpel, dass es schon fast zum Schreien war. Adam war das Kind einer inzestuösen Beziehung. Wahrscheinlich hatten die beiden auch nie geheiratet. Wozu auch? Sie trugen den gleichen Familiennamen und jedermann würde davon ausgehen, dass sie Mann und Frau waren. Nun ergab auch die Tatsache einen Sinn, warum Nikolai und Irina kurz nach Adams Geburt fortgezogen waren. Sie wussten, früher oder später würde die Frage nach dem Vater des Kindes gestellt werden. Da es auf diese Frage keine Antwort geben konnte, würden Gerüchte den Lauf machen. Die Tepes’ waren fortgegangen, bevor es soweit kommen konnte. In Bresnach hatte sich niemand gewundert. Jedermann hatte von Anfang an gedacht, die beiden wären rechtmäßige Eheleute. Wer käme schon auf die Idee zu denken, bei dieser etwas seltsamen Familie könne es sich um Geschwister mit einem heimlichen Kind handeln?
Aus diesem Grund tauchte auch Adams Name in keiner der Fachkliniken für Porphyria erythropoetica congenita auf. Wahrscheinlich wären Fragen zu seiner Abstammung aufgekommen.
Daniel kam ein neuer Gedanke.
„Es hieß, Irina Tepes habe ein Kind bekommen. Hatte sie vielleicht eine Hausgeburt? Gibt es im Dorf oder in der Nähe einen Arzt, der ihr bei der Niederkunft geholfen haben könnte?“
Alle drei schüttelten synchron den Kopf. „Es gab früher eine Hebamme im Nachbardorf, aber die ist schon vor Jahren gestorben. Ich glaube nicht, dass sie etwas von der Geburt eines Kindes wusste. So etwas hätte schnell die Runde gemacht.“
„Woher kommen dann die Gerüchte um das Kind?“
Hermann Lautenschlager zuckte mit den Schultern. „Wie entstehen Gerüchte? Niemand weiß es.“
„Wissen Sie vielleicht, was Irina und Nikolai beruflich machten?“
Erneutes Stirnrunzeln. „Ich hörte mal, er studiere Chemie, aber was sie gemacht hat, weiß ich nicht“, meinte Willy Lautenschlager. Die beiden anderen Männer wussten es ebenfalls nicht.
Daniel winkte der Wirtin und bestellte noch eine Runde Obstler. Dann bezahlte er die Rechung und bedankte sich bei den Einheimischen für ihre Hilfe.
„Was hat dieser Adam Tepes eigentlich verbrochen?“, fragte Eberhard Traut.
Daniel steckte seinen Dienstausweis und den Computerausdruck weg.
„Er ist ein Mörder.“
17. Ein versteckter Teich im Mondlicht
Das Haus lag im Schatten der Bäume, die der fahle Mond warf. Daniel hatte das Gefühl von gläsernen Augen beobachtet zu werden, als er an den trüben Fensterscheiben vorbei zur Rückwand des Hauses schlich. Es war jetzt weit nach Mitternacht und die Straße lag still und verlassen da. In den Wohnstuben brannte kein Licht mehr. Ein normaler Wochentag, an dem die Leute früh zu Bett gingen, da am Morgen der nächste Arbeitstag wartete. Fischer konnte es nur recht sein. Die Sache war auch so heikel genug. Jederzeit konnte ein Spätheimkehrer auftauchen und ihn dabei überraschen, wie er in das Haus der Tepes’ einbrach.
Das hohe Gras raschelte leise unter seinen Füßen, als er sich seinen Weg entlang der Hauswand ertastete. Er wagte nicht, die mitgebrachte Taschenlampe einzuschalten und konnte nur hoffen, dass niemand einen alten Rechen liegen lassen oder ein Loch ausgehoben hatte, von dem er nichts wusste. Das helle Fiepen einer Maus ließ ihn kurz erschrocken innehalten, aber als sich sein Herzschlag nach wenigen Augenblicken beruhigt hatte, huschte er weiter am grauen Stein entlang.
Hinter dem Haus führte eine düstere Treppe hinab zu einem verschlossenen Kellerraum. Daniel verfehlte im Dunklen die letzte Stufe und rutschte ab. Sein Kopf knallte gegen die verwitterte Haustür und ein dumpfes „Klonk“ erklang durch die Nacht. Stumm fluchend rappelte er sich schnell wieder aus und lauschte. Nichts. Kein Geräusch.
Hier unten im Schutz der Mauer schaltete er die Taschenlampe ein und betrachtete das verdreckte und verrostete Metallschloss, das die Tür sicherte. Fischer zog einen massiven Schraubenzieher aus der hinteren Hosentasche und begann das Schloss auszuhebeln. Nicht lange und die Tür schwang mit einem seufzenden Ächzen auf. Ermutigt durch sein rasches Eindringen, schloss Daniel die Tür hinter sich und hastete die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. Oben angekommen musste er feststellen, dass es auch hier eine verriegelte Tür gab. Fünfzehn Minuten mühte er sich mit dem Schraubenzieher ab, aber das Schloss gab nicht nach. Im Schein der Lampe begutachtete er das massive Holz und kam zu der Erkenntnis, dass er hier seine Zeit verschwendete. Die Tür würde nicht nachgeben.
Fischer blieb nichts anderes übrig, als wieder hinaus ins Freie zu schlüpfen, um eines der Fenster einzuschlagen. Er zog seine Jacke aus, wickelte sie um seine Faust und durchstieß die Glasscheibe kurz oberhalb des Fenstergriffes. Obwohl das Zersplittern der Scheibe durch die dicke Jacke gedämpft wurde, hatte Daniel das Gefühl, man müsse den Lärm im ganzen Ort hören. Er kauerte sich in den Schatten des Hauses und beobachtete die Umgebung. Alles blieb ruhig. Der Herdweg lag wie zuvor verlassen und ausgestorben da.
Okay, dachte er. Dann nichts wie rein.
Er schob seine Hand durch das Loch in der Scheibe und drückte den Fensterriegel herunter. Danach zog er sich mit beiden Händen am Rahmen festhaltend in das Haus hinein.
Als erstes fiel Daniel der seltsam modrige Geruch des Hauses auf, der sich schwer auf seine Zunge legte und seinen Mund austrocknete. Hier war seit Jahren nicht mehr gelüftet worden. Es roch nach vergilbten Papier und etwas Undefinierbaren. Daniel legte seine Jacke über den Arm und schirmte so einen Teil des Lichtstrahles seiner Taschenlampe ab. Wie ein goldener Finger durchteilte das Licht die Dunkelheit und ließ den aufgewirbelten Staub in seinem Schein tanzen. Fischer blickte sich um. Offensichtlich war er im Esszimmer gelandet, denn ein großer, runder Tisch mit darum gruppierten Stühlen versperrten ihm den Weg. An der linken Seite des Raumes stand ein hoher, alter Küchenschrank aus Nussbaumholz und wirkte wie ein vergessener Wächter aus alter Zeit. Das Zimmer war komplett eingerichtet mit einem fasrigen Teppich, kleinen Regalen an der Wand, in denen sich das Geschirr stapelte. Wäre es nicht so still hier drin gewesen und hätte der Staub nicht in seiner Nase gekitzelt, konnte man glauben, die Bewohner hätten sich lediglich zu Bett begeben und würden am nächsten Morgen an diesem alten Tisch ihr Frühstück einnehmen.
Daniel überraschte dieser Umstand. Er hatte erwartet, das Haus ausgeräumt vorzufinden. Umso besser, das erhöhte seine Chance, eine Spur oder einen Hinweis auf Adams Aufenthaltsort zu finden.
Fischer ließ noch einmal den Lichtstrahl durch den Raum gleiten, dann machte er sich systematisch daran, das Haus abzusuchen. Eine Stunde später hatte er alle sechs Räume intensiv erforscht, war aber nicht fündig geworden. Zwar befanden sich alle Möbel an den vorgesehenen Plätzen und die Kleider hingen ordentlich aufgereiht in den Schränken, aber nirgends gab es Fotografien oder Schriftstücke. Daniel hatte sämtliche Schränke durchwühlt, alle Schubladen geöffnet. Nichts. Kein Fetzen Papier.
Das kann nicht sein, dachte er. Irgendwo muss das Zeug sein.
Niemand hinterließ ein Haus in diesem Zustand, sorgte aber dafür, dass es nichts Schriftliches zu finden gab.
Wo haben sie es versteckt?, grübelte er. Wo würde ich so etwas verstecken?
Er ging ins Wohnzimmer zurück. Der Raum war weitläufig mit einem altmodischen vergitterten Kamin und wuchtigen Möbeln, denen man ansah, dass es den Bewohnern in erster Linie um Bequemlichkeit und nicht um einen Platz in ‚Schöner Wohnen’ gegangen war. Am hinteren Ende des Zimmers stand ein wurmstichiger Sekretär, der mindestens einhundert Jahre alt war, aber den hatte Fischer bereits aufgebrochen und nichts entdeckt.
Hier! Es war hier in diesem Raum. Daniel konnte es spüren. Aber wo?
Er kroch in den Kamin hinein und leuchtete auf dem Rücken liegend die Ziegelwand hinauf. Nichts. Danach verschob er sämtliche Möbel im Raum, tastete sie auf geheime Verstecke oder verdächtige Wölbungen ab. Auch nichts. Er wollte sich gerade den Teppich vornehmen und ihn aufrollen, als eines der Tischbeine beim Verrücken des Tisches aus seiner Verankerung fiel und der ganze Tisch zur Seite kippte. Es gelang ihm noch, den Fall zu verlangsamen, trotzdem hallte ein donnerndes Geräusch durch das Haus.
Na prima, dachte er. Warum rufst du nicht gleich selbst die Polizei an, du Idiot. Dann fiel sein Blick auf das am Boden liegende Tischbein und er vergaß jeden Gedanken daran, jemand könnte ihn gehört haben. Langsam bückte er sich hinunter.
Das runde, gedrechselte Tischbein war innen hohl. Mit zitternden Fingern zog er ein Bündel aufgerollter Papiere heraus, die jemand in einen Gefrierbeutel gepackt und verschweißt hatte. Er riss die Plastikfolie auf und breitete den Inhalt vor sich aus. Mehrere Papierseiten, dünn wie Luftpostpapier lagen vor ihm und rollten sich sofort wieder zusammen, sobald er die Finger von den Ecken nahm. Es waren ungefähr zehn Seiten, beschrieben mit einer fast künstlerisch anmutenden, sorgfältigen Schrift. Schon nach den ersten Worten wusste Daniel, dass er genau das gefunden hatte, wonach er gesucht hatte.
Die Worte waren von Nikolai Tepes an Adam gerichtet, denn der Brief begann mit den Worten „Mein lieber Sohn“.
Fischer blätterte kurz durch die Seiten ohne zu lesen, als eine vergilbte Schwarz-Weiß-Fotografie zwischen den Blättern heraus fiel. Zögernd hob Daniel das Bild auf und betrachtete es im Schein der Taschenlampe. Zwei Menschen waren darauf zu sehen. Es waren Porträtaufnahmen, die nur die Gesichter und einen Teil des Oberkörpers abbildeten. Mann und Frau. Nikolai und Irina Tepes.
Adams Vater war ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen gewesen, die aus dunklen Höhlen zu leuchten schienen. Sein Mund war schmal und verkniffen, so als bemühe er sich, Worte am Verlassen seiner Lippen zu hindern. Es war das Gesicht eines Fanatikers.
Als Daniel die Frau betrachtete, setzte sein Herz für zwei Schläge aus. Vor ihm lag das perfekte Ebenbild seiner Exfrau Sarah. Die gleichen schmalen Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen. Volle Lippen, die zum Küssen aufzufordern schienen. Dunkle Augen, sanft und weich wie ein versteckter Teich im Mondlicht. Adams Mutter trug das Haar kürzer, aber ansonsten war die Ähnlichkeit verblüffend. Die Frau auf dem Bild war etwas älter als Sarah und ihre Züge wirkten durch ihre aufzehrende Krankheit verhärtet, aber sie war von ebensolcher strahlenden Schönheit wie seine Exfrau. Das gleiche versteckte Lächeln spielte um ihren Mund, so als wüsste sie etwas, da sonst niemand weiß. Wäre er nicht der Überzeugung gewesen, dass es unmöglich war, hätte Daniel gedacht, eine Fotografie von Sarah mit einem fremden Mann in der Hand zu halten.
Nun verstand er auch Adams Reaktion, als er damals Sarahs Bild in seiner Brieftasche gefunden hatte. Adam musste das Gefühl gehabt haben, seine Mutter wäre von den Toten auferstanden und führe nun ein anderes Leben.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Befand sich Sarah in Gefahr? Wer konnte ahnen, was dieses Erlebnis bei Adam ausgelöst hatte? Andererseits war Adam seit fast zwei Jahren spurlos verschwunden. Wenn er irgendwelche Pläne Sarah betreffend gehabt hätte, wären diese längst ausgeführt worden. Nein, Adam war auf der Flucht. Er hatte ganz andere Sorgen.
Daniel schob die Fotografie in seine Jackentasche und faltete die Papiere sorgfältig, bevor er sie ebenfalls in der Jacke verschwinden ließ.
Es war Zeit zu gehen.
Die drei Männer waren nicht mehr als schemenhafte Schatten, als sie aus der Erde krochen und über verlassene Gleise zum stillgelegten Bahnhofsgebäude huschten.
Ihr Anführer war ein Mann Ende Zwanzig, dessen Augen von übermäßigen Drogenkonsum gerötet waren. Aber er und die anderen bewegten sich sicher auf diesem Terrain. Sie waren schon oft hier gewesen, um Drogendeals abzuwickeln und um Waffen und Vorräte von Junkies gegen reines Heroin einzutauschen.
Diesmal war es anders. Seit Monaten hatten sie die Höhlen nicht mehr verlassen und die kühle Nachtluft ließ sie frösteln. Ein fahler Mond stand am Himmel, in seinem bleichen Licht erkannte der Anführer, dass seine Kleidung nur noch aus Lumpen bestand, die von einem verschlissenen Gürtel an seinem ausgemergelten Körper festgehalten wurden. Einen Moment lang dachte er an sein früheres Leben, bevor er Adam begegnet war. Er dachte an den Job, den er gehabt hatte und an die Freunde, die nun keine Freunde mehr waren. Die Drogen hatten sein Dasein zerstört und obwohl er sich dessen bewusst war, fühlte er keine Reue. Adam hatte ihm ein anderes Leben geschenkt und bald, sehr bald würde er an der unvergleichlichen Macht seines Führers teilhaben, aber zuerst musste er noch einen Auftrag ausführen.
Bringt mir die Frau, hatte Adam befohlen.
Nie wäre es dem Anführer der kleinen Gruppe in den Sinn gekommen, Adams Befehle in Frage zu stellen und so waren er und seine beiden Begleiter an die Oberfläche gestiegen, um den Wunsch ihres Herren zu erfüllen, auch wenn dieser Wunsch für sie mit großer Gefahr verbunden war.
„Wo müssen wir hin?“, raunte der kleine Mann an seiner Seite.
Der Anführer orientierte sich kurz, dann wies er in Richtung der Hauptstrasse die nach Lichtenfels führte.
„Dort entlang.“
Und ihre Körper wurden wieder zu Schatten.
18. Zeichen aus der Vergangenheit
Daniel saß auf dem Boden in seinem Wohnzimmer. Die Fotografie der Geschwister Tepes’ hatte er zur Seite gelegt. In seinen Händen hielt er den Brief den Nikolai Tepes an Adam geschrieben hatte. Es war jetzt fast 4.00 Uhr morgens und noch herrschte die Nacht, doch ein fahler Lichtschein am Horizont verriet, dass der Morgen nicht mehr fern war. Daniel zog die Stehlampe näher zu sich heran und las.
Mein lieber Sohn,
ich schreibe Dir diesen Brief, um ein Vermächtnis an Dich weiterzugeben. Du bist noch sehr klein, aber ich schreibe dies, damit, sollte mir oder Deiner Mutter etwas geschehen, Du trotzdem erfährst, aus welch mächtigem Geschlecht Du entstammst.
Aber es sind nicht nur meine Worte, die Du hören sollst, es sind auch die Worte aus einer vergangenen Zeit, als unsere Vorfahren noch die Fürsten der Walachei waren. Es sind die Aufzeichnungen von Vlad III., den man später auch Draculea „Sohn des Drachen“ nannte und ihm den Namen „Tepes“ gab, was soviel wie „Der Pfähler“ bedeutet. Aus Furcht vor unseren alten Feinden haben wir den Namen Dracul abgelegt, aber auch unser jetziger Name ist ein Zeichen einstiger Größe.
Du bist der alten Sprache noch nicht mächtig und würde Deiner Mutter oder mir etwas geschehen, wären die Zeichen aus der Vergangenheit für immer verloren. Aus diesem Grund habe ich die Aufzeichnungen Vlad III. für Dich ins Deutsche übersetzt. Das Original befindet sich an einem sicheren Ort, es wird in Deine Hände übergehen, sobald Du bereit bist, Dein Erbe anzutreten. Verstecke es sehr sorgfältig, denn wir haben viele Feinde, auch heute noch. Traue keinem Menschen, es sei denn, Du hast ihn zu Deinem Diener gemacht. Verachte das Leben und diene dem Tod, denn in Dir wird unsere alte Rasse wiedergeboren und zu neuer Größe entstehen. Wir haben so lange auf Dich gewartet.
Lieber Adam, die Aufzeichnungen Deines berühmten Vorfahren enden, ohne dass sie berichten, was mit Vlad Dracul weiter geschah. Also will ich dir den Rest der Geschichte erzählen, so wie sie mir mein Vater erzählt hat.
Vlad Dracul galt als unsterblich. Man sprach davon, er besitze die Macht, den Menschen seinen Willen aufzuzwingen und sie zu willigen Sklaven zu machen. Die Wahrheit kann ich nicht ermessen, aber ich will Dir sagen, was ich weiß.
Vlad floh im Jahr 1505 aus Paris nach Nürnberg, um im Schoß des Drachenordens neue Kraft im Kampf gegen seine Feinde zu schöpfen. Aber seine alten Freunde fürchteten ihn zu sehr und der mächtige Arm seiner Feinde reichte bis in die Reichsstadt. Vlad Dracul wurde verraten.
In der düsteren Nacht des 26. Juli 1505 ergriffen sie ihn und brachten ihn nach Lichtenfels. Hier in den unterirdischen Katakomben und Höhlen sollte seine letzte Wohnstatt sein. Da Vlad seinen Häschern gedroht hatte, sie würden ihn bei seinem Tod in die Hölle begleiten, kamen die Verräter auf die Idee ihn bei lebendigem Leibe einzumauern. Tief unter der Erde, an einem geheimen Ort, den niemand kennt, ruht er nun und wartet auf seine Rückkehr. All dies wissen wir von einem der Verräter, der unserem Clan in die Hände gefallen ist. Er war es, der die Aufzeichnungen des Fürsten bei sich trug und sie vernichten sollte. Zwar war er bei der Einmauerung nicht anwesend gewesen, aber er konnte uns wenigstens die Lage des Ortes berichten. Dies alles verriet er uns nicht freiwillig, aber unser Fürst hat uns gelehrt, dass Schmerz und Angst jeden Menschen zum Sprechen bringen.
Seit Jahrhunderten warten wir darauf, dass ein Draculea mit den alten Fähigkeiten geboren wird. Du bist dieser Stern an unserem Himmel. Ein direkter Nachfahre des Sohnes Minhea von Vlad III. All die Jahrzehnte wurden uns stets ein Sohn und eine Tochter geschenkt, die einander zugetan waren und neue Kinder zeugten, aber stets wiesen nur die weiblichen Mitglieder unseres Geschlechts die körperlichen Merkmale auf, die Macht und ein ewiges Leben versprechen. Diese Eigenschaften nutzen dem fraulichen Körper nicht, da er jeden Monat Blut verliert und somit nicht in der Lage ist, das Blut unserer Sklaven zur Steigerung der eigenen Kraft zu verwenden. Du bist nun der erste männliche Nachkomme seit fünfhundert Jahren, dem dieses Geschenk zuteil wurde und nun wird sich auch die alte Prophezeiung erfüllen, denn Vlad III., genannt „Tepes“ der Pfähler, versprach nach fünfhundert Jahren wiederzukehren und unser Volk zu neuer Größe zu führen.
Du bist noch jung und die Aufgabe, die vor Dir liegt ist gewaltig, denn Du musst Vlad den Pfähler aus seinem geheimen Grab befreien. Vereine Dich mit ihm, schenke ihm Deinen kraftvollen Körper als Gefäß für seinen unsterblichen Geist und Du wirst ewig leben.
Aber hüte für Dich vor unseren Feinden. Schenke keinem Menschen Dein Vertrauen, nicht einmal den Männern und Frauen unseres Clans, denn sie sind nicht mehr als Diener, die Dich verraten werden, sollte die Belohnung nur groß genug sein. Töte jeden, der sich Dir in den Weg stellt. Trinke das Blut Deiner Feinde.
Denn Du bist der Herrscher der Nacht.
Nikolai Tepes
Der morgendliche Sonnenschein fiel hell durch die Fenster und schuf ein goldenes Muster auf den Boden, aber Daniel sah es nicht. Er hielt noch immer die dünnen Papierseiten in seinen zitternden Händen und starrte auf die zierliche, krakelige Schrift. Er hatte den Brief des Vaters an seinen Sohn und Vlad Draculs eigene Aufzeichnungen gelesen und es war ungeheuerlich. Er konnte nicht ermessen, wie viel davon der Wahrheit entsprach und wie viel dem kranken Gehirn eines Mannes entstammte, der mit seiner Schwester ein Kind gezeugt hatte.
Offensichtlich glaubte Nikolai Tepes, ein direkter Nachfahre von Fürst Dracula zu sein. Daniel wusste, dass der fiktive Dracula von Bram Stoker auf der Figur des historischen Fürsten der Walachei beruhte, aber er hatte keine Ahnung, ob der Mann wirklich Tepes hieß.
Alles ergab nun einen Sinn. Unabhängig davon, ob sich Nikolai Tepes etwas zusammengesponnen hatte oder nicht, Daniel verstand nun, was Adam antrieb.
Adam hieß mit Familiennamen Tepes, offensichtlich der Name des historischen Dracula. Seine Familie stammte aus Transsylvanien. Der Geburtsort seiner Eltern lag in einem Gebiet, von dem man annehmen konnte, der historische Dracula habe darüber geherrscht. Adam litt unter einer seltenen Krankheit, die man mit Vampirismus in Verbindung brachte, denn er war extrem lichtempfindlich und hatte blutrote Zähne. Merkwürdige Tätowierung verzierten seine Körper. Daniel konnte sich gut daran erinnern, dass er ein solch kompliziertes, verschlungenes Muster noch nie gesehen hatte.
Aber alles entscheidend war die alte Prophezeiung. Die Reichsstadt Nürnberg, der Ort an dem Vlad II. in den Drachenorden aufgenommen worden war und seinen Namen Dracul erhalten hatte, lag nur wenige Kilometer entfernt. In der Legende, die Nikolai Tepes erzählte, wurden davon gesprochen, dass man Draculea in den unterirdischen Höhlen Lichtenfels lebendig eingemauert hatte. Die damit einhergehende Prophezeiung besagte, Dracula würde nach fünfhundert Jahren seinem Grab entsteigen, um erneut über die Menschen zu herrschen. Diese fünfhundert Jahre waren nun vorüber.
Daniel blätterte in den Papieren zurück. Im Jahr 1505 war Vlad III. nach Nürnberg gekommen und am 26. Juli 1505 nach Lichtenfels gebracht worden.
Daniel schluckte schwer, als ihm die Bedeutung von Adams Treiben in Lichtenfels klar wurde. Der Mann war mehr als nur ein simpler Drogenhändler und Mörder. Adam glaubte sich auf einer Mission. Er war unter die Erde der Stadt Lichtenfels gegangen, um seinen seit fünfhundert Jahren verschollenen Vorfahren zu suchen. Dieser Mann mochte ein Wahnsinniger sein, aber er hatte einen Plan. Und was immer ihn antrieb, er würde nicht aufgeben, bevor er gefunden hatte, was er suchte oder starb. Als sich Daniel das heutige Datum in Erinnerung rief, erschauerte er. Ihm blieben nur noch acht Tage, bis die prophezeiten fünfhundert Jahre vergangen sein würden.
Daniel wusste nun, wo er Adam finden würde.
Adam war noch immer hier. Unter der Stadt. In finsteren Höhlen wartete er auf diesen ganz bestimmten Tag. Es spielte keine Rolle, dass Adam komplett irrsinnig war, denn die Toten fragen nicht nach den Motiven ihrer Mörder.
Und eines war sicher. Adam würde weiter töten.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen.
Paris, im Jahre des Herrn 1498
Ich bin das Licht und die Dunkelheit, der Anfang und das Ende. Dies ist meine Geschichte.
Ich wurde im Jahre des Herrn 1431 in Sighisoara in Transsilvanien als zweiter Sohn Vlad II. geboren. Mein Vater lebte damals im Exil, aber zum Zeitpunkt meiner Geburt wurde er von König Sigismund II. beim Nürnberger Reichstag mit anderen Adligen in die erste Klasse des Drachenordens erhoben und durfte fortan den Namen Dracul, „Drachen“ führen.
Ich bin ein Kind des Mondes, ein Sohn der Nacht, denn auf mir lastet ein Fluch, ein großes Leiden. Von Geburt an war mir der Aufenthalt in der Sonne verwehrt. Dieser Lebensspender am Himmel ist mein Feind und würde mir den Tod bringen, sollte ich mich ihm aussetzen. So war ich gezwungen, mich an ein Dasein in der Dämmerung und Dunkelheit zu gewöhnen, denn das Licht verbrannte meine Haut, verstümmelte mein Aussehen. Am Tage konnte ich nur dick eingehüllt ins Freie gehen, selbst meine Augen musste ich hinter einem Schleier aus Seide verbergen. So fürchten mich die Diener meiner Familie, denn sie tuschelten hinter meinem Rücken, der Teufel selbst habe mir diese Krankheit geschickt. Mein Vater erzählte mir die Geschichte seines Großvaters, der die gleiche Qualen litt, wie ich sie erleide und der dennoch ein großer Fürst und gefürchteter Krieger wurde. Er erklärte mir, sämtliche weiblichen Nachkommen unserer Familie tragen diese Krankheit in sich und geben sie an ihre Kinder weiter, aber zumeist sind nur die Mütter und Töchter betroffen. Männer unseres Geschlechtes leiden nur selten an dieser Missbildung, aber die Legende sagt, dass diese Männer stets Außergewöhnliches vollbrachten. Ich fand Trost in diesen Worten und träumte von Heldentaten, Schlachten und Königreichen, die unter meinem Schwert fallen würden. Es waren Träume aus Blut und Eisen.
