Sechster Tag
Pünktlich mit dem ersten Sonnenstrahl, der seinen Weg durch das mit Brettern vernagelte Fenster fand, erwachte er.
Stille umfing ihn, der Geruch von Staub und das Gefühl, vollkommen allein zu sein.
Mike öffnete die Augen und hob im nächsten Moment erschrocken den Arm, um auf die Uhr zu sehen. Er war noch nicht wirklich wach. Sein Bewusstsein balancierte noch auf dem Rasierklingen dünnen Grat zwischen Traum und Realität.
Für die Dauer von zwei oder drei schmerzhaften Herzschlägen weigerten sich seine Augen, das Ziffernblatt deutlicher denn als verschwommenen Fleck wahrzunehmen, und für die gleiche Zeitspanne war er felsenfest davon überzeugt, verschlafen zu haben. Er fuhr hoch, bekam einen plötzlichen und sehr heftigen Schwindelanfall und ließ sich gerade noch rechtzeitig genug wieder nach hinten sinken, um nicht vom Bett zu fallen. Sein Kreislauf kam offensichtlich nicht annähernd so schnell in Schwung wie seine Gedanken.
Immerhin hatte er nicht geträumt; wenigstens nicht so schlimm, dass er sich daran erinnerte. Er würde nie wieder träumen. Nicht so.
Mike blieb lang ausgestreckt und mit geschlossenen Augen auf dem Rücken liegen, zählte in Gedanken langsam bis acht und sah dann noch einmal auf die Uhr. Er hatte nicht verschlafen, ganz im Gegenteil. Es war noch fast eine Stunde Zeit. Er setzte sich vorsichtig auf, stützte die Ellbogen auf die Knie und verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Gut zwei oder drei Minuten lang blieb er einfach so sitzen, dann nahm er langsam die Hände herunter, versuchte die Schultern zu straffen und ließ es gleich wieder sein, als seine misshandel-ten Muskeln mit einem schmerzhaften Ziehen und Pochen dagegen protestierten. Erst jetzt bemerkte er, dass das Stechen in seiner Brust aufgehört hatte. Vielleicht hatte er einfach nur falsch gelegen - kein Kunststück auf dieser Folterbank von einem Bett. Gleichzeitig wusste er natürlich, dass dem nicht so war. Er war gut darin, immer neue Ausreden zu finden.
Eine falsche Haltung, eine falsche Bewegung, Hunger ... es gab tausende von harmlosen Gründen, auf die man das immer heftiger und häufiger auftretende Schmerzgefühl in seiner Brust schieben konnte. Unglückseligerweise war er auch intelligent genug, um zu wissen, was es wirklich bedeutete.
Ganz offensichtlich gingen Intelligenz und Dummheit gern Hand in Hand. Es nutzte nichts, zu wissen, dass all die vorge-schobenen Gründe nur Lügen waren, um sich selbst zu beruhigen. Die Lügen beruhigten ihn - zumindest kurzfristig.
Mike schob den Gedanken fast ärgerlich zur Seite. Er gab sich selbst ein heiliges Ehrenwort, sich darum zu kümmern, sobald sie wieder zurück in Deutschland waren (auch das war eine Lüge, und auch das wusste er), und erhob sich mit einer so heftigen Bewegung, dass ihm beinahe wieder schwindelig geworden wäre. Als ob er sich im Moment nicht um wirklich Wichtigeres kümmern müsste!
Aufmerksam sah er sich in dem winzigen, fast leeren Zimmer um. Gestern Abend, als er hierher gekommen war, war es dunkel gewesen. Im Schein der gelben Sturmlaterne hatte das Zimmer winzig und trostlos ausgesehen, und im kaum helleren, aber milderen Licht des hereinbrechenden Tages sah es gena u-so winzig und fast noch trostloser aus: ein praktisch leerer Raum, in dem es nur ein Bett, eine Kommode, die nur noch auf drei Beinen stand, und einen kleinen Tisch gab, der zwar noch alle Beine hatte, aber nicht wirklich vertrauen erweckender aussah als die Kommode. Auf dem Tisch befand sich eine Plastikflasche mit Wasser, mehrere in durchsichtiges Zellophan eingewickelte Sandwichs und ein bedrohlich aussehender Revolver mit kurzem Lauf. Neben der Waffe lagen die Schlüssel seiner Intruder und ein lieblos aus einer Straßenkarte herausgerissenes Blatt, das mit Fettflecken und Schmutz übersät war und Sanora und seine nähere Umgebung am Vergin River zwischen Littlefield in Arizona und Bunkerville in Nevada zeigte. Zwei Finger breit neben dem leicht verscho-benen Quadrat, das Sanora bezeichnete, und eine Handbreit neben der gestrichelten gelben Linie der Staatsgrenze nach Nevada war eine Markierung aus rotem Filzstift zu sehen.
Mike trat an den Tisch heran, schraubte die Wasserflasche auf und nahm einen großen Schluck. Er verzog leicht angewidert das Gesicht. Das Wasser war warm und schal. Wenn es jemals Kohlensäure enthalten hatte, war sie längst entwichen. Er ließ einige Tropfen in seine hohle linke Hand laufen und verrieb sie im Gesicht; alles andere als eine Erfrischung. Nachdem er sich gezwungen hatte, einen weiteren Schluck zu trinken, schraubte er die Flasche sorgsam wieder zu, nahm die eingewickelten Sandwichs zur Hand und warf sie achselzuckend auf die Tischplatte zurück, nachdem er festgestellt hatte, dass es sich ausnahmslos um Käsebrote handelte. Er hasste Käse. Außerdem: Wenn er daran dachte, was ihm bevorstand, dann brachte er sowieso keinen Bissen herunter.
Er nahm die Waffe zur Hand, drehte sie einen Moment unschlüssig in den Fingern und klappte schließlich die Trommel heraus. Sie war gefüllt. Er hatte kein Ersatzmagazin und würde auch keines brauchen - wenn diese sechs Patronen nicht ausreichten, dann war sowieso alles zu spät. Obwohl ihm der bloße Gedanke, auf einen Menschen zu schießen, noch immer nahezu körperliche Übelkeit bereitete, erfüllte ihn das Gewicht der Waffe zugleich mit einem fast obszönen Gefühl von Sicherheit. Nein, das stimmte nicht: Macht. Das war es, was er spürte. Die uralte Verlockung, die Waffen schon immer auf Menschen ausgeübt hatten, selbst auf die, die behaupteten, es wäre nicht so.
Hastig steckte er die Waffe ein, beugte sich über den letzten Gegenstand, der auf dem Tisch lag - die Karte - und versuchte, sich das Durcheinander aus Flecken, unleserlichen Buchstaben und scheinbar willkürlichen Linien genau einzuprägen.
Schließlich faltete er die Karte umständlich wieder zusammen, schob sie in die Innentasche seiner Jacke und sah auf die Uhr.
Noch gut fünfzig Minuten bis zum Start der Operation. Ba nnermann und sein Deputy würden ihre beiden Gefangenen um Punkt acht Uhr aus den Zellen des Sheriff’s Office auf der anderen Straßenseite holen und in den Streifenwagen verfrach-ten, und er konnte es nicht riskieren, sein Versteck vorher zu verlassen.
Fünfzig Minuten können sich zu einer Ewigkeit dehnen, wenn man zum Nichtstun und Warten verdammt ist. Mike war jetzt wirklich ärgerlich auf sich, dass er so früh aufgewacht war.
Mit steifen Schritten ging er zum Tisch zurück, trank einen weiteren, großen Schluck von dem schalen Wasser in der Plastikflasche und nahm sie mit sich, als er das Zimmer verließ. Draußen im Flur war es heller. Sämtliche Fenster des Hauses waren vernagelt, aber ein Teil des Daches war eingestürzt. Es war unangenehm warm, schon jetzt, und unter seinen Schritten wirbelte der Staub auf, obwohl er sehr vorsichtig auftrat. Nicht ganz zu Unrecht befürchtete er, die morschen Fußbodendielen könnten unter seinem Gewicht nachgeben.
Das Haus stand seit mindestens zehn Jahren leer, vermutlich sehr viel länger, und außer dem brutalen Wechsel glühender Sonnenhitze bei Tag und manchmal zweistelliger Minustempe-raturen bei Nacht hatten auch der Wind und die ein oder andere Termite an seiner Substanz genagt; es war wenig mehr als eine Kulisse. Die Kulisse für einen Horrorfilm.
Vorsichtig stieg Mike die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Er konnte nicht sagen, wozu dieses Gebäude einmal gedient hatte.
Die gesamte untere Etage bestand aus einem einzigen großen Raum, der ebenfalls nahezu leer war. An einer Wand gab es deckenhohe Regale, die nichts anderes als Staub enthielten, und davor eine niedrige Theke, deren ursprüngliche Farbe sich unter einer gut fingerdicken Schmutzschicht verbarg. Vielleicht war das hier tatsächlich so etwas wie ein Saloon aus einem uralten Wildwestfilm, vermutlich aber etwas sehr viel Banale-res: ein Gemischtwarenladen, eine Poststation. Gleich neben der Tür hing ein emailliertes Waschbecken an der Wand.
Obwohl er das Ergebnis vorausahnte, drehte Mike den Wasserhahn auf. Er wurde mit einem erbärmlichen Quietschen belohnt, sonst passierte nichts.
Mike schnitt dem versiegten Wasserhahn eine Grimasse und hob die Hand, um die rot-weiß karierte Gardine beiseite zu schieben, die vor der Fensterscheibe an der Tür hing. Sie zerbröselte unter seiner Berührung zu Staub, und Mike begriff zu spät, dass ein Teil des grauen Gewebes, in das er gegriffen hatte, ein eng gewobenes Spinnennetz gewesen war, das noch eine Bewohnerin hatte. Durch die Berührung alarmiert, sprang diese vor und prallte im letzten Moment zurück, als ihre zahlreichen, aber hoffnungslos kurzsichtigen Augen ihr signalisierten, dass die vermeintliche Beute ein wenig zu groß für ihren kaum daumennagelgroßen Körper war. Mike bezweifelte, dass das Tier giftig war. Da er Spinnen wie die Pest hasste, hatte er sich schon vor Antritt der Reise über die hiesige Arachnidenpopulation informiert. Es gab Taranteln und Schwarze Witwen, und speziell in Nevada eine besonders heimtückische Art von Springspinnen, von denen man sich besser nicht beißen ließ. Dieses Tier gehörte zu keiner der drei Gattungen. Allerdings: Es war eine Spinne, und Mikes Herz machte einen fast ebenso heftigen Satz in seiner Brust, wie er selbst zurück.
Die Erschütterung reichte nicht nur, eine fast hüfthohe Staubwolke vom Boden aufsteigen zu lassen, sie zerriss auch endgültig das Netz. Die Spinne verlor den Halt und drohte, zu Boden zu stürzen. Im letzten Moment schoss sie einen glit-zernden Faden aus ihrem Hinterleib ab, der tatsächlich irgendwo Halt fand - scheinbar in der leeren Luft -, vollführte eine komplizierte und ungemein schnelle Bewegung und begann, auf wirbelnden, spindeldürren Beinchen an ihrem Faden nach oben zu klettern.
Mike sah ihr eine halbe Sekunde lang dabei zu, mit klopfen-dem Herzen und von genau jenem klebrig kalten, mit Ekel gemischtem Entsetzen erfüllt, das ihn stets beim Anblick einer Spinne überkam. Und dann tat er etwas, das ihn selbst überraschte: Er machte wieder einen Schritt nach vorne, streckte den Arm aus und zerquetschte die Spinne in der bloßen Hand.
Es war ein unvorstellbar ekelhaftes Gefühl. Eine halbe Sekunde lang zappelte das Tier verzweifelt in seiner hohlen Hand, bevor er diese endgültig zur Faust schloss und die Spinne zu einem klebrigen, warmen Brei zermalmte. Sein Magen revoltierte, und er konnte spüren, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf aufstellte. Es war wie ein elektrischer Schlag, pure Angst, die durch seine Hand pulsierte und überall zugleich in seinem Körper zu explodieren schien. Aber er ließ das zerquetschte Tier noch immer nicht los, sondern drückte noch fester zu, bis ein einzelner, hellrot schimmernder Tropfen aus seiner Faust quoll und einen winzigen Bombentrichter in die Staubschicht auf dem Boden grub.
Langsam bückte sich Mike nach der zerrissenen Gardine, hob sie mit der linken Hand auf und öffnete dann die andere Faust.
Der Anblick erfüllte ihn mit unbeschreiblichem Ekel, zugleich aber auch mit einer grimmigen, fast an Triumph grenzenden Zufriedenheit. Was sollte ihm jetzt noch passieren? Er hatte einen seiner schlimmsten Feinde besiegt - sich selbst - und etwas getan, was er noch vor zehn Sekunden für unmöglich gehalten hätte. Diese Spinne zu töten - erst recht auf diese Weise! - war mehr als ein Reflex gewesen. Obwohl ihm entsetzlich übel war, obwohl sein Herz raste und seine Stirn von kaltem Schweiß bedeckt war, fühlte er sich ... gut. Er bezweifelte, dass er in der Lage war, diese Attacke zu wiederholen, aber er hatte sich wenigstens ein Mal selbst bewiesen, wozu er in der Lage war, wenn es wirklich darauf ankam.
Mike wischte seine Hand sorgfaltig ab und tat dann das, wozu er eigentlich hergekommen war: Er trat an die Tür und sah auf die Straße hinaus.
Sanora bot sich ihm genau wie am vorangegangenen Tag dar: trostlos, eine winzige Stadt, deren Hand voll Häuser sich ausnahmslos rechts und links der Straße entlangzogen und die, wie er nun wusste, ausnahmslos leer standen. Die wenigen Automobile, die vor dem ein oder anderen Gebäude standen, waren uralt, Wracks, die zu entsorgen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Nicht alle Fenster waren vernagelt, aber doch viele, und in etlichen der anderen fehlte das Glas. Als sie gestern in die Stadt gefahren waren, waren sie viel zu aufgeregt und angespannt gewesen, um es zu erkennen: Sanora war eine Geisterstadt. Die letzten Bewohner hatten den Ort vor mehr als einem Jahrzehnt verlassen und ihn dem Verfall preisgegeben.
Die Natur hatte längst angefangen, sich das Terrain zurückzu-erobern, von dem die Menschen irrtümlicherweise angeno mmen hatten, es gehöre ihnen.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte die kleine Holz-kirche im Zentrum der Stadt der Zeit bisher getrotzt. Zumindest aus der Entfernung wirkte sie wie frisch gestrichen: ein absurder, fast aberwitziger Anblick inmitten all des Verfalls. Wer pflegte die Kirche und den kleinen dazugehörigen Garten mit seinem Rasen und den bunten Blumenrabatten? Amerika war eben nicht nur das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, der Spaceshuttles und Microsoft-Computer, sondern auch ein Land voll Verrückter und religiöser Fanatiker. Nun, Mike sollte es recht sein. Solange sie nicht ausgerechnet innerhalb der nächsten vierzig oder fünfzig Minuten auftauchten, konnten diese Wahnsinnigen hier auch eine maßstabgetreue Kopie des Petersdoms aufbauen, wenn es ihnen Spaß machte.
Gerade, als er sich umdrehen und von seinem Aussichtspos-ten zurücktreten wollte, ging die Tür der Kirche auf, und eine Gestalt trat ins Freie. Mike fuhr erschrocken zusammen, sah genauer hin und wich automatisch ein, zwei Schritte zurück. Es war nicht irgendeine Gestalt. Es war ein alter, gebeugter Mann mit strähnig grau gewordenem Haar, das ihm bis weit über die Schultern herabfiel, rotbrauner Haut und einem zerfurchten Gesicht, in dem das einzig Lebendige die Augen zu sein schienen, erfüllt von etwas, das Gestalt gewordener Hass auf alles Lebende und Atmende war.
Mikes erste Hoffnung zerstob damit wie eine laue Sommer-nacht, die von einem heftigen Gewitter zerrissen wurde.
Das war nicht der Schamane, wie er gehofft hatte, nicht der alte Mann, der ihn im Traum vor dem Wendigo gewarnt hatte mit den Worten: »Er wird dich töten.«
Es war der Wendigo selbst.
Vielleicht war es jetzt so weit. Vielleicht war er gekommen, um endgültig mit Mike abzurechnen - auch wenn nichts an seinem Äußeren daraufhindeutete. Er trug nicht den schwarzen Büffelfellmantel, sondern nur einen ledernen Lendenschurz und einfache Mokassins, und in seinen Händen hielt er keine Waffe, nicht einmal einen Anasazi-Speer.
Kaum war der Wendigo einen Schritt weit aus der Kirche getreten, blieb er stehen und starrte wortlos und voll stummen Hasses in Mikes Richtung.
Mike schloss mit einem leisen Stöhnen die Augen. Hatte er wirklich geglaubt, es wäre so leicht? War er wirklich närrisch genug gewesen, sich allen Ernstes einzureden, dass es ausreichte, eine harmlose Spinne zu zerquetschen, um sich selbst zu besiegen? Wie naiv!
Als er die Augen wieder öffnete, war der Wendigo immer noch da. Er war nicht näher gekommen, aber Mike spürte seinen Blick nun deutlicher, beinahe wie eine Berührung, tief in seinem Innern. Er hörte ein Wispern und versuchte sofort, abzublocken.
»Nein!«, sagte er.
Der Wendigo machte einen einzigen Schritt, der ihn die Hälfte der Distanz zwischen der Kirche und Mikes Versteck überwinden ließ. In seiner rechten Hand lag plötzlich wieder der Speer mit der Feuersteinspitze. Diese grässliche Ausgeburt von Mikes überhitzter Fantasie scherte sich einen Dreck um Logik oder Naturgesetze.
