Hier oben lebte nichts mehr.
Eine Laune des Schicksales hatte die eiserne Toreinfassung stehen lassen; während die schwarzen Basaltmauern zu beiden Seiten niedergebrochen waren und die Torflügel selbst – fünf Mal so groß wie ein Mann und jeder einzelne sicherlich mehrere Tonnen wiegend – aus ihren Angeln gerissen und davongeschleudert, Dutzende von Metern weit, wo sie wie Stücke aus verbogenem dünnem Kupferblech liegen geblieben waren.
Obgleich viele Stunden vergangen waren, seit die gigantische Festung in einem einzigen, ungeheuerlichen Ausbruch finsterer magischer Energien untergegangen war, war die Luft noch immer voller Staub, der nur langsam herabsank, um sich wie ein körniges graues Leichentuch über die zerborstenen Mauern und Türme zu senken.
Es war ein Leichentuch, dachte Balestrano düster. Wer immer hier gewesen war, als sich die ungeheuerlichen Kräfte Baphomets in einem schwarzen Blitz Gestalt gewordenen Hasses entluden, musste tot sein; vernichtet von den brodelnden Energien des Dämons oder erschlagen von den Trümmern der zusammenbrechenden Wände und Türme. Es fiel dem weißhaarigen Ordensherren des Templerordens schwer, dieses Bild aus Chaos und Verwüstung mit der dräuenden schwarzen Zackenkrone zu assoziieren, als die sich die Drachenburg noch bei Tagesanbruch auf dem Berggipfel erhoben hatte. Diese Burg war alt gewesen, unglaublich alt. Vielleicht hatte sie schon hier gestanden, bevor es Menschen auf diesem Kontinent gab, möglicherweise auf der ganzen Welt. Weder die Jahrhunderttausende noch die zahllosen Feinde, die in ihrem Verlauf vor ihren Toren erschienen waren, hatten ihr etwas anhaben können.
Er hatte sie vernichtet.
Mit einem einzigen Wort.
Balestrano verscheuchte den Gedanken, stieg vorsichtig über ein zermalmtes Etwas hinweg, das aus Metall bestand, dessen ursprüngliches Aussehen er aber nicht einmal mehr zu erraten in der Lage war, und wartete, bis das halbe Dutzend Tempelritter, das ihm folgte, zu beiden Seiten ausgeschwärmt war, um ihren weiteren Weg zu sichern. Er spürte, dass keiner der Männer, die diese Burg besetzt hatten, noch am Leben war. Aber Necron war ein Magier gewesen und nicht alle Feinde, auf die sie stoßen mochten, mussten lebende Wesen sein …
Jean Balestrano verscheuchte auch diesen Gedanken, stieg umständlich über ein zyklopisches Gewirr von Stein- und Metalltrümmern hinweg und sah sich mit einer Mischung aus Furcht und Neugier um.
Es gehörte sehr viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie diese Burg einmal ausgesehen hatte. Die vier Ecktürme, deren Aussehen der Burg ihren Namen gegeben hatte, waren verschwunden; nicht einmal mehr Spuren waren zurückgeblieben, denn die magischen Kräfte, die die granitenen Drachen für Augenblicke zum Leben erweckt hatten, hatten jeden einzelnen Stein regelrecht pulverisiert. Und die wenigen Sekunden, die die vier Giganten gewütet hatten, hatten ausgereicht, in der Festung im wahrsten Sinne des Wortes keinen Stein mehr auf dem anderen stehen zu lassen.
Balestrano empfand nicht die geringste Spur von Triumph beim Anblick all dieser Vernichtung. Er war hierher gekommen, um die Drachenburg zu zerstören und ihren Herren zu töten, und er hatte beides getan – und das war alles. Er hatte dafür bezahlt. Sehr viel.
Aber alles, was er empfand, war eine Art kalten, fast wissenschaftlichen Interesses – und eine noch leise, aber allmählich aufkeimende Sorge. Necron war geschlagen, seine Burg vernichtet, aber das hieß nicht, dass die Gefahr vorüber war. Es war nur eine weitere Runde in dem niemals endenden Ringen zwischen Gut und Böse gewesen, die er gefochten und zu seinen Gunsten entschieden hatte, aber das Böse war zäh und in dieser durcheinander gewirbelten Ruine allein mochten genug Schrecken verborgen sein, es neu und vielleicht schlimmer auferstehen zu lassen. Für einen Moment hatte Balestrano eine Vision – eine fürchterliche Vision: er sah Menschen – unschuldige Männer, nichts Böses ahnend – durch die Überreste dieser verfluchten Burg stolpern, fasziniert von dem, was sie entdeckt hatten, und besessen von dem Gedanken an Gold und Schätze, die sie aus den Trümmern ausgraben konnten. Und dann sah er sie, beladen mit Dingen aus Gold und edlen Steinen, in denen das Böse schlummerte wie ein unsichtbares Gift, wieder zurückgehen und das Böse in die Welt der Menschen tragend.