19. Carpe Diem. Genieße den Tag.
Dormark war nicht leicht zu überzeugen. Daniel saß im gegenüber, die gefundenen Papier auf Dormarks Schreibtisch ausgebreitet. Er hatte dreißig Minuten lang gesprochen und seinem früheren Vorgesetzten berichtet, wie er Adam auf die Spur gekommen war und dass er glaube, der Killer halte sich noch immer in den Höhlen unterhalb der Stadt auf.
„Dieser Dracula-Scheiß ist doch kompletter Blödsinn“, sagte Dormark.
„Weiß ich selber“, entgegnete Daniel. „Aber darum geht es doch gar nicht. Adam Tepes glaubt daran und das ist alles, was zählt.“
„Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun?“
„Geh zur Mordkommission und leg ihnen die Sachen vor. Erzähl ihnen, was ich dir erzählt habe. Mach ein bisschen Druck, damit sie in die Gänge kommen und der Sache nachgehen.“
Dormark runzelte die Stirn. „Okay, dass du den Namen und die Identität von Adam herausgefunden hast, könnte die Sache wieder in Schwung bringen, aber ich denke mehr als weitere Nachforschungen werden die Kollegen nicht anstellen.“
„Er ist da unten, Andreas.“
„Ist er nicht. Eine Hundertschaft hat alle zugänglichen Höhlen abgesucht. Nichts.“
„Vielleicht hatte er sich bloß zurückgezogen, aber ich bin mir sicher, er ist da unten“, beharrte Daniel. „Ich kann mir auch gut vorstellen, dass Adam Höhlen und Kavernen entdeckt hat, von denen wir nichts wissen. Er haust schon seit Jahren in diesen Katakomben.“
„Die Kollegen hatten Suchhunde dabei. Da ist nichts weiter.“
„Mach mich nicht wahnsinnig“, fuhr Daniel auf. „Es könnte sein. Ich habe dir doch die verdammten Papiere gegeben, alles ist vollkommen logisch. Er ist da unten.“
„Wie oft willst du das eigentlich noch sagen. Er ist da unten, er ist da unten...“
„So lange, bist du etwas unternimmst.“
Dormark zuckte zusammen. „In Ordnung. Der alten Freundschaft wegen und weil zwei gute Beamte gestorben sind. Ich gehe rüber zur MK und versuche sie dahingehend zu beeinflussen, noch einmal ein Team hinunterzuschicken. Aber mehr nicht. Ist das klar? Wenn sie nicht darauf anspringen, lassen wir sie in Ruhe. Versprich mir das.“
„Was immer du sagst, aber noch etwas, ich will dabei sein, wenn sie eine Mannschaft hinunterschicken.“
Dormark sprang aus seinem Stuhl auf. Es gab ein heftiges Geräusch, als die Lehne des Stuhls gegen die Wand krachte. „Hast du sie noch alle? Vergiss den Blödsinn, du gehst nirgendwo hin. Ich glaub, ich spinne.“
„Ich muss da runter“, knurrte Daniel.
„Nichts da!“ Dormark kam um den Schreibtisch herum und baute sich vor Fischer auf. „Du gehörst nicht mehr zum Rauschgiftdezernat. Zur Mordkommission gehörst du auch nicht und wenn ich mich recht entsinne, bist du auch sonst nicht im aktiven Dienst. Du gehst brav zurück nach Hellstadt und schiebst weiter deinen Dienst in der Waffenkammer oder ich häng mich da nicht rein.“
Daniel war klar, es machte keinen Sinn, Dormark weiter zu drängen. Jedes weitere Wort in diese Richtung hätte nur seinen Zorn verstärkt.
„Okay, aber ich muss dich trotzdem um einen Gefallen bitten.“
„Was?“
„Du hast das Foto von Irina Tepes gesehen. Die Ähnlichkeit mit Sarah ist verblüffend und ich habe dir ja schon erzählt, wie Adam auf das Bild meiner Exfrau reagiert hat.“
„Du meinst, sie ist in Gefahr?“
„Ich weiß es nicht, aber wir sollten nichts riskieren.“
Dormark schlenderte zu seinem Platz zurück. „Hast Du schon mit ihr gesprochen?“
„Ähm...“
„Verstehe. Ich kümmere mich darum, dass jemand auf sie aufpasst.“
„Wie wäre es mit Schutzhaft, bis wir Genaueres wissen?“
Dormarks Augen glühten kurz auf. „Jetzt übertreib nicht schon wieder. Es reicht vollkommen, wenn wir zwei Beamte zu ihrer Sicherheit abstellen.“
Fischer erhob sich. „Hältst du mich auf dem Laufenden?“
„Klar.“
„Dann gehe ich jetzt.“
„Aber zügig. Ich muss diesen ganzen Blödsinn hier den Kollegen von der Mordkommission vorlegen und habe noch andere Dinge zu tun.“
„Danke, Andreas.“
Dormark grinste freudlos. „Wenn du kriegst, was du willst, kannst du richtig nett sein, aber ansonsten bist du die meiste Zeit ein richtiges...“
„...Arschloch“, vollendete Daniel den Satz, bevor er die Bürotür zuwarf und runter zum Parkplatz ging.
Daniel fuhr nach Hellstadt, um seinen täglichen Dienst zu versehen. Zahner und Hüger gingen kurz nach seinem Eintreffen auf den Schießplatz und so konnte er die Gelegenheit nutzen und die Vorbereitungen treffen, die notwendig waren, wenn er die Beamten unter die Erde von Lichtenfels begleiten würde. Dormark konnte sich anstellen, wie er wollte, nichts und niemand würde ihn jetzt noch aufhalten. Er hatte Adam aufgespürt und er wollte dabei sein, wenn man ihn endlich stellte. Dieser Mann hatte ihm sein Leben gestohlen und nur er konnte es ihm wiedergeben.
Fischer wurde schlecht vor Angst bei dem Gedanken, wieder hinab unter die Erde zu steigen und Adam gegenüberzutreten, aber wenn er jemals wieder ein normales Dasein führen wollte, gab es nur diesen Weg.
Die Rache ist mein, spricht der Herr, dachte Daniel. Diesmal nicht. Nein, diesmal nicht.
Er öffnete einen der Waffenschränke und ließ seinen Blick über die Pistolen gleiten. Er suchte eine ganz bestimmte Automatikwaffe, die ihm Zahner einmal gezeigt hatte. Eine Beretta 21. Bobcat im Kaliber .22 war genau das, was er suchte. Sie war sehr klein, nur zwölf Zentimeter lang und wog handliche dreihundertfünfundzwanzig Gramm ohne ihr siebenschüssiges Magazin. Daniel nahm die Pistole heraus, füllte das Magazin und ließ sie seine Jackentasche gleiten. Er wusste, sollte jemandem das Fehlen der Waffe bemerken, würde er großen Ärger bekommen. Ärger war eigentlich das falsche Wort. Bei seinem Tun handelte es sich um schweren Diebstahl. Die Dienstaufsicht zeigte in solchen Fällen keine Gnade zeigen. Er würde seinen Job verlieren und auch sonst nie wieder eine Anstellung im öffentlichen Dienst bekommen. Je nachdem, wie die Aufsicht entschied, konnte die Sache sogar an die Staatsanwaltschaft übergeben werden. Dann war eine Verurteilung wahrscheinlich.
Scheiß drauf, dachte Daniel. Nach dieser Sache gibt es sowieso kein Zurück mehr.
Er hatte sich gerade an seinen Arbeitsplatz gesetzt, als Hüger und Zahner mit einem Stapel Waffen vom Schießplatz zurückkehrten, die gereinigt werden mussten. Daniel nahm sich das erste Gewehr und machte sich an die Arbeit.
Es waren nicht ganz drei Stunden vergangen. Daniel und seine Kollegen reinigten schweigend die Waffen der morgendlichen Schießübung. Inzwischen roch es im ganzen Raum penetrant nach Waffenöl. Fischer stellte gerade ein Gewehr in die Wandbefestigung, als das Diensttelefon klingelte. Hüger ging ran.
„Ist für dich“, rief er Daniel herüber und hielt ihm den Hörer hin.
Fischer presste die Muschel ans Ohr.
„Ich bin es, Andreas“, meldete sich Dormark mit ernster Stimme. „Wir haben ein Problem.“
„Was gibt’s?“
„Ich habe zwei Beamte zu Sarah rübergeschickt, aber auf ihr Klingeln hat niemand geöffnet. Die Kollegen riefen mich an und fragten, was sie nun tun sollten. Um keine Zeit zu verlieren, während ich sämtliche Telefonnummern anrufe, die du mir gegeben hast, erteilte ich den Jungs den Auftrag, sich vom Vermieter aufsperren zu lassen.“
Daniel spürte ein merkwürdiges Glühen im Magen und ihm wurde schwindelig. Er ahnte Dormarks nächste Worte, bevor dieser sie aussprach.
„Sarah wurde entführt“, fuhr Andreas Dormark leise fort. „Es gab zwar keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens und auch in der Wohnung sah alles völlig normal aus, aber die Polizisten fanden an der Wand des Wohnzimmers eine hingeschmierte Nachricht.“
„Was stand da?“
„Ich denke, die Nachricht ist für dich.“
„Was stand da?“, wiederholte Daniel mit zusammengepressten Lippen.
„Carpe Diem. Genieße den Tag.“
Fischer fiel der Hörer aus der Hand. Er stürmte zur Waffenkammer hinaus und erbrach sich auf den Asphalt. Zwei Minuten lang würgte er keuchend bis sein Magen leer war. Erst dann richtete er sich aus seiner gebückten Stellung auf und ging schleppend in die Waffenkammer zurück.
Hüger hatte den Hörer aufgehoben. Er hielt ihn in beiden Hände, als handle es sich um ein heiliges Kreuz, das bei einer feierlichen Prozession den Gläubigen gezeigt werden sollte.
„Er ist noch dran“, sagte er.
Fischer nahm erneut den Hörer. „Bin wieder da.“
„Was ist passiert?“
„Nichts. Sag mir, was ihr unternommen habt.“
„Eine Sonderkommission wurde eingesetzt. Mehrere Beamte sind vor Ort und suchen nach Spuren und Hinweisen. Andere Beamte befragen die Nachbarn, aber es sieht schlecht aus. Anscheinend wurde Sarah am gestrigen Abend gegen 19.00 Uhr zum letzten Mal gesehen. Wir gehen davon aus, dass sie irgendwann zwischen Mitternacht und 5.00 Uhr morgens entführt wurde.“
Genau zu diesem Zeitpunkt war ich in Adams Haus, schoss es Daniel durch den Kopf.
„Wir haben mit ihrem Arbeitgeber telefoniert. Sarah ist heute nicht im Büro erschienen, aber niemand hatte sich deswegen Sorgen gemacht.“
„Eine Sonderkommission ist nicht genug“, sagte Daniel ruhig.
„Das wissen wir alle. Im Augenblick ist die Spurensicherung noch voll beschäftigt, aber sobald wir Ergebnisse haben, wird etwas unternommen.“
„Was habt ihr vor?“
„Die Koordinierungsstelle des Landeskriminalamts hat sich mit dem SEK in Hellstadt in Verbindung gesetzt und eine Einsatzgruppe angefordert. Dort wird gerade ein Team zusammengestellt, dass Sarah suchen und befreien soll.“
„Dann glaubt ihr mir endlich.“
„Ja, wir denken, du hast Recht. Adam Tepes ist noch immer hier in Lichtenfels.“
„Wann startet die Einsatzgruppe und wer hat die Leitung?“
Ein Zögern. Fischer spürte, wie sich ihm alle Nackenhaare aufrichteten. „Die Einsatzgruppe will um 20.00 Uhr in die Katakomben eindringen. Vorher geht es nicht. Nach dem Vorfall vor zwei Jahren hat die Stadt sämtliche Zugänge zu den Höhlen zugeschüttet. Im Augenblick ist ein Trupp Bauarbeiter damit beschäftigt, die Zugänge wieder zu öffnen, aber das dauert seine Zeit.“
„Wer leitet den Einsatz?“, beharrte Daniel.
„Kommandoführer Leon Bodrig. Dein Vorgesetzter.“
Fischer stürmte zur Waffenkammer hinaus, ohne Zahner und Hüger zu erklären, was vorgefallen war. Er rannte hinkend über den Hof und riss schwungvoll die Eingangstür zum Hauptgebäude auf. Ohne auf die Schmerzen zu achten, die seine Beinprothese am Stumpf verursachte, hetzte er die Treppe in den 1.Stock hinauf. Daniel klopfte an Bodrigs Bürotür. Er wartete erst gar nicht auf die Erlaubnis einzutreten, sondern stürmte in den Raum.
Bodrig hielt gerade den Telefonhörer in der Hand und sprach leise in die Muschel. Sein Kopf ruckte hoch, dann folgte der Oberkörper, als er sich aus seiner gebückten Haltung aufrichtete. Seine Augen fixierten Fischer. Er sagte noch etwas zu seinem Gesprächspartner und legte auf.
„Dass Sie hier auftauchen, habe ich mir fast gedacht.“
„Sie stellen ein Team zusammen, das Adam Tepes aufspüren soll“, sagte Daniel.
„Ja.“
„Ich will dabei sein.“
Bodrigs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Sind Sie noch ganz bei Trost?“
„Sie wissen, dass ich ein verdammt guter Schütze bin.“
„Ich weiß auch, dass Sie ein verdammter Krüppel sind.“
Fischer trat näher heran. Schließlich trennte sie nur noch ein knapper Meter. Sein Gesicht war wutverzerrt.
„Er hat meine Frau entführt. Ich will mit.“
„Erstens leben Sie laut Ihrem ehemaligen Vorgesetzten seit beinahe zwei Jahren getrennt von ihr und zweitens haben Sie gar nichts zu wollen. Ich habe es Ihnen schon bei Ihrem Einstellungsgespräch gesagt, dies ist das SEK und nicht irgendein Kleintierzüchterverein. Sie können von mir aus auf Zielscheiben ballern, solange Sie wollen. Das hier ist etwas ganz anderes. Dafür sind Sie nicht ausgebildet.“
Daniel ließ den Kopf sinken. „Ich muss mit“, sagte er leise.
Bodrig antwortete ebenso leise. „Auch wenn Sie mich für ein Arschloch halten, ich weiß, was Sie durchgemacht haben und was es für Sie bedeutet, dass dieser Verbrecher Ihre Frau entführt hat – aber es geht nicht.“
In Daniels Blick schwammen Tränen. „Ich lasse mich nicht aufhalten.“
Bodrigs Gesicht nahm wieder den üblichen harten Ausdruck an. „Sie können Ihre Beziehungen spielen lassen. Ja, rufen Sie an, wen immer Sie mögen, aber glauben Sie mir, Sie gehören nicht zur Einsatzgruppe und jetzt raus.“
Daniel ging unruhig in der Waffenkammer auf und ab. Er dachte darüber nach, wie er in die Einsatzgruppe kommen konnte, nachdem Bodrig sein Ansinnen so brüsk abgelehnt hatte. Zahner und Hüger ließen ihn in Ruhe und reinigten weiter die Waffen. Fischer hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt, aber zunächst benötigte er mehr Informationen über die ausgewählte Einsatzgruppe. Wie viel Mann waren dafür vorgesehen und welche Männer waren ausgewählt worden?
Zwei Stunden später traf die Waffenanforderung der vorgesehenen Einsatzgruppe in der Waffenkammer ein. Fischer ließ sich von Hüger den Zettel zeigen. Nach der Anzahl der Waffen zu schließen, sollten neun Beamte unter die Erde steigen. Neben der üblichen Einsatzausrüstung und der Mannwaffe nahm das Team auch wirklich schweres Gerät mit. Es sah aus, als wolle jemand aus der Einsatzleitung da unten einen Krieg führen, aber vielleicht war Bodrig auch nur vorsichtig und wollte auf jede Situation vorbereitet sein.
Bernhard Hüger legte die Waffen auf den großen Ausgabetresen.
zwei Repetier-Schrotflinten Remington M870 mit der dazu gehörenden 4 mm SEK Schrote-Munition. Ein Blaser Modell R93 Tactical Im Kaliber .308. Zwei SIG Modell 551 Kaliber .223 mit aufmontiertem ACOG zur besseren Zielerfassung und einer mit Magneten befestigten Maglite-Leuchte. Die Waffe sah mit ihren drei zusammengesteckten Magazinen sehr bedrohlich aus. Jeder der Beamten würde neben seiner P-2000 auch eine Smith Wesson „Bodygard“, einen bulligen Revolver mit seitlich abgedeckten Abzugshahn mitnehmen. Weiterhin waren drei Glock Modell 17 Automatik-Pistolen mit Aktiv-Laser und eingebauter Leuchte angefordert worden. Zwei MP 5 SD, schallgedämpfte Maschinenpistolen mit Nachtsichtoptik und Paramunition.
Obwohl davon auszugehen war, dass es in den Höhlen unter Lichtenfels stockfinster war, würden zwei SEK- Beamte autofokussierende, holografische Brillen, die neueste und dreißigtausend Euro teuere Generation der Nachtsichtgeräte mitnehmen.
Hinzu kamen für alle Schutzwesten von Sitek mit Einschubplatte aus Keramik, Irritationswurfkörper, Leatherman-Tools, Plastikfesseln, Verbandspäckchen und Funksprechgeräte. Insgesamt lag eine beeindruckende Sammlung verschiedenster Waffen vor Daniel und seinen Kollegen.
„Junge“, meinte Christoph Zahner. „Seht Euch diese Ausrüstung an.“
„Damit kann man ein kleines Land erobern“, meinte Hüger zynisch. „Bisschen übertrieben, wenn ihr mich fragt.“
„Sie werden das alles brauchen“, sagte Daniel kaum hörbar.
Zahner und Hüger sahen ihn verblüfft an.
„Sie werden es ganz bestimmt brauchen.“
Als sie ihm die Frau brachten, schlug Adams Herz wild in der Brust. Ungezügelte Freude erfüllte ihn und die Zweifel, die ihn so lange geplagt hatten, verschwanden im Nichts.
Im Lichtschein einer Fackel trat er zu der Frau. Ihre vor Angst weit aufgerissenen Augen erinnerten an ein Tier im Todeskampf, aber Adam sah die edlen Züge ihres Gesichts. Für ihn waren da nur Schönheit und kein Leid.
Vorsichtig streckte er die Hand aus. Sie zuckte zurück, aber kräftige Arme zwangen sie zu bleiben, wo sie war. Adam öffnete seine Finger und strich sanft durch ihr langes Haar. Er beugte sich vor, schnupperte daran und sog den Duft ihres Körpers in sich auf.
„Fürchte dich nicht“, sagte er heiser vor Erregung. „Dir geschieht kein Leid.“
Ihre vollen roten Lippen teilten sich und entblößten makellose Zähne. „Was passiert mit mir?“
Adam umfasste ihr schmales Gesicht und zog es nah zu sich heran. „Du bist meine Schwester und bald wirst du eine Fürstin sein.“
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Im Jahre 1435 gelang es meinem Vater seinem sterbenden Halbruder Alexander Aldea, den Woiwoden der Walachei, zu stürzen und ihm Thron, Titel und die Ländereien zu entreißen.
Damals versuchten die Türken und die Ungarn über unser Land zu herrschen, aber meinem Vater gelang es durch geschickte politische Züge immer wieder, unsere Unabhängigkeit zu erhalten. Ich war noch ein Kind, gerade zehn Jahre alt, als mein Vater vom türkischen Sultan Murad gezwungen wurde, sich seinem Willen zu unterwerfen. Als Pfand für die Treue Vlad II. verlangte er mich und meinen jüngeren Bruder Radu, der damals sechs Jahre alt war als Geiseln. Zähneknirschend, aber ohnmächtig musste mein Vater diesem unverschämten Ansinnen nachgeben und so kam es, dass Radu und ich zur Festung Egrigoz in der Provinz Karaman im westlichen Anatolien verschleppt wurden.
Wir wurden getrennt, sodass ich lange Zeit nichts über das Schicksal meines Bruders erfuhr. Mein eigenes Schicksal sollte sich als überaus grausam herausstellen.
Ich wurde in eine kalte Zelle mit nacktem Steinboden geworfen. Decken gab es keine und wollte ich mich niederlegen, blieb nur ein hölzernes Brett, das man fußhoch über dem Boden an der Wand befestigt hatte.
Mein Gefängniswärter hieß Gugusyoglu, ein grobschlächtiger Mensch von gedrungener Figur, dessen schlechter Atem und der Anblick seiner verfaulten Zähne in mir jedes Mal Übelkeit erregten. Dieser grausame Mann, gelangweilt von seinem eintönigen Dienst, dachte sich immer neue Methoden aus, um mich zu quälen und zu foltern. Er ließ mich hungern, zwang mich das Fleisch verstorbener Gefangener zu essen und ihr Blut zu trinken. Dieses Blut hielt mich am Leben und bald verlangte ich sogar danach. Gugusyoglu stopfte mir aber auch Kot in den Rachen, bis ich glaubte, zu ersticken oder ließ mich Tierhoden verspeisen. Mehr als einmal, musste ich diesem stinkenden Wesen gefügig sein. Die Dinge, die er dabei meinem Körper antat, lassen sich nicht beschreiben, aber ich zwang mich, alles zu ertragen. Ich zwang mich zu atmen. Ich zwang mich zu leben. Und der Gedanke, es ihm eines Tages heimzuzahlen, ließ mich überleben. Jahre später trieb ich diesem Tier in Menschengestalt einen glühenden Eisenstab in den After den ganzen Körper hinauf, bis ihm das Ende durch den Mund stieß. Ich höre seine Schreie noch immer und ergötze mich daran.
20. Ich werde dich nie wieder sehen.
Auf der Waffenanforderungsliste standen auch die Namen der Beamten, die an dem Einsatz teilnehmen würden. Daniel studierte die Liste sorgfältig und rief sich das Aussehen der Polizisten ins Gedächtnis. Schließlich entdeckte er einen Namen, der ihm geeignet schien. Er blickte auf die Uhr. Noch genug Zeit und er musste noch etwas erledigen. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche und ging in den Hof hinaus. Etwas abseits, sodass Hüger und Zahner ihn nicht beobachten konnten, wählte er Jessicas Mobilfunknummer. Nach dem dritten Läuten ging sie ran.
„Ich bin es. Daniel“, meldete sich Fischer. Überraschtes Schweigen am anderen Ende der Leitung.
„Was willst du?“, fragte Jessica schließlich.
„Wie geht es dir?“
Ein Schnauben. „Du rufst mich nach Wochen des Schweigens an und willst wissen, wie es mir geht? Gut geht es mir. Prima. Danke der Nachfrage.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.
„Es tut mir immer noch leid. Ich...“
„Warum rufst du an?“, unterbrach sie ihn.
„Kannst du mir einen Gefallen tun?“
„Du bittest mich um einen Gefallen?“
„Ja.“
„Was ist los?“
„Es geht um die Katze. Ich muss für eine Zeitlang weg und wollte dich fragen, ob du dich um sie kümmern kannst. Futter geben und so.“
Jessica schwieg.
„Kannst du das für mich tun? Ich würde dir den Schlüssel für die Wohnung per Post schicken.“
„Per Post? So eilig ist? Was ist los?“
„Kann ich dir nicht sagen.“
„Oh doch, du wirst es mir sagen oder du fütterst deine Katze schön selbst.“
„Ich kann es dir nicht sagen“, wiederholte Fischer stur.
„Adam“, sagte Jessica plötzlich. „Es geht um Adam. Du hast herausgefunden, wo er steckt.“
Seine Wortlosigkeit war Antwort genug.
„Und jetzt willst du ihn töten. Ihn dafür umbringen, was er dir angetan hat. Ist es nicht so?“
„Es ist ein bisschen anders, als du denkst.“
„Dann klär mich auf.“
„Meine Frau... Sarah wurde von ihm entführt. Sie haben den Verdacht, dass sich Adam in den Höhlen unter Stadt versteckt. Ich begleitete ein Spezialeinsatzkommando hinunter, um ihn aufzuspüren.“
„Du liebst diese Frau also noch immer. Nach allem, was sie dir angetan hat.“
„Das hat damit nichts zu tun.“
Lange Zeit sagte Jessica kein Wort. Als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme gebrochen. „Ich werde dich nie wieder sehen.“
„Blödsinn. Natürlich...“
„Nein, ich spüre es. Wir werden uns nie wieder sehen, wenn du gehst.“ Sie zögerte. „Bitte geh nicht.“
„Ich muss. Versteh das bitte.“
„Ich liebe dich.“
Daniel fühlte, wie Tränen in seine Augen stiegen, aber er wischte sie nicht weg. „Ich liebe dich auch, Jessica. Vielleicht gibt es ein Leben für uns beide, wenn ich zurück bin. Ich habe über vieles nachgedacht und...“
„Du kommst nicht wieder“, sagte Jessica kaum hörbar und beendete die Verbindung.
Daniel wartete, bis er sich wieder gefangen hatte, bevor er in die Waffenkammer zurückging. Er nahm einen Briefumschlag, steckte seinen Wohnungsschlüssel hinein und schrieb Jessicas Adresse darauf. Dann legte er den Brief auf Hügers Schreibtisch.
„Kannst du den für mich auf die Post mitnehmen? Du weißt, ich gehe nicht so gern in die Stadt.“
„Klar, ich komme daran vorbei. Kein Problem.“
„Ich muss heute etwas früher weg, bin also bei der Waffenausgabe an das Einsatzkommando nicht dabei. Wünsch den Jungs viel Glück von mir.“
„Du bist nicht da? Ich dachte, du willst dabei sein, wenn sie... na, du weißt schon.“
„Wäre ich gerne, aber ich habe einen Termin bei meinem Therapeuten und du kennst die Seelenklempner ja, wenn ich nicht auftauche, glaubt er, ich hätte eine schwere Krise.“
Hüger lachte. „Meine Frau hat auch mal eine Therapie gemacht. Weiß der Teufel warum, wo sie doch mit mir verheiratet ist.“
„Ich nehme mal, das wird der Grund sein“, grinste Daniel.
Hüger lachte noch lauter. „Daran könnte es natürlich auch liegen.“
Die rote Abendsonne fiel durch die Wipfel der Bäume und ihr blutrotes Licht begleitete Fischer, als er über das Gelände der SEK Hellstadt schlenderte und versuchte, nicht aufzufallen, während er langsam auf das Gebäude mit den Unterkünften der Beamten zuhielt. Obwohl die meisten Mitglieder der SEK in der Nähe wohnten und auch zu Hause schliefen, hatten sie doch Zimmer in der Kaserne, auf denen sie sich für den Einsatz umzogen und ihre Ausrüstung anlegten.
Der Mann, den er aufsuchen wollte, hieß Keppler und bewohnte ein Einzelzimmer im 1. Stock.