Etwas in Mike wollte sich krümmen und vor Angst schreien, dasselbe Etwas, das ihm mehr als vier Jahrzehnte lang Herzra-sen, Schweißausbrüche und panische Angst beschert hatte, wenn er ein harmloses krabbelndes Etwas mit mehr als sechs Beinen sah. Doch Mike blieb hart. »Nein!«, sagte er noch einmal. »Verschwinde. Du störst im Moment ein bisschen, mein Freund.«
Seine Stimme zitterte vor Angst und verdarb ihm den Effekt, aber wichtig war nicht wie, sondern dass er es sagte. Der Wendigo blieb stehen. Das Wispern in Mikes Gedanken wurde schärfer, drohender. Doch Mike tat etwas, das viel leichter war, als er es sich jemals vorgestellt hätte: Er gestattete seiner Angst nicht, Gewalt über ihn zu erlangen. Er gestattete ihr nicht einmal wirklich, Gestalt anzunehmen. Dieses Ding dort draußen war so wenig echt, wie Bannermann ein echter Polizist oder Strong jemals wirklich tot gewesen waren. Eine weitere Lüge, nur dass sie diesmal vom raffiniertesten seiner Feinde ersonnen worden war, von ihm selbst. Er wusste, dass er den Wendigo nicht einfach wegleugnen konnte. Das hatte er versucht und ihn damit immer nur noch stärker gemacht.
»Nein!«, sagte er noch einmal. »Nicht jetzt!«
Die Gestalt draußen auf der Straße begann zu flackern, und schließlich trieb sie einfach auseinander wie ein Trugbild aus Rauch, das der Wind verwehte. Der Wendigo verschwand nicht völlig, jedenfalls nicht gleich.
Etwas von ihm blieb, etwas Unsichtbares und Drohendes, das Mike ein düsteres Versprechen zuflüsterte.
Mike lachte. Zuerst leise und nervös, ein Lachen, das keinen anderen Zweck hatte, als ihm Mut einzuflößen - oder zumindest vorzutäuschen. Aber nach ein paar Augenblicken wurde dieses Lachen echt, lauter und immer lauter, bis Mike sich schließlich mit Gewalt zusammenriss, weil er fürchtete, man könnte es drüben in Bannermanns Gefängnis hören. Der zweite und vielleicht wichtigste Sieg an diesem Morgen. Er bestimmte vielleicht nicht die Regeln in diesem verfluchten Spiel, aber er hatte sie - endlich - verstanden. Was sollte ihn jetzt noch aufhalten?
*
Am Ende war die Zeit doch schneller vergangen, als er erwartet hatte. Er hatte das Haus durch die Hintertür verlassen und gut zehn Minuten bis zu der Stelle gebraucht, an der er am vergangenen Abend das Motorrad versteckt hatte, weit genug von Bannermanns kleinem Privatgefängnis entfernt, dass man das Motorengeräusch dort selbst in der morgendlichen Stille nicht hören würde. Früher einmal hatte dieser Ort direkten Zugang zum Highway 91 gehabt, aber diese Interstate war auf gerade mal ein Zehntel ihrer ursprünglichen Länge zusammen-geschrumpft.
Mike hatte gestern Abend der Straßenbeschreibung entnom-men, dass die 91 in diesem Dreistaatendreieck zwischen Utah, Arizona und Nevada durch die neuere Interstate 15 ersetzt worden war; nur noch zwischen St. George und Littlefield war ein längeres Stück der alten Strecke durchgehend befahrbar.
Sanora war also nicht nur eine Geisterstadt, es lag auch an einer Geisterstraße. Strong und Bannermann hatten diesen Ort nicht von ungefähr für ihren kleinen Hinterhalt ausgesucht.
Obwohl Mike sich die Karte aufmerksam eingeprägt und eine Beschreibung hatte, nach der er sein Ziel gar nicht verfehlen konnte, nahm er das herausgerissene Blatt noch einmal hervor und studierte es aufmerksam. Der Weg war nicht sehr weit -
zwei Meilen, etwas über drei Kilometer -, aber er würde ein Stück durch die Wüste fahren müssen, abseits der befestigten Strecke, und das bereitete ihm Sorgen. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, einen schweren Chopper statt einer Motocrossmaschine im Slalom zwischen Büschen, Kaninche n-löchern und Felsbrocken hindurchzulenken. Seine rechte Hand tat jetzt zwar nicht mehr so weh wie gestern, war jedoch weiter angeschwollen und kaum noch zu benutzen.
Aber wenn er die Straße benutzte, lief er Gefahr, zu früh gesehen zu werden, und dann war sein Plan gescheitert, bevor er ihn überhaupt in Angriff genommen hatte. Mit einem unguten Gefühl schwang er sich in den Sattel, startete den Motor und blieb gut anderthalb oder zwei Minuten stehen, bis die Maschine richtig warm gelaufen war und rund lief. Erst dann setzte er den Helm auf, streifte die Handschuhe über und fuhr los.
Es war schwer, aber nicht so schwer, wie er erwartet hatte.
Mike fuhr langsam, weil er keinen Sturz riskieren wollte, und erreichte sicher die Felsgruppe neben der Straße, hinter der er die beiden anderen Maschinen versteckt ha tte. Noch etwa zehn Minuten, bis Bannermann vorbeikommen würde! Er lenkte die Intruder hinter die fast haushohen, geborstenen Felsen, stieg ab und ging zur Straße und dann noch einmal gut hundert Schritte in Richtung Sanora zurück, bevor er stehen blieb und sich davon überzeugte, dass die Motorräder von hier aus auch tatsächlich nicht zu sehen waren.
Eine ganze Weile stand er einfach so da und blickte in die Richtung, aus der Bannermann und sein Deputy mit Stefan und Frank kommen mussten, dann wandte er sic h mit einem entschlossenen Ruck um und ging zu seinem Versteck zurück.
Es waren jetzt nur noch wenige Minuten.
Zeit genug für eine Zigarette.
Der Gedanke entstand mit der Selbstverständlichkeit einer dreißig Jahre alten Gewohnheit in seinem Kopf, und er griff ganz automatisch in die Jackentasche.
Erst als er den rauen Kunststoff des Revolvergriffs statt der erwarteten Zigarettenpackung ertastete, wurde ihm klar, was er gerade getan hatte. Er schüttelte ärgerlich den Kopf. Dann lächelte er. Statt der gewohnten Packung West oder Marlboro hatte er einen Revolver Kaliber 38 in der Tasche seiner Lederjacke; er fragte sich, was tödlicher war.
Er zog die Hand leer heraus, drehte sich abermals um und ging bis zum Ende des monströsen Felsgebildes zurück, weit genug, um die Straße überblicken zu können. Irgendwo dicht vor dem formlosen Fleck am Horizont, der Sanora war, blitzte es kurz und silberhell auf; ein Lichtstrahl, der sich auf dem Metall des Streifenwagens oder auf Glas gebrochen hatte.
Bannermann war pünktlich. Mikes Hand kroch ohne sein Zutun in die Jackentasche und schmiegte sich um den Revo lvergriff, aber das beruhigende Gefühl stellte sich nicht mehr ein. Er spürte nur noch harten Kunststoff, der nicht mehr als Katalysator für seine Angst diente, sondern sie im Gegenteil zu schüren schien.
Wieder schimmerte ein Lichtblitz auf halbem Wege zwischen ihm und dem Horizont, und obwohl erst ein paar Sekunden seit dem ersten Mal verstrichen waren, schien er ihm diesmal bereits deutlich näher zu sein. Die Straße schlug zwar einen großen Bogen, aber es waren nur wenige Kilometer, und Bannermann fuhr sicherlich schnell. Er hatte jeden Grund dazu.
Rasch ging Mike zu den Motorrädern zurück und schwang sich in den Sattel seiner Maschine. Die Schlüssel der beiden anderen Intruder steckten. Er griff noch einmal in die Tasche, als müsse er sich erneut davon überzeugen, dass die Waffe auch tatsächlich da war, dann legte er entschlossen den Gang ein und fuhr los; so langsam, dass er die Füße über den Boden schleifen lassen musste, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und mit halb durchgezogener Kupplung, die rechte Hand griffbereit auf dem Gasgriff. Sie schmerzte jetzt wieder stärker, aber irgendwie würde es schon gehen. Es verging nicht einmal mehr eine Minute, bis er das Motorengeräusch des näher kommenden Wagens hörte. Bannermann fuhr ziemlich schnell. Mike betete, dass er nicht noch weiter beschleunigte.
Die Intruder war keine Rennmaschine und er kein guter Fahrer.
Doch die Sorge war unbegründet. Da die Straße unmittelbar vor den Felsblöcken eine scharfe Kurve beschrieb, war Rasen hier unmöglich. Aus genau diesem Grund hatte er diesen Platz hier ausgewählt. Mike lauschte mit geschlossenen Augen.
Als er hörte, wie Bannermann herunterschaltete, um seine Geschwindigkeit zu reduzieren, gab er Gas und ließ die Kupplung mit einem Ruck kommen. Die Intruder schoss mit einem noch stärkeren Ruck los, der Mike um ein Haar aus dem Sattel geschleudert hätte.
Nur mit Mühe fand er sein Gleichgewicht und die Gewalt über die Maschine wieder, ermahnte sich in Gedanken zu etwas mehr Vorsicht und gab im nächsten Moment noch heftiger Gas.
Das schwerfällige Motorrad drohte auf dem lockeren Sand auszubrechen und kippte gefährlich zur Seite. Doch dann war plötzlich griffiger Asphalt unter den Re ifen, und Mike gewann die Kontrolle über die Maschine endgültig zurück. Nicht einmal eine Sekunde, nachdem er die Intruder in spitzem Winkel auf die Straße hinausgelenkt hatte, erscholl hinter ihm ein wütendes Hupen, und im nächsten Augenblick jagte der Streifenwagen mit quietschenden Reifen so dicht an ihm vorbei, dass er den Luftzug spüren konnte.
Es gab jetzt kein Zurück mehr.
Mike hatte sich hundert Mal vorgestellt, wie es sein würde, und er war fast selbst überrascht, zu beobachten, wie präzise und schnell er reagierte und seinem eigenen Plan folgte. Wie er erwartet hatte, raste der Streifenwagen nicht einfach weiter.
Bannermann trat überrascht auf die Bremse, als er erkannte, wen er da um ein Haar über den Haufen gefahren hätte, und im gleichen Moment, in dem die Bremslichter des Patrol-Car hellrot und warnend vor ihm aufleuchteten, riss Mike die Intruder nach links, beschleunigte noch weiter, bis der Motor unter ihm protestierend aufheulte, und trat dann mit aller Kraft auf die Bremse.
Mit blockierend em Hinterrad schlingerte die Maschine an dem bremsenden Streifenwagen vorbei. Mike riss die Intruder abermals herum und nahm nun auch noch die Vorderradbremse zu Hilfe, um die Maschine möglichst schnell zum Stehen zu bringen. Das Ergebnis war ein wütender Schmerz, der ihm aus seiner rechten Hand bis in die Schulter hinaufschoss und die Tränen in die Augen trieb. Das Motorrad bockte, versuchte sich quer zu stellen und kam dann mit einem harten Ruck zum Stehen.
Hinter ihm schoss der Streifenwagen heran. Bannermann bremste jetzt so hart, dass die Reifen schwarze Gummispuren auf dem Asphalt hinterließen und protestierend kreischten.
Trotzdem sah es für eine einzige, furchterfüllte Sekunde so aus, als würde er es nicht schaffen. Der Wagen schlitterte weiter auf Mike zu. Buchstäblich im allerletzten Moment - die wuchtige Stoßstange des Patrol-Car war keine Handbreit mehr von der quer stehenden Maschine und damit Mikes rechtem Bein entfernt - brachte Bannermann das Fahrzeug zum Stehen.
Fast gleichzeitig flog die Be ifahrertür auf, und Bannermanns Deputy sprang ins Freie. Sein Lieblingsspielzeug, die großkalibrige Pumpgun, hielt er in der linken Hand, aber er schien es nicht für nötig zu halten, damit auf Mike anzulegen. Vielleicht hatte er es in seinem Schrecken auch ganz einfach vergessen.
Der Deputy schrie irgendetwas auf Englisch. Mike achtete nicht darauf, sondern hechtete mit einer einzigen, ungemein schnellen Bewegung über die Maschine, prallte auf der Motorhaube des Streifenwagens auf und rollte sich geschickt über die Schulter ab. Noch bevor der vollkommen verblüffte Deputy überhaupt begriff, wie ihm geschah, landete Mike vor ihm wieder sicher auf den Füßen, packte ihn bei den Schultern und schmetterte ihn mit solcher Wucht gegen das Wagendach, dass der Mann sein Gewehr fallen ließ und benommen auf die Knie sank. Mike stieß ihn vollends zu Boden, versetzte dem Schrotgewehr einen Tritt, der es klappernd über die gesamte Straßen-breite beförderte, und zog den Revolver aus der Tasche, noch während er sich umdrehte; alles in einer einzigen, rasend schnellen Bewegung, von der er niemals geglaubt hätte, dass er überhaupt imstande wäre, sie zu vollführen.
Das nächste Wunder war, dass seine misshandelte rechte Hand überhaupt keine Probleme hatte, die Pistole zu halten, und er die Waffe durch das offen stehende Fenster auf der Beifahrerseite direkt auf Bannermanns Gesicht richten konnte.
Er sah nur aus den Augenwinkeln, wie Stefan und Frank, die an den Handgelenken zusammengekettet auf der Rückbank des Wagens saßen, fassungslos die Augen aufrissen und ihn anstarrten. Aber er beging nicht den Fehler, seine Aufmerksamkeit auch nur einen Sekundenbruchteil von Bannermann zu lösen.
Der Sheriff trug wieder seine verspiegelte Sonnenbrille sodass Mike seine Augen nicht sehen konnte. Das war allerdings auch nicht nötig. Bannermanns Gesicht war ein einziger Ausdruck von Fassungslosigkeit. Nicht einmal Schrecken und schon gar keine Angst zeichneten sich darauf ab, aber ein so vollkommener Unglaube, dass Mike sich nicht darüber gewun-dert hätte, wenn Bannermann einfach nur den Kopf geschüttelt hätte und weitergefahren wäre. Stattdessen löste er die rechte Hand vom Lenkrad und griff nach der Waffe, die er am Gürtel trug.
»Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Sheriff«, sagte Mike ruhig.
Bannermanns Hand verhielt auf halbem Wege zwischen dem Steuer und dem Griff des Revolvers.
»Mike?«, murmelte Frank von der Rückbank. Seine Stimme klang so fassungslos, wie Bannermanns Gesicht aussah.
»Aber was ...?«
»Nicht jetzt«, sagte Mike rasch. Er wedelte auffordernd mit dem Revolver. »Steigen Sie aus, Sheriff. Ganz langsam. Und auf meiner Seite.«
Bannermann rührte sich zwei oder drei Sekunden lang nicht, dann nahm er ganz langsam auch die linke Hand vom Steuer und rutschte gehorsam auf den Beifahrersitz. Mike trat zwei oder drei Schritte zurück und warf einen schnellen Blick auf den Deputy. Der Mann war nicht bewusstlos, hielt sich jedoch stöhnend den Kopf. Auf seiner Stirn prangte eine hässliche Platzwunde, die vermutlich nicht gefährlich, ganz bestimmt aber sehr schmerzhaft war. Mike gönnte sie ihm von Herzen.
Als Bannermann die Tür öffnete, trat Mike noch zwei weitere Schritte zurück und wedelte drohend mit dem Revolver. »Ganz langsam, Sheriff. Und ich will Ihre Hände sehen, wenn Sie die Tür aufmachen.«
Der Sheriff legte gehorsam die rechte Hand in das offene Fenster und betätigte den Türgriff sehr vorsichtig mit der linken. Noch vorsichtiger stieg er aus und hob schließlich beide Hände in Schulterhöhe. Der ungläubige Ausdruck war mittlerweile vo n seinem Gesicht verschwunden, aber Mike suchte vergeblich nach Furcht oder Schrecken darin. Bannermann sah jetzt eindeutig wütend aus. Wütend genug, um eine Dummheit zu begehen.
»Was immer Sie jetzt vorhaben, Sheriff«, warnte er ihn, »tun Sie es lieber nicht. Ich bin nicht besonders geübt in solchen Dingen, müssen Sie wissen. Und Amateure neigen zum Übertreiben, wie Ihnen ja wahrscheinlich nicht ganz unbekannt ist.«
Bannermann schürzte verächtlich die Lippen. »Sie glauben doch nicht, dass Sie damit durchkommen?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Mike so gelassen er konnte.
»Aber das ist dann nicht mehr Ihr Problem.« Er wedelte wieder drohend mit der Waffe, was in Bannermanns Augen wahrscheinlich eher albern aussah. »Ich nehme an, Sie haben die Schlüssel zu den Handschellen bei sich?«
Bannermann schwieg. Mike konnte seine Augen hinter dem verspiegelten Glas der Sonnenbrille noch immer nicht sehen, aber er glaubte, die Wut darin jetzt regelrecht zu spüren. Er musste noch vorsichtiger sein; auf keinen Fall durfte er es übertreiben. »Ihre Waffe, bitte, Sheriff«, sagte er. »Ziehen Sie sie mit der linken Hand, und ganz langsam.«
Bannermann gehorchte auch jetzt, ohne zu widersprechen.
Ganz langsam zog er den Revolver mit spitzen Fingern aus dem Halfter, hielt ihn am aus gestreckten Arm vor sich und ließ ihn fallen, als Mike eine entsprechende Geste machte.