Nein, dachte er. So weit durfte es nicht kommen. Es stand nicht in seiner Macht, diese Burg und alles, was unter ihren Trümmern verborgen lag, vollkommen zu vernichten, aber er würde Sorge dafür tragen, dass sie bewacht wurde. Der Heilige Orden des Tempels Salomon würde einen neuen, geheimen Stützpunkt bekommen, hier, an einem der verlassensten Orte der Welt.
Aber im Moment gab es Wichtigeres zu tun.
Flüchtig dachte er an die vier Toten, die in der Ruine des Kastells eine halbe Stunde bergab lagen und darauf warteten, beigesetzt zu werden, dann verjagte er auch diesen Gedanken, hob die Hand und winkte einen seiner Männer herbei.
»Du wirst die Leute aufteilen«, sagte er. »Bildet kleine Gruppen, immer zwei oder drei Mann. Und rührt nichts an, ganz gleich, wie harmlos oder verlockend es scheint.«
Der Templer nickte. Es gelang ihm nicht ganz, seine Nervosität zu verbergen. Und seine Angst. Sie alle spürten den Atem finsterer Magie überdeutlich, der noch immer zwischen den Trümmern der Burg hing. Balestrano wusste, dass seine Warnung ganz und gar überflüssig war. Die Männer wussten ganz genau, was sie suchten.
Einen Toten. Genauer gesagt – zwei.
Den Leichnam Necrons, ohne dessen Anblick Balestrano niemals die absolute Gewissheit haben würde, den finsteren Magier wirklich getötet zu haben.
Und den eines zweiten Mannes, den Jean Balestrano beinahe ebenso sehr hasste wie Necron, wenn auch längst nicht so lange. Aber auch für ihn galt dasselbe wie für Necron. Balestrano würde nicht eher ruhen, bis seine Leiche vor ihm lag.
Der Leichnam Robert Cravens.
Der Berg erschien vor uns, als tauche er aus glasklarem, sprudelndem Wasser auf. Die Luft, die schon jetzt vor Hitze flimmerte, obwohl der Tag noch keine Stunde alt war, ließ den gigantischen Pfeiler aus schwarzgrauem Granit flimmern und hüpfen, ein Schemen, wenig realer als eine Fata Morgana, und in der klaren, heißen Luft über der Wüste in einer Entfernung, die nicht zu schätzen war: Es konnten genauso gut zwei wie zweitausend Meilen sein. Es machte keinen Unterschied mehr – ich hatte weder die Kraft, das eine noch das andere zu schaffen.
Während der vergangenen zehn oder zwölf Stunden hatten sich meine Muskeln zuerst in Pudding und dann in schmerzende verkrampfte Bündel verwandelt und jeder Schritt kostete mich mehr Anstrengung als der vorherige. Priscyllas Körper, den ich auf den Armen trug, schien Tonnen zu wiegen. Dann begann die Wüste neben mir zu brodeln; der Sand kräuselte sich, warf Blasen und sprudelte wie kochendes Wasser und plötzlich griffen schwarze peitschende Tentakel aus dem Gelbbraun des Bodens hervor, wickelten sich um meine Arme und Beine, zerrten mit grausamer Kraft an Priscylla. Ich schrie auf und warf mich zurück, aber der Griff der Tentakel war erbarmungslos und viel zu stark für mich. Und plötzlich teilte sich der Sand, eine flache, von brodelnder, widerwärtiger Schwärze erfüllte Grube entstand und aus ihrer Tiefe stieg Necron empor, das Gesicht zu einem höhnischen Grinsen verzerrt und Shannons abgetrennten Kopf in der Rechten. »Du hast etwas vergessen, Robert!«, kicherte er. »Hier, das gehört doch dir, oder?« Damit warf er mir den Kopf zu und ich schrie abermals gellend auf, taumelte nach hinten, ließ Priscylla und das Buch fallen – und erwachte. Es dauerte einen Moment, bis ich in die Wirklichkeit zurückfand. Ich war mir des Umstandes, dass ich geträumt hatte, vollends bewusst, aber es war ein Traum von der unangenehmen, hartnäckigen Sorte gewesen, der einen noch ein gutes Stück ins Wachsein verfolgt und einfach nicht kapiert, dass er dort nichts verloren hat. Ich brauchte einige Augenblicke, mich vollends von ihm zu lösen; umso mehr, als es dort, wo ich mich wiederfand, nicht sehr viel weniger heiß war als in der Albtraumwelt meines Traumes und mein Durst kaum weniger groß.