Daniel öffnete die schwere Eingangstür und blickte sich um. Nachdem er niemand sah, huschte er schnell die Treppe hinauf. Nur wenig Tageslicht fiel durch die nach Norden gewandten Fenster und so lag der Gang im Halbdunkel. Daniel wartete, bis sich die Sehkraft seiner Augen der Umgebung angepasst hatte, bevor er das entsprechende Zimmer suchte. Es lag am Ende des Korridors und Fischer betete stumm, dass sich keine der anderen Türen öffnete und er mit jemanden zusammenstieß, der sich fragte, was der verrückte Typ aus der Waffenkammer hier zu suchen hatte. Schließlich stand er vor einer Holztür, deren abgenutzter Zustand, selbst bei diesen Lichtverhältnissen deutlich, zu Tage drang.
Daniel legte ein Ohr an das Holz und lauschte. Nichts war zu hören, also war der Mann allein. Er zog die Pistole aus seinem Hosenbund. Seine Hand legte sich auf das kühle Metall der Türklinke. Vorsichtig drückte er sie herab. Er schob die Tür einen Spalt auf und spähte in das Zimmer hinein. Niemand da. Verblüfft hielt Daniel inne, aber dann er hörte er das Geräusch der Toilettenspülung und schlüpfte rasch ins Zimmer. Kurz darauf kam ein hoch gewachsener Mann aus dem Badezimmer. Seine Hände schlossen gerade das Koppel an seiner Kampfhose, als er aufblickte und Fischer sah.
Daniel musste zugeben, dass der andere gut trainiert war. Er sah die Waffe in seiner Hand und reagierte blitzschnell. Mit einem Satz hechtete er zum Bett und versuchte, seine Pistole aus dem Holster zu bekommen. Fischer war schneller. Zwei Schritte und er stand neben Keppler und presste ihm die Mündung seiner Waffe an die Stirn.
„Tun Sie das nicht.“
Keppler riss die Augen weit auf, sagte aber kein Wort.
„Weg vom Bett“, befahl Daniel.
Der Polizist erhob sich und trat zurück. Fischers Waffe folgte seiner Bewegung.
„Was soll der Scheiß?“, fragte der Beamte.
„Ausziehen. Sofort.“ Seine Pistole unterstrich die Worte mit einer auffordernden Bewegung.
„Du bist doch dieser Arsch aus der Waffenkammer“, knurrte Keppler.
„Genau der. Und jetzt Schnauze halten und runter mit den Klamotten.“
Keppler lachte höhnisch. „Und was willst du machen, wenn nicht? Mich erschießen?“
Daniel schnellte vor und rammte dem anderen den Lauf der Pistole in den Solarplexus. Keppler brach keuchend zusammen. Fischer setzte ihm die Mündung an den Hinterkopf.
„Ich glaube nicht, dass ich es noch einmal sagen will.“
Zehn Minuten später war Keppler gefesselt, geknebelt und im Badezimmer verstaut. Daniel hatte seine Kleidung angezogen und seine Ausrüstung angelegt. Er blickte auf Kepplers Uhr, die jetzt an seinem Handgelenk hing. Er hatte noch Zeit. Sein Plan sah vor, erst im letzten Augenblick hinunter in den Hof zu den Einsatzfahrzeugen zu gehen. Dann würde sich niemand wundern, dass er die schwarze Sturmhaube schon übergestreift und den Helm aufgesetzt hatte. Die für Keppler vorgesehenen Waffen würde er erst am Einsatzort erhalten, also musste er nicht hinüber zur Waffenkammer, wo Hüger und Zahner ihn an seinem Gang oder seiner Stimme erkennen konnten. Bei diesem Einsatz würde der Gruppenleiter die Aushändigung der Waffen abzeichnen und so musste sich Daniel auch keine Gedanken darüber machen, ob er Kepplers Unterschrift fälschen konnte oder nicht. Sorge bereitete ihm seine Beinprothese. Er würde sich zwingen müssen, langsam zu gehen und nicht zu hinken. Ihm war mulmig bei dem Gedanken den ganzen Hof zu überqueren, während ihn die übrigen Mitglieder des Teams beobachteten. Sein Blick wanderte zum Fenster hinüber. Nur noch wenig Tageslicht. Es konnte klappen. Später im Transportbus würde auch niemandem mehr auffallen, dass er fünf Zentimeter kleiner war als Keppler.
Fischer wusste nicht, ob es sich der Beamte, dessen Stelle im Team er jetzt einnahm, zur Angewohnheit gemacht hatte, sich auf einen bestimmten Platz oder neben eine bestimmte Person zu setzen. Das konnte noch ein Problem werden, wenn irgendeiner der Polizisten sich mit ihm unterhalten wollte, aber eigentlich war sich Daniel sicher, dass die Anspannung der Männer vor dem Einsatz groß war und sie es vorzogen zu schweigen. Im SEK dienten Profis, die nicht versuchen würden, ihre Nervosität mit blödsinnigen Scherzen zu überdecken.
Daniel stand vom Bett auf und blickte in den Hof hinunter. Von hier aus, konnte er den Platz vor der Waffenkammer nicht einsehen, die Stelle, wo das Spezialkommando in die Fahrzeuge steigen würde.
Plötzlich klingelte das Telefon auf Kepplers Schreibtisch. Daniel wusste, ihm blieb keine Wahl, also hob er ab. Es war Bodrig.
„Keppler, Du verdammtes Arschloch. Immer bist du der Letzte. Hier warten schon alle.“
„Okay, komme“, brummte Fischer in den Hörer.
Mist, durch seine Grübelei hatte er vergessen, auf die Uhr zu sehen. Es war höchste Zeit.
Daniel stürmte zum Zimmer hinaus und verschloss sorgfältig die Tür. Mit etwas Glück würde erst das Reinigungspersonal am nächsten Morgen den gefesselten Beamten entdecken. Fischer ließ den Mann nicht gern so zurück, aber er hatte keine Wahl und Keppler würde zwar ein paar unangenehme Stunden verbringen, aber durch seine Tat vielleicht am Leben bleiben.
Mit hastigen Schritten ging er die Treppe hinunter und auf den Hof hinaus. Erst an der Gebäudeecke verlangsamte er seinen Schritt.
Bodrig stand breitbeinig vor den zwei schwarzen Transportern und blickte ihm ärgerlich entgegen. Unter der Sturmhaube rann Daniel Schweiß in die Augen, aber er zwang seine Hände, nicht in sein Gesicht zu fassen. Die anderen Einsatzmitglieder saßen schon im Bus. Hinter den abgedunkelten Scheiben konnte Daniel ihre Gesichter nicht sehen, aber er war sich sicher, dass alle auf ihn starrten.
„Keppler, darüber reden wir noch“, knurrte Bodrig, als sich Fischer an ihm vorbei in den Bus zwängte. Der Kommandoführer stieg ebenfalls ein. Fischer wurde heiß und kalt zugleich. Bodrig trug zwar Einsatzkleidung, doch so lief er immer herum, aber da der Kommandoführer weder Waffen noch Ausrüstungsgegenstände bei sich hatte, war er nicht auf die Idee gekommen, sein Vorgesetzter würde aktiv an dem Einsatz teilnehmen.
Die anderen Mitglieder des Teams kannten ihn kaum, aber die Gefahr war enorm, dass Bodrig sein falsches Spiel aufdeckte.
Als sich Daniel auf einen leeren Platz in der hintersten Reihe fallen ließ, war ihm so schlecht, dass er glaubte, in seine Sturmhaube kotzen zu müssen.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Aus Monaten waren Jahre geworden. Als mich der Sultan endlich aus der Gefangenschaft entließ und an seinen Hof berief, war ich mehr tot als lebendig. Mein Körper war von Narben übersät. Knochen waren mir gebrochen und schlecht wieder eingerenkt worden. Viele meiner Zähne waren ausgefallen oder von Gugusyoglu ausgeschlagen worden. Da mir die unteren Zähne fast komplett verloren gegangen waren, gab ich ein groteskes Bild ab, wenn ich den Mund öffnete. Durch den fehlenden Widerstand der unteren Zahnreihe waren meine Eckzähne unverhältnismäßig lang gewachsen und wenn ich lächelte, wirkte ich wie ein Tier, das seinen Rachen aufriss.
Meinem Bruder Radu war es besser ergangen. Sultan Murad hatte ihn nur wenige Wochen in Egrigoz festgehalten und ihn aufgrund seiner außergewöhnlichen Schönheit zu einem seiner Haremsknaben gemacht und somit war sich auch an ihm vergangen worden. Als ich das erste Mal nach langer Zeit wieder vor Radu stand, hasste ich ihn. Während ich verkrüppelt und ausgehungert, in zerfetzten Lumpen und stinkend, mich vor dem Sultan verneigte, saß Radu auf einem gepolsterten Stuhl, eingehüllt in feinste Stoffe, Lippen und Augen geschminkt, wie eine der zahlreichen Huris’, die den Sultan umgaben. Radu lächelte nicht, als er mich sah. Seine, mit Kohle umrandeten Augen, blickten mich misstrauisch an und ich begriff, dass er sich meinetwegen Sorgen machte.
Erst später sollte ich erfahren, dass meine Freilassung aus dem Kerker kein Akt der Gnade war. Der ungarische König Hunyadi und sein Verbündeter Wladislaw II. aus der Walachei hatten die Bojaren und die Untertanen meines Vater aus Tîrgoviste dazu angestachelt, sich gegen unsere Herrschaft zu erheben. Meinen älteren Bruder Mircea hatte man lebendig begraben, meinen Vater ermordet, zerstückelt und sein Fleisch den Hunden vorgeworfen. Sultan Murad wollte den verwaisten Thron der Walachei nun mit einem von uns Brüdern besetzen und diese Audienz war nichts anderes, als der Versuch herauszufinden, wer von uns beiden die willigere Marionette abgeben würde. Murad hatte dies von Anfang an geplant. Aus diesem Grund waren Radu und ich einer unterschiedlichen Behandlung unterworfen worden, die dennoch dem gleichen Zweck diente, unseren Willen zu brechen. Ich begriff, dass Murad seine Finger beim Tod meines Vaters und meines Bruders Mircea im Spiel gehabt haben musste und mein Hass flammte auf, wie die Feuer der Scheiterhaufen, auf denen mein Vater seine politischen Gegner hatte verbrennen lassen. Aber ich ließ es mir nicht anmerken und neigte stets ehrfürchtig das Haupt, wenn der Sultan zugegen war. Dennoch muss er etwas in meinem Blick entdeckt haben, was ihn an ein wildes Tier erinnerte, denn er bestimmte Radu zum Thronfolger. Als ich seine Entscheidung vernahm, floh ich vom Hof in Gallipoli in meine alte Heimat zurück, die ich so viele Jahre nicht gesehen hatte.
21. Riesige Insekten
20.03 Uhr
Die Männer standen am aufgebrochenen Eingang zu den unterirdischen Tunneln. Aufgestellte Strahler beleuchteten eine unheimlich wirkende Szenerie. Bauschutt lag in großen Haufen herum, neben denen Bereitschaftspolizisten standen und den Zugang bewachten.
Die Teammitglieder hatten ihre komplette Ausrüstung angelegt und sahen mit den schwarzen Sturmhauben, den Helmen und teilweise in die Stirn geschobenen Nachtsichtgeräten aus wie eine Gruppe riesiger Insekten, die sich daran machten, ein Nest zu stürmen. Und so ähnlich war es ja auch.
Bodrig rief das Einsatzkommando zu sich. Mit knappen Worten fasste er nochmals ihre Aufgabe zusammen. Reingehen, den oder die Entführer aufspüren, die Geisel befreien und das ganze möglichst ohne Schusswaffengebrauch.
Fischer grinste freudlos hinter dem Stoff seiner Sturmhaube. Möglichst ohne Schusswaffengebrauch. Adam Tepes war ein Verrückter, der einen Haufen anderer Verrückter anführte, die derartig mit Drogen vollgeknallt waren, dass man von Glück reden konnte, wenn es gelang, auch nur einen von ihnen lebend zu fassen.
Schließlich gab Bodrig das Einsatzsignal und die Männer gingen einzeln durch die aufgebrochene Öffnung in der Wand. Alle Mitglieder des Teams schalteten ihre Helmscheinwerfer und die Lampen an ihren Waffen an. Das Dunkel wurde von den scharf geschnitten Lichtstrahlen nur mühselig erhellt und Daniel hatte schon nach wenigen Metern das Gefühl, durch einen nachtschwarzen Ozean zu waten. Die Laserzieleinrichtungen der Gewehre wanderten wie suchende Finger über den Stein, bereit, den Tod zu schicken.
Mehrere hundert Meter folgten sie einem stillgelegten Eisenbahntunnel, der sich wie eine steinerne Schlange durch die Erde wand. Die Luft war kühl und feucht. Moose und Flechten zeugten davon, dass hier schon lange kein Zug mehr entlang gefahren war. Die Schienen waren verrostet. An vielen Stellen fehlten die Holzbohlen. Daniel nahm an, dass Adams Gruppe sie herausgerissen hatte, um das Holz zu verfeuern. Ansonsten gab es keinerlei Anzeichen von menschlicher Anwesenheit.
Niemand sprach. Aufgezogen wie an einer Schnur, schritten die Männer durch den aufgeweichten, morastigen Boden. Die Kreppsohlen ihrer Stiefel gaben leise schmatzende Geräusche von sich, aber ansonsten herrschte eine grabesartige Stille.
Daniel ging als letzter in der Gruppe. Der Strahl seiner Helmlampe beleuchtete den Rücken seines Vordermannes. Jürgen Baumgärtner. Anfang dreißig, ruhig und ausgeglichen. Er war der Fachmann für Sprengstoffe im Team. Vor ihm stapften Peter Hartmann, Sebastian Weber, Andreas Hardt und Loren Heilig. Fischer kannte diese Männer ganz gut, denn er hatte öfters mit ihnen in der Waffenkammer zu tun gehabt. Die restlichen Mitglieder des Einsatzkommandos waren seinem Wissen nach Tim Merkan und Domenico Lombardo, ein D eutscher italienischer Abstammung. Insgesamt setzte sich das Einsatzkommando aus hochqualifizierten Beamten zusammen, die in früheren Einsätzen bereits bewiesen hatten, dass sie nicht so schnell die Nerven verloren.
Schließlich hielt Bodrig vor einem etwa einen Meter hohen Loch in der Tunnelwand an und winkte die Männer zu sich.
„Laut meiner Karte geht es hier in das Höhlensystem“, flüsterte er so leise, dass man ihn selbst mit Helmfunk kaum verstand.
Daniel kannte die Stelle. Durch dieses Loch waren er, Schneider und Rau vor beinahe zwei Jahren gekrochen. Obwohl es eine Ewigkeit her schien, verkrampfte sich sein Magen. Ein leichtes Schwindelgefühl stellte sich ein. Daniel versuchte es zu ignorieren und sich auf Bodrigs Worte zu konzentrieren, der gerade das weitere Vorgehen besprach, aber das Gefühl vor einer Panikattacke zu stehen, wurde immer stärker. Fischer wandte sich ein wenig von den anderen ab und schob hastig eine Beruhigungstablette in den Mund. Niemand bemerkte, wie er die Sturmhaube anhob und solange nicht der Schein einer Lampe auf ihn fiel, musste er sich keine Sorgen machen, entdeckt zu werden.
„Los geht’s“, raunte Bodrig. Der Kommandoführer leuchte in das Loch, von dem Daniel wusste, dass es sich als niedriger, natürlicher Gang mehrere Meter weiter in die Tiefe zog. „Einer nach dem anderen. Lombardo, du zuerst. Sicher die andere Seite und gib uns ein Zeichen, wenn alles sauber ist.”
Lombardo nickte. Er kniete sich auf den Boden, leuchtete ebenfalls in das Loch, um sich einen Eindruck zu machen und ließ sich schließlich ganz zu Boden sinken. Daniel sah, dass er die Ellenbogen anwinkelte, um während des Kriechens seine Maschinenpistole im Anschlag zu halten. Mehrere Scheinwerfer beleuchteten seinen Körper, der langsam in dem Tunnel verschwand. Bodrig hockte sich auf seine Fersen und richtete den Strahler seiner Waffe auf Lombardos Stiefel, die kurz darauf um eine Biegung verschwanden.
„Wie kommst du voran?“, hörte Daniel Bodrig über den Helmfunk fragen.
„Kein Problem. Ich kann schon das Ende des Ganges sehen. Bin gleich draußen.“
„Sei vorsichtig.“
Schließlich meldete Lombardo, dass alles sauber war und der Rest des Teams folgte ihm. Als sie aus dem Gang krochen, eröffnete sich ihnen eine Höhle mit niedriger Decke. Sie wirkte, wie einer der zahllosen Luftschutzbunker, die die Nazis im 2. Weltkrieg angelegt hatten, war aber eindeutig natürlichen Ursprungs. Der Raum, den sie sicherten, bot keinerlei Versteck für einen Hinterhalt und so durchquerten sie ihn zügig und folgten einem Gang, der sie tiefer in das Labyrinth unter Lichtenfels’ Erde führte.
Dreißig Minuten später trafen sie auf die erste Abzweigung. Bodrig studierte die Karte im Licht seiner Lampe und stellte fest, dass der neue Weg in einer Sackgasse enden würde. Trotzdem musste er gesichert werden. Er befahl Weber und Heilig zu sich und schickte sie in den Gang hinein, während er selbst mit dem übrigen Team weiterging.
Bodrig erreichte das Ende des Hauptganges als Erster. Er kniete sich auf den Boden und hob die geballte Faust als Zeichen für die anderen anzuhalten und in Position zu gehen. Von hier führten mehrere Tunnel weiter, die sich später wieder zum ursprünglichen Gang zusammenfinden würden. Nach und nach sandte der Kommandoführer Zweierteams in die Tunnel. Er selbst folgte mit zwei Mann der Abzweigung, die sich scharf rechts und nach oben wand.
Über Helmfunk blieben sie alle in Kontakt.
Sebastian Weber folgte dem Gang, die Waffe schussbereit. Der Laser seines Gewehres blieb ruhig und wackelte in keine Richtung. Heilig bewunderte Webers Ruhe, der auch in Gefahrensituationen stets so wirkte, als ginge ihn alles nichts an. Er selbst fühlte sich alles andere als wohl. Die niedrige Felsendecke zwang ihn den Kopf einzuziehen und die unbequeme, gebückte Haltung verstärkte seine Unruhe noch. Er schaltete den Helmfunk aus.
„He, Sebastian“, rief er leise nach vorn.
„Was ist los?“
„Warte mal, ich will dich etwas fragen?“
„Jetzt? Spinnst du?“
Heilig ging nicht darauf ein, sondern stellte sich neben den wartenden Weber.
„Dieser Einsatz macht mir Angst. Ich habe kein gutes Gefühl bei der Sache.“
Weber grinste. „Schiss, richtig?“
„Klar. Hast du keine Angst?“
„Geht so. Ändert auch nichts. Da müssen wir durch.“
„Aber ich habe ein so verflucht komisches Gefühl.“
„Hör auf damit. Je mehr du es betonst, umso schlimmer wird es. Denk an etwas anderes.“
„Hier unten? An was denn?“
„Denk an Sex. Sex ist immer gut.“
„Weber, dein Gemüt möchte ich haben. Ein Tag würde mir schon reichen.“
„Na, dann ist die Sache geklärt. Du denkst ans Bumsen und ich passe auf, dass du im Dunklen nicht über deinen Schwanz stolperst.“
Daniel kroch auf Händen und Knien hinter Merkan durch einen Gang, der nicht mehr als eine felsige Röhre war. Das Atmen fiel ihm schwer, da sich seine Lunge immer wieder verkrampfte und ihn keuchen ließ. Fischer wusste, es war die blanke Angst, die ihm zusetzte, aber hier unten in der Dunkelheit, gab es keine Möglichkeit innezuhalten und sich zu beruhigen.
Und dann war da seine ständige Furcht vor den Ratten. Bisher hatten sie nur vereinzelte leise Pfiffe gehört, aber keine einzige Ratte gesehen, doch Daniel spürte, dass sie da waren.
„Hey, was ist los?“, raunte Merkan vor ihm. „Du ächzt und stöhnst, als hätte deine letzte Stunde geschlagen.“
Fischer dachte, dass es das Beste war, so nah wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben und sagte: „Ich habe Schiss, Mann. Platzangst, aber es geht schon.“
„Mir geht es ähnlich. Verdammt unheimlich, hier durch die Gegend zu kriechen.“
Bodrig meldete sich über Helmfunk. „Ich finde es toll, wie nett ihr miteinander plaudert. Richtig nett. Aber entweder ihr haltet jetzt die Schnauze oder ich komme zu euch und trete euch in eure gottverdammten Ärsche. Keppler?“
„Ja, antwortete Fischer.
„Dass Du Platzangst hast, fällt dir erst hier unten ein?“
„Hab mich noch nie zuvor durch so ein enges Loch quetschen müssen.“
„Es ist wirklich beschissen eng hier drin“, stimmte ihm Merkan zu. „Wäre ich vor diesem Einsatz nicht noch auf dem Klo gewesen, würde ich jetzt schon feststecken.“
Leises Gelächter kam von den anderen Teammitgliedern.
„Habe den Hauptgang wieder erreicht. Niemand da.“
„Alles klar. Was siehst du?“
„Dreimal darfst du raten? Einen Scheißtunnel, der zur nächsten Scheißhöhle führt.“
Wir sind auch gleich da“, gab Bodrig zurück. „Der Rest von euch Mädels sollte sich mal ein bisschen beeilen.“
Die nächste Höhle, auf die sie stießen, unterschied sich kaum von der vorangegangen. Allerdings verengte sie sich am Ende dermaßen, dass sie nur einzeln durch den Spalt kriechen konnten. Laut Karte zog sich der Spalt etwa sieben Meter durch den massiven Fels, bevor er den Zugang zur nächsten Höhle freigab. Wieder wurde Lombardo als Kleinster vorgeschickt. Wenn ein Gang oder ein Tunnel für ihn zu eng war, dann brauchten es die größeren Beamten erst gar nicht versuchen.
Lombardo legte sich flach auf den Boden und robbte durch den Überhang aus Stein, der ein kleines Dach über dem Felsspalt bildete.
Bodrig verlangte ständigen Funkkontakt und so meldete sich sein Späher alle zwanzig Sekunden, bis er schließlich leise fluchte.
„Was ist? Steckst du fest?“, fragte der Kommandoführer.
„Nein, von dem Gequatsche habe ich einen trockenen Mund bekommen.“
„Ich gebe dir nachher einen aus. Von mir aus, sogar deinen geliebten Rotwein, aber jetzt mach bitte voran, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.“
Lombardo lachte leise im Helmfunk, dann verstummte seine Stimme abrupt.
„Was ist? Siehst du etwas?“, fragte Bodrig.
Stille. Dann sagte Lombardo zwei Wörter, die allen Männern im Team durch die Glieder fuhren: „Heilige Scheiße.“
Alle hielten die Luft an. Jeder hatte am Klang von Lombardos Stimme gehört, dass etwas nicht in Ordnung war. Ganz und gar nicht in Ordnung.
„Was zum Teufel ist los?“, wollte Bodrig wissen. „Ist alles sauber? Können wir kommen?“
„Ich kann es euch nicht erklären. Ihr müsst es selbst sehen.“ Lombardo schien sich wieder ein wenig beruhigt zu haben. „Hier ist niemand oder besser gesagt, fast niemand. Kommt.“
Einer nach dem anderen krochen sie durch den Gang und jeder grübelte über Lombardos letzte Worte nach. Fast niemand? Was sollte das heißen? Entweder da war jemand oder nicht. Es gab kein ‚fast’ in ihrem Job. Als sie sich schließlich auf der anderen Seite sammelten, wurde ihnen allen klar, dass es so etwas wie ‚fast’ doch in ihrem Beruf gab.
Sie standen kreisförmig angeordnet in einer etwa zwanzig Meter großen, ovalen Höhle, deren Felsdecke sich fünf Meter über ihren Köpfen spannte. Die Höhle mündete an ihrem Ende in einen schmalen, aber hohen Felsspalt, der den Zugang für ihren weiteren Weg bildete. Ihre Lampen waren auf ein Objekt gerichtet, das sich links von ihnen an der Höhlenwand befand.
Es war ein menschlicher Körper, den jemand mit langen, dicken Nägeln an zwei grob zusammengeschusterten Holzbalken geschlagen hatte. Der Leichnam konnte noch nicht alt sein, denn er zeigte keinerlei Verwesungsspuren. Wie ein zum Trocknen aufgehängtes Fleischstück baumelte die Leiche an ihrem primitiven Kreuz.
Es war ein Mann, nackt, schätzungsweise Ende Zwanzig. Seine Gesichtszüge waren vom Schmerz verzerrt und wirkten grotesk und kaum noch menschlich.
Man hatte ihm Nase und Lippen abgeschnitten und so bleckten sich weiße Zähne unter einem blutigen Loch zu einem diabolischen Grinsen. Der Körper hing in einem unnatürlichen Winkel herab. Daniel erkannte, dass man dem Mann die Arme ausgekugelt hatte, um ihn in dieser Position ans Kreuz schlagen zu können.
Jürgen Baumgärtner wandte sich ab, schob seine Sturmhaube aus dem Gesicht und erbrach sich auf den felsigen Boden. Der Rest des Teams starrte stumm die Leiche an.
Bodrig trat näher heran und beleuchtete den Körper des Geschundenen, dann drückte er eine Taste an seinem Helmfunk und schaltete auf normalen Empfang um. Mit leiser Stimme rief er die Einsatzzentrale, um den dortigen Beamten von ihrer Entdeckung zu berichten. Fünf Minuten lang versuchte er es immer wieder. Schließlich gab er auf. Kein Empfang. Der Fels war zu massiv und verschluckte die Funkwellen.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Heilig.
Bodrig wandte den Kopf in seine Richtung. „Hartmann geht zurück und sagt der Zentrale, was wir hier entdeckt haben. Sie sollen Beamte herunterschicken, die den Tatort sichern. Wir selbst gehen weiter. An unserem Auftrag hat sich nichts geändert. Im Gegenteil. Wir müssen die Frau schnellstmöglich finden.“ Er hob seine Maschinenpistole ins Licht. „Der Typ da kann noch nicht lange tot sein. Also Vorsicht, Leute. Seid ab jetzt auf alles gefasst. Bewegt euch leise. Der Erste, der eine neue Höhle betritt, geht in Position und sichert die anderen. Haben das alle verstanden?“
Obwohl sich keiner von ihnen wohl bei dem Gedanken fühlte, nach diesem Fund tiefer unter die Erde zu steigen, nickten sie.
Bodrig gab Hartmann seine Instruktion. Schließlich hob er den Arm als Zeichen zum Aufbruch.
Hartmann verzweifelte zusehends. Bodrig hatte ihn angewiesen eine Aufnahme des Leichnams mit der Digitalkamera zu machen, die das Team mitführte, um der Einsatzzentrale den Ernst der Situation zu verdeutlichen, aber die Kamera funktionierte nicht so wie sie sollte. Hartmann konnte zwar den Auslöser drücken und fotografieren, aber das eingebaute Blitzlicht des Apparats schaltete sich nicht ein und so war auf dem kleinen Display der Kamera fast nichts zu erkennen.