»Und jetzt?«
»Aber das wissen Sie doch«, sagte Mike.
Bannermann machte ein abfälliges Geräusch. »So? Weiß ich das? Ich nehme an, Sie werden mich jetzt erschießen?«
»Das hatte ich eigentlich nicht vor.«
»Das solltest du aber«, sagte Bannermann plötzlich mit ve r-
änderter, fast hasserfüllter Stimme. »Wenn du es nämlich nicht tust, dann verspreche ich dir ... «
» ... dass Sie mich bis ans Ende der Welt jagen werden, und wenn es das Letzte ist, was Sie in Ihrem Leben tun, ich weiß«, unterbrach ihn Mike. »Aber eigentlich glaube ich das nicht.«
»Dann bist du noch dümmer, als ich dachte«, sagte Banne rmann.
»Vielleicht«, antwortete Mike. »Vielleicht fallt mir auch nur die Vorstellung schwer, dass Sie diese Geschichte Ihren Kollegen erzählen werden.«
Bannermann schwieg. Mike konnte sehen, wie es hinter der scheinbar unbeweglichen Maske seines Gesichtes arbeitete.
Etwas bewegte sich neben ihm. Der Deputy. Mike beging nicht den Fehler, sich umzudrehen - Bannermann lauerte nur auf eine solche Gelegenheit -, sondern machte rasch drei Schritte rückwärts, um den Deputy und Bannermann zugleich im Auge behalten zu können. Gleichzeitig wurde ihm klar, dass er doch einen Fehler begangen hatte; vermutlich nicht den ersten. Der Deputy trug noch seine Waffe im Gürtel. Gottlob war er noch immer viel zu benommen, um auch nur an Widerstand zu denken.
»Ihren Revolver!«, verlangte Mike.
Der Mann reagierte nicht, sondern fuhr fort, stöhnend sein Gesicht zu betasten. Auch aus seinem Mund lief Blut.
»Sagen Sie ihm, dass er die Waffe wegwerfen soll«, wandte sich Mike an Bannermann. »Vorsichtig.«
»Und wenn ich das nicht tue?«, fragte Bannermann lauernd.
»Erschießen Sie mich dann?«
»Lassen Sie’s drauf ankommen«, sagte Mike. Er war selbst erstaunt, wie ruhig er diese Worte hervorbrachte.
Bannermann überlegte kurz, wandte sich dann an seinen Deputy und wiederholte Mikes Aufforderung in Englisch.
Mike beförderte auch diese Waffe mit einem Fußtritt auf die andere Straßenseite und richtete seine Aufmerksamkeit wieder ganz auf Bannermann.
»Und jetzt machen Sie die beiden frei.
Und keine Dummheiten.«
Wieder vergingen Sekunden, in denen Bannermann ihn nur trotzig anstarrte. Er sagte nichts, er machte nicht einmal eine verdächtige Bewegung, und trotzdem war dieser letzte Auge nblick die entscheidende Kraftprobe zwischen ihnen - die Mike gewann. Nach einer kleinen Ewigkeit drehte sich Bannermann ganz langsam um, öffnete die hintere Tür des Wagens und bedeutete Frank mit einer groben Bewegung, auszusteigen.
»Freut euch nicht zu früh«, knurrte er. »Damit kommt ihr nicht durch, das verspreche ich euch!«
Frank und Stefan kletterten umständlich aus dem Wagen.
»Die Handschellen!«, verlangte Mike.
Widerstrebend und viel langsamer, als notwendig gewesen wäre, griff Bannermann in die Hosentasche, förderte seinen Schlüsselbund zutage und öffnete die stählerne Handfessel, die Stefan und Frank aneinander band. Stefan wich sofort zwei Schritte zurück und begann sein rechtes Handgelenk zu massieren. Frank blieb einfach stehen, noch immer fassungslos darüber, was hier vor sich ging.
»Und jetzt?« Bannermann drehte sich um und maß Mike mit einem verächtlichen Blick, den dieser sogar durch die Sonne nbrille hindurch spürte.
»Jetzt werden Sie das Funkgerät aus dem Armaturenbrett reißen«, antwortete Mike. »Und danach werden Sie die Freund-lichkeit besitzen, die Motorhaube zu öffnen und mir Ihre Verteilerkappe auszuhändigen.« Er grinste flüchtig.
»Ich würde es ja selber tun, aber ich bin technisch le ider ziemlich unbegabt.«
Bannermann schien etwas sagen zu wollen, beließ es dann aber beim verächtlichen Verziehen der Lippen, deutete ein Achselzucken an und ging mit provozierend langsamen Schritten um den Wagen herum, um die Tür auf der anderen Seite zu öffnen.
Mike deutete auf den Deputy. »Passt auf ihn auf«, sagte er.
Dann folgte er Bannermann mit schnellen Schritten und in respektvollem Abstand. Er beobachtete aufmerksam, wie der Sheriff das altmodische Funkgerät mit einiger Mühe aus dem Armaturenbrett löste, nachdem er eine Steckverbindung gelöst hatte.
Mike deutete mit dem Kopf nach unten. Bannermann ließ sich vorsichtig in die Hocke sinken und legte das Gerät behutsam auf den heißen Asphalt. Mike wartete geduldig, dann forderte er ihn mit einer Geste auf, ein paar Schritte zurückzu-treten, ergriff den Revolver mit beiden Händen und zielte sorgfältig.
Der Schuss hallte unerwartet laut über die leere Straße. Frank und Stefan fuhren erschrocken zusammen und wirbelten zu ihm herum. Auch Bannermann zuckte, als hätte die Kugel ihn und nicht das Funkgerät getroffen, das zwei Meter vor seinen Füßen in einer Wolke aus fliegenden Kunststoffsplittern und verdrehtem Metall auseinander flog.
»Jetzt den Verteiler«, verlangte Mike.
Bannermann beugte sich abermals in den Wagen, öffnete die Motorhaube und ging dann nach vorne. Mike folgte ihm auch jetzt in gebührendem Sicherheitsabstand. Aufmerksam sah er zu, wie Bannermann den Verteilerkopf löste und ihn auf eine entsprechende Geste hin ebenso behutsam zu Boden legte wie zuvor das Funkgerät.
Diesmal verzichtete Mike darauf, die Pistole abzufeuern. Er zerstampfte das spröde Plastikgehäuse einfach mit einem einzigen Fußtritt. Bannermanns Lippen wurden noch schmaler.
»Ich denke, das wäre es für den Moment«, sagte Mike lä-
chelnd. »Sie können gehen.«
»Gehen?«
»Sie und Ihr Deputy.«
Mike machte eine entsprechende Kopfbewegung.
»Verschwinden Sie.«
An Stefan und Frank gewandt, fügte er hinzu: »Sammelt ihre Waffen ein.«
»Du bist jetzt schon tot«, sagte Bannermann. »Besser, du schießt uns gleich über den Haufen. Wenn du es nicht tust, werde ich es tun, wenn wir uns das nächste Mal sehen.«
»Beeindruckend«, antwortete Mike. »Darf ich Sie in einem meiner nächsten Bücher zitieren?«
Bannermann schnaubte verächtlich. Rasch ging er zu seinem Deputy hin, half ihm auf die Beine und sah dann mit einer Mischung aus Herablassung und hilfloser Wut zu, wie Frank und Stefan die Waffen einsammelten. Mike wartete, bis beide fertig waren, dann machte er eine Kopfbewegung in Richtung der Felsgruppe, von der sie sich während der kurzen Verfol-gungsjagd gute zweihundert Meter entfernt hatten. »Gehen wir.«
Sowohl Stefan als auch Frank blickten ihn weiter fragend und verständnislos an, aber sie waren viel zu schockiert, um irgendetwas zu sagen und folgten schweigend, während Mike den Sheriff und seinen Stellvertreter vor sich hertrieb. Mit einem Gefühl leichter Beunruhigung registrierte Mike, dass zwar Frank Bannermanns Waffe eingesteckt hatte, Stefan jedoch das großkalibrige Schrotgewehr auf den Rücken des Deputys gerichtet hielt. Das war nicht nur gefährlich, es war auch nicht besonders klug. Der Mann schien schwerer verletzt zu sein, als es den Anschein gehabt hatte. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten, und Bannermann musste ihn stützen.
Vielleicht war das auch ein Vorteil. Solange Bannermann seine Hände brauchte, um dem Deputy zu helfen, konnte er nichts anderes damit anfangen.
Sie blieben auf der Straße, weil es sich auf dem Asphalt leichter gehen ließ als auf dem unebenen Wüstenboden. Frank riss erstaunt die Augen auf, als sie die Felsgruppe erreichten und er die beiden dahinter stehenden Motorräder entdeckte.
»Woher ...?«
»Ich habe sie heute Nacht hierher gefahren«, sagte Mike.
»Aber woher hattest du ...?«
»Nicht jetzt«, unterbrach ihn Mike. »Holt die Maschinen. Die Schlüssel stecken. Ich warte mit unseren beiden Freunden hier.«
Frank und Stefan tauschten einen ebenso verständnislosen wie beunruhigten Blick. Als Stefan etwas sagen wollte, machte Frank jedoch nur eine hastige, auffordernde Kopfbewegung.
Sie rannten die letzten Meter zu den Motorrädern. Nur einen Augenblick später saßen sie in den Sätteln, starteten die Maschinen und fuhren zurück. Mike hob grinsend die linke Hand und machte mit dem Daumen das Anhalterzeichen, als Frank unmittelbar neben ihm hielt.
»Nur einen Moment noch«, sagte er.
Auch Bannermann und sein Deputy waren stehen geblieben und hatten sich wieder zu ihm umgedreht. Der Hilfssheriff wirkte immer noch benommen, hatte nun allerdings wieder die Kraft, alleine zu stehen. Bannermann schien seine Überraschung endgültig überwunden zu haben. Es sah ganz so aus, als überlegte er ernsthaft, sich einfach auf Mike zu stürzen, ob dieser nun eine Waffe hatte oder nicht.
»Tun Sie das nicht, Sheriff«, warnte ihn Mike. »Wir wollen einfach nur hier weg, sonst nichts. Niemand muss zu Schaden kommen.«
»Dazu ist es ein bisschen zu spät«, sagte Bannermann.
Sein Deputy wankte. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Er machte einen Schritt nach vorne, als müsse er um sein Gleichgewicht kämpfen, und streckte Halt suchend den Arm aus. Bannermann sprang rasch hinzu, um ihm zu helfen.
Jedenfalls sah es so aus.
Während er jedoch den Mann mit der linken Hand stützte, fuhr er mit der rechten in einer blitzschnellen Bewegung unter sein Hemd, und als er sie wieder hervorzog, hielt er etwas Kleines, Glitzerndes und Tödliches darin.
Bannermann wirbelte so schnell herum, dass Mike der Bewegung kaum zu folgen vermochte. Obwohl er selbst die Hand am Abzug hatte, wäre Bannermann ihm um ein Haar zuvor gekommen. Noch in der Drehung spannte sein Daumen den Hahn, in einer fließenden, tausendmal geübten Bewegung.
Und Mike hatte keine Wahl mehr.
Er drückte viermal hintereinander ab.
Die beiden ersten Kugeln trafen Bannermann in Brust und Schulter und schleuderten ihn zurück, die beiden anderen trafen den Deputy dicht nebeneinander in den Rücken. Der Deputy brach wie vom Blitz getroffen zusammen, während Bannermann noch zwei, drei Schritte rückwärts taumelte und es irgendwie fertig brachte, seine Waffe weiter zu heben und nunmehr genau auf Mike zu zielen.
Aber seine Kraft reichte nicht mehr, den Abzug durchzuzie-hen. Plötzlich ließ er die Arme sinken. Eine Sekunde lang stand er völlig reglos da, und auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck von Verblüffung breit, der nahezu komisch wirkte.
Er ließ die Waffe fallen, streckte die linke Hand nach dem rasch größer werdenden, dunklen Fleck auf seinem Hemd aus und führte auch diese Bewegung nicht zu Ende. Stattdessen sank er langsam auf die Knie, verharrte noch ein, zwei Sekunden lang wankend und mit letzter Willenskraft kämpfend in dieser Pose, bevor er schließlich nach vorne kippte.
Mike ging schleppend auf die beiden Männer zu. Hinter ihm begann Stefan irgendetwas zu schreien. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie seine Freunde mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zugerannt kamen.
Langsam näherte er sich den beiden Männern, die nur wenige Schritte nebeneinander auf der Straße lagen. Beide rührten sich nicht mehr, aber Mike blieb trotzdem auf der Hut. Seine rechte Hand pochte und schmerzte vom Rückschlag der Waffe, und er spürte eine Mischung aus kaltem Entsetzen und einer fast perversen Befriedigung. Die Waffe unverwandt weiter auf den Deputy gerichtet, blieb er neben diesem stehen und stieß ihn vorsichtig mit dem Fuß an. Als der Mann nicht reagierte, ging er langsam zu Bannermann hinüber und wiederholte die gleiche Prozedur - mit dem gleichen Ergebnis. Noch immer angespannt, aber dennoch vorsichtig erleichtert, trat er einen Schritt zurück und drehte sich um.
Frank und Stefan kamen aus verschiedenen Richtungen auf ihn zugerannt. Stefan fuchtelte wild mit den Armen und blieb plötzlich stehen. Seine Augen wurden so groß vor Entsetzen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes aus den Höhlen zu quellen schienen. Frank, der noch ein paar Schritte weiter entfernt war, bewegte sich langsamer, stockender, und schließ-
lich blieb auch er stehen, vier oder fünf Meter hinter Stefan, aber mit einem ebensolchen Ausdruck ungläubigen Entsetzens auf dem Gesicht.
»Was ...?«, stammelte Stefan.
»Ich hatte keine Wahl«, antwortete Mike. Er deutete auf den kurzläufigen Revolver, als erkläre dies alles.
»Er ... er hatte eine Waffe. Er wollte auf mich schießen!«
»Du hast ihn umgebracht«, murmelte Stefan. Er schaute abwechselnd Bannermann und den Deputy an und sagte noch einmal, diesmal leiser und in einem Tonfall, wie Mike ihn noch nie zuvor gehört hatte: »Du hast sie erschossen. Du hast beide umgebracht.«
»Es war Notwehr!«, verteidigte sich Mike. »Ich musste es tun! Wenn ich nicht geschossen hätte, hätte er es getan. Er hatte eine Waffe!« Er trat einen Schritt zur Seite und deutete mit zitternden Händen auf Bannermanns Revolver, der unmittelbar vor dem Toten auf der Straße lag. »Hier, sieh selbst. Die hatte er versteckt! Sie hätten uns alle drei umgebracht, wenn ich ihnen nicht zuvorgekommen wäre.«
»Du hast sie erschossen«, stammelte Stefan immer wieder. In seinem Blick lag jetzt kein Entsetzen mehr, sondern etwas Schlimmeres. Er hatte gar nicht registriert, was Mike gesagt hatte.
Frank erwachte endlich aus seiner Erstarrung und trat mit zwei schnellen Schritten direkt neben Stefan, wagte es aber nicht, noch näher zu kommen. Ungläubig und mit einem vollkommen verständnislosen und zutiefst entsetzten Ausdruck im Gesicht blickte er abwechselnd die beiden toten Polizisten, Bannermanns Waffe und den Colt in Mikes Hand an. »Nein«, flüsterte er. »Das hätte nicht passieren dürfen!«
»Glaubst du, das hat mir Spaß gemacht?«, brüllte Mike. »Was hätte ich denn tun sollen? Mich abknallen lassen? Er hatte eine Waffe, seht selbst!«
Er ging in die Knie, um mit der freien Linken nach Banne rmanns Revolver zu greifen, aber Frank machte eine erschrockene Bewegung und sagte hastig: »Fass ihn nicht an!«
Mike erstarrte mitten in der Bewegung, richtete sich wieder auf und sah Frank fragend an.
»Rühr sie nicht an«, sagte Frank noch einmal. »Wir dürfen überhaupt nichts anrühren.« Er wirkte immer noch entsetzt und vor Schrecken und Unglauben wie gelähmt, aber Mike konnte auch sehen, wie es hinter seiner Stirn zu arbeiten begann.
»Das ist doch Wahnsinn«, stammelte Stefan. »Sie ... sie sind tot. Sie sind doch tot, oder?«
»Ich glaube schon«, antwortete Mike. »Du kannst dich natürlich gern überzeugen.«
Stefan wich erschrocken einen halben Schritt zurück. Frank setzte jedoch tatsächlich dazu an, weiterzugehen und Mikes Vorschlag zu folgen. Das durfte nicht passieren.
»Wir müssen hier verschwinden«, sagte Mike hastig.
»Schnell!«
Frank blieb stehen und blickte unschlüssig von ihm zu den beiden reglos daliegenden Männern und wieder zurück.
»Aber wir können sie doch nicht einfach so liegen lassen«, murmelte Stefan. »Jemand wird sie finden und dann ...«
»Hier kommt niemand vorbei«, unterbrach ihn Mike.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Frank.
»Weil dieses ganze verdammte Kaff eine Geisterstadt ist«, antwortete Mike. »Außer diesen beiden Kerlen da und uns ist niemand hier. Und so, wie es aussieht, wird sich das auch so schnell nicht ändern.«
»Woher weißt du das?«, fragte Frank. Er klang verwirrt, aber auch eine Spur misstrauisch.
»Was glaubst du, was ich die ganze Nacht gemacht habe?«, erwiderte Mike.