Ich versuchte zu sprechen, aber meine Kehle war wie ausgedörrt und ich brachte nur ein mühsames Krächzen zustande. Aber irgendwer in meiner Nähe reagierte darauf und wenige Augenblicke später wurde mein Kopf sanft angehoben und eine Schale mit kühlem Wasser berührte meine Lippen. Ich leerte sie bis zur Neige, mit so tiefen, gierigen Schlucken, dass mir fast sofort übel wurde und ich all meine Kraft zusammennehmen musste, um mich nicht zu übergeben und die kostbare Flüssigkeit gleich wieder zu erbrechen.
»Immer mit der Ruhe, Robert«, sagte eine Stimme irgendwo hinter mir. »Es ist genug Wasser da. Du bist außer Gefahr.«
Ich kannte diese Stimme, aber ich wusste nicht, woher. Ein Gesicht erschien vor mir, als ich aufsah, schmal, kräftig, mit sehr markanten Zügen, eingerahmt von schulterlangem lockigem Haar; und etwas sagte mir, dass ich auch dieses Gesicht sehr gut kennen musste. Aber irgendetwas stimmte nicht mit meinen Erinnerungen. Hinter meiner Stirn führten die Gedanken einen irren Veitstanz auf: Bilder, Namen, Erinnerungen und Fetzen von Gesprächen wirbelten wie verrückt durcheinander, gemischt mit Szenen aus dem Albtraum, dem ich gerade entkommen war. Und immer wieder glaubte ich Shannons Gesicht zu erkennen, starr und tot und mit weit geöffneten Augen, die absurderweise noch zu leben schienen, denn es war ein Vorwurf darin, der …
Stöhnend schloss ich die Augen, ließ mich wieder zurücksinken und versuchte mich mit Gewalt zur Ruhe zu zwingen – natürlich erreichte ich so ungefähr das Gegenteil damit. Mein Herz begann vollkommen unmotiviert zu rasen, als hätte ich einen Fünfzig-Meilen-Dauerlauf hinter mir, und plötzlich war mir heiß und kalt zugleich. Nur ganz langsam beruhigte sich mein rasender Puls.
Als ich die Augen – nach einer Ewigkeit, wie es mir schien – wieder öffnete, war Bill Codys Gesicht noch immer über mir und diesmal erinnerte ich mich auch an seinen Namen.
Woran ich mich nicht erinnerte, war, wie ich hierher gekommen war – wo immer dieses hier auch sein mochte.
Ich lag auf einer schmalen Pritsche und das durchscheinende Weiß über meinem Kopf war zweifellos die Segeltuchbahn eines Zeltes. Aber die letzte halbwegs klare Erinnerung, die ich hatte, war die gigantische Höhle unter Necrons Drachenburg, in der – aber halt, das stimmte nicht. Da war der Traum – und je länger ich darüber nachdachte, desto weniger sicher war ich, dass es wirklich nur ein Traum gewesen war. Ich war eine Nacht und einen Teil des darauf folgenden Tages durch die Wüste getaumelt, Priscylla und dieses verfluchte Buch auf den Armen tragend und begleitet von Sitting Bull und Necron, der …
Meine Gedanken begannen sich schon wieder zu verwirren. Ich schloss erneut die Augen, presste die Lider so fest aufeinander, dass bunte Kreise vor meinen Augen erschienen, und atmete gezwungen tief ein.
»Alles in Ordnung?«, fragte Bill, als ich die Augen wieder öffnete.
Natürlich war ganz und gar nichts in Ordnung. Aber ich nickte trotzdem, versuchte so etwas wie ein Lächeln auf meine Züge zu zwingen und setzte mich vorsichtig auf. Hätte mich Bill nicht blitzschnell festgehalten, wäre ich kopfüber von der Liege gestürzt, denn in meinem Kopf begann sich sofort wieder alles zu drehen.