Die anderen Teammitglieder waren schon vor Minuten in der nächsten Höhle verschwunden. Hartmann fühlte sich in der Nähe der verstümmelten Leiche alles andere als wohl, aber es half nichts, er musste diese Scheißaufnahme machen.
Mit feuchten Fingern versuchte er erneut, die Aufnahmeinstellungen zu verändern und endlich blinkte ein kleines rotes Licht und zeigte an, dass das Blitzlicht jetzt bereit war.
Hartmann hob die Kamera vor sein Auge und drückte den Auslöser. Als das gleißende Licht gegen das Holzkreuz geworfen wurde, schlug der Leichnam die Augen auf.
Ist eine Sinnestäuschung, versuchte sich Hartmann zu beruhigen. Kommt durch das Blitzlicht. Nach all der Dunkelheit ja auch kein Wunder.
„Wasser“, stöhnte der Verstümmelte.
Hartmann schrie auf. Er ließ seine Waffe fallen und rannte zum Ausgang des Labyrinths.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Sultan Murad und Radu müssen ziemlich überrascht ausgesehen haben, als sie erfuhren, dass ich mir den Walachischen Thron sicherte und mich im August des Jahres 1456 in der Kathedrale von Tîrgoviste zu „Fürst Vlad, Sohn von Vlad dem Großen, Herrscher über die Walachei und die Herzogtümer Amlas und Fâgâraş“ krönen ließ. Der Ungarnkönig Hunyadi, Verräter an meinem Vater und meinem Bruder, half mir dabei.
Das Reich, welches ich übernahm, war arm und wurde durch und durch von korrupten Beamten beherrscht. In all den Jahren der Gefangenschaft hatte ich genug Zeit gehabt, meine Machtübernahme zu planen und so schritt ich bei der Umsetzung dieser Pläne forsch voran. Gugusyoglu war ein guter Lehrmeister gewesen. Ich machte mir keine Sorgen darüber, ob ich die notwendige Härte für die Taten aufbringen würde, die vor mir lagen. Zunächst ging es darum, dem Adel und den wohlhabenden Bürgern zu zeigen, wer das Land nun regierte.
Am Ostersonntag lud ich sie alle nach Tîrgoviste in mein dortiges Schloss zu einem großen Festmahl aus Anlass meiner Thronbesteigung ein. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag, dessen Wärme einen heißen Sommer versprach. Ich ließ meine Gäste feiern, während ich selbst in einer dunklen Kammer den Ereignissen harrte, die nun kommen würden. Als das Mahl beendet war, umstellten meine Soldaten die Reichen und Mächtigen. Frauen und ältere Männer ließ ich vor den Stadttoren, weithin sichtbar für alle, lebendig pfählen.
Ich hatte das Pfählen nicht erfunden, sondern beobachtet, wenn mein Vater diese Art der Hinrichtung anordnete, wie es vollzogen wurde. Ich allerdings verfeinerte seine Kunst noch.
Zunächst mussten sich alle mit gebeugtem Haupt vor mich hinknien. Die angezogenen Oberschenkel wurden ihnen gekreuzt, die Füße zusammengebunden. Danach wurden ihnen stumpfe, eingefettete Pfähle in den Mastdarm geschoben. Die Pfähle wurden zu einem Wald aus lebendigen und schreienden Menschen aufgerichtet. Ich lauschte ihrem Kreischen, Flehen und Jammern, während die stumpfen Pfähle, die Organe beiseite schoben und sich durch das niederdrückende Gewicht einen Weg durch den Leib bohrten. Ihr Tod dauerte Stunden, aber ich genoss die Zeit, indem ich mir, eingehüllt in dicke Kleidung, mitten unter ihnen einen Tisch anrichten ließ und speiste. Ein Diener fragte mich, wie ich es schaffe, bei diesem Geschrei essen zu können. Ich ließ auch ihn pfählen.
Diejenigen, die ich nicht gepfählt hatte, ließ ich in die Fâgâraş-Berge treiben, wo sie hoch über dem Kamm des Argeş eine neue Festung für mich errichten mussten. Überraschender Weise überlebten einige der Bojaren auch diese Tortour. Ihre Pfähle zieren die Klippen unterhalb meiner Burg noch heute.
Durch diese stolze Tat hatte ich mir Respekt verschafft und man gab mir den Namen Tepes, „Der Pfähler“.
22. Der Felsendom
21.35 Uhr
Sie durchschritten die Felsspalte am anderen Ende der Höhle und folgten einem vom Wasser im Lauf der Jahrhunderte ausgewaschenen Gang, der sich scheinbar endlos in die Tiefe zog.
Schließlich erreichten sie eine weitere, viel größere Höhle als die vorangegangene. Die Kuppel dieses Felsendoms erstreckte sich so weit über ihren Köpfen, dass der Lichtschein der Lampen nicht bis zur Steindecke ragte. Steinbrocken bedeckten in unregelmäßigen Abständen eine Bodenfläche von der Größe zweier Fußballfelder. Daniel schluckte trocken, als die Erinnerung an diesen ort wiederkehrte. Hier waren die Drogenfelder gewesen. Im trüben Licht der Gasdampflampen hatten sich Pflanzen dem nicht vorhandenen Himmel entgegengestreckt. Und hier war es auch gewesen, wo ihn Adams Jünger überwältigt hatten.
Daniel wusste, die Höhle in der Adam ihn und die beiden anderen Beamten gequält hatte, konnte nicht weit entfernt sein. Auf seiner Flucht war er durch die damals noch existierenden Felder gekrochen, hatte zwischen hohen Pflanzenstielen um sein Leben gekämpft.
Bodrig und seine Männer sicherten das Areal. Als sie alles abgesucht hatten, kontrollierte der Kommandoführer nochmals ihre Position auf der Karte, bevor sie weitermarschierten. Daniel vermutete, dass diese Karte nach seinen Angaben gezeichnet worden war, aber vielleicht hatte Bodrig auch vom Vermessungsamt alte Vermessungsberichte bekommen.
Sie verließen den ‚Dom’ durch einen engen Schacht, der sie wieder zwang einzeln hintereinander zu kriechen. Daniel befand sich am Ende des Zuges und so erkannte er den Ort seiner Folter erst, als er sich aufrichtete und den Staub von seinem Kampfanzug abklopfte.
Die Erinnerung war ein Dämon, der ihn ohne Gnade befiel und ihn zwang, auf die Knie zu sinken. Sein Hals verengte sich. Daniel hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ächzend, stöhnend und hustend versuchte er, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, aber die Angst war mächtiger. Fischer hob eine Hand in den Strahl seiner Helmlampe und sah, dass sie heftig zitterte. Die Finger wackelten schnell vor seinen Augen und wirkten wie luftige Schemen, die jeden Augenblick davonfliegen konnten.
„Was ist mir dir los, Keppler?“, drang es dumpf an seine Ohren. Lampen richteten sich auf ihn. Ihr Licht fiel blendend in seine Augen und er schloss gepeinigt die Lider. Sein Brustkorb hob und senkte sich wie ein Blasebalg und noch immer wollte der Husten kein Ende nehmen. Fischer hörte das weiche Geräusch von Gummisohlen, die sich ihm näherten. Er öffnete die Augen und blickte auf schmutzstarrende Stiefel. Die Mitglieder des Teams bildeten einen Kreis um ihn. Dann hörte er Bodrigs Stimme.
„Was hast du? Ist dir schlecht?“
„Hört sich an, als würde er ersticken“, sagte eine andere Stimme. „Wir müssen ihm die Sturmhaube abnehmen.
Hände griffen nach Fischer, zwangen ihn sich auf den Rücken zu legen. Dann waren da Finger, die den Helm von seinem Kopf nahmen und ihm die Sturmhaube hoch in die Stirn schoben.
„Das ist nicht Keppler“, sagte jemand.
Bodrig beugte sich über Daniel. Das Licht seiner Helmlampe strahlte herab.
„Verflucht, das ist Fischer.“
„Fischer?“
„Der Typ aus der Waffenkammer“, klärte jemand den Fragesteller auf.
„Was zum Henker macht der hier?“
Schweigen. Schließlich sagte einer der Männer: „Sieht so aus, als wolle er bei der Show dabei sein.“
„Und wo ist Keppler?“
Niemand sagte ein Wort, da ihnen klar wurde, dass Keppler nicht dabei sein konnte. Sie waren, Bodrig mitgezählt elf Mann, da Fischer hier war, musste Keppler woanders sein und jeder vermutete sofort, dass Keppler nicht freiwillig seinen Platz im Team hergegeben hatte.
Zwei Fäuste packten Daniel an der Uniform. Er wurde scheinbar mühelos hochgehoben und auf die Füße gestellt. Bodrigs Gesicht war plötzlich ganz nah. Seine Augen funkelten zornig zwischen den Schatten, den seine Lampe warf.
„Was hast du mit Keppler gemacht?“
„Keppler geht es gut“, röchelte Daniel zwischen zwei Hustenanfällen.
„Wo ist er?“
„Gefesselt. In seinem Zimmer.“
Bodrigs Faust explodierte in seinem Magen und riss ihm die Beine weg. Daniel sank in sich zusammen, als wäre er eine Stoffpuppe ohne feste Glieder. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Es konnten nur wenige Augenblicke vergangen sein, denn als Fischer aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, befand er sich noch immer in der gleichen Höhle wie das Einsatzkommando. Die Männer umringten ihn und starrten auf ihn herab.
„Was machen wir mit ihm? Zurückschicken?“, fragte Andreas Hardt.
„Allein wird er kaum gehen und einen Mann abstellen, der ihn zurückbringt? Dadurch würde unser Team weiter geschwächt. Hartmann müsste inzwischen an der Oberfläche sein. In ein bis zwei Stunden wimmelt es hier unten von Beamten. Wir sollten weitergehen. Die Zeit läuft uns davon“, knurrte Bodrig.
„Und der da?“
„Kommt mit.“
Andreas Hardt lächelte verächtlich hinter seiner Sturmhaube. „Wie schon mein Großvater immer sagte: „Wenn er in die Hölle will, lass ihn gehen.“
Bodrig trommelte mit den Fingern seiner linken Hand auf den Lauf seines Gewehres.
Fischer, du dummes Arschloch. Immer bist du zur falschen Zeit am falschen Ort. Scheint dein Schicksal zu sein und deinem Schicksal will ich nicht im Weg stehen.
Er wandte sich an seine Männer. „Wir gehen weiter.“ Seine Hand deutete auf Fischer. „Ihn nehmen wir mit.“
Mehrere der Beamten protestierten. Sie wollten niemanden dabei haben, der nicht zum Team gehörte.
„Ruhe jetzt“, befahl Bodrig. „Ich habe entschieden, dass er mitkommt. Also Schluss mit den Diskussionen.“
Tim Merkan gab nicht nach. „Der Typ hält uns bloß auf.“
„Hat er bis jetzt auch nicht getan, außerdem war er schon einmal hier unten. Er kennt sich hier aus. Vielleicht kann er uns helfen, die Geisel zu finden.“
„Aber...“
„Nichts mehr ‚aber’. Wir gehen jetzt weiter.“
Bodrig drehte sich um und stapfte los. Widerwillig folgten ihm die Männer.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Nun war die Zeit der Rache gekommen. Noch im Sommer des gleichen Jahres, er war tatsächlich so heiß, wie der Ostersonntag es versprochen hatte, überquerte ich die Karpaten bei Nacht, als sich Wladislaw mit der Armee des Ungarnkönigs Hunyadi auf dem Rückzug von einem Gemetzel mit den Türken befand. Ich tötete den Verräter im Zweikampf. Sein Schädel sollte mir noch lange als Trinkgefäss dienen, bis ich es leid wurde, in seine leeren Augenhöhlen zu starren.
Nach außen hin versicherte ich jedem, der es hören wollte, dass ich ein Mann des Friedens sei, aber gleichzeitig machte ich deutlich, dass sich der Fürst der Walachei niemals unterwerfen würde. Um meinen neu gewonnen Ruf als besonders grausamer Herrscher zu festigen, erdachte ich noch einige andere „Untaten“. So ließ ich einer Abordnung genuesischer Botschafter, die sich weigerten, vor mir den Hut abzunehmen, eben diese Hüte auf dem Kopf festnageln. Aber auch im Landesinneren meines Reiches regte sich Widerstand. Man warf mir vor, nichts gegen die Armut zu unternehmen, die in meinem Volk herrschte. Als Antwort auf diesen Vorwurf ließ ich dreihundert Zigeuner in einem Saal einsperren und zwang sie sich gegenseitig zu braten und aufzuspeisen. Die wenigen, die überlebten, ließ ich mitsamt dem Gebäude verbrennen. Am dienlichsten aber war meinem Ruf eine Gegebenheit, bei der ich einen widerspenstigen Mönch mitsamt seinem Esel pfählen ließ. Seine Mitbrüder, die zusehen mussten, verbreiteten das Gerücht über meinen Wahnsinn in alle Lande.
23. Staub der Jahrtausende
21.55 Uhr
Es ging nicht mehr weiter. Das Spezialeinsatzkommando stand in einer weiteren Höhle, die sich nach einem niedrigen Gang direkt an Daniels ehemaligen Folterort anschloss. Der ovale, schlauchartige Raum, war zwanzig Meter lang und ungefähr acht Meter breit und endete vor einer nackten Felswand ohne jede Öffnung.
Bodrig wusste aus den Berichten der Beamten, die nach Fischers Auftauchen an der Oberfläche das Höhlenlabyrinth abgesucht hatten, dass es keine weiteren Ausgänge gab. Dementsprechend vorsichtig waren sie eingedrungen. Jedes Mitglied des Teams hatte seine Waffe durchgeladen und entsichert. Bodrig hatte zwei Mann vorgeschickt, die ihm meldeten, es sei niemand hier. Kein Adam Tepes, keine durchgeknallten Junkies und auch keine weibliche Geisel.
Aber sie mussten hier sein. Alles sprach dafür. Die Leiche des gekreuzigten Mannes bewies, dass er erst nach der Zuschüttung der Zugänge zum Höhlensystem ermordet worden sein konnte. Zum einen hätten die Beamten der Spurensicherung eine Leiche nicht übersehen, sondern abtransportiert und zum anderen konnte der Tod dieses Mannes nur wenige Tage zurückliegen. Sein Zustand war viel zu „frisch“.
Irgendwo auf dem Weg hierher mussten sie einen versteckten Gang übersehen haben, von dessen Existenz niemand wusste. Aber wo? Bodrig rief seine Männer zusammen.
„Wir haben ein Problem“, eröffnete er ihnen. „Eigentlich müssten hier irgendwo der oder die Kidnapper und die Geisel sein, aber wie ihr sehen könnt, ist dem nicht so.“
„Vielleicht sind sie nicht mehr hier oder waren noch nie hier. Wäre nicht das erste Mal, dass man uns an den falschen Ort schickt“, wandte Baumgärtner ein.
„Nein“, sagte Bodrig. „Sie müssen hier sein.“ Er erklärte ihnen seine Überlegungen und fragte dann: „Ist jemandem von euch irgendetwas auf dem Weg hierher aufgefallen. Könnten wir einen versteckten Eingang übersehen haben?“ Er wandte sich um. „Fischer, was ist mit Ihnen? Sie waren schon mal hier unten. Gibt es noch weitere Höhlen?“
Daniel stand zwei Meter abseits von den anderen. Er hatte sich wieder beruhigt und im Augenblick fühlte er sich lediglich ein wenig schwach auf den Beinen, aber die letzten zwanzig Minuten hatten ihm deutlich gemacht, dass niemand im Team auch nur eine Spur von Sympathie für ihn hegte. Im Gegenteil, als sie sich durch den letzten Gang gezwängt hatte, waren die Männer nicht besonders freundlich zu ihm gewesen und hatten ihn grob zur Seite gestoßen, als er Anstalten machte, als einer der Ersten in die nächste Höhle zu kriechen. Dass Bodrig ihn nun nach weiteren Höhlen fragte, erstaunte ihn, aber letztendlich blieb dem Kommandoführer wohl keine Wahl. Daniel wunderte sich ebenso, wie Bodrig darüber, dass das ganze Höhlensystem verlassen war. Auch er hatte damit gerechnet, auf Adam zu treffen und ebenso wenig wie die anderen Männer konnte er sich erklären, wohin Tepes und seine Gefolgsleute verschwunden waren.
Fischer schüttelte den Kopf, aber dann fiel ihm ein, dass niemand seine Geste in der Dunkelheit sehen konnte.
„Nein, soweit ich weiß, gibt es keine weiteren Höhlen.“
„Kennen Sie diese Höhle? Waren Sie schon mal hier?“
„Nein, weiter als bis zur letzten Höhle habe ich es nie geschafft und auch die habe ich nur von einem sehr niedrigen Standpunkt aus gesehen. Wir sollten beide Räume sehr gut absuchen.“
Bodrig schickte die Hälfte des Teams zurück. Er und die übrig gebliebenen Beamten untersuchten Zentimeter für Zentimeter die letzte Höhle, fanden aber nichts. Auch den anderen Männer ging es nicht besser. Der Raum, den sie absuchten, verbarg ebenfalls keine geheimen Gänge.
„Wir müssen zurück zum ‚Dom’“, sagte Bodrig, nachdem sich alle wieder versammelt hatten. „Wenn überhaupt, dann kann es nur dort einen weiteren Zugang geben.“
Mehrere der Männer fluchten leise. Sie waren nun schon seit Stunden im Einsatz. Obwohl es hier unten kühl war, schwitzten sie unter ihren Sturmhauben und beim Kriechen durch die engen Gänge scheuerte die Ausrüstung schmerzhaft gegen den Körper. Jeder von ihnen litt unter Durst. Ihre Münder waren so trocken wie der Staub der Jahrtausende, der den nackten Felsboden bedeckte. Die Aussicht noch weiter in diesem Labyrinth zu bleiben, machte sie missmutig und den meisten war schon jetzt das Schicksal der Geisel egal. Hauptsache, hier wieder heil herauskommen, dachten sie.
Der Anblick des gekreuzigten Mannes war ihnen allen durch und durch gegangen. Jemand, der einem anderen Menschen so etwas antat, musste geisteskrank sein und nichts fürchteten die Beamten mehr als einen unkontrolliert reagierenden Gegner, mit dem es von vornherein keine Verhandlungen gab. Sie spürten, sollten sie auf Adam Tepes und seine Gruppe treffen, würde es zum Äußersten kommen. Obwohl jeder von ihnen schon zahlreiche Einsätze erfolgreich durchgestanden hatte, war doch die Angst vor dem eigenen Tod und nicht zu ertragenden Schmerzen geblieben. An der Oberfläche wäre im Notfall innerhalb von wenigen Minuten Verstärkung und medizinische Versorgung vor Ort. Hier unten konnte alles passieren. Eine Verwundung konnte den Tod bedeuten. Die Vorstellung, dass einen die Kameraden blutend durch enge Felstunnel schleppten, während sich Drogensüchtige ein Feuergefecht mit ihnen lieferten, war schlichtweg abstrus. Nein, wer hier unten verletzt wurde, musste sehen, wie er zurechtkam.
Fischer spürte den Unmut der Männer ebenfalls, aber er hatte andere Probleme. Seine Prothese scheuerte gegen seinen wundgeriebenen Beinstumpf und die Schmerzen wurden immer unerträglicher. Mit zusammengebissen Zähnen stapfte er am Ende der Gruppe zurück zum ‚Dom’. Inzwischen konnte er nur noch hinkend gehen, wobei er sein rechtes Bein regelrecht hinterher schleppte. Trotzdem war er nicht unzufrieden. Er war hier unten. Obwohl man seine Identität aufgedeckt hatte, war er noch im Team und Bodrig zeigte Hartnäckigkeit bei der Jagd auf Adam Tepes. Ein anderer Kommandoführer hätte den Einsatz vielleicht abgebrochen oder auf weitere Verstärkung gewartet, aber nicht Bodrig. Obwohl er ebenfalls müde sein musste, ging er unverdrossen und ohne Rast an der Spitze der Gruppe. Bodrig war ein Arschloch wie es im Buche stand, aber Daniel gestand ihm zu, dass er Führerqualitäten hatte. Er hörte sich die Meinung seiner Männer zur jeweiligen Lage an, beriet sich mit ihnen, aber dann traf er die Entscheidungen und sorgte dafür, dass sie umgesetzt wurden. Er selbst nahm sich keinerlei Rechte heraus, die er nicht auch anderen zugestand. Diese Art hatte ihm den Respekt der Männer eingebracht, so dass sie ihm auch jetzt noch folgten, obwohl sie müde, durstig und verängstigt waren.
Das Einsatzkommando brachte den Rückweg zum ‚Dom’ zügig hinter sich. Da sie diesmal keine Gänge sichern mussten, standen sie nach kurzer Zeit wieder in der hohen Felsenkuppel, wo Bodrig die Männer in Zweierteams einteilte und jedem Team einen Abschnitt der Höhle zuwies, den es abzusuchen hatte.
Daniel und Domenico Lombardo waren einander zugeteilt worden. Sie leuchteten den mittleren Abschnitt mit ihren auf den Waffen montierten Lampen aus. Hier gab es zahlreiche Felsvorsprünge und die ansonsten glatte Wand wirkte zerklüftet, wie ein alter, verwitterter Berg. Sie begannen ihre Suche auf Augenhöhe, wobei sie den Schein des Lichtes nach unten wandern ließen, damit ihnen auch ein verstecktes Loch direkt über dem Boden nicht entging. Während sie die Wand absuchten, spürte Fischer, dass Lombardo ihn etwas fragen wollte. Es war die Art, wie er sich in seiner Nähe aufhielt und jedes Mal stehen blieb, wenn auch er stehen blieb.
Schließlich drehte sich Daniel zu ihm um. „Okay, du willst mich etwas fragen, richtig?“
Lombardo trat von einem Fuß auf den anderen. Er schien zu zögern, mit sich selbst zu ringen, ob er etwas sagen sollte oder nicht.
„Spuck es aus“, forderte ihn Fischer auf.
„Du warst schon einmal hier unten.“ Es war eine Feststellung, keine Frage. „Ich habe davon gehört, was dir passiert ist, weiß aber nichts Genaues. Was ich nun wissen möchte...nun, du bist Adam Tepes begegnet... ist er wirklich so gefährlich, wie man sagt?“
Daniel betrachtete ihn neugierig. Selbst im Halbdunkel konnte er die Angst erkennen, die sich in den Augen seines Partners spiegelte. Was sollte er ihm antworten? Die Wahrheit, dass Tepes ein geisteskrankes, zu allem fähiges Monster war, dem es Freude bereitete Menschen zu quälen und zu töten?
„Wir sind gut ausgerüstet.“ Daniel klopfte mit der Hand auf den Lauf seines Schnellfeuergewehrs. „Damals hat er mich und die beiden Beamten, die mich begleitet haben, überrascht. Das wird diesmal nicht geschehen.“
„Du weichst mir aus“, meinte Lombardo schlicht.
Fischer trat an ihn heran. „Es ist so, wie ich es sage.“
Lombardo stellte den alten Abstand wieder zwischen ihnen her. „Okay, man hat mir gesagt, dass du nicht zu den gesprächigen Typen gehörst.“
„Das hat damit nichts zu tun.“
„Womit hat es dann zu tun?“
„Vielleicht willst du die Wahrheit über Tepes gar nicht wissen?“
„Lass mich das entscheiden.“
„Wie du willst.“ Daniel sah ihm direkt in die Augen. „Tepes ist eine Bestie in Menschengestalt, umgeben von Junkies, die ebenso verrückt sind wie er selbst. Wenn wir nicht höllisch aufpassen, wird keiner von uns jemals wieder das Tageslicht sehen. Alles klar? Ist es das, was du hören wolltest?“
Überraschenderweise grinste Lombardo. „Jetzt fühle ich mich besser. Ich kann es nicht leiden, wenn ich nicht weiß, worauf ich mich einlasse. Noch eine Frage. Warum bist du dabei?“
„Wie man so schön sagt, Tepes und ich haben noch eine Rechnung offen“, raunte Daniel heiser, bevor er sich wieder umwandte und weiter die Wand absuchte.
„Wenn wir Tepes und seine verrückten Anhänger nicht finden, soll es mir Recht sein“, knurrte Tim Merkan. „Dieser Einsatz stinkt.“
„Halt die Fresse“, erwiderte Andreas Hardt. „Bodrig weiß, was er tut.“
„Einen Scheiß weiß er. Und jetzt schleppen wir auch noch diesen Typ aus der Waffenkammer mit. Die Sache wird böse ausgehen. Fischer ist ein schlechtes Omen.“
„So?“
„Er war schon einmal hier unten und ist Tepes begegnet, das Ergebnis kennen wir, zwei tote Beamte und er selbst sieht aus wie ein Monster.“
„Sei jetzt endlich ruhig und suche weiter.“
„Nein, mache ich nicht. Ich will hier nur noch raus. Bodrig mit seinem verdammten Ehrgeiz geht mir auf die Nerven. Er wird uns alle ins Unglück reiten.“
„Warum quatschst du mich voll? Geh hin und sag es ihm ins Gesicht.“
„Mache ich auch.“
„Na, da darf man ja gespannt sein“, spottete Hardt. „Bis es soweit ist, würde ich sagen, richtest du deine Lampe auf die Wand, damit ich etwas sehe.“
Nach und nach meldeten die Zweierteams über Helmfunk, dass ihre Suche ergebnislos geblieben war. Bodrig nahm die Mitteilung mit einem unprofessionellen Knurren auf und befahl allen weiterzumachen.
Fischer und Lombardo schritten ihren Teil der Höhle zum zweiten Mal ab, als Daniel seltsame Kratzspuren am Gestein auffielen. Er leuchtete nach oben. Ja, wenn man die Spuren einmal entdeckt hatte, waren sie deutlich zu sehen. Der Fels zeigte hellere Verfärbungen an Stellen, an denen Metall oder ein robustes Seil die Oberfläche abgescheuert hatte. Die Spuren begannen ungefähr auf anderthalb Meter Höhe und zogen sich bis zur Felsendecke hinauf, die von seiner Position aus im Dunkeln blieb. Er rief Lombardo zu sich, der zusätzlich den Strahl seiner Lampe nach oben richtete, aber der Lichtschein reichte nicht aus, um die Kuppel auch nur annähernd auszuleuchten.
„Wir haben etwas gefunden“, meldete Daniel über Funk.
„Was?“, wollte Bodrig wissen.
„Es gibt hier Spuren am Fels. Sieht so aus, als wäre jemand die Wand hinaufgeklettert.“
„Ich komme rüber.“
Kurz darauf stand der Kommandoführer neben ihnen. Er betrachtete die Hinweise, die Fischer entdeckt hatte und befahl alle Mitglieder des Einsatzkommandos zu sich. Bald darauf strahlten sämtliche Lampen zur Decke.