»Du hattest Recht, weißt du? Die beiden sind keine Polizisten. Und sie hatten keine Sekunde lang vor, uns am Leben zu lassen. Ich hatte keine Wahl.«
»Trotzdem«, stammelte Stefan. »Wir müssen ...«
»Wir müssen von hier verschwinden«, fiel ihm Mike ins Wort. Er hob die Waffe, mit der er auf Bannermann und den Deputy geschossen hatte, suchte eine Sekunde lang nach dem Sicherungshebel und legte ihn um, bevor er den Revolver einsteckte.
»Holt die Maschinen, und dann machen wir, dass wir hier wegkommen. Die Staatsgrenze nach Nevada ist nur ein paar Minuten entfernt. Wenn wir erst einmal dort sind, sind wir in Sicherheit. Wenigstens für den Moment.«
Frank starrte ihn nur an.
Etwas ... ging in ihm vor. Etwas, das Mike nicht gefiel und das er nicht richtig einordnen konnte. Stefan hingegen näherte sich mit Riesenschritten der Hysterie.
»Aber das können wir doch nicht tun! Das ... das ist ...«
»Mike hat Recht«, sagte Frank ruhig, aber mit leiser, beben-der Stimme.
»Wir müssen von hier verschwinden.«
»Dann müssen wir unsere Spuren verwischen«, stammelte Stefan. »Der Streifenwagen! Darin sind überall unsere Fingerabdrücke.«
»Und was willst du tun?«, erkundigte sich Mike. »Ihn in die nächste Waschanlage fahren?«
»Wir könnten ihn in Brand stecken«, schlug Stefan vor.
»Prima Idee«, lobte Mike. »Damit jemand die Rauchwolke sieht und vielleicht die Feuerwehr ruft, wie?«
»Außerdem wimmelt es in der Stadt nur so von unseren Fingerabdrücken«, fügte Frank hinzu. »Mike hat Recht: Wir müssen weg, nach Vegas, und sofort die nächste Maschine nach Europa nehmen, bevor irgendjemand anfängt, hier herumzuschnüffeln.«
Mike atmete innerlich erleichtert auf. Das war der gefährlichste Moment gewesen. Er hatte damit gerechnet, dass Stefan das größere Problem sein würde, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er sosehr die Kontrolle über sich verlieren würde. Mike tauschte einen besorgten Blick mit Frank und wurde mit einem angedeuteten Kopfnicken belohnt. Sie würden beide auf Stefan aufp assen müssen.
»Also los«, sagte er erneut. »Holt die Maschinen.«
*
Wie Mike vorhergesagt hatte, erreichten sie die Staatsgrenze nach Nevada kaum zehn Minuten später - aber sie erlebten eine unangenehme Überraschung. Die Straße war nach den ersten drei, vier Meilen hinter Sanora immer schlechter geworden und hatte am Schluss kaum mehr die Qualität eines besseren Feldweges, mündete dann aber in die Interstate 15, genau wie es auf der Detailkarte eingezeichnet war. Mike, dessen Hand immer unerträglicher schmerzte, sodass er sich ernsthaft zu fragen begann, wie lange er überhaupt noch in der Lage sein würde, das Motorrad zu halten, bildete den Schluss der kleinen Kolonne, während Frank sich an die Spitze gesetzt hatte; diesmal nicht zufällig. Sie hatten Stefan in einer Art still-schweigender Übereinkunft in die Mitte genommen, und das war wohl auch nötig. Stefan fuhr unkonzentriert und schlecht, und mehr als einmal konnte Mike nur durch ein hastiges Ausweichmanöver verhindern, dass er ihn rammte. Sie würden eine längere Pause einlegen müssen, sobald sie in Nevada und ein Stück von der Grenze entfernt waren.
Jedenfalls war das der Plan.
Nun lag die Staatsgrenze vor ihnen. Schlimm war allerdings, dass sie nicht, wie erwartet, nur durch ein einfaches Schild am Straßenrand gekennzeichnet war. Es war vielmehr ein weitlä ufiger Gebäudekomplex, der sich rechts und links der Interstate erstreckte und Mike an die festungsähnlichen Kontrollpunkte erinnerte, wie es sie früher zwischen den beiden Teilen Deutschlands gegeben ha tte. Die unangenehmste Überraschung aber waren die vier Streifenwagen, die so auf der Straße abgestellt waren, dass man nur im Slalom und sehr langsam zwischen ihnen hindurchfahren konnte. Es war nicht unbedingt das, was Mike sich unter einer Straßensperre vorgestellt hätte, kam diesem aber ziemlich nahe.
Frank lenkte seine Maschine nach links und ließ sich zurück-fallen, bis er an Mikes Seite war. »Da vorne ist ein Truckstop«, sagte er. »Ich schlage vor, wir halten dort an.« Mike nickte nur.
Der schmucklose Flachbau, etwa fünfhundert Meter vor dem Kontrollpunkt, sah auf den ersten Blick leer aus, wenn auch nur aufgrund seiner enormen Größe. Auf dem fast Fußballfeld großen Parkplatz wirkte das halbe Dutzend riesiger Lastwagen nahezu verloren. Mike war nicht besonders wohl dabei, mit den Motorrädern unmittelbar bis vor das Gebäude zu fahren. Er hätte es vorgezogen, die Maschinen etwas abseits zu parken, vielleicht im Sichtschutz eines der riesigen Trucks, aber Frank gab plötzlich Gas und legte einen völlig unnötigen Endspurt ein, sodass sie gar keine andere Wahl mehr hatten.
Erst als sie das Gebäude fast erreicht hatten, registrierte Mike den Streifenwagen, der neben einem der riesigen Laster parkte.
Doch jetzt war es zu spät, umzukehren, ohne sich verdächtig zu machen.
Frank und Stefan hatten mittlerweile neben dem Eingang des Truckstops angehalten und waren abgestiegen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Frank leise, als Mike sich zu ihnen gesellte. Ihm entging natürlich nicht, wie schwer es Mike fiel, anzuhalten und den Ständer herauszuklappen, und wie umständlich und mühsam er von der Maschine stieg.
»Nein«, antwortete Mike. »Aber ich halte schon durch, keine Angst.«
Frank antwortete mit einem angedeuteten Achselzucken, drehte sich um und betrat das Lokal. Obwohl Mike fast nicht mehr damit gerechnet hatte, riss sich auch Stefan vom Anblick des Streifenwagens los und folgte ihm.
Mike betrat den Truckstop als Letzter. Stefan und Frank steuerten - gewiss nicht durch Zufall - einen Tisch am Fenster an, ganz am anderen Ende des Lokals. Mike dagegen schwenkte nach einem kurzen, suchenden Blick nach rechts und betrat die Toilette. Er ging zum Waschbecken, zerrte den improvisier-ten Verband herunter und ließ minutenlang eiskaltes Wasser über seine rechte Hand laufen. Im ersten Moment machte die Kälte es noch schlimmer, und der Schmerz wurde fast unerträglich, dann aber stellte sich der gewünschte Effekt ein, und seine Hand begann sich taub anzufühlen. Sie pochte immer noch, allerdings längst nicht mehr so schlimm wie zuvor. Erst als die Kälte sein Handgelenk erreicht hatte und langsam weiter nach oben zu kriechen begann, drehte er das Wasser ab, hob die Hand vors Gesicht und bewegte prüfend die Finger. Es ging, wenn auch nicht annähernd so gut, wie er es gerne gehabt hätte. Allein die Tatsache, dass er alle Finger bewegen konnte, deutete jedoch darauf hin, dass entgegen seiner Befürchtung nichts gebrochen war. Immerhin etwas.
Er trocknete sich sorgfältig die Hände ab, verließ die Toilette wieder und ging mit bewusst langsamen Schr itten auf den Tisch am anderen Ende des Lokals zu. Stefan und Frank waren unübersehbar in einen heftigen Streit verwickelt. Sie hatten sich noch gut genug in der Gewalt, um ihre Stimmen zu senken, aber Stefans heftiges Gestikulieren und Franks finsterer Gesichtsausdruck sprachen Bände. Stefan war so aufgeregt, dass er ununterbrochen auf seinem Stuhl herumrutschte und unfähig schien, die Hände still zu halten; vor beiden stand bereits eine Tasse mit dampfend heißem Kaffee. Stefan rührte ununterbrochen mit einem Löffel darin, obwohl er weder Milch noch Zucker nahm.
Als Mike näher kam, brachte Frank Stefan mit einer energi-schen Geste zum Schweigen und richtete sich auf seinem Stuhl auf. Ein sonderbarer Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. Er wartete, bis Mike vor der dritten Tasse Kaffee Platz genommen und danach gegriffen hatte, dann räusperte er sich umständlich und begann: »Hör mal, Mike, wir müssen dir etwas sagen. Es ist ...«
»Nicht jetzt«, sagte Mike. Er griff mit der linken Hand nach der Kaffeetasse, trank einen winzigen Schluck und verzog angeekelt das Gesicht, als ihm auffiel, dass er weder Zucker noch Milch genommen hatte.
»Aber es ist wirklich wichtig«, beharrte Frank. »Es geht um Bannermann und Strong. Sie ...«
»Sie sind tot, ich weiß«, unterbrach Mike. Er hatte ganz bewusst etwas lauter gesprochen, als vielleicht gut war, und wie erwartet fuhr Stefan fast entsetzt zusammen. Frank bedeutete ihm mit einer raschen, beinahe hastigen Bewegung, leiser zu sprechen.
»Das auch, aber ...«
»Ich glaube, das ist im Moment alles, was zählt«, fiel ihm Mike ins Wort. »Oder seid ihr anderer Meinung?«
Frank wollte antworten, doch Stefan kam ihm zuvor: »Ich halte das nicht mehr aus. Wir müssen endlich Schluss machen mit diesem Irrsinn! Ich habe keine Lust, den Rest meines Lebens im Gefängnis zu verbringen!«
»Dann solltest du vielleicht etwas leiser reden.« Mike machte eine Kopfbewegung zur Tür, und als Stefan sich gehorsam umdrehte, fügte er hinzu: »Oder wir können gleich mit den beiden freundlichen Herren dort sprechen.«
Stefan sog mit einem erschrockenen Keuchen die Luft zw ischen den Zähnen ein. Die Tür hatte sich geöffnet, und zwei Polizeibeamte betraten den Truckstop; vermutlich die Besatzung des Streifenwagens, den sie draußen gesehen hatten.
Einer der beiden steuerte sofort einen freien Tisch an, der andere verhielt einen Moment im Schritt und ließ den Blick aufmerksam durch den Raum schweifen. Mike beobachtete seine beiden Freunde ganz genau. Stefan sah ganz so aus, als ob ihn jeden Moment der Schlag träfe. Frank reagierte gar nicht, doch Mike kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er hinter seiner mühsam aufrechterhaltenen Fassade ebenfalls der Panik nahe war.
»Nur keine Sorge«, sagte er leise. »Wenn sie unseretwegen hier wären, wären sie wohl kaum allein gekommen.«
»Starr sie nicht so an!«, sagte Frank gepresst.
Es vergingen noch einmal zwei, drei endlose Sekunden, dann riss Stefan seinen Blick endlich von den beiden Polizisten los und sah abwechselnd Frank und Mike an. »Das ist verrückt«, murmelte er. »Wir müssen mit diesem Wahnsinn endlich aufhören.« Er wandte sich direkt an Frank. »Du musst es ihm sagen!«
»Und ich will es nicht hören«, sagte Mike. »Was immer es ist
- mein Entschluss steht fest. Ich werde weder zurückfahren noch irgendeinen anderen Unsinn tun, wie mich zum Beispiel den Behörden stellen. Ich weiß, was ihr sagen wollt - das alles war nicht unsere Schuld. Wir hatten gar keine andere Wahl.
Das mag stimmen. Und wenn wir hier in Deutschland oder in irgendeinem anderen europäischen Land wären, dann würde ich es wahrscheinlich darauf ankommen lassen. Aber nicht hier. Selbst wenn wir freigesprochen werden, vergehen bis dahin drei, vier Jahre, wenn nicht mehr.«
»Darum geht es nicht«, sagte Frank. »Alles ist ganz anders, als du glaubst. Stefan und ich ...«
»Es interessiert mich nicht!«, unterbrach ihn Mike, schärfer als gewollt und laut genug, dass einer der beiden Polizisten am Tisch gegenüber den Kopf hob und fragend in seine Richtung blickte. Mike lächelte nervös zurück und senkte die Stimme, als er weitersprach: »Wenn es euer Gewissen beruhigt, dann verspreche ich euch, dass wir zu einem guten Anwalt gehen, sobald wir wieder zu Hause sind. Und wenn nicht, dann schlage ich vor, dass wir uns hier und jetzt trennen und jeder versucht, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Ich verlange nichts anderes von euch als ein paar Stunden Vorsprung. Nur genug, um das nächste Flugzeug zu erreichen.«
»Du bist völlig wahnsinnig!«, sagte Frank. »Wir kommen nicht einmal aus diesem Staat heraus, geschweige denn aus diesem Land. Hast du die Straßensperre draußen zufällig übersehen?«
»Nein«, antwortete Mike. »Aber ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht uns gilt.« Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf die beiden Polizisten. »Oder glaubst du, die beiden würden in Ruhe dort drüben sitzen und Kaffee trinken, wenn sie auf der Suche nach drei Motorradfahrern wären, die zwei ihrer Kollegen umgebracht haben?«
»Ich habe niemanden umgebracht«, sagte Stefan, »und Frank auch nicht.«
»Prima«, antwortete Mike in fast fröhlichem Ton und mit einem eisigen Blick, dem Stefan weniger als eine Sekunde standhielt. »Das macht dann vielleicht den Unterschied zwischen fünfzehn Jahren und lebenslänglich aus. Wenn du es riskieren willst, nur zu!«
Die Kellnerin kam, um nach ihren Wünschen zu fragen.
Stefan nahm die Speisekarte und deutete wahllos auf irgendetwas. Frank schloss sich mit einem unwilligen Nicken an. Mike jedoch ließ sich ausreichend Zeit, um sich ein Frühstück zusammenzustellen, an dem er sonst wohl den ganzen Tag gegessen hätte: Rühreier mit Schinken, zwei Pfannkuchen, ein großes Glas Orangensaft und als Nachtisch noch einen Dough-nut. Er hatte entsetzlichen Hunger. Die Kellnerin notierte alles gehorsam und bedankte sich mit einem Lächeln, bevor sie wieder ging.
Frank sah ihr kopfschüttelnd nach und wandte sich schließ-
lich mit einem Stirnrunzeln an Mike. »Glaubst du, das ist jetzt der richtige Moment, um ein Festmahl zu beginnen?«
»Nein«, antwortete Mike. »Aber ich glaube, dass wir noch jedes bisschen Kraft brauchen werden. Außerdem«, fügte er nach einer winzigen Pause und mit einem wehleidigen Blick auf seine Hand hinzu, »kann ich im Moment sowieso nicht weiterfahren.«
»Schlimm?«, erkundigte sich Frank.
Trotz allem klang die Sorge in seiner Stimme echt.
Mike schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich brauche vielleicht eine halbe Stunde, dann geht es sicher wieder. Hast du die Karte dabei?«
Frank nickte nervös. Obwohl man ihm ansah, dass er liebend gern etwas anderes gesagt oder getan hätte, griff er unter die Jacke und zog die zusammengefaltete Straßenkarte heraus.
Nachdem er seine Kaffeetasse zur Seite geschoben hatte, breitete er sie vor sich auf der Tischplatte aus und deutete nach kurzem Suchen auf einen Punkt, direkt neben der rot gestrichelt eingezeichneten Staatsgrenze. »Wir sind hier.« Sein Zeigefinger fuhr die nach Südwesten führende Linie der Interstate entlang. »Unser Sprit reicht vielleicht noch vierzig oder fünfzig Meilen. Aber das ist kein Problem. Wir werden auf alle Fälle vorher die nächste Tankstelle erreichen - hier, seht ihr?«
Mike beugte sich gehorsam vor und studierte die Karte, während Stefan demonstrativ an ihm vorbei aus dem Fenster starrte.
»Von da ab geht es praktisch nur noch geradeaus«, fuhr Frank fort. »Selbst wenn wir uns an die Geschwindigkeitsbeschrän-kung halten - was ich dringend empfehlen würde -, müssten wir Las Vegas am späten Nachmittag erreichen.« Er warf Stefan einen fast beschwörenden Blick zu. »Ich bin nicht begeistert, aber wahrscheinlich hast du Recht. Es wäre vollkommen irrsinnig, hier zu bleiben.«
»Aber wenn sie uns irgendwo unterwegs erwischen, wird alles nur noch schlimmer«, sagte Stefan leise und ohne einen von ihnen anzublicken.
»Wie sollten sie uns erwischen?«, fragte Mike. »Es gibt keine Zeugen. Bannermann und sein sauberer Kumpan haben ja dafür gesorgt, dass außer uns niemand da war. Selbst wenn sie die beiden schon bald finden - es gibt keine Verbindung zu uns.«
»Und wenn doch?«, fragte Stefan. »Was ist mit der Waffe?
Dem Revolver, mit dem du Bannermann erschossen hast?«
Mike spielte perfekt den Überraschten. »Oh«, machte er.
Franks Augen wurden groß. Er verlor deutlich an Farbe. »Sag nicht, du hast ihn noch«, murmelte er fast entsetzt.
»Keine Sorge«, sagte Mike. »Ich werfe ihn weg, bevor wir weiterfahren. Und diesmal wische ich vorher die Fingerabdrü-
cke ab.«
»Bist du völlig wahnsinnig geworden?«, murmelte Frank.
»Du schleppst dieses verdammte Ding die ganze Zeit mit dir rum?«
»Woher hast du ihn überhaupt?«, fragte Stefan.
»Besorgt«, antwortete Mike ausweichend.