»Nicht übertreiben«, warnte Bill. »Du bist noch ein bisschen wackelig auf den Beinen – vorsichtig ausgedrückt.«
Ich schob seine Hand beiseite, setzte mich – weitaus vorsichtiger als beim ersten Mal – auf und blickte mich um. Ich befand mich tatsächlich in einem Zelt – einem sehr kleinen Zelt, das gerade Platz genug für die schmale Pritsche und eine herumgedrehte Kiste bot, auf der sich allerlei Gerümpel drängte. Dem grellen Licht nach zu schließen, das durch die dünnen Zeltbahnen und den nur halb geschlossenen Eingang fiel, musste es Mittag sein.
»Wo zum Teufel bin ich überhaupt?«, murmelte ich.
Bill lächelte, wurde aber sofort wieder ernst. »Diese Frage hast du schon dreimal gestellt«, sagte er. »Und ich habe sie schon dreimal beantwortet.« Ein leiser, aber deutlicher Unterton von Sorge schwang in seinen Worten. Er sah mich durchdringend an.
»Dann beantworte sie ein viertes Mal«, sagte ich matt. Ich versuchte mich weiter aufzusetzen und die Beine vom Bett zu schwingen – aber wie gesagt: Ich versuchte es nur. Da war etwas, das genauso war wie in meinem Traum. Meine Muskeln schienen sich in Pudding verwandelt zu haben; allerdings einen, der mit Zement angerührt worden war.
Cody nickte. »Du bist seit zwei Tagen hier«, sagte er besorgt. »Keine Erinnerung?«
Ich verneinte.
»Eigentlich ist das kein Wunder«, fuhr Cody, mehr zu sich selbst als zu mir gewandt, fort. »Nach allem, was Recht ist, dürftest du gar nicht mehr leben. Sitting Bull hat mir erzählt, was passiert ist, und –«
»Sitting Bull?«, unterbrach ich ihn. »Er ist hier?«
»Hier?« Cody lachte leise. »Ohne ihn wärst du mausetot, Robert. Ich weiß nicht, was er gemacht hat – aber als du hierher gekommen bist, hattest du den gewaltigsten Sonnenstich, den ich jemals gesehen habe. Eigentlich …« Er seufzte, brach mitten im Wort ab und sah mich auf sehr sonderbare Weise an. »Du erinnerst dich nicht?«
»Nein«, sagte ich übellaunig. »Das heißt – doch. Aber ich weiß nicht genau, was nun wirklich passiert ist und was ich geträumt habe. Wie kommt ihr überhaupt hierher?«
»Nun, wir sind bis zum Rand der Wüste geritten und haben dort auf euch gewartet, genau, wie es … Shadow verlangt hat.« Das unmerkliche Stocken in seinen Worten, bevor er den Namen der El-o-hym aussprach, fiel mir auf. Aber ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt. Es gab Momente, da war es einfach leichter, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Manchmal konnte man die Wirklichkeit einfach verleugnen. Wenn auch nicht für lange.
»Und?«, fragte ich, als Bill nicht von sich aus weitersprach.
»Ixmals Leute und wir haben wechselweise Wache gehalten«, fuhr Cody mit einem Achselzucken fort. »Einer von seinen Indianern entdeckte Sitting Bull, Priscylla und dich vor zwei Tagen, ein paar Meilen von hier. Und mehr tot als lebendig.« Er seufzte, ließ sich auf dem Rand meiner Pritsche nieder und sah mir einen Moment lang sehr ernst in die Augen. »Du warst mehr tot als lebendig, Junge«, fuhr er fort. »Sitting Bull erzählte, dass du das Mädchen die ganze Strecke getragen hast. Mehr als dreißig Meilen.«
»Das ist unmöglich«, widersprach ich lahm.
Cody nickte. »Ich weiß. Und trotzdem hast du es getan. Du musst sie wirklich verdammt lieben.« Er lächelte, aber irgendwie wirkte es nicht sehr echt. So, wie seine Stimme jenen sonderbar befangenen Ton angenommen hatte, der verriet, dass ihm dieses Thema irgendwie unangenehm war, kaum dass er Priscylla das erste Mal erwähnt hatte.
Eine entsetzliche Angst stieg in mir auf.