„Da oben ist ein seltsamer Schatten“, meinte Heilig schließlich. „Könnte ein Loch in der Felswand sein.“
Der Schatten von dem er sprach, befand sich knapp einen Meter unterhalb des Bogens, wo die Kuppel wieder in eine gerade Linie überging.
„Ich denke, du hast Recht“, sagte Bodrig, nachdem er zwei Minuten lang nach oben gestarrt hatte.
„Und was jetzt?“, wollte Baumgärtner wissen.
Bodrig würdigte ihn keines Blickes, als er sagte: „Einer von uns geht da hoch und überprüft die Sache.“
Die Männer waren alles andere als begeistert. Sie wussten, wer auch immer von ihnen da hochklettern musste, befand sich in einer sehr sensiblen Situation. Es wäre für Tepes und seine Leute ein Leichtes den Späher abzuschießen, bevor er auch nur in die Nähe des möglichen Einganges kam. Bodrig wischte ihre Einwände beiseite und bestimmte kurzerhand Andreas Hardt für die Aufgabe. Hardt war ein erfahrener Bergsteiger, der schon mehrfach Viertausender erfolgreich bestiegen hatte. Bei ihm war die Aussicht am Größten, dass er den Aufstieg unbeschadet überstehen würde.
„Geht das klar?“, fragte ihn Bodrig.
Hardt nickte. Er wirkte trotz der Gefahr ruhig und gelassen.
„Wir haben Felshaken dabei und sichern dich über ein Seil, sodass du nicht abstürzen kannst. Die Männer, die nicht am Seil stehen, schützen deinen Aufstieg.“ Bodrig wandte sich an alle. „Nehmt die Klappen von eueren Zielfernrohren und geht in Position. Wenn sich auch nur das Geringste da oben bewegt, feuert ihr. Wartet nicht auf mein Kommando. Schießt einfach.“
Die Männer kamen stumm seiner Anweisung nach, während sich Hardt das Seil geben ließ. Er legte seine Ausrüstung ab und zog sich die Sturmhaube vom Gesicht, bevor er den Helm wieder aufsetzte.
„Sonst kriege ich keine Luft“, war seine Erklärung, die Bodrig unwidersprochen stehen ließ.
Merkan öffnete seinen Rucksack und reichte ihm die Felshaken, einen Spezialhammer zum Einschlagen in den Stein und ein Abseilgerät und mehrere Karabinerhaken.
„Welche Waffen nimmst du mit?“, fragte er Hardt.
„Nur meine 38.er Special und Blendgranaten. Der Rest würde mich beim Klettern behindern.“
„In Ordnung, sei vorsichtig.“
„Wird schon schief gehen?“, meinte Hardt lapidar.
Hardt schlug über Kopf den ersten Haken in die Wand, fädelte einen Karabinerhaken ein und schob das Sicherungsseil durch, das Baumgärtner und Weber in die Hände nahmen.
„Nicht zu straff ziehen“, erklärte er ihnen. „Lasst mir Spielraum und spannt das Seil nur, wenn ich es sage.“
„Alles klar“, sagte Weber.
Der Rest des Kommandos ging in die Hocke und richtete die Waffen auf den schwarzen Schatten unterhalb der Felsdecke.
Hardts Finger tasteten nach oben, bis sie einen kleinen Steinsprung zu spüren bekamen. Er griff zu und zog sich ein Stück die Wand empor. Als er einen sicheren Tritt für seine Stiefel gefunden hatte, schob er sich wie ein Gecko weiter die Wand hinauf und fasste nach einer Spalte, in die er seine Hand klemmen konnte.
Obwohl die Männer Hardts Aufstieg sichern sollten, blickten sie immer wieder fasziniert zu ihrem Kollegen hinauf, der langsam, aber mit großer Geschicklichkeit die Höhlenwand bezwang.
Schließlich befand sich Hardt nur noch zwei Meter unterhalb des Loches. Er konnte nicht hineinsehen und hatte es auch nicht vor. Erneut schlug er einen Haken in den Fels und sicherte sich. Das Einschlaggeräusch wurde als Echo dumpfes von den Höhlenwänden zurückgeworfen. Hardt machte sich keine Illusionen, wenn jemand da oben war, würde er von seinem Kommen wissen, aber Hardt wollte es seinen Gegner nicht zu einfach machen. Er fasste nach hinten an seinen Gürtel und zog eine der Blendgranaten ab. Eigentlich hießen die Granaten im offiziellen Sprachgebrauch „Blendschockwurfkörper“ oder „Irritationskörper“, aber da sie in Form und Größe den Red-Bull-Getränkedosen ähnelten, hatte sich bei den Männern der Begriff „Dose“ durchgesetzt.
„Ich werfe jetzt eine Dose rein“, meldete Hardt über Funk, damit die Beamten, die ihn durch ihre Zielfernrohre sicherten, die Augen schließen konnten, um nicht geblendet zu werden.
„Okay“, kam es von Bodrig zurück. „Wir sind bereit.“
Hardt zog den Sicherungsstift der Granate, stieß sich mit beiden Füßen von der Felswand ab und schleuderte im richtigen Moment die Blendgranate in den Höhlenschlund über seinem Kopf. Eine Sekunde später jagte ein übernatürlich heller Blitz, gefolgt von einer ohrenbetäubenden Explosion durch die Höhle.
Hardt zögerte nicht und zog sich das restliche Stück rasch nach oben. Den Revolver in der Hand überwand er den Felsvorsprung und ließ sich zu Boden fallen. Das Licht seines Helmes wanderte rasch über durch den engen Gang, als er nach Gegnern suchte, die ihm auflauern konnten.
Fünf Sekunden später konnten die übrigen Männer hören, wie Hardt erleichtert die angehaltene Luft aus seinen Lungen entweichen ließ.
„Keiner zu Hause“, meldete ihr Späher.
„Was siehst du?“, fragte Bodrig.
„Einen Gang, der sich tief in den Fels hineinzieht.“
„Check ihn und mach Meldung.“
Sieben Minuten lang war von Hardt nur sein leiser Atem zu hören, dann sagte er: „Hier geht es weiter. Der Tunnel mündet in eine große Höhle. Es gibt Spuren, das jemand hier war. Essensreste, Verpackungen und abgebrannte Fackeln liegen herum. Sieht wie auf einer Müllhalde aus.“
„Irgendwelche Hinweise auf die Geisel?“, wollte Bodrig wissen.
„Kann ich nicht sagen, muss ich mir erst genauer anschauen.“
„Nein, komm zurück zum Loch. Befestige das Seil, damit wir nachkommen können. Sichere den Eingang, aber rühr dich nicht vom Fleck, bevor alle oben sind.“
„Verstanden.“
Sie hörten wie Hardt mehrere Haken in den Fels schlug, dann warf er ihnen sein Ende des Seils herunter.
„Ich gehe jetzt auf Position. Ihr könnt raufkommen.“
Bodrig gab seine Anweisungen. Nach und nach zogen sich seine Männer nach oben, bis nur noch er und Fischer unten standen.
Bodrig wandte sich zu ihm um. „Eines wollen wir gleich klarstellen. Ich könnte Sie hier unten lassen, aber ich habe gesagt, ich nehme Sie mit, also nehme ich Sie auch mit. Das heißt aber nicht, dass ich Sie von meinen Jungs da hochziehen lasse. Entweder Sie schaffen den Aufstieg allein oder sie bleiben hier. Ist das klar?“
Daniel nickte.
„Gut, dann los.“
Fischer griff nach dem Seil und zog sich hoch. Die Füße gegen die Wand gestemmt, hangelte er sich Zenitmeter für Zentimeter weiter nach oben. Trotz der Lederhandschuhe schmerzten seine Hände und die Muskeln in seinen Oberarmen begannen zu zittern. Sein rechtes Bein konnte er kaum einsetzen, da ihm durch die Prothese das Gefühl im Fuß fehlte und so musste er sich fast ausschließlich auf die Kraft seines Oberkörpers verlassen. Als er den Aufstieg bewältigt hatte, sank er schweißgebadet und vor Erschöpfung keuchend auf den Boden. Sein Herz raste in der Brust und er hatte das Gefühl, jedem Augenblick einem Herzinfarkt zu erliegen. Doch als Bodrig neben ihm auftauchte, riss er sich zusammen, nahm sein Schnellfeuergewehr von der Schulter und kroch zum restlichen Team, das sich am Eingang zur Höhle versammelt hatte.
Bodrig sprang als Erster den einen Meter höher gelegenen Vorsprung des Tunnels hinunter. Der Schein seiner Lampe durchschnitt die Luft und ließ den von ihm aufgewirbelten Staub glitzern. Er bedeutete dem Kommando, ihm zu folgen und die Männer bezogen Position.
Der Raum war fast kreisrund und wirkte mit den niedrigen Steinbrocken, die überall herumlagen, wie das Wohnzimmer der Familie Feuerstein aus der bekannten Comicserie. Hardt hatte die Situation, die er vorgefunden hatte, richtig beschrieben. Ganz offensichtlich war diese Höhle vor nicht allzu langer Zeit von mehreren Personen als Wohnstatt genutzt worden. Warum sich die Bewohner der Höhle allerdings zurückgezogen hatten, wurde nicht ersichtlich. Es schien kein plötzlicher Aufbruch gewesen zu sein, denn die herumliegenden Gegenstände bestanden nur aus Abfall, trotzdem blieb es ein Rätsel, wohin Adam Tepes und seine Jünger verschwunden waren.
„Hier drüben gibt es einen Ausgang“, meldete Lombardo.
„Sichern“, befahl Bodrig knapp.
Lombardo saß in der Hocke, die Waffe in die Dunkelheit einer weiteren Höhle gerichtet, während die anderen zu ihm aufschlossen.
„Sieht so aus, als habe sich unser Freund tiefer in den Untergrund zurückgezogen“, sagte Bodrig.
„Was machen wir jetzt? Wir müssen der Zentrale melden, was wir gefunden haben und neue Befehle abwarten“ Es war Tim Merkan, der aussprach, was alle dachten.
„Nein, wir gehen weiter.“
„Ich halte das für keine gute Idee“, widersprach Merkan. „Oben weiß niemand, wo wir sind.“
Bodrigs Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Wenn Hartmann mit der Verstärkung zurück ist, werden sie das Seil finden und sich denken, wo wir abgeblieben sind.“
„Leon“, versuchte es Merkan noch einmal. „Wir sind schon seit Stunden unterwegs und haben weder die Geisel noch Tepes aufgespürt. Wir sollten die neue Lage mit der Einsatzzentrale abklären.“
„Führst du jetzt das Kommando?“
„Nein.“
„Genau. Ich habe die Verantwortung und ich sage, wir gehen weiter. Tepes kann nicht weit sein. Er denkt, dass wir ihn hier oben nicht finden, also können wir ihn vielleicht überraschen. Jetzt umzukehren wäre absoluter Blödsinn. Wir haben ein klares Einsatzziel. Die Geisel muss hier irgendwo sein. Wenn wir jetzt Zeit dadurch verschwenden, dass wir uns erst mit der Zentrale beraten, die uns dann sowieso wieder losschickt, weil sie die Geisel nicht einfach ihrem Schicksal überlassen kann, wird es vielleicht zu spät für die Frau sein. Wir wissen nicht, was Tepes mit ihr vorhat und ich möchte es nicht dadurch herausfinden, dass ich einen verstümmelten Leichnam untersuche. Deshalb sage ich, wir gehen weiter. Irgendjemand anderer Meinung?“
Niemand wagte es, ihm zu antworten. Fischer erhob sich umständlich, richtete den Lauf seiner Waffe nach vorn und betrat die nächste Höhle.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Die Zahl meiner Feinde wurde Legion. Mehrfach versuchten die Türken, mich ermorden zu lassen. Hazma, ein Fürst wie ich es bin, hätte beinahe Erfolg gehabt. Ich hatte die Türken damit verärgert, dass ich eine ihrer Gesandtschaften pfählen ließ. Warum ich dies tat, weiß ich nicht mehr. Damals war ich unbeherrscht und es genügte schon eine kleine Respektlosigkeit, um meinen Zorn zu erregen. Hazma legte mir einen Hinterhalt, von dem ich aber durch einen verräterischen Getreuen aus seinem engsten Vertrautenkreis erfuhr. Als mir Hazma auflauerte, wusste er nicht, dass ihn meine Truppen bereits umzingelt hatten. An diesem Tag ließ ich viertausend Türken pfählen. Der Verräter, der mir Hazmas Plan angekündigt hatte, hing an einem Pfahl neben dem „Beg von Nicopolis“. Ich habe nichts für wankelmütige Charaktere übrig.
Dieser Zwischenfall verärgerte den türkischen Hof derart, dass Sultan Mehmed II. mit seiner Armee aus Arabern, Sepoy, Janitscharen und Anatoliern die Donau überquerte, um mich vom Thron zu vertreiben. In seinem Gefolge befand sich mein jüngerer Bruder Radu, der wohl nach meinem Sturz den Thron der Walachei einnehmen sollte. Ihr Heer war gigantisch. Einhundertfünfzigtausend voll ausgebildete Soldaten standen meinen nur schlecht bewaffneten dreißigtausend Bojaren gegenüber. Mir blieb nicht als der Rückzug. Eine offene Feldschlacht wäre blanker Wahnsinn gewesen. Auch wenn an den Höfen Europas stets das Gerücht kursierte, ich wäre geisteskrank, bewies doch meine Tat, dass ich durchaus in der Lage war, vernünftige Entscheidungen zu treffen.
Natürlich gab es in meinem Lager genug Anführer, die mir trotzdem zu einer klassischen Schlacht auf offenem Felde rieten. Für dermaßen unmodernen, an der Wirklichkeit vorbeigehenden Heldenmut hatte ich keine Verwendung. Ihre gepfählten Leiber waren das Erste, was die Türken von meiner Armee zu sehen bekamen.
Eine derartig riesige Armee, wie sie der Sultan gegen mich aufbot, wollte versorgt sein. Kein Heerestross der Welt kann so viele Vorräte mit sich führen. Ich beschloss, dass kein Türke auch nur ein Weizenkorn meines Landes und keinen Tropfen Wasser zu sich nehmen sollte. Auf unserem Rückzug ins Zentrum meines Reiches ließ ich alle Felder niederbrennen. Das Vieh wurde zusammengetrieben und geschlachtet, sämtliche Brunnen vergiftet. Ich legte mein eigenes Land in Schutt und Asche und spürte... ich fühlte nichts beim Anblick meiner verhungernden Bauern. Hier ging es nicht um eine einzelne Schlacht, einen kleinen Krieg. Nein, eine Niederlage würde den Untergang des Reiches bedeuten. Die Walachei, unsere geliebte Heimat, würde dem türkischen Reich einverleibt werden und aufhören zu existieren. Ich musste hart, ich musste grausam sein, wollten wir alle überleben.
24. Die Wogen eines steinernen Ozeans
23.17 Uhr
Es war eine neue Welt, in die sie eintraten. Schön und verwirrend zugleich offenbarten sich ihnen die Wunder der Natur. Schlanke Stalaktiten hingen wie von Zauberern gesponnene Fäden von der Felsendecke herab, strahlten und glitzerten im Schein der Lampen. Massige Stalagmiten, im Lauf der Jahrtausende von herabtropfendem kalkhaltigem Wasser erschaffen, erinnerten an die Orgelpfeifen großer Kathedralen. Trotz der Strapazen und der nervlichen Angespanntheit genossen die Männer den Anblick für einige kurze Momente, bevor sie weitermarschierten.
Der Boden war nun nicht mehr ebenerdig, sondern wölbte sich wie die Wogen eines steinernen Ozeans auf und nieder. Der Weg wurde rutschig und die Anstrengungen nahmen durch die Kletterei über mächtige Hindernisse noch zu.
Daniel konnte über den Helmfunk das Keuchen der anderen hören und er war dankbar, als Bodrig das Zeichen für eine Rast gab. Die Männer sanken auf die nackte Erde nieder und legten Waffen und Helme ab. Als Weber seine Sturmhaube vom Gesicht riss, machte es ihm der Rest des Kommandos nach. Bodrig schritt nicht ein, sondern zog sich selbst die Maske über den Kopf.
Eine Zeitlang sprach niemand, dann plötzlich sagte Baumgärtner: „Ich höre Wasser.“
Alle lauschten angestrengt. Und tatsächlich, das leise Glucksen eines unterirdischen Baches drang aus einem Stollen hervor. Baumgärtner zögerte nicht. Er hob seinen Helm auf und kroch in den Gang hinein. Kurz darauf vernahmen die anderen seinen heiseren Jubelschrei.
Baumgärtner kehrte zurück und aus seinem Helm schwappte Wasser auf den Boden. Einer nach dem anderen nahmen die Polizisten das ungewöhnliche Trinkgefäß entgegen und löschten dankbar den Durst. Bodrig gab den Männern den Befehl, die mitgeführten Energieriegel zu essen. Erst jetzt, beim Anblick der ausgepackten Rationen, verspürten die Männer Hungergefühle und machten sich über die Riegel her. Fischer saß neben Lombardo, der genussvoll an einem Müsliriegel mit Schokoladenüberzug kaute.
„Mann“, sagte Lombardo. „Ich hätte nicht gedacht, dass mir das Zeug einmal so schmeckt.“
Daniels Gesicht verzog sich zu einem Grinsen.
„Du siehst furchtbar aus, wenn du lächelst“, meinte Lombardo.
„Weiß ich.“
„Wie war es... damals?“
„Fängst du schon wieder an.“
Lombardo zuckte mit den Schultern, so als könne er gar nicht anders, als immer wieder zu fragen.
Fischer blickte ihn eindringlich an, dann sagte er: „Wir waren zu dritt. Ein Junkie hatte uns den Hinweis auf Drogen gegeben, die hier unter der Erde angebaut wurden. Zunächst glaubte ihm niemand, aber als man das Zeug im Labor einigen Tests unterzog, stellte sich heraus, dass es von einzigartiger Qualität war.“
Fischer bemerkte aus dem Augenwinkel, wie die anderen Beamten des Kommandos näher rückten, um seine Worte zu hören, da er seinen Helmfunk abgeschaltet hatte.
„Also gingen Rau, Schneider und ich der Sache nach. Wir sind durch die gleichen Höhlen gekrochen wie ihr und stießen im ‚Dom’ auf gigantische Mohnfelder. Und dann kamen sie. Sie überraschten uns völlig und es gab keine Gegenwehr.“
Bodrig kam herübergeschlendert, aber Daniel sprach weiter. „Ich wurde niedergeschlagen und verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war es für Rau und Schneider schon zu spät. Tepes hatte sie pfählen lassen. Für mich hat er sich etwas Besonderes ausgedacht.“
Daniel lachte und es klang wie das bösartige Knurren eines tollwütigen Hundes. „Er hat mir etwas gespritzt. Irgendein Medikament, das mich vollkommen lähmte. Dann sprach er zu mir, wie man mit einem Kind spricht.“ Fischer öffnete seine Jacke und sein Hemd, entblößte seine nackte Brust. „Er hatte ein Messer.“
Die Männer hielten die Luft an, als sie die immer noch deutlichen Narben im Schein von Fischers Lampe anstarrten.
„Carpe Diem“, sagte Daniel. „Genieße den Tag.“ Er schloss sein Hemd wieder und zog die Jacke zusammen. „Dann ließ er mich für die Ratten zurück.“
„Scheiße“, sagte Heilig. „Aber du bist da rausgekommen.“
„Ja“, meinte Fischer leise. „Aber manchmal wünsche ich mir, es wäre mir so wie Schneider und Rau ergangen.“
Bodrig unterbrach das Gespräch, indem er den Befehl zum Aufbruch gab. Alle legten wieder ihre Ausrüstung an und nahmen die Waffen in die Hände. Als die anderen losgingen, kam der Kommandoführer zu Daniel herüber.
„Ab jetzt keine Gute-Nacht-Geschichten mehr. Ist das klar?“
Wichser, dachte Daniel und folgte den anderen.
Jürgen Baumgärtner hatte sich an das Ende der Marschkolonne zurückfallen lassen, da ihn ein heftiges Wühlen in seinen Därmen darauf aufmerksam machte, dass er zuviel von dem eiskalten Wasser getrunken hatte. Sein Verdauungstrakt war schon immer sehr empfindlich gewesen, aber diesmal hatte er das Gefühl, als würde er gleich explodieren. Also ging er so langsam, bis der letzte der Gruppe vor ihm um einen Bogen verschwand. Dann zog er die Hose herunter und hockte sich hin. Jürgen Baumgärtner war so mit seinem Stuhlgang beschäftigt, dass er den, sich leise nähernden Schatten erst bemerkte, als es schon zu spät war. Eine trockene, schwielige Hand schloss sich um seine Stirn und riss seinen Kopf nach hinten. Die Klinge eines scharfen Messers fuhr wie ein metallener Draht über seine Kehle. Baumgärtner verspürte keinen Schmerz, aber Angst erfüllte ihn. Er wollte schreien, doch kein Laut verließ seinen aufgerissenen Mund. Schließlich rollten seine Augen ein letztes Mal in den Höhlen und er sank stumm in sich zusammen.
Der Schatten hob den Leichnam auf, legte ihn sich über die Schulter und verschwand wieder in der Dunkelheit.
Merkan versuchte nochmals mit Hardt über den Einsatz zu sprechen. Er schloss zu dem Kollegen auf, der am Ende der Marschkolonne ging.
„Andreas, rede du doch mal mit Bodrig, auf dich hört er vielleicht. So kann es doch nicht weitergehen. Bodrig führt uns immer tiefer unter die Erde und niemand weiß, wo wir sind.“
„Du hast ihn doch gehört. Tepes kann nicht mehr weit weg sein. Der Typ glaubt sich in Sicherheit, also dürften wir leichtes Spiel haben.“
„Das ist doch Quatsch. Dieser Tepes ist ein ganz gefährlicher Hund, der macht es uns nicht einfach. Wahrscheinlich weiß er längst, dass wir kommen.“
Hardt blieb stehen. „Tim, ich sage es jetzt zum letzten Mal. Lass mich in Ruhe. Wenn du Probleme mit diesem Einsatz hast, klär’ das mit Bodrig.“
„Und ich dachte, du bist ein Kumpel.“
Hardts Blick bohrte sich in seine Augen. „Hier und jetzt bin ich im Dienst und nichts anderes.“
Merkan ließ sich wieder zurückfallen.
Und was mache ich jetzt?, fragte er sich in Gedanken.
Nach dem Durchqueren der Tropfsteinhöhle erreichte das Kommando einen tiefen Abgrund über den sich eine zerbrechlich aussehende, natürliche Steinbrücke wölbte. Wie der Bogen eines Aquädukts spannte sich die Brücke über eine Felsspalte, die mindestens dreißig Meter breit und unergründlich tief war. Von unten drang das wilde Rauschen eines Flusses herauf. Die Luft war noch kälter und mit so hoher Luftfeuchtigkeit angereichert, dass ihnen das Atmen schwerfiel.
Bodrig blieb am Rand des Abgrundes stehen und lenkte den Schein seiner Lampe nach unten, aber die Finsternis war dort unten vollkommen. Er Anstalten machte weiterzugehen, da trat Merkan neben ihn.
„Das kannst du nicht verlangen, Leon“, sagte er wütend. Bodrigs Blick stampfte ihn in den Boden. „Du bist beim SEK, und das da...“ Seine Hand deutete auf die Steinbrücke. „...sollte jemanden wie dich nicht abschrecken.“
Merkan wich zurück. Er wandte Unterstützung suchend den Blick um, aber alle anderen sahen betreten zu Boden. „Ihr wollt da wirklich rübergehen? Seid ihr bescheuert?“
„Wir sind so weit gekommen, ich habe keine Lust erfolglos umzukehren“, sagte Hardt unwirsch.
„Und danach.“ Merkan hatte sich in Rage geredet. „Was kommt als Nächstes?“
Hardt zuckte mit den Achseln.
„Das hier ist schon lange kein normaler Einsatz mehr. Leon schnappt langsam über und hat schon längst jedes Maß und Ziel verloren, aber ihr folgt ihm wie eine Herde Schafe.“
Plötzlich war Bodrig vor ihm. Die offene Hand des Kommandoführers stieß hart gegen Merkans Brust, der rückwärts stolpernd zu Boden fiel.
„Ich habe die Schnauze voll von deinem Gejammer.“ Bodrigs Gestalt ragte drohend über ihm auf. „Dann bleib halt hier oder geh zurück. Ist mir scheißegal, was du machst. Aber wenn wir wieder oben sind, hat die Sache ein Nachspiel.“
Merkan sprang wild auf die Füße. Seine Augen funkelten wütend und alle dachten, er würde sich auf Bodrig stürzen, aber dann schulterte er sein Gewehr und verschwand in dem Höhlengang, aus dem sie gekommen waren.
„Noch jemand?“, fragte Bodrig.
Niemand antwortete ihm.
„Dann los. Lombardo, du wie immer zuerst. Der Rest folgt in einem Abstand von jeweils zwei Metern. Wir werden uns mit dem Seil sichern, falls einer ausrutscht.“
Keiner bemerkte, dass Jürgen Baumgärtner nicht mehr bei ihnen war.
Wie an einer Perlenschnur aufgezogen, marschierten die Männer auf die Brücke. Lombardo hielt seine Lampe nach unten gerichtet und setzte langsam einen Fuß vor den anderen. Fischer ging direkt hinter ihm. Die Brücke war zunächst noch ausreichend breit, aber zur Mitte hin, auf dem Gipfel des Bogens verengte sie sich zu einer nur wenige Zentimeter breiten Stelle.
Lombardo überwand die Verengung durch einen großen Schritt, aber Daniel mit seiner Beinprothese konnte es ihm nicht nachmachen. Verunsichert blieb er stehen. Von hinten drängten die anderen nach und kurz darauf, standen sie alle wie eine Gruppe verirrter Touristen auf dem schmalen Grat.
„Was ist denn, Fischer?“, schnauzte Bodrig von hinten. „Warum gehst du nicht weiter?“
Daniels Helmlampe tanzte unruhig hin und her. Ihr Licht fiel in die Tiefe und Fischer erschauerte. Die Angst kam zurück. Wie gelähmt starrte er in den Abgrund, unfähig sich zu bewegen.
„Gib mir deine Hand“. Lombardo hatte Daniels Schwierigkeiten erkannt und war zurückgekehrt.
Fischer hob den Kopf an. Lombardos ausgestreckter Arm ragte körperlos aus der Dunkelheit.
„Nimm meine Hand“, sagte Lombardo eindringlich.
Fischer blickte auf seine eigene Hand, die sich wie in Zeitlupe nach vorne ausstreckte.
„Und jetzt geh einfach.“
Daniel machte einen Schritt und stolperte über ein Hindernis.
Es war ein flach über dem Boden gespannter Kontaktdraht, der zu einer Sprengladung unterhalb der Steinbrücke führte.