»Besorgt?« Frank runzelte die Stirn. »Was genau heißt das?«
»Besorgt eben«, antwortete Mike unwillig. »Wie, spielt doch jetzt wohl keine Rolle mehr, oder? Keine Angst, ich lasse ihn verschwinden.«
Frank schien etwas entgegnen zu wollen, beließ es dann aber bei einem fast resigniert wirkenden Achselzucken und drehte den Kopf, um zu den beiden Polizeibeamten am Tisch gege n-
über zu blicken. Mike konnte regelrecht sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.
»Das ist Wahnsinn«, flüsterte Stefan. Er spielte immer noch nervös mit der Kaffeetasse, ohne bisher auch nur einen Schluck getrunken zu haben. »Wir sind alle erledigt. Da kommen wir nie wieder raus.«
»Doch, das kommen wir«, sagte Frank. »Wenn wir alle die Nerven behalten. Mike hat Recht, weißt du? Was passiert ist, ist nun mal passiert. Wir müssen das Beste daraus machen.«
Stefan spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, erwiderte aber nichts.
Sie verbrachten einige Minuten in unbehaglichem Schweigen, bis die Kellnerin kam und ihre Bestellung brachte. Sowohl Frank als auch Stefan stocherten unlustig in ihrem Essen herum. Mike dagegen fiel mit regelrechtem Heißhunger über seine Mahlzeit her. Er brauchte fast eine Viertelstunde, um sie bis auf den letzten Krümel zu verzehren, und am Schluss begann sein Magen leicht zu revoltieren. Dennoch zwang er sich, weiterzuessen. Schließlich hatten sie einen anstrengenden Tag vor sich. Als er endlich fertig war, fragte Stefan: »Können wir jetzt fahren?«
Anstatt zu antworten, winkte Mike der Kellnerin und deutete auf seine leere Kaffeetasse. Sie kam an den Tisch, schenkte ihm nach und sah die beiden anderen fragend an, erntete aber nur ein ablehnendes Kopfschütteln. Die beiden Polizisten am Nebentisch standen auf, bezahlten ihre Rechnung und verließen das Lokal, ohne sich einmal umzusehen.
»Seht ihr?«, fragte Mike. »Es ist alles in Ordnung.«
»Ja, ganz wunderbar«, knurrte Stefan. »Besser könnte es gar nicht sein. Außer dass vielleicht schon der ganze Staat nach uns sucht.«
»Stefan«, sagte Frank leise, aber in fast beschwörendem Ton.
Stefan schüttelte wütend den Kopf. »Hör endlich auf, ja? Ist dir eigentlich klar, was dieser Irre getan hat?«
»Ja«, antwortete Frank. »Und es gefällt mir genauso wenig wie dir. Aber ich weiß auch, warum er es getan hat. Und du solltest es eigentlich auch wissen.«
Stefan setzte zu einer wütenden Antwort an, presste dann aber die Lippen zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen und ballte die Fäuste auf dem Tisch.
»Also?«, fragte Mike. »Sind wir uns einig?«
Er hob die Hand, als Stefan antworten wollte.
»Ich kann dich verstehen. Ich fühle mich auch nicht besonders gut, weißt du? Und ich meine das jetzt ernst: Ich will euch nicht in irgendetwas hineinziehen. Wenn du willst, dann steige ich jetzt allein auf mein Motorrad und fahre los - oder ich warte hier, bis ihr eine halbe Stunde Vorsprung habt, was euch lieber ist.«
»Blödsinn«, entschied Frank.
Mike schüttelte energisch den Kopf. »Ich meine es ernst«, wiederholte er. »Ich bin euch nicht böse. Ich kann verstehen, wie ihr euch fühlt. Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Ich habe uns den Mist eingebrockt, und ich werde die Suppe auch allein auslöffeln, wenn es sein muss. Ich könnte es euch nicht übel nehmen, wenn ihr euch anders entscheidet.«
»Unsinn!«, sagte Frank noch einmal. Aber es klang nicht ganz so überzeugt. Stefan enthielt sich jeden Kommentars.
»Also gut«, sagte Mike. Er stand auf. »Ich gehe noch einmal auf die Toilette und kühle meine Hand. Wenn ich zurück bin, fahren wir los. Entweder gemeinsam oder getrennt. Die Entscheidung überlasse ich euch. Aber ich möchte keine weiteren Diskussionen mehr. Wenn wir überhaupt eine Chance haben, heil aus der Geschichte herauszukommen, dann nur, wenn wir jetzt die Nerven behalten und unterwegs keiner aus der Reihe tanzt.«
Er gab den beiden keine Gelegenheit zu antworten, sondern drehte sich rasch um und ging mit schnellen Schritten zur Toilette.
Erleichtert atmete er auf, während er die Hand erneut unter den kalten Wasserstrahl hielt. Das Gefühl der Euphorie, das für eine Weile von ihm Besitz ergriffen hatte, war verflogen. Er spielte ein gewagtes Spiel, und es war noch nicht vorbei. Das würde es erst sein, wenn sie im Flugzeug saßen und Richtung Europa abgehoben hatten. Bis dahin konnte noch viel passieren. Zwar schien er den Wendigo für den Augenblick besiegt zu haben, aber er wusste, wie trügerisch dieser Schluss sein konnte.
Ob nun grässliche Realität oder nur Ausgeburt seiner eigenen Fantasie - der Dämon war da, und Mike musste vor ihm auf der Hut sein, vielleicht gerade wenn es sich um ein Ungeheuer handelte, das er selbst geschaffen hatte.
Frank und Stefan waren noch da, als er zurück in den Gastraum kam. Stefan stand an der Kasse und bezahlte gerade nervös die Rechnung, während Frank mit der jungen Kellnerin sprach, die sie bedient hatte. Als er Mike bemerkte, bedankte er sich mit einem Kopfnicken und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Mike nickte. »Es wird schon gehen. Was hat sie gesagt?«
»Ich habe mich erkundigt, was die Straßensperre draußen soll«, antwortete Frank.
»Hältst du das für klug?«
»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Frank scharf. »Willst du jetzt hören, was sie gesagt hat, oder nicht?«
»Sicher.«
»Es ist eine normale Lkw-Kontrolle«, erklärte Frank. »Das machen sie ab und zu - nachsehen, ob die Fahrer die Pausen eingehalten haben, ob die Trucks überladen sind, ob die Papiere stimmen ...« Er zuckte mit den Schultern. »Genau wie bei uns.«
»Und dafür sperren sie den ganzen Highway?«
»Ist nun mal so üblich hier. Nur für den Fall, dass es dir nicht aufgefallen sein sollte: Wir sind in einem Land, in dem sich die Polizei manchmal wie eine Besatzungsmacht verhält. Und in dem sich niemand etwas dabei denkt.«
Das war vielleicht etwas scharf formuliert, aber es kam der Wahrheit nahe - und Frank war vermutlich nicht in der Verfas-sung, besonders diplomatisch zu sein. Mike zuckte nur mit den Schultern und ging langsam zur Tür.
Trotz allem sah er sich rasch und aufmerksam nach allen Seiten um, als sie den Truckstop verließen. Der Parkplatz war immer noch so verlassen wie zuvor. Auch der Streifenwagen stand unverändert an seinem Platz. Er war leer. Die beiden Polizisten, die vorhin am Tisch neben ihnen gesessen hatten, waren nirgends zu sehen.
Mike seufzte erleichtert. Die letzte Etappe ihrer Reise lag vor ihnen. Niemand konnte ahnen, was sie noch an Schrecken für sie bereithielt.
Wortlos bestiegen sie ihre Maschinen und fuhren los.
*
Am späten Nachmittag erreichten sie Las Vegas. Sie hatten nur noch einmal angehalten, um aufzutanken. Mike ging Frank während der kurzen Rast so gut er konnte aus dem Weg und verhinderte so jedes Gespräch. Bei Stefan war das nicht nötig.
Dieser parkte seine Intruder hinter ihnen an der Tanksäule, stieg ab und entfernte sich ein Dutzend Schritte, um starr und demonstrativ abgewandt in die Richtung zurückzublicken, aus der sie gekommen waren. Frank schüttelte den Kopf, sagte aber nichts und fuhr fort, die Motorräder zu betanken, während Mike bereits nach drinnen ging, um die Rechnung zu beglei-chen. Danach fuhren sie weiter.
Die Fahrt war die Hölle. Der Highway war nicht annähernd so gut ausgebaut, wie sie erwartet hatten, sondern entpuppte sich als zwar breite, aber miserable Schnellstraße, auf der, wie um es noch schlimmer zu machen, auch noch deutlich mehr Verkehr herrschte als sonst. Es wurde beständig heißer, und nicht nur die braun-roten Sanddünen und Felsen rechts und links der Autobahn erinnerten sie in jeder Sekunde daran, dass Nevada ein Wüstenstaat war. Schon nach wenig mehr als einer Stunde hatte Mike das Gefühl, es vor Durst nicht mehr ausha lten zu können. Seine rechte Hand pochte und schmerzte beinahe unerträglich.
Mike atmete erleichtert auf, als die ersten Hochhäuser der Spielermetropole am Horizont in Sicht kamen und nur wenig später die erste Ausfahrt, auf der »Las Vegas« zu lesen stand.
Dennoch verging noch fast eine Stunde, bis Frank, der die Führung übernommen hatte, endlich vom Highway herunter-fuhr und sie die eigentliche Stadt erreichten.
Auf den ersten Blick war Las Vegas eine Enttäuschung. Mike kannte die Stadt nur so, wie sie nahezu jeder kannte: als ein glitzerndes Lichtermeer, in dem das Leben pulsierte; eine Stadt, die dem einzigen Zweck zu dienen schien, immer neue Vergnügungen zu finden. Möglicherweise entsprach dieses Bild auch nach Einbruch der Dunkelheit der Wahrheit, aber im hellen Tageslicht betrachtet und aus der Richtung, aus der sie kamen, erschien die Stadt einfach nur schäbig. Die Straßen waren breit, aber in erbärmlichem Zustand, der Verkehr viel dichter, als Mike es für möglich gehalten hätte. Die zuvor schon unerträgliche Hitze steigerte sich hier nochmals, denn die Luft staute sich zwischen den Gebäuden, und der Wind war vollkommen zum Erliegen gekommen. Dazu kam, dass sie offensichtlich genau am falschen Ende der Stadt vom Highway abgebogen waren. Sie benötigten noch einmal fast eine halbe Stunde, um ihr eigentliches Ziel zu erreichen: das Bally’s, einen von vielleicht einem Dutzend Hochhaustürmen, das sich im Zentrum der Stadt erhob und die ansonsten fast ausnahmslos niedrigen Gebäude überragte.
Mike hatte mittlerweile große Mühe, das Motorrad unter Kontrolle zu halten. Seine Hand hatte sich in einen einzigen, fast nutzlosen Klumpen aus Schmerz und pulsierender Hitze verwandelt. Frank steuerte eine freie Parkbucht zwischen den zahllosen, ordentlich nebeneinander aufgestellten Wagen an -
die meisten waren groß, teuer und so gut wie neu -, stieg aus dem Sattel und eilte ihm besorgt entgegen. Was auch dringend notwendig war. Irgendwie brachte Mike das Kunststück fertig, die Intruder zum Stehen zu bringen, bevor er gegen die Betonwand krachte, aber seine Kraft reichte nicht mehr, die Maschine zu halten. Sie begann zu kippen und wäre gestürzt, hätte Frank ihn nicht im letzten Moment festgehalten.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Natürlich«, antwortete Mike. »Ich habe mich nie besser gefühlt, was denkst du denn?«
Frank machte ein finsteres Gesicht. Er schluckte die scharfe Antwort, die ihm offensichtlich auf der Zunge lag, herunter und hielt die Maschine kommentarlos fest, bis Mike irgendwie aus dem Sattel geklettert war. Als Stefan herankam, ging hinter ihnen eine Tür auf, und ein blau uniformierter und ziemlich finster dreinblickender Wachmann kam mit weit ausgreifenden Schritten und kampflustigem Gesichtsausdruck auf sie zu. Er rief etwas, das Mike zwar nicht verstand, das aber nicht besonders schwer zu erraten war. Frank überzeugte sich zuerst pedantisch davon, dass das Motorrad sicher abgestellt war und auch Mike zumindest wieder weit genug zu Kräften gekommen war, sich allein auf den Füßen zu halten, bevor er sich zu dem Mann umdrehte und auf der Stelle heftig mit ihm zu debattie-ren begann.
»Was ist los?«, fragte Mike müde und an Frank gewandt.
Frank unterbrach für einen Moment sein Rededuell mit dem Wachmann, um zu ihm zurückzublicken. »Er sagt, wir dürfen hier nicht parken«, antwortete er.
»Dürfen wir wohl«, murmelte Mike. »Zumindest so lange, bis wir eingecheckt haben.« Alles drehte sich um ihn. Hier unten in der Parkbucht war es spürbar kühler als oben, trotzdem hatte er das Gefühl, ganz dicht vor einem Hitzschlag zu stehen.
»Ich weiß das«, sagte Frank. »Aber er will unseren Hotelgutschein sehen. Anscheinend glaubt er nicht, dass Leute wie wir Zimmer in einem Hotel wie diesem bezahlen können.«
»Den Gutschein?« Um ein Haar hätte Mike gelacht. »Der liegt irgendwo im Grand Canyon.«
»Ich weiß«, sagte Frank finster. »Soll ich ihm auch erklären, wie er dort hingekommen ist?«
Mike schüttelte nur müde den Kopf und versuchte, das Schwindelgefühl zu unterdrücken. Er konnte nicht mehr klar denken. »Sag ihm, er soll oben bei der Rezeption nachfragen«, murmelte er. »Unsere Buchung muss schließlich im Computer sein.«
Frank übersetzte gehorsam, was den Wachmann aber nicht besonders zu beeindrucken schien. Das Rededuell dauerte noch gute zwei oder drei Minuten, bis sich der Mann endlich dazu herabließ, das Funkgerät an seinem Gürtel zu lösen und hineinzusprechen.
Es verging noch einmal eine gute Minute - erstaunlich wenig, wenn man es genau bedachte -, dann schaltete der Mann sein Funkgerät ab und sagte irgendetwas zu Frank. Mike achtete nicht auf seine Worte, aber sein Tonfall und der leicht fassungslose Ausdruck auf seinem Gesicht sprachen Bände.
»Na also«, sagte Frank. »Wahrscheinlich haben wir dem armen Kerl einen ordentlichen Schock versetzt. Er besteht jetzt sogar darauf, unser Gepäck hochzutragen. Auf einmal! Wir müssen nur noch zur Rezeption, um uns anzumelden, und dann wartet ein Zimmer mit Klimaanlage und ein riesengroßes kaltes Bier auf uns.«
»Weißt du, wo du dir dein Bier reinschieben kannst?«, maulte Stefan.
Frank runzelte die Stirn, zuckte dann aber nur mit den Schultern und deutete mit einer übertrieben ausladenden Geste auf den Aufzug.
Sie fuhren nach oben, und als sie die Liftkabine verließen, betraten sie eine Welt, wie sie anders und bunter nicht hätte sein können.
Schon die Größe des Hotels hatte Mike überrascht. Das Foyer war ein regelrechter Schock. Es war kein Hotelfoyer, wie er es sich vorgestellt hatte, sondern eine Spielhalle. Wohin er auch blickte, sah er Spieltische, Automaten, glitzernde Leuchtrekla-men, lachende oder auch verbissene Menschen, die Münzen in Einarmige Banditen oder deren moderne Vettern warfen; unter der Decke des Saales, die gut zehn Meter hoch sein musste, waren eine leibhaftige Harley Davidson und ein ausgewachsener Ford Thunderbird aufgehängt, der zweite und dritte Preis des augenblicklichen Jackpots. Dazwischen flackerte in fast mannshohen Neonbuchstaben die Zahl l Million und dahinter ein Dollarsymbol.
»Ich dachte, wir wollten ins Foyer«, murmelte er.
»Sind wir auch.« Frank hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrü-
cken. »Der Unterschied zwischen Hotels und Spielcasinos ist hier nicht so groß, weißt du?«
»Aber ...«
»Deshalb sind die Zimmer auch relativ preiswert«, fuhr Frank fort. Er war schon mehrmals in Las Vegas gewesen und sichtlich froh, über etwas anderes als ihren zurückliegenden Horrortrip reden zu können. »Selbst in so einem Nobelschup-pen wie diesem kommt man günstig unter. Damit wollen sie die Touristen animieren, ihr Geld in die Automaten zu schmei-
ßen, statt es in den einfacheren Hotels Downtown aus-zugeben.«
Das klang einleuchtend, aber Mike war viel zu erschöpft und müde, um darüber nachzudenken. Er fühlte sich noch immer schwindelig. Außerdem war da noch Stefan, der ihr Gespräch ziemlich ungehalten unterbrach.
»Ich dachte, wir wollen ins Zimmer?«, nörgelte er. Frank schenkte ihm einen ärgerlichen Blick, sagte aber noch immer nichts.
Der Empfang war größer, pompöser und mit mehr Personal ausgestattet, als Mike es jemals zuvor in einem Hotel erlebt hatte - und er war in vielen nicht gerade billigen Hotels gewesen. Die Bedienung war von ausgesuchter Höflichkeit. Der fehlende Hotelgutschein erwies sich als kleines, aber nicht unüberwindliches Hindernis, nachdem Frank die Sachlage erklärt hatte (wobei er natürlich verschwieg, wie die Reiseun-terlagen wirklich verloren gegangen waren) und Mike seine goldene Kreditkarte als Pfand hinterlegt hatte.