»Was ist mir Priscylla?«, fragte ich. »Ist sie …«
»Sie lebt«, unterbrach mich Cody hastig. »Keine Angst. Annie hat sich um sie gekümmert. Es geht ihr gut. Körperlich wenigstens«, fügte er rasch hinzu.
»Wo ist sie?«, fragte ich. »Ich muss zu ihr!«
»Du musst überhaupt nichts«, widersprach Bill streng. »Alles, was du musst, ist dich auszuruhen, und das für die nächsten Tage. Und -«
Ich hörte gar nicht mehr hin, sondern stemmte mich, seine Schulter als Stütze missbrauchend, in die Höhe, blieb einen Moment schwankend stehen und ging mit unsicheren Schritten auf den Zeltausgang zu. Cody fluchte, sprang wütend in die Höhe und machte Anstalten, mir den Weg zu vertreten. Aber dann tat er es doch nicht, sondern presste nur ärgerlich die Lippen aufeinander und stapfte vor mir aus dem Zelt.
Licht und Hitze trafen mich wie ein Hieb, als ich ins Freie trat. Das kleine Lager schmiegte sich in den Windschatten eines gewaltigen, von Erosion und Jahrtausenden glatt geschmirgelten Felsbrockens, aber die Sonne stand nahezu senkrecht über uns und nirgendwo war ein Luxus wie Schatten zu gewahren. Die Luft war so heiß, dass ich das Gefühl hatte, durch unsichtbaren klebrigen Sirup zu gehen, und in meinem Kopf machte sich fast sofort wieder ein starkes Schwindelgefühl bemerkbar.
Cody deutete stumm auf ein kleines Zelt, das nur wenige Schritte entfernt stand, ein bisschen schräg und eng an die geborstene Flanke des Felsen gepresst, ging hin und hielt die Plane vor dem Eingang zurück, damit ich hindurchtreten konnte.
Sein Inneres war ein wenig geräumiger als das, in dem ich aufgewacht war, aber daran verschwendete ich nicht einmal einen Blick. Auch nicht an Annie, die mit dem Rücken zur Tür auf einem unbequemen Hocker saß und bei meinem Eintreten aufsah, oder Lance Postlethwaithe, der mich durch seine zerkratzte Brille erfreut anblickte und ein Lächeln auf seine zerknitterten Züge zauberte. Mein Blick hing wie gebannt an der schlanken Mädchengestalt auf dem Bett zwischen den beiden.
Ich hatte gewusst, was ich sehen würde, und eigentlich war es nicht einmal so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Trotzdem ließ mich der Anblick aufstöhnen.
Priscylla lag schlafend auf dem Bett, in einer Haltung wie ein ungeborenes Kind, auf der Seite, die Knie fest an den Körper gezogen und die linke Hand zur Faust geballt, in die sie hineingebissen hatte, die andere auf dem Einband des entsetzlichen Buches, mit dem ihr Geist untrennbar verbunden war.
Von allem war es vielleicht der Anblick des NECRONOMICON, der mich am härtesten traf. Das Buch kam mir vor wie Materie gewordener Hohn, ein letztes, böses Erbe, das Necron zurückgelassen hatte, um mich noch über seinen Tod hinaus zu quälen. Langsam trat ich an das schmale Bett heran, streckte die Hand aus, wie um Priscyllas Haar zu streicheln, und führte die Bewegung dann nicht zu Ende. Irgendetwas hielt mich davon ab, sie zu berühren, so lange sie dieses entsetzliche Buch bei sich hatte.
»Sie lebt«, murmelte Annie, die mein Erschrecken wohl falsch gedeutet hatte.
»Ich weiß«, antwortete ich. »Ist sie … erwacht?«
»Ein paar Mal«, antwortete Postlethwaithe an Annies Stelle. »Aber sie war …« Er zögerte, tauschte einen raschen, fast flehenden Blick mit Bill und rettete sich in ein verlegenes Lächeln. »Ein wenig verwirrt«, führte er den Satz schließlich zu Ende.
Ein wenig verwirrt … Seine Worte klangen wie böser Spott hinter meiner Stirn nach. Priscylla war nicht ein wenig verwirrt – sie war schlichtweg nicht bei Sinnen – und genau das war es gewesen, was Lance wirklich hatte sagen wollen. Ihr Geist war in Abgründen des Wahnsinns gefangen und stand Höllenqualen aus, schlimmer als jemals zuvor. Necron hatte sich an mir gerächt. Und wie er sich gerächt hatte!