Die Explosion war nicht besonders laut, aber die Brücke wurde heftig erschüttert. Daniel hatte plötzlich das Gefühl der Stein unter seinen Füßen verschiebe sich unkontrolliert in jede Richtung. Dann brach die Bücke auseinander.
Lombardo brüllte etwas, aber Fischer verstand kein Wort. Er warf sich nach vorn und klammerte sich an dem schwankenden Stein fest. Der hinter ihm gehende Weber wurde mitgerissen und fiel neben ihm zu Boden. Daniel spürte, wie sich Weber an ihm festkrallte und dann wurden sie beide langsam, aber unaufhaltsam zum Bruchrand der Brücke gezogen.
Fischer warf einen Blick über die Schulter und was er sah, nahm ihm jede Hoffnung. Hinter Weber kämpfte Bodrig um sein Leben. Das Seil in seinen Händen verschwand straff gespannt in der Tiefe. Dort wo eben noch Heilig und Hardt gestanden hatte, klaffte nun ein gigantisches Loch in der Brücke. Daniel begriff, dass die beiden abgestürzt waren und nun, nur durch das Gegengewicht der anderen gehalten, in der Tiefe baumelten.
Von Heilig war nichts zu hören, vielleicht war er bewusstlos, aber Hardt brüllte immer wieder nach oben: „Lasst mich nicht fallen. Lasst mich nicht fallen.“
Daniel drehte sich wieder um. Der Schein seiner Helmlampe tanzte über Lombardos Stiefel, der sich ebenso wie er am Boden festklammerte.
„Zieh“, rief ihm Fischer zu, während er selbst die Finger noch stärker in den Fels krallte und sich vorwärts zog. Er hatte kaum zehn Zentimeter geschafft, als ihn das straffe Seil wieder einen halben Meter nach hinten zog. Wütend, die Zähne zusammengebissen, verdoppelte er seine Anstrengungen.
Merkan bekam von der Katastrophe nichts mit. Er war längst wieder in das Höhlenlabyrinth eingetaucht und auf dem Rückweg. Innerlich aufgewühlt, aber mit dem Gefühl richtig gehandelt zu haben, stapfte er durch einen langen Gang, an den er sich kaum noch erinnern konnte.
Bodrig würde die anderen ins Verderben führen, da war sich Merkan sicher. Er bedauerte seine Kollegen, aber andererseits hatte jeder von ihnen die Gelegenheit gehabt, sich gegen Bodrigs Befehl zu stellen. Ein bitteres Lächeln kroch über sein Gesicht.
Sie haben mich allein gelassen. Verflucht allein muss ich mich auf den weiten Rückweg machen.
Er war ein wenig verunsichert bei dem Gedanken, wie die Einsatzzentrale sein Verhalten einschätzen würde und je länger er darüber nachdachte, desto unsicherer wurde er.
Vielleicht sollte ich doch zu den anderen zurückgehen, grübelte er. Bodrig würde möglicherweise ein Auge zudrücken und die Sache später nicht erwähnen, wenn er sich unterwürfig genug entschuldigte. Der Kommandoführer war zwar ein harter Kerl, aber Merkan wusste auch, dass er nicht viel von den Schreibtischbeamten in der Einsatzzentrale hielt. Die Chancen standen nicht schlecht, ohne einen Verweis aus dieser Angelegenheit herauszukommen.
Merkan blieb kurz stehen und fischte den letzten Energieriegel aus seiner Hosentasche. Während er das Für und Wider abwog, zurückzugehen oder nicht, nahm sein Zorn wieder zu.
Schließlich traf er eine Entscheidung. Er würde Bodrig nicht die Genugtuung geben, angekrochen zu kommen und um Gnade zu winseln.
Scheiß auf Bodrig. Scheiß auf sie alle.
Merkan warf das Alupapier des Energieriegels achtlos auf den Boden. Er machte einen Schritt nach vorn und glitt aus. Hart schlug er auf dem Rücken auf. Noch während er benommen am Boden lag, fragte er sich, wieso es hier plötzlich so rutschig war. Bis zu dieser Stelle war der Steinboden so trocken wie sein Mund gewesen und nun lag er auf dem Rücken und keuchte nach Luft.
„Genau das hat mir noch gefehlt“, fluchte er laut und hoffte innerlich, dass er sich nichts gebrochen oder verstaucht hatte.
Bodrig, Weber, Lombardo und Fischer kämpften um das Leben ihrer Kameraden, aber es war ein aussichtsloser Kampf. Sie hatten einen Pattzustand gegen den Abgrund erreicht und ihre Rutschfahrt zur Bruchkante gestoppt, aber ihre erschöpften Muskeln schmerzten, während Heilig und Hardt noch immer in der Tiefe baumelten.
Fischer keuchte. Seine Hände brannten wie Feuer und doch spürte er, wie das Seil wieder langsam durch seine Finger glitt. Er versuchte den Absatz seines linken Stiefels im Fels zu verkeilen, aber die Oberfläche war zu glatt, es gab keinen Halt.
Hinter ihm schnaufte Lombardo. Zwischen seinen Atemzügen fluchte er auf italienisch oder flehte die heilige Madonna an, ihm zu helfen.
Leon Bodrig stieß wie ein blasender Wal die Luft aus und lehnte sich mit dem Gewicht seiner zwei Zehnter gegen das Seil, aber so sehr er sich auch anstrengte, es gelang ihnen nicht, die beiden Kollegen heraufzuziehen.
„Zieht!“, brüllte Bodrig nach hinten. „Zieht.“
Merkan setzte sich auf. Mit fliegenden Fingern tastete er seinen Körper und seine Beine bis zu den Knöcheln ab. Alles schien in Ordnung zu sein. Erleichtert wollte er aufstehen, als ein nackter Fuß in den Schein seiner Lampe trat. Merkan zögerte. Sein Kopf ruckte nach oben und der Lichtschein tanzte über ein verschmutztes Gesicht, das auf ihn herabgrinste.
Die Haare des Mannes waren zu verklebten Zöpfen geflochten und die buschigen Augenbrauen und der wild wuchernde Bart verliehen ihm ein unheimliches Aussehen. Er stand ruhig da, die Arme baumelten an seinem nackten Körper herab und Merkan sah, dass er unbewaffnet war. Ohne den Mann aus den Augen zu lassen, tastete er nach seinem Gewehr, aber bei seinem Sturz war es außer Reichweite gerutscht. Tim Merkan gab die Suche auf und fingerte seinen schweren Revolver aus dem Holster. Die Waffe auf den Fremden gerichtet, erhob er sich umständlich.
„Bleib ruhig stehen, mein Freund. Beweg dich nicht. Keine einzige Bewegung oder das Ding macht ein höllischen Lärm“, sagte Merkan.
Der andere schien unbeeindruckt und lächelte ihn an.
„Was machst du hier?“, fragte Merkan. „Gehörst du zu Tepes?“
„Ich warte“, sagte der Mann.
Merkan fixierte ihn. „Worauf wartest du?“
„Auf deinen Tod.“
Tim Merkan spürte das Messer nicht, das durch sein Genick gerammt wurde und aus seinem im Sterben offenen Mund wieder austrat. Er blickte den Fremden an. Und wunderte sich über dessen seltsame Antwort.
Lombardo, Weber und Fischer gaben ihr Bestes, aber ihre Kraft neigte sich dem Ende.
„So hat es keinen Zweck“, rief Bodrig keuchend nach unten. „Andreas, du musst am Seil nach oben klettern. Wir können euch nicht mehr lange halten.“
„Heilig ist bewusstlos“, schrie Hardt herauf. „Er bewegt sich nicht. Mit seinem Gewicht an mir, schaffe ich es nicht.“
„Schneid ihn ab“, befahl Bodrig.
Einen Moment lang herrschte Stille. Ohrenbetäubende Stille, als allen bewusst wurde, was der Kommandoführer von Hardt verlangte.
Hardts Antwort kam leise nach oben geschwebt. „Nein, das werde ich nicht tun.“
„Du musst es...“
Dann riss das Seil unter der Belastung. Es explodierte regelrecht und das zerfaserte Ende zischte wie eine fliehende Schlange in den Abgrund.
Hardt schrie, während Heilig schweigend starb.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Der Sommer unseres Rückzugs war ungewöhnlich heiß und die Strapazen für mich und meine Männer unmenschlich. Abertausende meiner Bojaren flohen in feiger Angst, aber die Soldaten, die bei mir blieben, wurden in einem irdenen Tiegel zu Stahl geschmiedet.
Um den Türken ihren Vormarsch nicht zu leicht zu machen, ließ ich sorgfältig getarnte Gruben mit spitzen Pfählen darin, ausheben. Manchmal hörten wir in der Nacht die Schreie derjenigen, die hineingestürzt waren.
Da ich einen großen Angriff auf das türkische Heer nicht riskieren konnte, verlegte ich meine Taktik auf nächtliche Überfälle aus dem Hinterhalt. Wir umgingen die aktiven Truppen und nahmen uns den im großen Abstand folgenden Heerestross vor. Vorräte, die wir fanden und nicht mit uns führen konnten, verbrannten wir neben den gepfählten Leibern der Verwundeten und Kranken, die uns in die Hände gefallen waren.
Meine Bojaren suchten in den Leprakolonien und in den von der Pest heimgesuchten Ruinen meiner Städte nach Kranken, die wir mit türkischer Kleidung ausstatteten, dem Feind entgegentrieben.
Obwohl wir erfolgreich die Hauptarmee der Türken mit bis zu zehtausend Mann hinterrücks und bei Nacht angriffen und dabei einige Erfolge vorzuweisen hatten, ging der türkische Vormarsch ungehindert weiter. Als Mehmed nun auf Tîrgoviste vorrückte, erwartete ihn eine Überraschung.
Meine Überfälle hatten mir zwanzigtausend türkische Gefangene eingebracht, die ich auf der Ebene vor der Stadt pfählen ließ. Es war ein Wald aus Holz und Fleisch. Der Zeitpunkt der Pfählungen war so gewählt, dass viele der Geschundenen noch am Leben waren und laut jammerten, man solle sie töten, als Mehmed mit seiner Armee eintraf.
Diese letzte Aktion brach den Willen der Angreifer. Man erzählte mir später, Sultan Mehmed habe sich mehrere Stunden lang beim Anblick, des von mir geschaffenen Waldes erbrochen, bevor er mit seinem Heer den Rückzug in die Heimat antrat.
25. Die Augen im Tod staunend
00.36 Uhr
Lombardo war auf der anderen Seite des Abgrundes niedergesunken und vergrub das Gesicht zwischen seinen Händen. Fischer nahm an, dass er weinte, aber er ging nicht zu ihm hinüber, um ihn zu trösten. In diesem Augenblick wollte er allein sein.
Bodrig stand nicht weit entfernt neben Weber und hatte ihm den Arm um die Schulter gelegt. Daniel konnte hören, wie er leise auf den anderen einsprach, aber er verstand die Worte nicht. Bodrig wandte sich plötzlich um und strahlte mit seiner Lampe zur Felsbrücke hinüber. Er wirkte verwirrt, sagte etwas zu Weber, der den Kopf schüttelte und kam zu Fischer herüber.
„Wo ist Baumgärtner?“, fragte Bodrig.
Lombardo blickte nicht einmal auf. „Keine Ahnung.“
„Was soll das heißen „keine Ahnung“? Spinnst du? Ich will wissen, wo er ist oder wann du ihn das letzte Mal gesehen hast?“
„Weiß ich nicht.“
Bodrig sah Fischer eindringlich an. „Was ist mit dir? Weißt du, wo er abgeblieben ist?“
Daniel stand noch unter dem Einfluss des Geschehens auf der Brücke, dass Baumgärtner fehlte, war ihm nicht aufgefallen. Hier im Dunkel, den Lichtstrahl der Lampe stets auf die Füße gerichtet, bemerkte man es nicht, wenn jemand nicht mehr nachkam.
„Als wir Rast machten, war er noch da, später...“ Fischer hob entschuldigend die Hände. „...habe ich nicht mehr auf ihn geachtet. Vielleicht ist er mit Heilig und Hardt abgestürzt.“
„Nein“. Bodrig schüttelte energisch den Kopf. „Er muss schon vor dem Übergang über die Brücke gefehlt haben. Heilig war der Letzte in der Reihe. Nach ihm kam keiner mehr.“ Er ballte die Fäuste. „Nein, jetzt, wo ich darüber nachdenke, bin ich mir sicher, dass er schon vorher gefehlt hat. Ich glaube, die feige Ratte hat sich nach der Rast abgesetzt und marschiert jetzt mit vollen Hosen zurück zur Oberfläche.“
Lombardo mischte sich ein. „Jürgen ist nicht feige und das weißt du genau, also red’ nicht so einen Schwachsinn. Ihm muss etwas passiert sein. Vielleicht ist er ausgerutscht, liegt jetzt verletzt in einer Höhle und betet dass wir bald zurückkommen.“
„Glaube ich nicht“, widersprach Bodrig. „Ich habe mehrfach versucht, ihn über Helmfunk zu erreichen. Er meldet sich nicht.“
„Könnte ja sein, er ist bewusstlos oder sein Funkgerät wurde beschädigt.“
Leon Bodrig bleckte die Zähne. „Wenn es so sein sollte, wird ihn Merkan finden. Allzu viele Möglichkeiten ihn zu verfehlen, gibt es ja nicht. Trotzdem, meiner Meinung nach, hat er sich verpisst.“
Lombardo wirkte ganz ruhig, als er sagte: „Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, was für ein Riesenarschloch du bist?“
„Nein, aber jetzt hast du endlich ausgespuckt, was du über mich denkst. Ich hoffe, du fühlst dich besser.“
„Besser? Bist du von allen guten Geistern verlassen. Heilig und Hardt sind tot, Baumgärtner vielleicht schwer verletzt und wir sitzen hier fest, von der Außenwelt abgeschnitten und ohne Hoffnung, aus diesen Scheißhöhlen je wieder rauszukommen.“
„He, mal langsam. Das mit Hardt und Heilig tut mir leid. Es war ein Unfall. Andreas war mein Freund. Mich schmerzt sein Tod am meisten.“
„Es war kein Unfall“, schrie Lombardo. „Vielleicht ist es dir entgangen, aber die Steinbrücke wurde durch eine Sprengladung in die Luft gejagt. Wir hätten auf Tim hören sollen und umkehren, als noch Gelegenheit dazu war. Aber nein, du mit deinem beschissenen Ehrgeiz befiehlst uns, weiter vorzurücken.“ Der kleine Mann begann laut zu schluchzen. „Wir kommen hier nie wieder raus.“
Bodrig trat an ihn heran, wollte ihn berühren, aber Lombardo wischte seine Hand beiseite.
„Mach langsam, Domenico. Wir schaffen es. Entweder wir finden einen Ausgang oder die Verstärkung mit der Hartmann hoffentlich bald auftaucht, holt uns hier raus.“
Lombardo wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke über das Gesicht. Die Aussicht auf Rettung schien ihn zu beruhigen.
„Aber wir gehen nicht weiter?“
„Nein“, meinte der Kommandoführer. „Wir bleiben hier.“
Sie saßen zu viert auf dem nackten Felsboden. Schweigend, jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend. Es war Weber, der plötzlich aufsprang und freudig ausrief: „Ich sehe ein Licht. Dort auf der anderen Seite der Schlucht.“
Alle rappelten sich auf und starrten in die Richtung aus der sie gekommen waren.
„Könnte auch Merkan sein, der es sich anders überlegt hat“, knurrte Bodrig.
„Nein, es sind zwei Lampen“, beharrte Weber.
„Also Merkan und Baumgärtner“, meinte Bodrig. „Vielleicht haben sie die Explosion gehört.“
„He Tim. He Jürgen“, rief Weber über den Abgrund. Die Strahlen der Lampen, die auf sie zukamen, wackelten unruhig in der Dunkelheit. „Wir sind hier drüben.“
Es erklang keine Antwort.
„Die hören uns nicht“, meinte Weber verwundert.
„Da stimmt etwas nicht“, zischte Fischer. „Zumindest Merkans Helmfunk müsste...“ Weiter kam er nicht.
Ein Kugelhagel prasselte auf sie ein. Die knatternden Explosionen der auf Dauerfeuer gestellten Gewehre erfüllten die Höhle. Fischer warf sich zur Seite und prallte hart auf den Boden. Neben ihm kreischte Lombardo auf. Bodrig brüllte immer wieder „Deckung“. Er schien nicht weit entfernt zu sein.
Einzig von Weber war nichts zu hören.
Sebastian Weber stand noch immer auf beiden Beinen und starrte verwundert hinüber zu den vermeintlichen Kameraden, die ohne Grund auf sie feuerten.
Sein Mund öffnete sich. „Halt, wir sind...“
Die Kugel trat in seinen Brustkorb ein und zerfetzte die Lungenschlagader seines Herzens. Weber wurde von der Wucht nach hinten geworfen, blieb aber auf den Füßen. Er hatte nur einen dumpfen Schlag gespürt und begriff nicht, was geschehen war. Sein Gewehr fiel klappernd zu Boden. Mit zitternden Fingern befühlte er das Loch in seiner Jacke und spürte eine seltsame, feuchte Wärme. Als er die Hand in den Strahl seiner Helmlampe hob, sah er dass sie blutverschmiert war.
Ich bin getroffen, dachte er. Dann kippte er nach hinten.
„Wir müssen uns zurückziehen“, raunte Bodrig. „Sofort.“ Er hob die Waffe an und erwiderte erneut das Feuer, ob er etwas traf, war beim besten Willen nicht festzustellen. Fischer und Lombardo unterstützten ihn und schossen, wenn Bodrig das Magazin wechselte.
Er und die anderen hatten keinen Augenblick angenommen, dass es ihre eigenen Kameraden waren, die da auf sie feuerten. Tepes und seine Leute mussten einen Zugang zur anderen Seite kennen, der von ihnen unentdeckt geblieben war.
„Ich glaube, Weber hat es erwischt“, sagte Lombardo in einer Feuerpause leise. „Ich habe ihn fallen hören.“
„Okay, dann nichts wie weg hier.“
Noch immer pfiffen vereinzelt Kugeln um ihre Köpfe, Steinsplitter prasselten auf sie nieder, aber der Kugelhagel war deutlich abgeschwächt.
„Fischer zuerst“, befahl Bodrig. „Ab in den Gang. Dann folgt Lombardo. Ich übernehme den Schluss. Wenn ihr auf Weber stoßt, nehmt ihn mit.“
Daniel robbte los. Flach auf den Boden gepresst, das Gewehr hinter sich schleifend, kroch er durch die Dunkelheit. Es waren nur wenige Meter bis er gegen Webers schlaffen Körper prallte. Er schaltete kurz seine Helmlampe ein und betrachtete Webers jungenhaftes Gesicht, die Augen im Tod staunend aufgerissen. Fischer schloss ihm die Lider und rief leise nach hinten: „Weber ist tot.“
„Mist“, fluchte Bodrig. Lombardo schwieg.
Beide kamen herangekrochen und schalteten ebenfalls ihre Lampen ein. Ein wüster Kugelhagel war die Folge.
„Ausmachen“, befahl Bodrig sofort. „Fischer, pack’ ihn unter den Schultern und zieh, Lombardo und ich helfen dir.“
Gemeinsam zogen sie die Leiche ihres Kameraden um eine Biegung des Ganges. Erst hier wagten sie es wieder Licht einzuschalten.
„Armer Kerl“, sagte Bodrig.
Lombardo sicherte ihre Stellung. Er wandte nur kurz den Kopf, so als wolle er den Toten nicht sehen. „Meint ihr die kommen über die Brücke?“
„Auf keinen Fall“, sagte Bodrig. „Aber es muss einen anderen Zugang geben, denn irgendwie haben sie es geschafft uns zu umgehen und uns in den Rücken zu fallen.“
Lombardo schluckte hörbar. „Euch ist schon klar, was das bedeutet. Tim und Jürgen sind wahrscheinlich ebenfalls tot. Nur wir drei sind noch übrig.“ Seine Stimme zitterte. Möglicherweise weinte er wieder.
Fischer wusste, es machte keinen Sinn zu lügen und sagte stattdessen. „Davon müssen wir ausgehen.“
„Es wird also keine Rettung geben, nicht wahr?“
Weder Bodrig noch Fischer antworteten auf diese Frage. Ihnen allen war klar, entweder sie kämpften sich hier heraus oder sie würden sterben. Auf Hilfe von oben zu warten, machte ab sofort keinen Sinn mehr. Die Beamten, die Hartmann begleiten würden, konnten ebenso wie ihre Gruppe in einen Hinterhalt geraten.
Sie beschlossen, Weber hier zu lassen. Sie konnten ihn nicht mitnehmen. Als sie Abschied von ihm nahmen, standen Tränen in ihren Augen. Selbst Bodrig weinte und schämte sich nicht dafür. Schließlich brachen sie auf.
Aus den Aufzeichnungen von Vlad Draculea, Sohn von Vlad Dracul, dem Drachen
Und dennoch sollte der Sieg nicht mein sein. Mein Verbündeter, der ungarische König Mathias Corvin verriet mich. Meine Armee war erschöpft, nur noch wenige meiner geliebten Bojaren am Leben. Sultan Mehmed hatte meinen verräterischen Bruder Radu mit einer großen Reiterschar in der Walachei zurückgelassen, die mir nun zusammen mit meinem Vetter Stefan und seinen Truppen das Leben schwer machten. Diejenigen meiner Bojaren, die nicht im Abwehrkampf fielen, wurden mit Gold und Versprechungen zum Verrat an unserer heiligen Sache verführt. Radu Fortuna, der Hund, bestieg meinen Thron. Ich selbst wurde gefangen genommen und in den Kerker der Festung Visegrád geworfen. Wieder einmal gefangen, verbrachte ich Jahre der Einsamkeit und des Schmerzen in den feuchten Verliesen unter dem Fluss Donau in der Stadt Budapest.
Ich blieb viele Jahre im Kerker, bis man sich erbarmte, mir die Freiheit zu geben. Als treuer Diener meines Volkes versuchte ich erneut, den Thron der Walachei zu erobern, aber im Jahr des Herrn 1476 war meine endgültige Niederlage besiegelt. Ich zog mich auf die befestigte Insel Snagov zurück, wo die letzte Schlacht geschlagen wurde. Die Legende besagt, dass ich in heldenhaftem Kampf fiel, aber dies ist nicht die Wahrheit. An meiner Stelle starb ein Cousin dritten Grades, der mir ungewöhnlich ähnlich sah und den ich mit meiner königlichen Kleidung und meinem Siegelring ausgestattet hatte. Es war sein Kopf, eingelegt in Honig, den man nach Tzarigrad brachte, um ihn dort auszustellen.
Ich selbst floh nach Frankreich, wo ich viele Jahre unerkannt am Hof des Königs gelebt und diese Aufzeichnungen geschrieben habe. Noch immer träume ich von alter Macht, aber meine Feinde haben mich auch hier aufgespürt und so bleibt mir nur die neuerliche Flucht.
Aus meiner Kindheit kenne ich noch einen Ort, an den ich mich retten kann – die Reichsstadt Nürnberg. Hier wurde mein Vater Vlad II. in den Drachenorden aufgenommen und hier werde ich Freunde finden. Freunde aus Blut und Eisen.
26. Orkan aus Licht
01.12 Uhr
Mit jedem Schuss aus ihren Waffen näherte sich das Ende unaufhaltsam. Kaum hatten sie die nächste Höhle betreten, waren sie in ein mörderisches Kreuzfeuer geraten. Der Rückweg war versperrt, denn inzwischen war der Feind auch hinter ihnen. Mündungsblitze flammten aus allen Richtungen in der Dunkelheit auf. Laser fingerten durch die Luft. Felssplitter zischten wie Hagelkörner um ihre Ohren.
Sie kauerten mitten in einer weitläufigen Höhle hinter einer niedrigen Felsgruppe und zogen die Köpfe ein. Die Dunkelheit, die sie umgab, war vollkommen und wurde nur durch die Lichtblitze der Waffen und die Laser aufgehellt. Den Schüssen nach zu urteilen, waren sie umzingelt und der Gegner war in großer Überzahl.
Lombardo war getroffen worden. Gleich zu Beginn des Gefechtes hatte eine Kugel seinen Oberarm durchschlagen, aber trotz der Schmerzen kämpfte er weiter. Bodrig und Fischer waren noch unverletzt, trotzdem war es nur eine Frage der Zeit, bis eine herumirrende Kugel auch sie erwischen würde.
Irgendwo links von ihnen, verdeckt durch einen großen Steinbrocken, wurde eine Fackel entzündet. Der Lichtschein war zunächst noch schwach, aber als die Fackel geworfen wurde und nur etwa sieben Meter von ihnen entfernt liegen blieb, veränderte sich ihre Lage dramatisch. Sie mussten handeln.
„Wie viel Munition habt ihr noch?“, fragte der Kommandoführer kaum hörbar.
„Habe gerade mein letztes Reservemagazin für die MPI leer geschossen. Mir bleibt noch die P-2000 und die Smith Wesson. Insgesamt cirka dreißig Schuss.“
„Was ist mit dir Fischer?“, wollte Bodrig wissen.
„Bei mir sieht es ähnlich aus, nur dass ich inzwischen auch für die P-2000 keine Munition mehr habe. Also noch sechs Patronen für die Bodyguard. Dann ist es vorbei.“
„Scheiße“, fluchte Bodrig, „ich hab’ auch kaum noch was. Die Schrotflinte ist leer, die Maschinenpistole ebenso. Meine Smith Wesson finde ich nicht. Muss ich unterwegs verloren haben und für die Automatik ist fast nichts mehr da. Wie schaut es mit Blendgranaten aus?“
„Hatte keine“, sagte Fischer.
„Noch zwei“, meinte Lombardo.
„Ich habe nur noch eine. Verflucht, die Dinger muss ich auch verloren haben.“ Er beugte sich näher an die anderen heran. „Jungs, wir müssen hier raus, koste es was es wolle. Hier hocken wir wie auf dem Präsentierteller und die Munition wird knapp.“
„Hast du eine Idee?“, wollte Lombardo wissen.
„Viele Möglichkeiten bleiben uns nicht. Ich würde vorschlagen, wir werfen gleichzeitig alle Blendgranaten und rennen feuernd los.“
„Wohin?“, fragte Lombardo.
“Nach vorn, wohin sonst. Wenn wir zurück in den Tunnel gehen, haben sie uns endgültig.“
„Du weißt doch gar nicht, ob diese Höhle einen Ausgang hat.“
„Haben wir eine Wahl? Wir müssen es einfach riskieren.“
„Was ist mit Fischer? Mit seinem Bein kann er nicht so schnell laufen.“
„Macht Euch um mich keine Gedanken“, sagte Daniel. „Ich schaffe das schon.“
„Okay, dann ist alles klar. Domenico, gib Fischer eine von deinen Blendgranaten. Wenn ich das Kommando gebe, werft ihr die Dinger von Euch weg. Dreht euch mit dem Rücken zu mir, so dass wir drei Richtungen abdecken. Schließt die Augen rechtzeitig und dann rennt mir nach. Schaltet eure Helmlampen und die Lampen an euren Waffen ein, damit ihr seht wohin ihr lauft. Alles klar?“
„Ja“, sagte Lombardo.