Sie wurden ohne weitere Umstände zum Aufzug begleitet und fuhren in die fünfzehnte Etage hinauf, wo sie ein junges Mädchen in einer bunten Fantasieuniform in ihr Zimmer führte
- das sich als ausgewachsene Suite entpuppte, aus deren Panoramafenster man einen überwältigenden Blick über die gesamte Stadt hatte. Mike war im Moment nicht unbedingt danach, die schöne Aussicht zu genießen, aber er ging trotzdem zum Fenster und sah hinaus. Er hörte, wie Frank dem Mädchen ein Trinkgeld gab und dann die Tür schloss. Vielleicht wäre jetzt der richtige Moment gewesen, dem grausamen Spiel ein Ende zu machen und den beiden die Wahrheit zu sagen.
Vielleicht war der richtige Moment aber auch schon längst vorbei. Wahrscheinlich würde er es mit jeder Sekunde, die er ohne Erklärung verstreichen ließ, nur noch schlimmer machen.
Er konnte sich ungefähr vorstellen, wie Frank - und vor allem Stefan - auf seine Eröffnung reagieren würden, und er wusste, dass er im Augenblick einfach nicht die Kraft hatte, die Nach-folgediskussion durchzustehen. Eine Viertelstunde, dachte er, vielleicht auch eine halbe. Es geschah den beiden ganz recht, wenn er sie ein bisschen im eigenen Saft schmoren ließ. Er brauchte dringend eine kleine Verschnaufpause. Eine heiße Dusche, vielleicht zehn Minuten Ruhe.
Er drehte sich langsam vom Fenster weg, zog seine Lederjacke aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Dann betrachtete er eingehend seine Hand. Sie sah schlimm aus; schlimmer, als sie sich anfühlte. Der Anblick erschreckte ihn ein wenig und bestärkte ihn in seiner Überzeugung, seinen beiden Freunden durchaus noch eine halbe Stunde Nervenkitzel gönnen zu dürfen.
»Und jetzt?«, fragte Stefan, ohne ihn anzusehen, aber in ganz eindeutigem Tonfall.
»Jetzt machen wir erst einmal gar nichts«, antwortete Frank.
»Ich schlage vor, wir genehmigen uns alle eine Stunde, um unsere Nerven zu beruhigen und wieder zu Kräften zu kommen. Danach sollte einer von uns zum Flughafen fahren und Tickets besorgen.«
»Ohne mich«, sagte Stefan. »Ich denke nicht daran, mich noch tiefer in die Scheiße hineinzureiten.«
»Kein Problem.« Frank seufzte. »Ich erledige das.« Er drehte sich zu Mike um. »Alles in Ordnung?«
»Es geht schon.« Mike senkte hastig die schmerzende Hand, entschuldigte sich und ging mit schnellen Schritten ins Bad. Er hatte keine Lust, sich schon wieder bemuttern zu lassen.
Das Bad war so groß und pompös eingerichtet wie der Rest der Suite. Mike hatte fast ein schlechtes Gewissen dabei, seine Kleider einfach achtlos auf den Boden zu werfen.
Während er nackt vor der Dusche stand und mit der unve rletzten linken Hand ungeschickt versuchte, eine angenehme Wassertemperatur einzustellen, konnte er Franks und Stefans Stimmen durch die geschlossene Tür hören. Er verstand die Worte nicht, aber es war klar, dass die beiden sich schon wieder stritten. Die Erkenntnis bedrückte ihn. Jetzt, wo sie es geschafft hatten (um ehrlich zu sein: Jetzt, wo er froh sein konnte, lebend hier angekommen zu sein), fiel nicht nur die Spannung von ihm ab, auch das Gefühl des Triumphs und der Schadenfreude, das ihn den ganzen Tag über mehr oder weniger stark erfüllt hatte, schmeckte plötzlich schal. Seine kleine Retourkutsche war vielleicht verständlich, im Großen und Ganzen aber nicht besonders klug gewesen. Vielleicht sollte er besser doch noch einmal in die Hose schlüpfen, hinausgehen und die Sache klären?
Stattdessen trat er unter die Dusche, schloss die Glastür hinter sich und verbrachte die nächsten fünfzehn Minuten damit, unter einem Wasserstrahl zu stehen, den er ganz allmählich immer kälter einstellte.
*
Zu behaupten, dass er sich wie neu geboren fühlte, als er die Dusche verließ, wäre hoffnungslos übertrieben gewesen. Aber er fühlte sich eindeutig besser. Er hatte das Wasser am Schluss so kalt eingestellt, dass seine Haut prickelte und er das Gefühl hatte, Eis auszuatmen. Als er unter der Dusche hervortrat und sich abtrocknete, zitterte er am ganzen Leib vor Kälte. Er fühlte sich erfrischt und auf eine schwer zu beschreibende Weise von neuer Kraft erfüllt.
Nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, trat er aus dem Badezimmer. Ihr Gepäck war mittlerweile nach oben gebracht und in drei unterschiedlich großen Stapeln neben dem Schrank aufgebaut worden. Frank saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett und hatte die Fernbedienung des Fernsehers in der rechten Hand, um langsam, aber regelmäßig durch sämtliche Kanäle zu zappen. Im ersten Moment glaubte Mike, es wäre nur ein Ausdruck purer Langeweile, dann aber fiel ihm der angespannte Ausdruck auf Franks Zügen auf. Er schaltete nicht durch die Kanäle, um einen Spielfilm oder einen besonderen Musiksender zu finden, sondern auf der Suche nach Nachrichten. Nach ganz bestimmten Nachrichten. Es wurde wirklich Zeit, dass er der Sache ein Ende bereitete.
Stefan war nicht da. Aber vielleicht war das auch gut so. Es war besser, wenn er zuerst mit Frank sprach und sie dann beide zusammen mit Stefan. Mike öffnete seine Tasche und zog wahllos Unterwäsche, Jeans und ein frisches Hemd heraus.
Frank würdigte ihn keines Blickes, während er sich auf die Bettkante setzte und sich umständlich und sehr langsam anzog, sondern schaltete weiter geduldig durch die Kanäle - immer genau fünf Sekunden, dann weiter, dann wieder fünf Sekunden und wieder weiter.
»Du kannst damit aufhören«, sagte Mike, nachdem er sich fertig angezogen und sich eine Flasche Cola aus der Minibar geholt hatte. Es kostete ihn große Mühe, den Kronkorken mit nur einer Hand zu entfernen, was Frank wissen musste. Aber er machte keine Anstalten, ihm zu helfen. Er sah nicht einmal in seine Richtung. Nach einer Weile fragte er bloß: »Womit?«
»Nach einem Nachrichtensender zu suchen«, antwortete Mike. »Du wirst nichts finden.«
»Wie meinst du das?«
»Sie werden nichts berichten.« Mike schenkte sich mit einiger Mühe ein Glas Cola ein, nippte daran und ging zu der kleinen Sitzgruppe unter dem Fenster, bevor er weitersprach. Frank sah ihn einen Moment lang verwirrt an, dann griff er noch einmal nach der Fernbedienung, diesmal aber nur, um den Fernseher auszuschalten.
»Wo ist Stefan?«
»Keine Ahnung«, antwortete Frank. Er machte ein finsteres Gesicht. »Er ist gegangen, kurz nachdem du im Bad verschwunden bist. Ich hab ihn gebeten, die Motorräder aus dem Check- in-Bereich wegzustellen, aber er hat nur irgendetwas vor sich hin gebrummelt. Ich nehme an, er hat die Kisten ordentlich geparkt und ist jetzt unten im Sidewalk Cafe oder in einer der Bars, um etwas zu trinken und auf andere Gedanken zu kommen. Er ist ziemlich fertig.« Frank schüttelte den Kopf.
Mike konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete, und er konnte noch deutlicher sehen, wie schwer es ihm fiel, weiter-zusprechen.
»Ich muss dir etwas sagen, Mike«, begann er nach einer ganzen Weile.
»Ich dir auch«, sagte Mike und nippte an seiner Cola, aber Frank schüttelte entschieden den Kopf. Jetzt, wo er sich einmal dazu durchgerungen hatte, war er offensichtlich nicht gewillt, sich noch einmal unterbrechen zu lassen. »Es geht um Strong.
Und ... und die Indianer. Strong ist nicht ...«
»Tot«, sagte Mike.
Frank sah ihn verwirrt an. »Wie?«
»Er ist nicht tot«, wiederholte Mike. »Genauso wenig wie die Indianer oder der Fahrer des Schneeräumers.«
Geschlagene zehn Sekunden lang war es vollkommen still.
Frank starrte ihn an, und Mike konnte sich nicht erinnern, jemals einen Ausdruck von so vollkommen fassungsloser Verblüffung auf seinem Gesicht gesehen zu haben - aber auch Schrecken, der fast schon an Entsetzen grenzte. »Du ... du weißt ...?«
»Ich weiß alles«, sagte Mike ruhig. Seltsam - er sollte seinen Triumph doch eigentlich auskosten. Er sollte innerlich jubilie-ren, doch das genaue Gegenteil war der Fall. Plötzlich kam er sich schäbig und mies vor, und er schämte sich dessen, was er getan hatte. »Und ich kann dich beruhigen: Bannermann und sein Deputy sind auch nicht tot. Niemandem ist etwas passiert.«
»Aber ... aber woher ...?«
Mike nippte an seiner Cola. Nicht, weil er Durst hatte, sondern nur, um Zeit zu gewinnen, und sei es nur eine einzige Sekunde. Er hatte sich jedes Wort zurechtgelegt. Er hatte diesen Moment in vollen Zügen genießen wollen, hatte sich eine lange und fantastische und doch überzeugende Geschichte ausgedacht, um es den beiden heimzuzahlen und ihnen zu beweisen, dass er ihren infantilen Plan von der ersten Sekunde an durchscha ut hatte. Aber plötzlich wusste er, wie dumm das wäre. Er hatte dieses grausame Spiel schon viel zu weit getrieben. Plötzlich wollte er nur noch die Wahrheit sagen. Es zu Ende bringen, ganz egal, wie.
»Um ehrlich zu sein, es war ein Zufall«, sagte er. »Als ich euch gestern Abend aus der Zelle holen sollte - ich bin nicht verschwunden, weil Bannermann mich fast erwischt hätte. Ich bin in den Schuppen gegangen. Ich hatte Licht gesehen und dachte mir, es wäre eine gute Idee, Bannermanns Streifenwagen zu sabotieren, damit sie uns nicht verfolgen und gleich wieder einsperren oder sofort über den Haufen schießen können.«
Frank starrte ihn an. Sein Gesicht war jetzt zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt, aber in seinem Blick lag etwas, das Mike beinahe Angst machte.
»Ich hatte den Wagen schon gefunden und außer Gefecht gesetzt, als ich Stimmen hörte«, fuhr er fort. »Frag mich nicht, warum. Ich weiß, dass ich eigentlich viel zu feige für so etwas bin, aber plötzlich wollte ich der Sache ein Ende bereiten. Ich habe das Gewehr aus dem Streifenwagen geholt und bin hingegangen.«
»Und dort ...?«
»Eure Freunde haben mich offenbar auch unterschätzt.« Erst als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde Mike klar, dass sie wie ein Vorwurf klangen. Das hatte er nicht gewollt. »Sie saßen alle zusammen und amüsierten sich köstlich. Das war wahrscheinlich der gefährlichste Moment, weißt du? Ich meine: Ich hatte immerhin eine geladene, scharfe Waffe in der Hand. Und um ehrlich zu sein: Ich wäre fast gestorben vor Angst. Vor allem, als sich Strong zu mir umdrehte und ...«
*
»... ach du heilige Scheiße!«, sagte Strong.
Mike war immer noch wie gelähmt. Seine Gedanken rasten.
Alles, was er spürte, war eine unglaubliche Verwirrung und eine Mischung aus Angst und Wut, die alles noch schlimmer machte. Seine Hände zitterten. Die Waffe schien plötzlich einen Zentner zu wiegen. Zugleich spürte er die entsetzliche Verlockung, die sie bot. Er war halb wahnsinnig vor Angst. Er verstand einfach nicht, was hier vorging. Da war eine Stimme in ihm, die ihm zuschrie, dass er nur eine einzige, verzweifelte Chance hatte: nämlich abzudrücken und das gesamte Magazin der Pumpgun in den Raum vor sich zu entleeren.
Dass es nicht dazu kam, lag nicht an seiner Vernunft, sondern einzig daran, dass er so vollkommen verwirrt und fassungslos war, dass ihm selbst für diese winzige Bewegung die Energie fehlte.
»Tun Sie jetzt bitte nichts Unüberlegtes!«, sagte Strong ruhig.
Der Gewehrlauf in Mikes Hand schwankte. Er spürte mit einem kalten, sonderbar distanzierten Entsetzen, wie sich sein Finger langsam um den Abzug krümmte, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, die Bewegung zu stoppen.
Langsam, unendlich langsam und vorsichtig, stand Strong auf und drehte sich ganz in Mikes Richtung - er hatte beide Arme bis in Hüfthöhe erhoben und die Hände mit nach oben gedreh-ten Handflächen ausgestreckt, um zu zeigen, dass sie leer waren. Auf seinem Gesicht lag ein sehr konzentrierter Ausdruck; keine Angst, aber doch eine gehörige Portion Respekt.
»Bitte, Mike«, sagte er. »Tun Sie jetzt nichts Unüberlegtes. Ich kann das alles erklären.«
»Ach?« Selbst dieses eine Wort auszusprechen kostete Mike schier unendliche Mühe. Das Gewehr in seiner Hand schien immer schwerer zu werden. Er hatte das Gefühl, dass der Raum ganz langsam begann, sich um ihn zu drehen.
»Bitte legen Sie die Waffe weg«, sagte Strong. »Sie haben nichts zu befürchten. Das hatten Sie nie.«
»Ja, darauf wette ich«, antwortete Mike. Er versuchte vergeblich, seiner Stimme einen höhnischen Unterton zu verleihen.
»Ich verstehe, dass Sie mir nicht glauben«, antwortete Strong.
»Aber bitte, Mike: Legen Sie das Gewehr weg. Ich gebe Ihnen meine Waffe - und alle anderen hier auch. Sehen Sie?«
Sehr langsam und mit spitzen Fingern griff er in den Gürtel und zog den verchromten 44er hervor, um ihn mit dem Griff voran über den Tisch zu schieben. Mike sah aus den Auge nwinkeln, wie Bannermann und nach kurzem Zögern auch sein Deputy dasselbe mit ihren Waffen taten, während sich die drei Indianer nicht rührten.
Mike schluckte. »Also?«, begann er unsicher. »Sie haben genau eine Minute, um mir alles zu erklären.«
Strong schüttelte den Kopf. »Das wird nicht reichen«, sagte er. »Ich kann Sie nur bitten, mir zuzuhören. Ich bin nicht der, für den Sie mich bisher gehalten haben.«
»Stellen Sie sich vor, das ist mir auch schon aufgefallen«, erwiderte Mike. Er machte eine abgehackte Bewegung mit dem Gewehr. »Aufstehen! Alle! An die Wand!«
Bannermann und sein Deputy gehorchten hastig. Auch das Indianermädchen stand rasch auf und wich, rückwärts gehend, zur gegenüberliegenden Wand zurück, um mit erhobenen Händen neben Strong Aufstellung zu nehmen. Ihre Mutter und ihr Bruder (oder Mann oder was immer er auch sein mochte) gehorchten ebenfalls, wenn auch deutlich langsamer.
»Also gut, ich höre«, sagte Mike. »Wer seid ihr wirklich?
Was seid ihr? Und spart euch irgendwelche fantastischen Ausreden. Ich glaube, ich bin schon von selbst daraufgekom-men, was hier gespielt wird.«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Strong. »Sehen Sie, Mike, ich bin kein Privatdetektiv und auch kein Kopfgeldjäger oder so etwas.«
»Tatsächlich?«, fragte Mike höhnisch. »Da wäre ich ja nie von selbst drauf gekommen.«
»Ich bin nicht einmal Amerikaner«, fuhr Strong unbeein-druckt fort. »Ich arbeite nur hier, manchmal. Eigentlich lebe ich in Hamburg. Ihre Freunde haben mich dort kennen ge-lernt.«
»Meine Freunde?«
»Frank und Stefan, ja«, sagte Strong. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, als wäre das, was er jetzt zu sagen hatte, sehr wichtig, und als hätte er Angst, einen Fehler zu machen. »Ich bin Stuntman. Wir alle sind Stuntmen und arbeiten beim Film - wenigstens manchmal, wenn wir ein Engagement bekommen. Frank hat über das Internet mit uns Kontakt aufgenommen, und wir haben uns vor vier Monaten das erste Mal in Hamburg getroffen.«
»Frank?« Mike wollte hysterisch auflachen, weil ihm diese Behauptung so vollkommen absurd erschien. Frank? Was war hier los?
»Sehen Sie, Mike, nichts von alledem, was Sie erlebt haben, ist wirklich passiert«, sagte Strong nervös. »Das war alles nur ein ...« Er suchte nach Worten und zuckte schließlich mit den Schultern. »... ein Abenteuer. Ein Spiel.«
»Ein Spiel?»
»Ich weiß, wie es sich für Sie anhören muss«, antwortete Strong. »Aber es ist die Wahrheit. Sehen Sie, Ihre beiden Freunde haben uns engagiert, damit wir all das hier für Sie arrangieren.«
»Das ist doch absurd«, sagte Mike.