Bill Cody räusperte sich hörbar. »Wir … müssen über sie reden«, sagte er stockend.
»So?« Ich drehte mich um. »Warum?«
»Wir können nicht hier bleiben, Robert«, fuhr Bill fort. »Unsere Vorräte gehen allmählich zur Neige und Ixmal und seine Männer wollen wieder zurück zu ihrem Stamm.« Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment wurde die Zeltplane erneut zurückgeschlagen und Sitting Bull trat gebeugt herein. Er sah müde aus und ging mit kleinen, schleppenden Schritten; zum ersten Mal sah er wirklich so alt aus, wie er sein musste, dachte ich. Aber die letzten Tage waren auch für ihn eine Tortur gewesen. Mich hatten sie fast umgebracht und Sitting Bull war drei Mal so alt wie ich. Es war ein Wunder, dass er noch lebte.
Ich verscheuchte den Gedanken und wandte mich wieder an Bill. »Und wo liegt das Problem?«, fragte ich scharf. Ich wusste ganz genau, worauf Buffalo Bill Cody hinaus wollte. Aber ich wollte es aus seinem Munde hören.
»Es ist dieses Buch, Robert«, sagte Annie plötzlich. »Sie fängt an zu schreien, wenn wir versuchen, es ihr wegzunehmen.«
»Ich weiß«, antwortete ich, ohne sie auch nur anzusehen. »Ihr würdet sie umbringen, wenn ihr es tätet.«
»Aber wir können es nicht mitnehmen«, sagte Sitting Bull leise. Er deutete auf das Buch. »Ich spüre das Böse«, fuhr er fort. »Und die anderen auch. Es ist falsch, es mitzunehmen.«
Für Sekunden starrte ich ihn nur an, aber wie immer hielt Sitting Bull meinem Blick ruhig stand und wie immer war ich es, der das stumme Duell schließlich verlor und den Blick senkte. Aber nur für einen Augenblick. Dann sah ich wieder auf Priscyllas bleiches, leicht verzerrtes Gesicht, ein Gesicht, in das der Wahnsinn seine Krallen geschlagen hatte und hinter dem ihr Geist einen verzweifelten – und wahrscheinlich aussichtslosen – Kampf gegen die Kräfte dieses verfluchten Buches kämpfte, und plötzlich war alles, was ich noch fühlte, Zorn. Eine rasende, ziellose Wut. Das Mädchen, dem meine ganze Liebe gehörte, das vielleicht der einzige Grund war, aus dem mein Leben noch so etwas wie Sinn hatte, lag vor mir, verletzt und leidend und hilflos; und er verlangte von mir, dass ich sie zurückließ, wie ein lebloses Ding, das seinen Dienst getan hatte und nicht mehr gebraucht wurde!
»Nein!«, sagte ich entschieden. »Sie kommt mit. Und wenn ich sie den ganzen Weg nach New York zurück tragen muss.«
Sitting Bull nickte. Er hatte wohl nichts anderes erwartet.
»Und das Buch?«
»Auch«, erwiderte ich zornig. Hielt mich Sitting Bull für einen kompletten Narren? Priscylla würde sterben, wenn ich sie aus der Nähe des NECRONOMICONS entfernte, mindestens aber vollends den Verstand verlieren.
Cody wollte auffahren, aber Sitting Bull legte ihm rasch die Hand auf die Schulter und trat einen weiteren Schritt auf mich zu. »Ich spüre böse Dinge, die geschehen, Blitzhaar«, sagte er, sehr ernst und in fast beschwörendem Ton. »Dieses Buch muss vernichtet werden. Es stinkt nach übler Magie. Die Geister sind in Aufruhr.«
»Er hat Recht, Bob«, sagte Cody. »Sogar ich fühle mich … unwohl, wenn ich in seiner Nähe bin. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem verdammten Ding. Wir sollten es verbrennen. Oder vergraben, so tief, dass es nie wieder gefunden werden kann.«
»Versuche es«, sagte ich ruhig. Ich trat einen Schritt zurück, stellte mich in drohender Haltung vor Priscyllas Liege und hob die Arme vor die Brust. »Versucht es«, sagte ich noch einmal. »Aber vorher müsst ihr mich erschießen.«
Im Grunde machte ich mich mit diesen Worten nichts anderes als lächerlich – ich war kaum in der körperlichen Verfassung, Cody oder Sitting Bull oder auch nur Annie Oakley ernsthaft aufzuhalten. Aber sie schienen zu spüren, dass ich es ernst meinte. Keiner von ihnen rührte sich auch nur von der Stelle.