„Ja“, sagte auch Fischer.
„Es geht los.“
Die Blendgranaten schufen einen gleißenden Orkan aus Licht, der es jedem, der nicht darauf vorbereitet war, unmöglich machte, in den nächsten fünf Minuten etwas zu sehen.
Bodrig, Lombardo und Fischer schalteten gleichzeitig ihre Lampen ein und hetzten los. Geduckt wichen sie den ziellos abgefeuerten Kugeln aus, während sie selbst auf jeden Mündungsblitz schossen.
Der Boden unter ihren Füßen breitete sich als wellenförmige Schichten in alle Richtungen aus und mehr als einmal bestand die Gefahr, auszugleiten und zu stürzen.
Lombardo erreichte als Erster das andere Ende der Höhle. Er kauerte sich nieder und deckte den Rückzug der beiden anderen. Bodrig schaffte es als Nächster. Mit einigem Abstand kam Daniel in grotesk aussehenden Hüpfern auf sie zu. Der Stumpf seines Beines scheuerte schmerzhaft gegen die Prothese und Fischer verzog das Gesicht, während er versuchte, sich in Sicherheit zu bringen.
Einige ihrer Gegner schienen mit der vorübergehenden Blindheit besser fertig geworden zu sein als andere und begannen die Gruppe gezielt unter Feuer zu nehmen, wobei ihnen das Licht der Helmlampen als Orientierung diente.
Als Daniel mit einem Satz in den Gang hechtete, schalteten Bodrig und Lombardo ihre Lampen aus. Die sie nun umgebenden Dunkelheit spendete ein wenig Trost, da sie wussten, es würde Tepes’ Leuten schwer fallen, sie jetzt noch zu treffen.
„Weiter. Weiter“, sagte Bodrig eindringlich. „Nicht stehen bleiben.“
„Wohin?“, fragte Lombardo. “Verdammt, man sieht überhaupt nichts.“
„Geht auf Hände und Knie und kriecht. So bald ihr spürt, dass der Gang eine Biegung macht, könnt ihr wieder die Lampen einschalten. Ich bleibe hier und halte sie auf.“
„Bist du verrückt? Es dauert keine dreißig Sekunden und die haben dich überrannt.“
„Das wollen wir erst einmal sehen. Gib mir deine restliche Munition. Was hast du noch, Fischer?“
„Nichts mehr“, sagte Daniel.
Lombardo suchte im Dunklen nach seinem letzten Reservemagazin. Als er es fand, tastete er nach Bodrigs Hand und gab es ihm.
„Leon, das ist Wahnsinn. Spiel hier nicht den Helden. Komm mit. Vielleicht finden wir eine Stelle an der wir uns verstecken können.“
Das Klicken, mit dem das Magazin in Bodrigs Waffe einrastete, klang übernatürlich laut. „Wir machen es so und nicht anders. Ihr solltet jetzt los. Vielleicht kann ich ja einem von diesen Typen die Knarre abnehmen und sie vertreiben, dann komme ich nach.“
Fischer und Lombardo erkannten die Lüge, sagten aber nichts. In totaler Finsternis einen Gegner zu überwältigen, dessen Position man weder kannte noch sehen konnte, war schlichtweg unmöglich. Bodrig wollte sich opfern, um ihnen eine Chance zu geben.
Lombardo griff nach Bodrigs Schulter und drückte sie. „Vergiss das mit dem Riesenarschloch von vorhin. Hab es nicht so gemeint.“
„Schon gut. Geht jetzt.“
Als Lombardo loskroch, spürte Daniel Bodrigs Hand an seinem Ärmel. Kurz darauf flüsterte der Kommandoführer in sein Ohr: “Fischer, ich weiß, was du vorhast. Nimm Domenico nicht mit. Gib ihm die Möglichkeit hier heil rauszukommen. Versprich es mir.“
„Du hast mein Wort“, raunte ihm Daniel heiser zu, wandte sich um und kroch ebenfalls los.
Sie waren bereits fünf Minuten unterwegs, als Daniel in der Dunkelheit des Ganges gegen Lombardo stieß, der aus irgendeinem Grund nicht weiter kroch.
„Was ist?“, raunte Fischer. „Schmerzt dein Arm?“
„Geht schon, aber ich spüre einen Luftzug. Hier muss es eine Öffnung im Fels geben. Meinst du, wir können die Lampen einschalten?“
„Denke schon, wir sollten weit genug weg sein. Außerdem deckt Bodrig unseren Rückzug.“
Sie lauschten nach hinten. Stille. Anscheinend wurde Bodrig noch nicht angegriffen und lauerte in der Dunkelheit.
Mit einem Klicken sprang Lombardos Helmlampe an. Er ließ das Licht über die Felswand gleiten, suchte hastig den Stein ab.
„Dort“, flüsterte er.
Daniels Blick folgte dem Lichtstrahl, der nun unbeweglich über einer schmalen Öffnung im Fels hing.
„Sieht verflucht eng aus“, meinte Fischer. Sie krochen hinüber. Lombardo leuchtete den Schacht aus, die gerade hoch genug war, dass ein Kind hindurch passen würde.
„Okay, gehen wir weiter“, meinte Lombardo.
„Nein.“
„Was, nein“?
„Du solltest es versuchen.“
„Warum? Du kommst da nie durch.“
„Richtig, aber du könntest es schaffen. Du bist wesentlich kleiner und schlanker als ich.“
Der Lichtkegel aus Lombardos tanzte über die Wand, als er den Kopf schüttelte. „Ich lasse dich nicht allein.“
Daniel packte ihn an den Schultern und zog ihn zu sich heran. „Du gehst da rein und wenn ich dich reinstopfen muss.“
„Vergiss...“
„Nein, du vergisst es. Ich hatte von Anfang an ein anderes Ziel als das Einsatzkommando. Adam Tepes hat mir viel Leid zugefügt und dafür soll er bezahlen. Ich bin hier, um mich ihm zu stellen und mir war klar, dass ich wahrscheinlich nicht wieder rauskommen werde.“
„Du willst ihn umbringen.“ Eine Feststellung, keine Frage.
„Ja.“
„Ich glaube nicht, dass du es schaffst. Ohne Munition. Allein. Was willst du machen? Ihn mit bloßen Händen erwürgen?“
„Mach dir darüber keine Gedanken. Ich weiß, was ich tue.“
„Da bin ich mir nicht sicher.“
„Hör jetzt auf, mit mir zu diskutieren und kriech in das Scheißloch.“
„Und wenn es eine Sackgasse ist?“
„Mach mich nicht wahnsinnig. Dann versteckst du dich, bis alles vorbei ist.“
„Ich möchte nicht allein bleiben.“
„Wenn du nicht bald losgehst, wirst du auch nicht allein sein. Dann sterben wir gemeinsam. Bei dem, was ich vorhabe, kann ich dich nicht gebrauchen. Ohne dich habe ich eine Chance. Mit dir...“
Die restlichen Worte ließ er unausgesprochen. Lombardo liefen Tränen über die Wangen. „Ich will nicht, dass du stirbst.“
Daniel nahm ihn in die Arme. „Mach dir um mich keine Gedanken. Eigentlich bin ich schon vor zwei Jahren gestorben. Ich bringe nur zu Ende, was Tepes versäumt hat. Oben...“ Er blickte zur niedrigen Felsdecke, als könne durch den massiven Stein sehen. „... gibt es kein Leben mehr für mich. Nur noch Elend. So soll es nicht sein.“
Domenico Lombardo küsste Daniel auf die Wange. „In Gedanken bin ich bei dir, wenn es soweit ist.“
Ohne ein weiteres Wort legte er sich flach auf den Boden und zwängte sich durch die schmale Öffnung.
Kurz darauf war Daniel allein.
27. Fernab von diesem Ort.
02.14 Uhr
Bodrig lag in der Dunkelheit und beobachtete den Lichtschein mehrerer Fackeln, die zielstrebig auf ihn zukamen. Er bleckte die Zähne zu einem freudlosen Grinsen, als er die dunklen Schatten von mindestens zehn Männern ausmachen konnte.
Diese Hurensöhne denken, wir wären geflohen. Na, da habe ich eine Überraschung für euch, dachte Bodrig und entsicherte seine Automatik.
Als seine Gegner näher kamen, konnte er Einzelheiten ausmachen. Die Gestalten, die sich auf ihn zu bewegten, waren schwer bewaffnet, wirkten aber ausgemergelt. Spitze Rippen traten deutlich aus den Brustkörben hervor und die Gesichter seiner Feinde bestanden aus eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen. Teilweise trugen die Männer Dreadlocks, die ihnen bis auf die Schulter fielen, aber es waren auch Ältere dabei, denen die Haare ausgefallenen waren und deren Schädel nur noch von vereinzelten Büscheln bedeckt wurden.
Allen gemeinsam war die bleiche Haut, von Pusteln und Geschwüren übersät und die schlotternden, zerbrechlich aussehenden Glieder.
Scheint nicht viel zu Fressen hier unten zu geben, dachte Bodrig. Er überdachte seine Situation. Zehn, höchstens elf Mann und er hatte noch acht Schuss, das bedeutete, er durfte sich keinen Fehlschuss erlauben und es blieben immer noch zwei bis drei Gegner übrig, die er im Nahkampf töten musste, wenn er hier jemals wieder rauskommen wollte.
Seine Gegner waren nur noch fünf Meter entfernt, als sich Bodrig aufrichtete und die ersten beiden Männer erschoss.
Daniel hörte die Schüsse und wusste, Bodrig war noch am Leben, denn jeder Schuss wurde von wildem Gegenfeuer beantwortet. Nachdem Lombardo im Schacht verschwunden war, hatte er seine Helmlampe ebenfalls eingeschaltet und war dem Gang, so schnell es seine Prothese zuließ, gefolgt.
Innerlich fühlte er sich ruhig. Jetzt da er allein war, lastete nicht mehr die Verantwortung für ein anderes Leben auf ihm und er konnte sich darauf vorbereiten, Adam gegenüberzutreten.
Für einen kurzen Moment blitzte Jessicas Bild in seinem Bewusstsein auf, aber er verdrängte alle Gedanken an sie und ließ den lange aufgestauten Hass in seine Adern fließen. Er vergaß die Schmerzen seines Beines, die bleierne Furcht vor der Dunkelheit wurde von hell loderndem Zorn verdrängt.
Er war hier und wollte an keinem anderen Ort der Welt sein. Adam würde ihm gehören und Fischer ergötzte sich an der Vorstellung, ihn zu töten. Kraft durchströmte seine Glieder, als das ausgeschüttete Adrenalin die Blutbahnen seines Körpers überflutete.
Der Gang spaltete sich in weitere Tunnel auf. Daniel blieb stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, schnupperte er wie ein Hund in die Finsternis.
Ja, er konnte sie riechen. Er roch die Ausdünstungen ungewaschener Leiber, den Geruch von Kot und Urin und den süßlichen Duft faulenden Fleisches.
Nicht mehr weit, wisperte sein Geist. Adam ist nah.
Fischer warf den Helm achtlos auf den Boden und begann sich zu entkleiden.
Domenico Lombardo fluchte in der Sprache seiner Eltern und kümmerte sich nicht darum, ob ihn jemand hören konnte oder nicht. Er hing fest.
Eingeklemmt zwischen der niedrigen Schachtdecke und einer Bodenerhebung, die er nicht beachtete hatte, klemmte sein Körper zwischen dem nackten Stein, ohne dass er vor oder zurück konnte.
Seine Arme lagen ausgestreckt vor ihm und im Licht seiner Helmlampe konnte Lombardo die abgerissenen Fingernägel und die blutigen Kuppen sehen, die davon zeugten, wie er seit Minuten versuchte, sich zu befreien. Das Problem war sein Brustkorb. Obwohl er nicht sonderlich muskulös war, reichte der Durchmesser doch aus, um hängen zu bleiben.
„Madonna“, flehte er. „Mach, dass ich hier wieder rauskomme.“
In seiner von Panik erfüllten Vorstellung, sah er sich hier unten verdursten oder verhungern, ohne dass jemand auch nur ahnte, wo er war.
Ich bin so blöd, dachte er. Hätte ich den Scheißhelm aufgelassen wäre mir das nicht passiert, dann hätte ich gleich bemerkt, dass es zu eng wird. Aber ich Arschloch muss es natürlich versuchen.
Scheiße, Scheiße, Scheiße. Ich stecke hier fest. Da komm’ ich doch nie wieder raus.
Erfüllt von ohnmächtiger Angst fing er an, um Hilfe zu schreien.
Bodrig kauerte hinter dem Felsblock und lauschte auf Geräusche, die ihm verrieten, ob sich seine Gegner auf ihn zu bewegten. Ein leises Scharren drang an sein Ohr. Er orientierte sich im Dunklen und legte den Finger an die Waffenlampe. Als er aufsprang, schaltete er das Licht ein. Im Kegel der Lampe tauchte kurz ein verzerrtes Gesicht auf. Bodrig feuerte und der Mann kippte nach hinten. Schüsse wurden auf ihn abgegeben. Etwas hämmerte gegen seine linken Arm, riss ihn bis hinter die Hüfte zurück. Bodrig wurde rückwärts auf den Boden geschleudert. Als er sich wieder aufrappelte, schossen Blutfontänen aus dem verletzten Arm. Mit zitternden Fingern zog er ein Verbandspäckchen aus der Hosentasche, riss die Plastikfolie mit den Zähnen auf und legte sich im Licht seiner Waffenlampe einen provisorischen Verband an. Er stöhnte laut auf, als er den Zellstoff fest um den Druckverband wickelte und das Endstück darunter schob.
„Verfluchte Hurensöhne“, brüllte er. Spritzende Kugeln waren die Antwort.
Daniel stand nackt in der Dunkelheit und fröstelte. Schauer jagten über seinen Leib, aber er verdrängte alle Unannehmlichkeiten aus seinen Gedanken und bereitete sich darauf vor, Adam gegenüberzutreten.
Er ließ sich auf die Knie nieder, spuckte kräftig in die Hände und rieb dann mit den Handflächen über den steinigen Boden. Den aufgenommenen Schmutz verteilte er in seinem Gesicht und am ganzen Körper. Mehrere Minuten lang machte er so weiter, wobei er sich besonders Mühe gab, seine Beinprothese mit Dreck zu beschmieren. Als er schließlich keinen Speichel mehr in seinem trockenen Mund aufbringen konnte, erhob er sich.
Obwohl Fischer nicht besonders gläubig war, betete er stumm in der Finsternis, Gott möge ihm helfen, seine Rache zu vollziehen. Als er das Gebet beendet hatte, atmete er mehrfach tief ein und wieder aus, dann folgte er dem Gang, der ihn zu seinem Peiniger führen sollte.
Eine weitere Kugel hatte Bodrig getroffen und ein Loch von der Größe einer 2-Euro-Münze in seinem Brustkorb hinterlassen. Blut sickerte unaufhörlich aus der Wunde, durchtränkte seine Jacke und befeuchtete den Boden auf dem er lag.
Sechs seiner Gegner waren tot. Zwei zumindest schwer verwundet, denn er konnte ihr Schreie hören. Er hatte sich keinen Fehlschuss geleistet und war stolz darauf.
Der Rest der Horde hatte längst Deckung hinter Steinbrocken gesucht und die brennenden Fackeln glühten aus, ohne dass ihr Lichtschein ihn noch erreichte.
Bodrig hatte keine Munition mehr. Er lag auf dem Rücken und lauschte den Geräuschen seiner zerstörten Lunge, die mit hörbarem Zischen versuchte Luft einzupumpen, während er langsam erstickte.
Der Sauerstoffmangel trieb traumartige Erinnerungen vor seine Augen und Leon Bodrig gab sich den Bildern willig hin. Er versank in einer Welt, in der es Licht gab. Fernab von diesem Ort.
28. Dein Blut
02.33 Uhr
Die Höhle, die Fischer betrat, hatte gigantische Ausmaße. Sie war so groß, dass sogar die Höhle, die sie ‚Dom’ genannt hatten, dagegen unscheinbar und klein wirkte. Überall an den Wänden waren Fackeln befestigt, deren flackernder Lichtschein wilde Schatten über den Fels tanzen ließ.
Obwohl das Licht der Fackeln nicht besonders hell war und die riesige Höhle nur dürftig ausleuchtete, musste Daniel zunächst geblendet die Augen schließen. Als er sie wieder öffnete, sah er eine Gruppe von verschmutzten, halbnackten Männern und Frauen, die ihn verblüfft anstarrten. Sie hatten sich um einen flachen Steinblock versammelt, auf dem Adam Tepes saß und wie ein Gott thronte. Er hockte wie eine Krähe in gebückter Haltung, aber die schiere Masse seines Körpers ließ ihn trotzdem ehrfurchtsvoll erscheinen. Seine Augen fixierten Daniel über die Entfernung hinweg, ließen ihn nicht los, als Fischer den ersten zaghaften Schritt machte und auf ihn zuging.
Adams Jünger öffneten ihm einen Gang durch ihre Leiber. Als Daniel zwischen ihnen hindurch ging, streckte er die Arme nach beiden Seiten aus und drehte die leeren Handflächen nach oben, so dass jedermann sehen konnte, dass er unbewaffnet war.
Die Gesichter der Menschen, an denen er langsam vorbei ging, waren die Gesichter lebendiger Leichname. Ausgezehrt von Hunger und dem Mangel an frischen Nahrungsmitteln, waren es zerfallene Fratzen, in die sich Staub und Dreck eingefressen hatten. Die meisten schienen unter Hautkrankheiten zu leiden, denn ihre Körper waren übersät von Schrunden und Pusteln, bedeckt mit eitrigen Geschwüren, aus denen nässendes Wundsekret wie das Leben selbst heraustropfte. Der Großteil der Horde hatte sich die langen, wuchernden Haare zu Dreadlocks geflochten, aber vielen schienen die Haare büschelweise auszufallen.
Daniel senkte nicht den Kopf, obwohl ihn viele der Jünger mit glühenden Augen anstarrten und drohend ihre Waffen auf ihn richteten, stattdessen erwiderte er fest Adams Blick, während er auf ihn zuging.
Adam Tepes erhob sich und die Tätowierungen auf seinem Körper begannen zu fließen, als seien sie von eigenem Leben erfüllt. Daniel schauderte bei diesem Anblick, aber er bemühte sich, einen gleichgültigen Gesichtsausdruck beizubehalten. Tepes massiger Leib bestand immer noch aus riesigen Muskelbergen und Fettmassen, die sich darüber scheinbar eigenmächtig bewegten. Es war Daniel ein Rätsel, wie Adam sich seine Leibesfülle erhalten hatte, während offensichtlich alle anderen um ihn herum hungerten, aber er schob auch diese Überlegung beiseite und konzentrierte sich auf die letzten Schritte, die ihn noch von Tepes trennten. Sein Weg endete zwei Meter vor dem Felsenthron.
Adam machte eine lässige Handbewegung und mehrere Männer sprangen vor, packten Fischer und warfen ihn mit dem Gesicht nach unten zu Boden. Er spürte Arme und Hände, die ihn gnadenlos in den Unrat pressten, der die ganze Höhle bedeckte.
Als er schon dachte ersticken zu müssen, wurde er auf die Beine gerissen und anschließend in die Knie gezwungen. Daniel hustete heftig und spuckte aus. Jemand drehte ihm die Arme auf den Rücken und er brüllte vor Schmerz. Dann stand plötzlich Adam Tepes vor ihm.
Wie ein Berg aus Sehnen und Fleisch ragte er über ihm auf. Eine massige Hand legte sich unter sein Kinn und der Kopf wurde ihm in den Nacken gerissen. Plötzlich bestand die Welt für Daniel nur noch aus glühenden Augen und blutroten Zähnen, von denen Speichel auf ihn herabtropfte.
Adam sah ihn lange an. Neugier lag in seinem Blick, die von einer fast kindlich wirkenden Freude abgelöst wurde.
„Du?“ Adam sagte nur dieses eine Wort, aber es genügte, um Fischer den Schweiß auf die Stirn zu treiben.
„Ja, ich bin es“, antwortete er heiser.
„Du bist zu mir zurückgekommen.“ Adams Hand löste sich von seinem Kinn und streichelte Daniels Wange. „Wie ein verlorener Sohn bist du zu mir zurückgekommen. Dein Gesicht ist nicht mehr das gleiche.“ Er ließ den Blick an Daniels Körper hinunter gleiten. „Und ich sehe, du hast ein Bein verloren.“
„Das habe ich dir zu verdanken.“
„Und trotzdem bist du zurückgekehrt.“
„Ich bin hier, um meine Frau zu holen. Ich werde sie nach Hause bringen.“
Adam lächelte. Es war ein schauriges Lächeln, dass Fischer das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Sie ist nicht mehr dein. Sie gehört nun mir. Sie ist meine Fürstin der Nacht und wird mich nie mehr verlassen.“
„Lass sie gehen“, verlangte Fischer.
„Nein.“
„Ich bin gekommen, um mich zum Tausch anzubieten. Mein Leben gegen das ihrige.“
„Ein Tausch?“ Tepes’ Hand schloss sich um Daniels Kehle und presste ihm die Luft aus den Lungen. „Hast du deswegen Männer mitgebracht, die viele von meinen Jüngern getötet haben?“
„Ich konnte nicht allein kommen“, ächzte Fischer mühsam.
Adam ging nicht darauf ein. „Der Tausch wird dein Leben gegen das Leben meiner gefallenen Jünger sein. Dein Blut gegen ihr Blut.“
Tepes stieß Daniels Kopf zurück. Die Wucht war so groß, dass Sterne vor Fischers Augen zu tanzen begannen. Ein gleißender Schmerz zuckte durch seine Schläfen.
„Du hast keine Ehre“, keuchte Daniel.
Adams Lachen dröhnte durch die Höhle. „Was weißt du von Ehre? Du bist ein Wurm vor dem Antlitz eines Gottes und faselst von Ehre. Unterwerfe dich und flehe um Gnade und dein Tod wird eine Befreiung sein.“
„Gott?“, schrie ihn Fischer an. „Du hältst dich für einen Gott?“
„Ich sehe, du kannst nicht verstehen, wer ich bin und was ich bin, also sollst du Zeuge meiner Verwandlung werden, bevor ich dich töte.“
Adam gab einen Befehl und wieder wurde Fischer auf die Füße gerissen. Seine Handgelenke wurden aneinander gepresst und die Arme auf den Rücken gefesselt. Daniel spannte alle Muskeln an und atmete tief ein, um die Fesseln mit Volumen zu füllen.
Als er wieder aufblickte, sah er in Adams Augen.
„Du hättest keinen besseren Zeitpunkt wählen können. Heute ist es soweit. Fünfhundert Jahre sind vergangen. Eine lange Zeit, während wir auf die Wiedergeburt unseres Herrn warten mussten. Aber heute wird der Fürst der Finsternis zurückkehren.“
Tepes beugte sich weit vor, bis sein Gesicht so nah war, dass Daniel den fauligen Atem auf seiner Haut spüren konnte.
„Und du...“, sprach Adam weiter. „...hast die Ehre, ihm als Nahrung zu dienen.“
Lombardo konnte nicht mehr schreien. Seine Kraft hatte ihn verlassen und so lag er nur noch leise keuchend in der Dunkelheit. Das Licht seiner Helmlampe war vor wenigen Minuten erloschen und so blieb ihm nicht einmal der Trost nicht in der Finsternis sterben zu müssen.
Seine Gedanken schweiften ab, während er immer schwächer wurde. Er sah Bilder aus seiner Kindheit, als es noch ein Leben im Sonnenschein gegeben hatte. In diesen Bildern flogen Vögel über einen wolkenlosen Himmel, zirpten die Grillen im Gras und er selbst rannte über eine mit Blumen bedeckte Wiese, in seinen Händen einen selbstgebastelten Bogen. Die Stimme seines Bruders Antonio erklang: „Warte, Domenico. Nicht so schnell.“
Aber er lachte und rannte weiter, immer der Sonne entgegen. Er war elf Jahre alt und die Welt ein einziger Spielplatz.
Plötzlich vernahmen Lombardos Ohren ein kratzendes Geräusch. Etwas näherte sich ihm durch den Gang. Sekunden vergingen, dann fühlte er, wie jemand nach seinem Hosenbein griff.
„Fischer? Bist du das?“, fragte er leise.
Als niemand antwortete, kam die Furcht.
Daniel saß in einer Nebenhöhle. Er war noch immer gefesselt und wusste nach wie vor nicht, ob Sarah unversehrt war. Adam hatte jede weitere Auskunft zu ihr verweigert.
Die Fackeln an der Wand flackerten, als sich Tepes am Höhleneingang bückte und die Höhle betrat. Er ging zu Fischer hinüber und setzte sich mit gekreuzten Beinen zu ihm.
„Du hasst mich“, sagte Adam. „Weil du nicht verstehst.“
Fischer schwieg.
„Dabei könnte aus deinem Hass Liebe werden, wenn du nur die Augen öffnen würdest. Ich bin...“
„Ich weiß, wer du bist oder besser gesagt, wer du glaubst zu sein.“
„Tatsächlich?“ Adam Tepes lächelte spöttisch.
„Ich weiß, woher du stammst und kenne den Namen deiner Eltern. Ich habe den Brief deines Vaters an dich, zusammen mit dem Tagebuch von Vlad III. gefunden. Du denkst, du wärst der wiedergeborene Dracula, weil du an einer seltenen Lichtempfindlichkeit leidest, aber das hat überhaupt nichts zu bedeuten.“
„Und meine Abstammung? Meine Verwandtschaft zu Vlad III.?“
„Zufall. Schicksal. Nenn es, wie du willst.“
„Ich nenne es eine Offenbarung.“
„Tut mir leid, wenn ich dich enttäuschen muss, aber dein großer Vorfahre, war kein Mensch mit übersinnlichen Kräften. Er war nicht mehr, als ein weiterer Schlächter in einer Reihe zahlreicher Despoten. Nur war er grausamer, als alle vor ihm und alle, die nach ihm kamen. Er litt an der gleichen Krankheit wie du? Macht ihn das übermenschlich? Bist du übermenschlich?“
„Du hast Recht, ich bin es nicht. Aber bald werde ich es sein.“
Fischer lachte ächzend. „Was willst du machen? Blut trinken, wie dein Ahnherr? Denkst du, du bist ein Vampir? Vampire sind eine Erfindung von Bram Stoker, der Vlad Tepes als Vorbild für seine Romanfigur genommen hat. Es gibt keine Vampire. Du bist nicht unsterblich und du kannst dich auch ganz sicher nicht in einen Wolf oder eine Fledermaus verwandeln.“
Adams Miene blieb freundlich. „Du kannst es nicht verstehen.“ Er schüttelte betrübt den Kopf. „All dein Wissen über meine Familie stammt aus Büchern. Denkst du, ich hätte diese Bücher nicht gelesen, nachdem mir mein Vater die Historie unserer Familie erzählt hat? Ich habe diese Geschichten verschlungen und mich dabei köstlich amüsiert. Mit der Wahrheit haben diese Geschichten nichts zu tun. Die Wirklichkeit übersteigt deine Vorstellungskraft bei weitem.“
Daniel sah ihn an. „Lass Sarah gehen.“
„Darüber haben wir schon gesprochen.“
„Bald wird es hier vor Polizei wimmeln oder denkst du ernsthaft, die Behörden würden dem Verlust eines kompletten Spezialkommandos einfach so hinnehmen?“
„Wir sind darauf vorbereitet. Der Gang, dem du zuletzt gefolgt bist, wurde komplett vermint. Wenn uns jemand zu nahe kommt, sprengen wir den Zugang in die Luft. Hier sind wir sicher, also, hoffe nicht auf Hilfe von außen. Es wird keine geben.“
Daniel dachte darüber nach, was geschehen würde, wenn die Polizei auf der Suche nach dem Einsatzkommando Adam und seine Jüngern aufzuspüren versuchte. Viele Beamte würden sterben und so lange er gefesselt war, konnte er nichts dagegen tun.