»Wir bieten diesen Service seit zwei Jahren an«, bestätigte Strong. »Auf die Idee sind wir durch einen Hollywood-Film gekommen. Sie haben ihn bestimmt auch gesehen: The Game mit Michael Douglas.«
Mike starrte ihn nur an. Auch die Stimme in seinem Kopf war verstummt. Er war völlig ... nein, er fand nicht einmal einen Ausdruck dafür. Was er spürte, war eine Mischung aus Fassungslosigkeit, Entsetzen und allmählich aufkeimender Wut, für die es keinen richtigen Begriff gab.
»Es ist ein Abenteuerurlaub, wenn Sie so wollen«, sagte Strong. »Ein Abenteuerurlaub der ganz besonderen Art. Wir arrangieren alles, von der falschen Leiche über den nachge-machten Polizisten bis hin zum großen Showdown und der Auflösung.«
»Das ist absurd!«, wiederholte Mike. »Ich glaube Ihnen kein Wort!«
»Daran sehen Sie, wie gut wir sind«, antwortete Strong, immer noch nervös, aber nun mit einem deutlich hörbaren Unterton von Stolz. »Bitte legen Sie das Gewehr zur Seite, Mike. Ich kann verstehen, dass Sie im Moment wütend sind, aber Ihre Freunde haben es nur gut mit Ihnen gemeint.« Er lachte, leise und unsicherer, als er vermutlich vorgehabt hatte.
»Was schenkt man einem Mann, der alles hat? Ein großes Abenteuer.«
»Ein Abenteuer?«, krächzte Mike. »Sind Sie wahnsinnig?
Wir wären fast ums Leben gekommen! Mein Gott, ich habe geglaubt, ich hätte einen Menschen umgebracht!«
»Das Kind.« Strong nickte. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte flüchtig und nervös. »Mache n Sie sich keine Sorgen.
Der Junge gehört auch zu uns. Er hat nicht einen Kratzer abbekommen. Es war alles nur Make-up und Theaterblut.
Specialeffects. Wir sind gut darin.«
»Sie ... Sie meinen ... das ... das ist alles nicht wirklich passiert? Der Junge ... «
»Ist völlig unversehrt«, sagte Strong. »Und die angebliche Leiche des Jungen, die ich Ihnen in der Höhle am Monument Valley präsentiert habe, war keine Leiche, sondern nur eine entsprechend präparierte Puppe.«
Mike ließ langsam das Gewehr sinken. Ein Te il von ihm beharrte noch immer darauf, dass das alles nur ein Trick war, um ihn in Sicherheit zu wiegen; dass Strong bei der ersten sich bietenden Gelegenheit über ihn herfallen und ihm die Waffe aus der Hand schlagen würde, wenn er ihn nicht sogar auf der Stelle umbrachte. Aber vielleicht war das auch nur der Teil, der einfach nicht wahrhaben wollte, was er im Grunde längst schon wusste: nämlich dass Strong durchaus die Wahrheit sagte!
»Dann ... dann haben die beiden die ganze Zeit über gewusst, dass ich den Jungen nicht umgebracht habe? Und alles andere war auch nur gespielt?«
»In jeder einzelnen Sekunde«, bestätigte Strong. Er deutete mit dem Kopf auf das Gewehr. »Legen Sie die Waffe weg. Sie ist geladen.«
»Ich hätte mir das Genick brechen können«, murmelte Mike.
Er legte das Gewehr nicht aus der Hand, senkte es aber deutlicher, sodass der Lauf nun auf den Boden zeigte. Strong atmete sichtbar auf, und auch Bannermann und der zweite falsche Polizist entspannten sich ein wenig.
»Es war nicht geplant, dass Sie so schwer stürzen«, sagte Strong. »Um ehrlich zu sein, war das der Moment, in dem ich nahe daran war, alles abzublasen.«
»Sie haben mich beobachtet?«
»Selbstverständlich«, antwortete Strong. »Wir haben Sie keine Sekunde aus den Augen gelassen. Auch das gehört zu unserem Service. Selbstverständlich kommen wir für den Schaden an dem Motorrad auf. Gegen so etwas sind wir versichert.«
»Und alles andere?«, murmelte Mike fassungslos. »Die Geschichte in Moab ... Monument Valley ... die Höhle ... das gehörte alles dazu?«
»Bis hin zu Ihrem Fahrer in Phoenix«, sagte Strong. »Natürlich gehört er auch zu uns. Sie müssen zugeben, die Höhle war beeindruckend. Sie ist übrigens nicht getürkt. Wir haben sie zufällig entdeckt, als wir auf der Suche nach einem passenden Ort waren, zu dem wir unsere Kunden bringen können.«
»Und ... und das Motel?«
»Sollte sowieso abgerissen werden«, sagte Strong. »Wahrscheinlich sind die Bagger jetzt schon da, um das niederzurei-
ßen, was wir stehen gelassen haben. Wir haben nur mit Platzpatrone n geschossen.«
»Aber ich habe gesehen, wie die Kugeln eingeschlagen sind!«
»Sie haben gesehen, was jeder Kinozuschauer im Film sieht«, erwiderte Strong. »Winzige Sprengladungen, die genau plat-ziert waren. Klaus ...«, er verbesserte sich und machte eine Geste auf Bannermann, »... Bannermann hier, hat sie mit einer Fernbedienung gezündet, als wir in der richtigen Position standen.«
»Und dann habe ich Sie auch nicht wirklich niedergeschlagen«, vermutete Mike.
Strong hatte sichtbar Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Er rieb sich demonstrativ mit der linken Hand das Kinn. »Sagen wir so: Sie haben härter zugeschlagen, als ich erwartet hätte.
Aber ich hab’s ja überlebt.«
Es war nicht wirklich diese Eröffnung, die Mike endgültig überzeugte. Sie war nur ein weiteres Puzzleteil in dem Bild, zu dem sich sowohl Strongs Worte als auch alles, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, allmählich zusammenfügte. Langsam ließ er das Gewehr ganz sinken, machte einen Schritt und dann noch einen, bis er am Tisch angekommen war, und setzte sich umständlich auf den Stuhl, auf dem Bannermann zuvor gesessen hatte. »Ein Abenteuer«, murmelte er. »Ich hätte mir fast den Hals gebrochen. Ich habe eine Woche lang geglaubt, ich hätte einen Menschen umgebracht. Ich bin zusammenge-schlagen und beschossen worden, ich hatte Todesangst, bin halb erfroren ... und das nennen Sie ...?«
»Ein Abenteuer, ja«, sagte Strong. »Glauben Sie mir, unsere Kunden sind ausnahmslos sehr zufrieden mit dem, was wir ihnen bieten - wenn sie den ersten Schrecken überwunden haben, heißt das. Und wenn es nur ist, um sie erkennen zu lassen, dass ihr so genanntes normales, langweiliges Leben doch eigentlich auch ganz schön ist.« Er bemühte sich, ein Grinsen zustande zu bringen, stellte den Versuch aber gleich wieder ein. »Ihre beiden Freunde haben sich eine Menge Mühe gegeben, um sich das alles auszudenken und übrigens auch zu bezahlen. Wir sind nicht ganz billig. Sie haben sogar vorher mit uns trainiert, um in den Prügelszenen mithalten zu können.«
»Das heißt, es war gar nic ht Ihre Idee?« Mike sah überrascht auf.
»Die Details, natürlich«, erwiderte Strong. »Aber die Geschichte stammt von Ihren Freunden. Der Junge. Die Indianer, die Sie verfolgen. Der angebliche Mord in Moab.« Er hob die Schultern. »Die Story ist gar nicht schlecht. Vielleicht übernehmen wir sie bei einem unserer nächsten Aufträge - wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Und der Wendigo?«, fragte Mike.
Strong machte ein verwirrtes Gesicht. »Wer?«
»Vergessen Sie’s«, murmelte Mike. Plötzlich fühlte er sich nur noch müde, unendlich müde und erschöpft. Er war nicht einmal mehr zornig. Ebenso wenig, wie er Erleichterung empfand. Das Gefühl, das ihn erfüllte, war ihm so vollkommen fremd, dass er keine passenden Worte fand, es zu beschreiben.
»Ein Abenteuer«, murmelte er noch einmal kopfschüttelnd.
»Das alles war nichts als ein ... als ein Spiel, das sich diese beiden ausgedacht haben.«
»Um Ihnen eine Freude zu bereiten, ja«, sagte Strong. »Jetzt werden Sie bitte nicht wütend auf sie. Im Moment sind Sie verwirrt und völlig durcheinander. Das kann ich verstehen.
Normalerweise hätten wir Ihnen die Wahrheit etwas schone nder beigebracht. Aber jetzt ist es einmal passiert. Und glauben Sie mir, Sie werden es genießen, wenn Sie sich erst einmal richtig ausgeschlafen und alles verarbeitet haben. Ein Abenteuer wie dieses erlebt man nur einmal im Leben - und man überlebt es in der Realität normalerweise nie.« Er wollte einen Schritt nach vorne machen, aber Mike hob rasch das Gewehr und richtete den Lauf direkt auf ihn. Strong erstarrte mitten in der Bewegung.
»Woher soll ich wissen, dass das alles stimmt?«, fragte Mike.
Dabei wusste er es. Er hatte nicht den kleinsten Zweifel, dass Strong die Wahrheit sagte. Seine Geschichte war so verrückt, dass sie einfach wahr sein musste.
»Wenn Sie mir gestatten, in die Jackentasche zu greifen, kann ich beweisen, dass ich die Wahrheit sage«, antwortete Strong.
Mike starrte ihn geschlagene fünf Sekunden lang wortlos an, dann nickte er knapp, und Strong griff vorsichtig und mit der linken Hand in die Innentasche seiner schwarzen Lederjacke.
Sehr behutsam, um Mike nicht zu provozieren, zog er eine Brieftasche hervor, klappte sie auf und nahm ein zusammengefaltetes Stück Papier heraus. »Hier, lesen Sie!«, forderte er ihn auf.
Mike machte eine entsprechende Kopfbewegung. Strong schob ihm das Blatt über den Tisch hinweg zu und wich wieder zur gegenüberliegenden Wand zurück. Umständlich und das Gewehr mit nur einer Hand haltend, griff Mike nach dem Blatt, faltete es auseinander und überflog es - zuerst flüchtig und in aller Hast, dann noch einmal und mit wachsender Verblüffung.
Es war ein zweisprachig in Englisch und Deutsch abgefasstes Schriftstück, das bestätigte, dass Strong und seine Freunde in Franks Auftrag handelten und er sie von jeder Verantwortung befreite. Mike hatte im Laufe seines Lebens genug Verträge gelesen, um sofort zu erkennen, dass es nur ein Auszug aus einem weitaus längeren Schriftsatz war. Und er hatte Franks Unterschrift oft genug gesehen, um sie jenseits allen Zweifels wiederzuerkennen.
»Das ... das ist ...«
»Es ist die Wahrheit«, sagte Strong noch einmal. »Es tut mir wirklich Leid. So etwas ist noch nie passiert, wissen Sie?
Bisher ist uns keiner unserer Klienten auf die Schliche gekommen. Anscheinend sind Sie cleverer, als wir dachten. Oder wir werden nachlässig.«
Mike ließ das Gewehr endgültig sinken. Die Waffe schlug mit einem dumpfen Geräusch auf. Strong zögerte noch eine Sekunde, dann trat er mit zwei schnellen Schritten an ihn heran, hob das Gewehr auf und sicherte es, bevor er es hinter sich gegen die Wand lehnte.
»Wie gesagt: Es tut mir wirklich Leid«, sagte Strong noch einmal. »Es sollte nicht so enden. Geplant war, dass Sie Ihre beiden Freunde aus dem Gefängnis befreien und fliehen. Ich muss in der Tat zugeben, dass nicht alles so gelaufen ist, wie wir es geplant hatten. Und einiges lief härter ab als sonst. Was genau da schief gelaufen ist, wollten wir in aller Ruhe analysie-ren. Nach Beendigung des Auftrags.«
»Und weiter?«, fragte Mike - allerdings ohne den Blick von dem Stück Papier zu nehmen, das Strong ihm gegeben hatte.
»Sie hätten morgen Abend Las Vegas erreicht, und Stefan wäre losgegangen, um die Flugtickets zu besorgen«, antwortete Strong. »Allerdings nicht wirklich. Wir haben eine kleine Überraschungsparty für Sie und Ihre Freunde in der Hotelbar arrangiert.« Er seufzte tief. »Tja, die ist jetzt wohl überflüssig geworden. Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Klaus macht Ihnen einen starken Kaffee, und ich ...« Er seufzte. »Ich muss jetzt wohl hinüber ins Gefängnis gehen und Ihren Freunden beichten, dass ihre kleine Überraschung ins Wasser gefallen ist.«
Er sah Mike noch einen Moment lang beinahe erwartungsvoll an, dann hob er die Schultern und drehte sich langsam um, um zur Tür zu gehen. Aber er kam nur zwei Schritte weit.
»Warten Sie!«, sagte Mike. »Ich glaube, ich habe eine bessere Idee ... «
*
»Und diese bessere Idee war, es uns mit gleicher Münze heimzuzahlen«, vermutete Frank.
Mike hob zur Antwort nur stumm die Schultern und sah ihn weiter traurig und wortlos an.
»Das ist dir gelungen«, fuhr Frank fort. »Das ist dir wirklich gelungen. Gott verdammt, ich bin fast gestorben vor Angst, ist dir das eigentlich klar? Von Stefan mal ganz zu schweigen.«
»Ich habe Mist gebaut, ich weiß«, antwortete Mike. Er fühlte sich miserabel, und das mit jeder Sekunde mehr. Dass das Gefühl des Triumphes nicht kommen würde, hatte er längst begriffen, aber damit war es längst nicht getan. »Es tut mir Leid. Ich habe es für eine gute Idee gehalten. Gestern.«
»Das hast du nicht.« Frank machte ein abfälliges Geräusch.
»Du warst stinksauer und hast dir vorgenommen, es uns einfach nur heimzuzahlen, so war das.«
»Vielleicht«, gestand Mike. Er suchte vergeblich nach Worten, irgendetwas, das wenigstens glaubhaft nach einer Entschuldigung klang, fand sie aber nicht. Schließlich rettete er sich in ein schiefes Grinsen und sagte: »Dann würde ich sagen, wir sind quitt, oder?«
Frank starrte ihn finster an. »Frag mich das morgen noch einmal«, grollte er.
Es fiel Mike schwer, zu beurteilen, ob Franks Zorn gespie lt oder echt war. Gleichzeitig war da aber auch eine dünne, nichtsdestotrotz penetrante Stimme in seinen Gedanken, die auf der Frage beharrte, warum um alles in der Welt er eigentlich ein schlechtes Gewissen hatte. Nach allem, was er in den zurückliegenden fünf Tagen durchgemacht hatte, war diese kleine Retourkutsche eigentlich das Mindeste, was er seinen beiden Freunden schuldig war.
Nur, dass dies nicht ganz so einfach war. Es war schließlich die Absicht, die zählte. Jetzt, wo er die Wahrheit kannte, fiel es ihm nicht besonders schwer, nachzuvollziehen, wie Frank und Stefan auf diese zugegebenermaßen abenteuerliche Idee verfallen waren. Sie hatten mehr als einmal bei einem Bier zusammengesessen und darüber philosophiert, wie groß doch der Unterschied zwischen der Realität und jener Scheinwelt war, die Mike in seinen Büchern erschuf. Und Mike hatte sich mehr als einmal - und nicht unbedingt im Scherz - darüber beschwert, dass er im Grunde doch ein sehr langweiliges Leben führe: erfolgreich, ohne Sorgen und Probleme, ohne echte Herausforderungen oder Gefahren, die es zu bestehen galt.
Worüber wunderte er sich eigentlich?
»Also gut«, seufzte Frank. »Eigentlich habe ich ja gar keinen Grund, mich zu beschweren. Ich sollte froh sein, dass alles doch noch glimpflich abgelaufen ist. Du übrigens auch.« Er deutete auf Mikes Hand. »Ich will jetzt nicht den Besserwisser herauskehren, aber ist dir eigentlich klar, wie gefährlich es war, damit noch zu fahren?«
Es gelang Mike nicht, die scharfe Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, zurückzuhalten: »Du weißt ja auch, wem ich das zu verdanken habe.«
Diesmal war der Ärger, der in Franks Augen aufblitzte, echt.
»Niemand hat dich gebeten, den Helden zu spielen«, sagte er.
Plötzlich spürte Mike, wie dicht sie davor standen, sich wirklich anzubrüllen und Dinge an den Kopf zu werfen, die sich schon lange aufgestaut hatten. War ein reinigendes Gewitter das Einzige, was ihre Freundschaft jetzt noch davor bewahren konnte, zu zerbrechen?
Oder war es bereits auch dafür zu spät?
Plötzlich lachte Frank nervös. »Um ehrlich zu sein, ich hätte nie erwartet, dass du den Mumm aufbringst, Strong anzugrei-fen. Ich bin nicht sicher, ob ich es getan hätte.«
»Ich bin auch ziemlich sicher, dass ich es nicht noch einmal tun würde.« Mike hob demonstrativ seine geschwollene Hand.
»Es tut ziemlich weh, ein Held zu sein.« Dann machte er ein ganz bewusst übertrieben böses Gesicht. »Ich glaube, das ist das Einzige, was ich euch beiden Blödmännern wirklich übel nehme, weißt du?«
»Was?«
»Ich habe einen Moment la ng wirklich geglaubt, ich hätte Strong ausgeknockt.«
»Vielleicht hast du das ja«, antwortete Frank, und es hörte sich nicht so an, als ob er das nur sagte, um Mike zu beruhigen.
»Immerhin hast du dir fast die Hand an seinem Kinn gebrochen. Es dürfte selbst ihm ziemlich wehgetan haben.«
»Vermutlich«, sagte Mike. Aber natürlich wusste er, dass es nicht so war.