„Dann seid ihr für immer unter der Erde gefangen. Deine Leute werden verhungern. Ich habe sie mir angesehen, schon jetzt leiden die meisten unter deutlichen Hungersymptomen. Bald wirst du keine Diener mehr haben.“
„Auch hier täuscht du dich. Wir kennen sämtliche Wege aus diesem Labyrinth. Dass wir noch hier sind, hat einen anderen Grund.“
Fischer lächelte müde. „Das Ritual, auf das du und deine Familie seit fünfhundert Jahren warten. Die Wiedergeburt Draculas.“
Trotz seiner Leibesfülle sprang Adam geschmeidig auf die Füße. Seine Augen glühten wie im Fieber. „Ja, wir warten schon so lange, aber nun hat alles Warten ein Ende. Der Neubeginn der Zeit steht kurz bevor.“
„Und wenn nichts geschieht? Wenn sich Dracula nicht aus seinem Grab erhebt? Was machst du dann?“
Adams Minenspiel wechselte von Unglauben zu offensichtlicher Panik, dann beruhigten sich seine Züge wieder und wurden schlaff.
„Es wird geschehen.“
Fischer war wieder allein und mühte sich mit seinen Fesseln ab. Draußen vor dem Eingang der Höhle saß eine Wache und so hatten sie darauf verzichtet ihm auch die Füße zusammenzubinden. Eigentlich änderte das nichts, denn seine Prothese erlaubte es ihm nicht aufzustehen, ohne sich abzustützen.
Daniel spannte seine Muskeln an. Er zog die Hände auseinander soweit es ging und gewann etwas Spielraum. Als sie ihn gefesselt hatten, war Daniel klug genug gewesen, sich einige wenige Millimeter Platz zu verschaffen, so dass er jetzt nach und nach den Spielraum vergrößern konnte.
Es war mühsam. Es war schmerzhaft. Das raue Seil schnitt in seine Handgelenke und bei jedem weiteren Versuch, den Strick zu dehnen, schürfte er sich Fetzen seiner Haut herunter. Aber er gab nicht auf. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm blieb, also biss er die Zähne zusammen und machte eisern weiter. Bald floss Blut an seinen Händen herunter und das Seil wurde glitschig. Daniel stieß einen leisen Triumphschrei aus, als er spürte, wie das Seil immer mehr nachgab.
Plötzlich war von draußen Lärm zu vernehmen. Schritte näherten sich der Höhle. Daniel fluchte. Er war noch nicht so weit.
Bitte Gott, mach, dass sie mich noch nicht holen, betete er stumm.
Drei Männer betraten die Höhle und warfen wortlos ein Bündel auf den Boden. Daniel musste zweimal hinsehen, bis er erkannte, dass es sich nicht um einen Haufen Kleider, sondern um Domenico Lombardo handelte. Er war ihnen also nicht entkommen.
Ein Stöhnen erklang. Lombardo, die Hände ebenfalls auf den Rücken gefesselt, rutschte herum, bis er es endlich schaffte, sich in eine sitzende Position zu bringen.
Er sah furchtbar aus. Anscheinend hatte er sich heftig gewehrt, denn eines seiner Augen war zugeschwollen und die Haut in seinem Gesicht blutverkrustet. Pfeifend zischte die Luft durch seine gebrochene Nase, aber wenigstens schien seine Schussverletzung nicht mehr zu bluten.
„Tja, da bin ich wieder“, grinste Lombardo freudlos und spuckte einen Klumpen Blut aus. Daniel sah, wie er mit der Zunge die neu entstandene Lücke zwischen seinen Zähnen befühlte.
„Wie haben sie dich gekriegt?“, wollte Fischer wissen.
„Der verdammte Schacht war zu eng. Bin stecken geblieben. Als ich mich selbst nicht befreien konnte, habe ich um Hilfe gerufen. War wohl ein Fehler. Vom Regen in die Traufe. Na ja, scheiß drauf. Immer noch besser, als zu verdursten.“
Daniel war sich da nicht so sicher. Er kannte Adam Tepes und seine Phantasie, wenn es darum ging, Menschen zu foltern, aber er sagte nichts dazu, sondern fragte stattdessen: „Weißt du etwas über Bodrig?“
Lombardo wollte die Achseln zucken, aber durch die Fesseln blieb dieses Unterfangen sinnlos. „Nein. Ich habe Schüsse gehört. Dann war irgendwann mal Ruhe. Keine Ahnung, ob er es geschafft hat. Wahrscheinlich ist er tot. Wieso bist du nackt? Haben sie dir die Klamotten abgenommen?“
„Etwas in der Art“, antwortete Daniel und verschwieg, dass er sich selbst entkleidet hatte.
„Na ja, ist bald sowieso egal.“
Fischer wunderte sich über Lombardos Gelassenheit, angesichts eines nahen und grausamen Todes.
Vielleicht ist ihm alles lieber, als allein in einem Loch zu verrecken, dachte er und überlegte, wie weit er den anderen in die kommenden Ereignisse einweihen sollte. Lombardo wusste nichts vom bevorstehenden Ritual. Er ahnte nicht, dass sich Adam für den wiedergeborenen Dracula hielt. Für ihn war Tepes ein Killer, nicht mehr und nicht weniger, wenn auch weitaus grausamer als die meisten.
„Sie hätten uns auch gleich töten können. Was meinst du, haben sie mit uns vor?“, fragte Lombardo.
Damit war die Sache klar. Er musste Lombardo sagen, was sie erwartete.
„Tepes glaubt, er habe das Grab des historischen Dracula gefunden und versucht nun, ihn durch ein uraltes Ritual zum Leben zu erwecken. Deswegen ist er hier“, erklärte Fischer.
„Du verarscht mich.“
„Nein, es ist tatsächlich so.“
„Der Typ ist total durchgeknallt. Oh Gott, was wird dieser Verrückte mit uns anstellen?“
„Die Sache ist ein bisschen komplizierter. Aus Tepes’ Sicht ist das, was er macht nicht unvernünftig, auch wenn es uns noch so abstrus vorkommt.“
„Ich verstehe kein Wort“, gab Lombardo zu.
Daniel erzählte ihm die ganze Geschichte, er ließ nichts aus. Als er schließlich endete, starrte ihn Lombardo an.
„Mann, das ist harter Stoff. Und du denkst, an der Sache ist was dran?“
Fischer grinste. „Glaubst du an Vampire?“
„Nein. Trotzdem, die Sache ist merkwürdig. Tepes leidet an der gleichen Krankheit, wie der echte Dracula. Er entstammt der gleichen Familie und seine Eltern wurden in Transsilvanien geboren. Dazu kommt die Blutschande, die, wenn man es recht bedenkt, so schon seit Jahrhunderten vollzogen wird. Der ‚Pfähler’ soll unter der Erde von Lichtenfels lebendig begraben worden sein und auf seine Wiedergeburt warten, die auch noch heute, exakt nach fünfhundert Jahren, hier stattfinden soll. Alles in allem macht mir das eine Scheißangst.“
„Ich wollte, dass du weißt, was auf uns zukommt.“
„Prima, ich fühle mich gleich besser.“ Lombardo ließ den Kopf auf die Brust sinken. „Hättest du es mir mal lieber nicht erzählt.“
29. Der Drache
04.56 Uhr
Wenig später wurden Lombardo und Fischer von mehreren Männern aus ihrem Gefängnis geholt und in die Haupthöhle gezerrt. Neben den vielen Fackeln brannten nun auch Aberhunderte von Kerzen in dem großen Raum und verstärkten die bizarre Atmosphäre.
Tepes hatte sämtliche Jünger um sich versammelt, die sich schweigend vor dem flachen Felsenthron aufgestellt hatten. Adam selbst stand vor dem Thron. Nackt und massig wirkte er wie die Silhouette eines fernen Berges. Als man Daniel zu ihm brachte, wandte sich er um.
„Sieh“, sagte er und deutete auf den Steinthron.
Erst jetzt erkannte Fischer, dass der Thron von einer künstlich bearbeiteten Steinplatte bedeckt wurde, in die ein Meister der Steinmetzkunst ein verschlungenes Muster eingearbeitet hatte, das einen ruhenden Drachen zeigte, dessen Schwanz auf seinem Kopf lag. Daniel erschauerte, als er die Abbildung mit Adams Tätowierungen verglich. Obwohl die Tätowierungen an seinem Körper kein Bild ergaben, waren sie doch in ihrer Ausführung der Steindarstellung derartig ähnlich, dass man fast annehmen musste, der gleiche Künstler habe beide Werke geschaffen.
Alle Zweifel verflogen. Fischer erkannte, wie sehr er sich getäuscht hatte. Stets hatte er die Ausführungen von Adams Vater und die Tagebuchschriften von Vlad III. als bloße Hirngespinste abgetan. Er glaubte zwar immer noch nicht an eine Wiedergeburt Draculas, aber hier in dieser Höhle stand er vor einem Grab, vor einer steinernen Gruft, die vielleicht den Leichnam des Pfählers über Jahrhunderte hinweg vor dem Verfall geschützt hatte. Adam Tepes war ein direkter Nachfahre des Bojaren der Walachei, daran gab es nun keinen Zweifel mehr. Was immer auch die nächsten Stunden geschah, Daniel stand einem Großenkel des historischen Draculas gegenüber. Alles war möglich. Alles war vorstellbar. Neben ihm zitterte Lombardo vor Angst. Seine Selbstkontrolle war dahin. Daniel sah, dass er weinte. Er selbst fürchtete sich ebenfalls, aber zugleich war sein Geist von einer Klarheit erfüllt, wie er sie selten erlebt hatte. Sein Schicksal, das Schicksal aller Anwesenden würde sich bald erfüllen. Leben oder Tod. Es war alles eins.
Adam gab einen Befehl. Zwei Männer verschwanden aus Daniels Blickfeld, kehrten aber kurz darauf zurück. Zwischen sich führten sie eine Frau, deren Füße zu schwach zum Gehen waren.
Sarah.
Sie hatten Sarah in ein einfaches weißes Leinenkleid gesteckt, unter dessen Saum ihre bloßen Füße sichtbar waren. Ihr Haar fiel offen und glatt auf über ihre Schultern. Auf ihrem Gesicht lag ein entspannter, fast kindlicher Ausdruck. Daniel erkannte den Grund an ihrem stumpfen Blick. Tepes hatte sie unter Drogen gesetzt.
Eine ungezügelte Wut befiel Daniel, als er sah, was man seiner Frau angetan hatte. Er presste die Zähne aufeinander, bis die Kieferknochen seine Haut spannten. Ohne es selbst zu bemerken, begann er gegen die Fesseln zu kämpfen, die seine Handgelenke umspannten.
Sarah wurde zu Adam gebracht, der seinen Arm ausstreckte und nach ihrer Hand fasste. Sie ließ es willenlos geschehen und stellte sich neben ihn. Für einen Moment traf sich Sarahs Blick mit seinem, aber Daniel sah, dass sie ihn nicht erkannte. Ihr Mienenspiel blieb ausdruckslos.
Plötzlich stimmten Tepes und seine Jünger einen leisen Gesang an, der sich mit zunehmender Dauer in der Lautstärke steigerte, bis die Melodie schließlich die ganze Höhle erfüllte und von den Wänden als Echo zurückgeworfen wurde. Genauso abrupt wie es begonnen hatte, endete das Lied.
Ein älterer Mann um die Fünfzig mit hagerem Körperbau und langen Armen trat vor. Er war ebenso nackt wie Tepes und Fischer. Sein Brustkorb hob und senkte sich im schnellen Rhythmus seines Atems. In seinen Augen lag die Angst eines Tieres vor dem Schlächter, als er vor Adam niederkniete.
Tepes ließ Sarahs Hand los und fasste den Mann an beiden Schultern. Sanft zog er ihn auf die Füße und küsste seinen Mund.
„Bist du bereit?“, fragte Tepes. Der Mann nickte hastig mit dem Kopf. „Komm, mein Bruder.“
Adam hob ihn mühelos hoch und trug ihn einer Mutter gleich, die ihren Sohn zu Bett bringt, zum Felsthron und legte ihn sanft ab. Seine Finger schlossen die Lider des Mannes.
Dann ging alles sehr schnell. Tepes hob ein Messer von der Steinplatte und durchschnitt die Kehle seines Opfers in einer einzigen fließenden Bewegung. Für einen Moment bäumte sich der Körper auf, so als wolle er im letzten Augenblick fliehen, aber Tepes drückte ihn nieder, bis er erschlaffte.
Der Gesang setzte wieder ein, aber Daniel beachtete ihn nicht, sondern beobachtete fasziniert, wie das Blut des Alten langsam in die Rinne der Steingravur floss und diese nach und nach ausfüllte, bis der Umriss des Drachens in dunklem Rot schimmerte.
Ein ehrfürchtiges Stöhnen ging durch die Menge. Fischer kannte den Grund nicht, aber er spürte, dass etwas geschehen war. Er wandte den Blick vom Felsthron ab und sah zu Adam hinüber.
Der Riese hatte beide Arme weit geöffnet. Seine Tätowierungen leuchteten auf seinem nackten Körper und dann geschah das Unfassbare.
Die Formen der Tätowierungen begannen vor Daniels Augen zu zerfließen. Zunächst hielt er diesen Eindruck für eine Sinnestäuschung, aber dann erkannte er entsetzt die Wahrheit. Die blauen Muster bewegten sich langsam über Tepes’ Leib strömten aufeinander zu und begannen ein Bild zu erschaffen.
Das Abbild eines Drachen entstand.
Der Drache des Dracul-Ordens.
Adams Augen waren vor Entzückung weit aufgerissen. Seinen Lippen entwich ein lustvolles Stöhnen, während er am ganzen Körper erzitterte.
Daniel wusste, ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Im Augenblick waren alle durch Adams Verwandlung abgelenkt, selbst Lombardo starrte fasziniert auf das Geschehen, aber dieser Zustand würde nicht anhalten.
Fischer spannte seinen Arm- und Schultermuskeln an. Alle Kraft und der ganze Hass, der sich in ihm aufgestaut hatten, flossen in diese Bewegung. Das Seil wurde gedehnt, aber es riss nicht.
Dann drehte sich Adam zu Daniel um und blickte ihm genau in die Augen.
Daniel erstarrte, dann versuchte er erneut, den Strick zu zerreisen.
„Sieh mich an“, brüllte Tepes. „Sieh, wer ich geworden bin.“
Die fließenden Bewegungen auf seiner Haut hatten aufgehört. Der Drache des Dracul-Ordens zierte nun seinen Körper. Tepes riss den Mund weit auf und Daniel sah, dass sich auch die Eckzähne seines Feindes verändert hatten. Lang und spitz ragten sie über die geöffneten Lippen.
Adams Mund schloss sich wieder. Sein Blick nahm an Intensität zu. Seine Augen loderten.
„Bist du bereit?“ Tepes Stimme donnerte zu ihm herüber. Daniel warf all seine Kraft in einen letzten Versuch, aber er spürte, dass es ihm nicht rechtzeitig genug gelingen würde sich zu befreien.
Adam kam mit großen Schritten auf ihn zu.
Lombardo hatte das Ritual wie in Trance verfolgt, aber als Tepes zu brüllen begann, erwachte er aus seiner Lethargie. Er sah Fischers verzweifelte Anstrengungen sich zu befreien, aber ebenso wie Daniel erkannte er, dass die Zeit nicht reichen würde.
Als Adam an ihm vorbeiging, warf sich Lombardo mit der ganzen Wucht seines Körpers gegen ihn.
Adam stolperte, aber er fiel nicht. Wütend packte er Lombardo, hob ihn hoch und warf ihn, als sei er gewichtslos, gegen die Höhlenwand. Ohne den Polizisten noch zu beachten, schritt er weiter.
Fischer spannte seine Muskeln an. Schmerzen jagten wie Blitze durch seinen Körper und seine Haut brannte wie Feuer, aber dann... riss das Seil.
Daniel ließ sich auf die Knie fallen. Seine Hand zuckte zur Beinprothese. Seine Finger fanden den winzigen Mechanismus und öffneten das geheime Versteck, das er sich von der orthopädischen Werkstatt in München hatte einbauen lassen. Aus diesem Grund war er nackt gekommen. Kleidung hätte ihn im entscheidenden Moment nur behindert und der Schmutz, mit dem er sich beschmiert hatte, sollte sein Vorhaben tarnen. Nun war der Zeitpunkt seiner Rache gekommen.
Er zog die aus der Waffenkammer gestohlene .22er heraus und richtete die Waffe auf Tepes.
Adam blieb abrupt stehen, als er die Waffe in Fischers Faust entdeckte. Er bleckte seine Zähne und lachte.
„Du willst mich töten?“
Fischer schoss ihm nacheinander in beide Augen und dann viermal in die Brust.
30. Sie sind ohne Hoffnung.
05.23 Uhr
Adam Tepes starb innerhalb von Sekunden. Er fiel nach vorn auf das Gesicht und blieb ruhig liegen. An seinem Tod war nichts Göttliches und er erhob sich auch nicht wieder, wie es seine Jünger erwarteten. Er war einfach...tot. Ein Haufen Fleisch, unbedeutend durch seine Sterblichkeit.
Daniel sah zu der Menge hinüber, die verblüfft auf Adams Körper starrte. Keine, der in den Händen gehaltenen Waffen wurde auf ihn gerichtet. Niemand sagte ein Wort. Niemand bewegte sich. Sie alle glotzten auf die Überreste des Mannes, der ihnen den Aufbruch in ein neues Zeitalter versprochen hatte und dem sie nun nicht mehr folgen konnten. Der Inhalt ihres Daseins war mit Tepes gestorben und so scharten sie sich ängstlich aneinander, wie eine Herde Schafe, die ihren Hirten verloren hatte.
Daniel öffnete seine Hand und die Pistole fiel klappernd zu Boden.
„Geht“, sagte er.
Ohne die Menge noch weiter zu beachten, setzte er sich auf den Boden. Er schloss die Augen und faltete die Hände in seinem Schoß. Es gab keine Angst mehr in ihm. Keine Wut. Keinen Hass. Aber ebenso, wie Adams Jünger fühlte er eine umfassende Leere in sich und seine Gedanken wurden zu Wolken, die über den Himmel seines Geistes zogen.
Ich bin hier.
Hier wollte ich sein.
Adam ist tot.
Ich lebe.
Will ich leben?
Will ich dieses Leben?
Für immer schlafen.
Alle Spiegel dieser Welt bedecken.
Und letztendlich zu Staub werden.
Will ich leben?
Oder sterben?
Hier?
Daniel hörte nicht die leisen Schritte, mit denen sich Adams Jünger auf den Weg machten. Lange saß er so da und dachte darüber nach, ob er leben oder sterben wollte.
Schließlich erhob er sich und schritt zu Sarah. Er fasste nach ihrer Hand, aber ihr Blick blieb ausdruckslos.
Daniel strich mit den Fingern über ihre Wange.
„Alles wird gut“.
Sie antwortete nicht. Daniel zog sie mit sich und ging zu Lombardo hinüber, der stöhnend am Boden lag. Wenn überhaupt möglich, sah er noch schlimmer aus als zuvor. Daniel half ihm aufzustehen und löste seine Fesseln.
„Ist er tot?“, fragte Lombardo, während er sich die Handgelenke rieb.
„Ja, das ist er.“
„Gut.“ Er nickte in Richtung, der sich zerstreuenden Jünger. „Und die da?“
„Sie stellen keine Gefahr mehr da. Sie sind ohne Hoffnung.“
„Was machen wir jetzt?“, wollte Lombardo wissen.
Daniel lächelte ihn an. Vor seinem inneren Auge sah er Jessicas Antlitz. Er sah ihr Lächeln und wusste, wie viel er für sie empfand.
„Wir gehen nach Hause.“
Acht Stunden später wurden sie von einem weiteren Spezialkommando entdeckt, das man ausgesandt hatte, Bodrig und seine Männer zu suchen.
Epilog
3 Jahre später
Die Augen der Frau leuchteten vor Glück, als sie spürte, wie er hinter sie trat und seine Hände auf ihre Schultern legte.
„Du bist schon da?“, fragte sie, ohne aufzublicken. Ihr Finger strich sanft über das Gesicht des schlafenden Säuglings in ihrem Arm.
„Ich wollte meinen Sohn sehen“, sagte Daniel flüsternd, trat um sie herum und streckte beide Hände aus. Vorsichtig legte sie das Kind hinein. Wie immer ging sofort eine Veränderung mit ihm vor. Seine Züge entspannten sich und ließen die fast verblassten Narben seiner plastischen Operationen verschwinden. Er sah wieder aus wie früher. Er sah wieder aus wie auf dem Bild, das sie einst von ihm gesehen hatte, aber Jessica wusste, noch immer hielten ihn die Dämonen der Nacht gefangen, verschleppten ihn in finstere Alpträume, aus denen er schreiend erwachte. Aber diese Träume wurden weniger. Eines Tages würden sie für immer verschwinden.
Die Katze, die ein Kater war und keinen Namen hatte, schlüpfte durch die offene Terrassentür und strich um ihre Beine. Unbewusst ließ sie die Hand sinken und strich durch das weiche Fell, aber ihr Blick war auf Daniel und ihren Sohn gerichtet, den beiden Menschen, die diesem Leben einen anderen Sinn gegeben hatten. Eine einzelne Träne lief unbemerkt über ihr Gesicht.
Daniel sah die Träne nicht. Er hatte nur Augen für seinen Sohn. Er sah das rosafarbene Gesicht, den kleinen schmalen Mund und die Hände, die sich im Schlaf bewegten.
Ich liebe dich so sehr, dachte er unendlich zärtlich.
Während er das Kind betrachtete, begann das Bild zu verschwimmen. Das Gesicht seines Sohnes wurde unscharf, flimmerte an den Rändern. Dann klärte sich sein Blick wieder.
Etwas war anders.
Etwas hatte sich verändert.
Der Schatten eines Musters bildete sich auf der Stirn des Kindes. Wilde, zuckende Formen, die schließlich einen in sich verschlungenen Drachen zeigten.
Daniel Fischer ballte die Faust, dann entspannte er sich wieder. Seine Nerven spielten ihm einen Streich.
Adam gab es nicht mehr.
Ende
Anmerkungen des Autors:
Die Stadt Lichtenfels existiert tatsächlich und es gibt dort auch unterirdische Höhlen, sie entspricht aber nicht dem fiktiven Handlungsort dieses Buches. Gleiches gilt für die anderen Orte in diesem Roman. Sämtliche Figuren sind frei erfunden und haben keinerlei Ähnlichkeit mit tatsächlich lebenden Personen.
Der historische Vlad III. Dracul lebte so, wie ich es in „seinen“ Aufzeichnungen beschrieben habe, allerdings fand er ein anderes Ende und kehrte nie nach Nürnberg zurück. Vlad III. war das Vorbild für Bram Stokers „Dracula“. Wer mehr über den „Pfähler“ erfahren möchte – das Internet bietet zahlreiche Informationen.
Ich habe mir die künstlerische Freiheit
genommen manche Dinge anders zu beschreiben, als sie tatsächlich
sind. Dies tat ich nicht, um die Wahrheit zu verfälschen, diese
Freiheit diente dazu, ein spannendes Buch zu schreiben. Ich hoffe,
es ist mir gelungen.
Hat Ihnen das Buch gefallen? Dann empfehle ich Ihnen meine Bücher
„Damian – Die Stadt der gefallenen Engel“ und „Damian – Die
Wiederkehr des gefallenen Engels“ erschienen im Arena Verlag,
Würzburg. Derzeit nur als Printversion erhältlich.
Rainer Wekwerth
www.wekwerth.com
Danksagungen
Hinter jedem Autor stehen andere Menschen, die ihn auf seinem Weg begleiten. Menschen, die einen großen Anteil an dem vorliegenden Buch hatten und denen ich danken möchte:
Meiner Frau Gabriele möchte ich sagen: „Letztendlich verbergen sich hinter all diesen Worten, drei andere Worte. Du kennst sie.“
Ich möchte meiner Tochter Anna danken, die mir jeden Tag aufs Neue zeigt, wie wunderbar das Leben ist.
Dank an Andreas Eschbach. Wieder einmal bist du mir mit deinem Rat zur Seite gestanden und hast geholfen, dieses Buch besser zu machen.
Ich danke Gerhard Schneider, dem Pressesprecher der Landespolizeidirektion Tübingen, für seine freundliche Auskunft. Ebenso danke ich Alexandra Fiore für ihre Hilfe.
Sehr freundlich war Herr Werner Paul vom Bereitschaftspolizeipräsidium Baden-Württemberg, Referat Öffentlichkeitsarbeit, der für mich den Kontakt zum SEK Göppingen herstellte.
Besonders bedanken möchte ich mich bei Mechthild Rittmeier, OTTO BOCK HealthCare GmbH in Duderstadt, die sich viel Mühe gemacht hat und mir sämtliche Informationen zukommen ließ, die ich für die Beschreibung von Daniel Fischers Beinprothese benötigte.
Vielen Dank an Sabine Reiff, die mir bei der Überarbeitung des Buches half.
Ich sprach mit Personen der Spezialeinsatzkommandos, die mich baten, ungenannt zu bleiben. Ich respektiere das und erkläre ausdrücklich, dass meine Beschreibungen der Arbeitsweise des SEK und ihre taktische Ausrichtung bei Einsätzen nur bedingt der Realität entsprechen.
Dieses Buch ist allen Mitgliedern der verschiedenen Spezialeinsatzkommandos der Polizei und allen Polizisten in ganz Deutschland gewidmet, die mit ihrem täglichen Einsatz dafür sorgen, dass wir sicher leben können.