Er spürte, auf welch dünnem Eis sie sich immer noch bewegten, nippte wieder an seiner Cola, um Zeit zu gewinnen, und machte schließlich eine entspreche nde Geste zur Tür. »Vielleicht sollten wir jetzt runtergehen und Stefan suchen. Der arme Kerl hat lange genug im eigenen Saft geschmort, finde ich.«
»Eine gute Idee«, erwiderte Frank. In genau diesem Auge nblick klopfte es an der Tür. »Das wird Stefan sein. Wenigstens kommt er zurück. Ich hatte schon Angst, dass er irgendetwas Dummes tut, so fertig, wie er war.«
Mike überhörte die Anspielung und beobachtete aus den Augenwinkeln, wie Frank zur Tür ging und den Knopf drehte.
Dann ging alles so schnell, dass er nicht einmal mehr dazu kam, wirklich zu erschrecken.
Die Tür flog auf, kaum, dass Frank den Knopf halb herumge-dreht hatte. Sie schlug ihm mit solcher Wucht gegen die Brust, dass er zurückstolperte und auf das Bett dicht neben Mike stürzte. Sein erschrockener Aufschrei ging im Gebrüll von mindestens vier, fünf Männern unter, die dicht hintereinander hereingestürmt kamen und das Hotelzimmer in ein Chaos aus reiner Bewegung verwandelten, in dem weder Einzelheiten zu erkennen noch einzelne Worte zu verstehen waren. Mike wollte aufspringen, blieb aber irgendwo hängen und stürzte hilflos neben dem Bett zu Boden. Noch bevor er wirklich aufgeprallt war, waren die Angreifer über ihm. Starke Hände packten seine Arme und verdrehten sie so brutal auf dem Rücken, dass er vor Schmerz aufschrie und instinktiv mit den Beinen austrat. Er traf irgendetwas, wurde mit einem zornigen Grunzen belohnt -
und einem Fußtritt in die Seite, der ihm die Luft aus den Lungen trieb und seine Rippen knacken ließ. Er hörte dumpfe Kampfgeräusche vom Bett und nahm an, dass Frank seine Überraschung überwunden und damit angefangen hatte, sich zu wehren. Vollkommen sinnlos bei dieser Übermacht!
Mike bäumte sich auf und wurde nur umso heftiger gegen den Boden gepresst. Jemand warf sich mit beiden Knien auf seine Oberschenkel und nagelte sie am Boden fest. Seine Arme wurden so fest nach oben gedrückt, dass er das Gefühl hatte, seine Schultern müssten aus den Gelenken springen. Einen Moment später krallten sich Finger in sein Haar und rissen seinen Kopf brutal in den Nacken. Seit die Tür aufgeflogen und die unbekannten Angreifer hereingestürmt waren, war kaum mehr als eine Minute vergangen.
»Wer zum Teufel ... seid ihr?«, keuchte er. Das Sprechen fiel ihm in seiner Lage ausgesprochen schwer. Immerhin konnte er jetzt erkennen, dass die meisten der Angreifer die sandfarbenen Hosen und kurzärmeligen Hemden der Nevada State Police trugen. Das war nicht mehr lustig. Davon hatten weder Strong noch seine angeblichen Komplizen etwas erzählt, und auch Frank hatte eigentlich genug Zeit gehabt, um diesen finalen Gag abzublasen.
»Das reicht jetzt, du Idiot«, quetschte er, an Frank gewandt, hervor. »Pfeif sie zurück. Das ist nicht mehr komisch.«
Frank antwortete nicht. Dafür trat ein hoch gewachsener, schlanker Farbiger mit Fünfhundert-Dollar-Schuhen und einem maßgeschneiderten Armani- Anzug in sein Blickfeld und musterte ihn lange aus kalten, vollkommen ausdruckslosen Augen, bevor er seinen Männern ein Zeichen gab und Mike grob in die Höhe gerissen wurde. Handschellen klickten.
Mikes erster Blick galt Frank, der immer noch auf dem Bett lag. Es war ihm nicht besser ergangen: Er lag auf dem Bauch, auch seine Arme waren mit Handschellen auf dem Rücken zusammengebunden, und ein finster dreinblickender Streifenpolizist drückte eine Waffe mit gespanntem Hahn an seinen Hinterkopf. Mike konnte Franks Gesicht nicht erkennen, aber er sah, dass er am ganzen Leib zitterte. Was war hier los?
»Verdammt noch mal, was soll denn der Unsinn?«, zischte Mike zwischen zusammengepressten Zähnen. Seine Knie zitterten so heftig, dass er sich vermutlich nicht aus eigener Kraft auf den Beinen hätte halten können. Plötzlich begann auch sein Herz wieder zu stechen. »Wenn dieser Idiot Stefan euch geschickt hat, dann sagt ihm, dass es vorbei ist. Ihr könnt mit dem Theater aufhören. Strong hat mir alles erzählt.«
Der Schwarze legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an. Sein Gesicht wirkte vollkommen entspannt, fast freundlich, aber seine Augen blieben hart, kalt wie Glas und fast ohne Leben.
»Herr Wolf?«, fragte er. »Michael Wolf?« Er hatten einen deutlichen amerikanischen Akzent und redete sehr langsam und übermäßig betont, wie jemand, der eine Sprache zwar gut beherrscht, aber wenig Übung darin hat.
»Das stimmt«, antwortete Mike. »Und es ist wirklich so: Ich weiß Bescheid. Fragen Sie Frank, wenn Sie mir nicht glauben.
Es war meine Schuld. Ich hätte Stefan gleich ...«
»Mein Name ist Jennings«, unterbrach ihn der Schwarze. Er griff in die Innentasche seines maßgeschneiderten Sakkos, zog eine lederne Hülle heraus und klappte sie auf, sodass Mike den in Plastik eingeschweißten Ausweis erkennen konnte, der sich darin befand. »Detective Jennings. Vierzehntes Revier. Mord-kommission.«
»Das geht jetzt langsam wirklich zu weit«, keuchte Mike, aber irgendetwas in Jennings’ kalten, mitleidlosen Augen hielt ihn davor zurück, weiterzureden.
»Man hat uns gesagt, dass Sie des Englischen nicht besonders mächtig sind«, fuhr Jennings fort, während er seinen Ausweis zusammenklappte und mit einer tausendfach geübten Bewegung wieder in der Tasche verschwinden ließ. »Deshalb bin ich gekommen, obwohl ich im Grunde gar nicht zuständig für diesen Fall wäre.«
»Was für ein Fall?«, fragte Mike. Er hatte ein ungutes Gefühl.
Er hatte ein sehr ungutes Gefühl.
Zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie eine menschliche Regung auf Jennings’ wie aus schwarzem Stein gemeißelten Gesicht: Es war ein dünnes, fast gequält wirkendes Lächeln.
»Michael Wolf, Frank Winter, Sie sind vorläufig festgeno mmen. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht, auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen leisten können, wird dieser Ihnen vom Staat zur Verfügung gestellt. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden.
Haben Sie das verstanden?«
Mike starrte ihn fassungslos an. »Nein«, murmelte er.
»Was war daran unklar?«, erkundigte sich Jennings.
»Ich habe Sie verstanden, zum Teufel noch mal«, antwortete Mike wütend. »Aber was soll der Unsinn? Wieso verhaftet?
Was wirft man uns vor?«
»Sie werden beschuldigt, für den Tod zweier Menschen im Staate Arizona verantwortlich zu sein«, antwortete Jennings. Er gab den Männern hinter Mike ein kurzes Zeichen. »Let’s go! «
*
Die nächste Stunde war ein Albtraum. Frank und Mike wurden sofort voneinander getrennt, vermutlich, damit sie nicht mehr miteinander reden konnten. Jennings nahm im gleichen Fahrzeug wie Mike Platz, ignorierte aber dessen immer verzweifelter werdenden Fragen beharrlich. Hinter Mikes Stirn herrschte pures Chaos, und seine Stimmung schwankte praktisch sekündlich zwischen Hysterie, dumpfer Niedergeschla-genheit und reiner Verzweiflung. Er verstand rein gar nichts mehr. Irgendetwas Schreckliches war geschehen. Das gehörte ganz bestimmt nicht mehr zu Franks und Stefans Plan. Und dass Bannermann und sein Deputy tatsächlich tot waren ...
nein, das war unmöglich! Die Waffe, die Strong Mike gegeben hatte, war eindeutig mit Platzpatronen geladen gewesen. Er hatte es ausprobiert. Die Blutexplosion auf Bannermanns Hemd hatte zu den gleichen, ausgeklügelten Specialeffects gehört, mit denen sie ihn in der Berghütte zum Narren gehalten hatten. Die beiden konnten einfach nicht tot sein.
Und diese Polizisten hier waren zweifellos echt. Der Sturm auf ein Hotel mitten in Las Vegas ging eindeutig über die Möglichkeiten einer kleinen Stuntmen-Truppe hinaus - auch wenn der Fahrer des Streifenwagens, in dem Mike saß, einen durchaus hollywoodmäßigen Fahrstil an den Tag legte, als sie die Tiefgarage des Baliy's verließen. Sie jagten die Rampe hinauf, die Frank, Stefan und Mike vor nicht einmal einer Stunde heruntergekommen waren, und Mike blinzelte in das ungewohnt grelle Licht der Nachmittagssonne. Vielleicht sah er aus diesem Grund den Mann beinahe zu spät.
Er stand unmittelbar neben der Ausfahrt, so dicht, dass sie ihn fast gestreift hätten. Mike sah ihn nur für den Bruchteil einer Sekunde und nur aus den Augenwinkeln: kaum mehr als ein Schemen.
Trotzdem erkannte er ihn so deutlich, dass er vor Schrecken aufschrie.
Es war ein uralter, gebeugter Indianer mit schulterlangem weißem Haar und einem von Falten zerfurchten, schmalen Gesicht, in dem die Augen das einzig Lebendige zu sein schienen. Augen, die Mike voller Bosheit und höhnischem Triumph anstarrten.
Es war der Wendigo, nicht der Schamane. Mike war sich dessen ganz sicher.
»Was haben Sie?«, fragte Jennings.
Mike versuchte sich auf dem Rücksitz herumzudrehen, was aber mit auf dem Rücken gefesselten Händen gar nicht so einfach war. Sein Blick suchte den Anasazi-Dämonen. Er stand da: eine schmale Gestalt, die zwischen all den anderen kaum auffiel und schon im nächsten Moment verschwunden war wie ein Spuk. Aber Mike hatte ihn gesehen. Er hatte ihn gesehen.
»Bitte, reißen Sie sich zusammen«, sagte Jennings kühl.
»Der Wendigo«, stammelte Mike. »Er war es! Sie müssen ihn gesehen haben. Sie müssen ihn doch gesehen haben!«
»Das nutzt Ihnen nichts«, beharrte Jennings. »Sie können dort hinten toben, so lange sie wollen. Aber Sie machen es damit für sich nicht einfacher.«
Mike drehte sich wieder um und starrte Jennings verzweifelt an. »Verstehen Sie denn nicht? Er war es! Er ist hier. Das ist alles sein Werk.«
Jennings runzelte die Stirn. Er sah nicht wirklich interessiert aus. »Ich fürchte, ich verstehe Sie wirklich nicht«, sagte er.
»Jetzt reißen Sie sich zusammen, oder ich sorge dafür, dass Sie still sind.«
Es war nicht die unverhohlene Drohung in seinen Worten, die Mike tatsächlich zum Schweigen brachte. Es war das schiere Entsetzen, mit dem ihn der Anblick des Wendigo erfüllt hatte.
Was war los mit ihm? Verlor er jetzt endgültig den Verstand?
»Alles wieder in Ordnung?«, fragte Jennings.
Mühsam hob Mike den Kopf und sah den farbigen Detective an. In Ordnung? Er hätte fast gelacht. Sein Leben würde nie wieder in Ordnung sein, ganz egal, wie diese Geschichte hier ausging.
»Ich ... es geht schon«, murmelte er.
Jennings nickte, und damit war die Sache für ihn erledigt.
Nicht so für Mike. Der Wendigo war wieder da! Er hatte ihn gesehen. Es gab keinen Zweifel. Er würde diesen brennenden, alles durchdringenden Blick nie vergessen, den Odem des Bösen, das alles Lebendige, Denkende und Fühlende hasste.
Der uralte Dämon war hier. In dieser Stadt, ganz in der Nähe, so, wie er vermutlich die ganze Zeit über in Mikes Nähe gewesen war. Hatte er wirklich geglaubt, den Kampf gewonnen zu haben? Lächerlich!
Sie fuhren gut ze hn Minuten mit heulender Sirene und in halsbrecherischem Tempo durch den dichten Nachmittagsver-kehr, bevor sie das Polizeipräsidium erreichten. Es war ein alter, wuchtiger Backsteinbau, der die größtenteils eingeschos-sigen Gebäude ringsum auf fast Furcht einflößende Art und Weise überragte: ein gemauertes Monument der Autorität. Ein halbes Dutzend Streifenwagen parkte schräg vor dem Gebäude, und aus einem davon stieg genau in diesem Moment Frank aus.
Seine Hände waren noch immer auf dem Rücken gefesselt. Er ging nach vorne gebeugt und verkrampft, als wäre er nicht in der Lage, sich ganz aufzurichten. Vielleicht hatte man ihn geschlagen. Es gelang Mike nicht, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Frank verschwand zusammen mit seinen beiden Bewachern im Inneren des Gebäudes, bevor Mike ausgestiegen war.
Jennings und der Streifenpolizist führten ihn eine schmale, fensterlose Treppe in den Keller hinab, wo sich die Arrestzellen befanden. Mike hatte Zellen im wortwörtlichen Sinne erwartet: einen langen Gang voller vergitterter Türen, hinter denen die Gefangenen ein ungewisses Schicksal erwartete, wie die Gladiatoren im alten Rom, die zu ihrem letzten Kampf geführt wurden. Aber dies hier war eine modernere Variante.
Man sperrte ihn in einen winzigen, fensterlosen Raum mit einer Tür aus Eisen und einer Neonröhre unter der Decke, die hinter drahtverstärktem Panzerglas leuchtete. Das einzige Möbelstück war eine schmale Pritsche, und einen Luxus wie eine Toilette gab es nicht. Er wartete vergeblich darauf, dass ihm die Handschellen abgenommen wurden, ersparte sich aber auch jede dementsprechende Bitte. Mike war ziemlich sicher, dass Jennings nicht darauf reagieren würde.
Er blieb stehen, bis er das Geräusch hörte, mit dem sich der Schlüssel hinter ihm drehte, dann ließ er sic h auf die Bettkante sinken, lehnte Rücken und Kopf gegen die harte, unverputzte Betonwand und versuchte in eine einigermaßen erträgliche Stellung zu gelangen. Es blieb bei dem Versuch. Selbst wenn er nicht gefesselt gewesen wäre, hätte er wohl kaum Entspan-nung gefunden. Hinter seiner Stirn wirbelten die Gedanken noch immer durcheinander.
Und das blieb so für die nächste Zeit. Wie lange es dauerte, wusste er nicht, aber es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, und er hätte hinterher nicht sagen können, woran er gedacht hatte.
Vermutlich an alles und gar nichts. Als sich der Schlüssel endlich wieder im Schloss drehte und ein Beamter kam, um ihn abzuholen, nahm er das kaum wahr. Erst als der Mann ihn in unwirschem Ton anfuhr und den Arm ausstreckte, um ihn grob vom Bett in die Höhe zu ziehen, erwachte er aus dem trance-
ähnlichen Zustand, in dem er sich befunden hatte und sprang hastig auf die Füße.
Willenlos ließ er sich abführen. Er war jetzt nicht mehr in Panik, ja, er hatte kaum noch Angst. Der Zustand, in dem er sich befand, war beinahe noch erschreckender: eine Mischung aus Resignation, Verzweiflung und einer Art selbstmörderi-schem Fatalismus, die ihm bis zu diesem Moment völlig fremd gewesen war. Es schien ihm nicht nur egal zu sein, was mit ihm geschah. Auf eine perfide Art erwartete er noch weiteres und größeres Unheil, und er war fast sicher, dass er sogar enttäuscht sein würde, wenn dieses sich nicht einstellte.
Sie betraten ein großes, überraschend helles und modern, ja, fast schon luxuriös eingerichtetes Büro. Jennings saß an einem wuchtigen Schreibtisch, der bis auf eine lederne Schreibunter-lage und ein flaches Telefon vollkommen leer war, und befrag-te mit ernstem Gesicht und in Englisch den vor ihm sitzenden Frank. Stefan saß dagegen auf einem unbequemen Sche mel direkt unter dem Fenster. Auch seine Hände steckten in Handschellen, waren aber wenigstens nicht auf den Rücken gebunden.
Als Mike eintrat, hielt Stefan seinem Blick nur eine halbe Sekunde Stand, dann senkte er hastig den Kopf und begann, mit den Füßen zu scharren. Frank unterbrach sein Gespräch mit Jennings, sah rasch zu ihm hoch und musterte ihn auf eine Weise, die Mike einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Seine selbstzerstörerische Vorfreude hatte ihn nicht getrügt. Es war etwas Schlimmes geschehen. Ein einziger Blick in Franks Augen reichte, um ihm das zu beweisen.
Jennings machte eine wortlose Kopfbewegung auf den freien Stuhl direkt neben Frank und bedeutete Mikes Bewacher ebenso schweigend, den Raum zu verlassen. Mike wandte sich nicht zu ihm um, aber er spürte, dass der Mann zögerte und offensichtlich überrascht war. Erst als Jennings seine Geste unwilliger wiederholte, hörte er, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.