»Da ist noch etwas, Robert«, sagte Annie plötzlich.
»So?« Ich funkelte sie zornig an. »Und was?«
»Ixmal«, antwortete Annie. »Er und seine Männer weigern sich, weiter bei uns zu bleiben, solange wir dieses … dieses Buch haben.«
»Dann jagt sie doch zum Teufel!«, antwortete ich wütend. Dann fuhr ich herum, stieß Cody grob beiseite und stürmte aus dem Zelt, so schnell ich konnte.
Eine Nacht und einen Tag lang hatten die vier Körper reglos dagelegen. Sie waren aufgebahrt worden, die Hände über der Brust verschränkt, das Zeremonienschwert umfassend, das sie zu Lebzeiten an den Seiten getragen hatten, und die Gesichter sorgsam mit weißen, geweihten Tüchern abgedeckt, damit niemand sah, wie entsetzlich sie sich verändert hatten.
Vier Männer, die zu den Mächtigsten gehört hatten, die jemals dem Orden der Tempelherren dienten:
Herzog Botho von Schmid, der Animal-Master.
Nies van Velden, Desert-Master des Ordens.
André de la Croix, Storm-Master der Templer.
Und Sir Rupert Hayworthy, der War-Master.
Sie alle waren tot, geopfert, um – vielleicht – die Welt zu retten und das Ungeheuer zu füttern, das Jean Balestrano beschworen hatte, Necrons Drachenburg zu zerstören.
Die Hand voll überlebender Templer, die in der Ruine des Kastells zurückgeblieben waren, wären entsetzt gewesen, hätten sie gesehen, auf welch Grauen erregende Weise sie sich verändert hatten, ehe sie starben, aber Balestrano hatte strengsten Befehl gegeben, dass niemand den kleine Raum am westlichen Ende der Ruine betrat, ganz gleich, was geschah.
Und deshalb bemerkte auch niemand, wie sich das weiße Tuch über von Schmids Gesicht ganz sacht zu bewegen begann.
Es war wirklich nur eine ganz leise Bewegung; ein kaum wahrnehmbares Flattern, ein sanftes Heben und Senken, als spiele der Wind mit dem feinen seidenen Gewebe.
Aber es war nicht der Wind …
Ich war ein Stück weit aus dem Lager gelaufen, wieder hinein in die Öde der Mojave, der ich gerade erst entkommen war, ehe sich mein Zorn so weit gelegt hatte, dass ich wenigstens stehen bleiben konnte. Der kleine, vernünftig gebliebene Teil meines Selbst sagte mir, dass ich auf dem besten Wege war, mich selbst umzubringen und schleunigst ins Lager und den Schutz meines Zeltes zurückkehren sollten, und in meinem Kopf machten sich schon wieder Schwindel und Übelkeit bemerkbar, untrügliche Zeichen eines beginnenden Sonnenstiches. Aber ich war viel zu aufgewühlt, um auf so etwas wie Vernunft zu hören. Die einzige Konzession, zu der ich überhaupt bereit war, war mir einen Felsen zu suchen und mich in seinem Schatten niederzuhocken. Ins Lager ging ich nicht zurück.
Ich weiß nicht, wie lange ich dasaß und aus brennenden Augen in die Einsamkeit der Mojave hinausstarrte – eine halbe Stunde sicherlich, vielleicht auch eine ganze. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, während der meine Gedanken im Kreise irrten und die Verzweiflung in mir immer stärker und stärker wurde, hörte ich Schritte und ohne dass ich auch nur aufsah, wusste ich, dass es Sitting Bull war, der mir nachgekommen war, wahrscheinlich, um mir ins Gewissen zu reden oder irgendetwas ähnlich Schwachsinniges.
»Was willst du?«, fragte ich grob.
Der alte Sioux antwortete nicht. Stattdessen ließ er sich mit einem leisen Ächzen neben mir in den Schatten des Felsens sinken, lehnte den Kopf gegen den heißen Stein und hielt mir eine Feldflasche entgegen. »Trink«, sagte er. »Du musst durstig sein.«
Im ersten Moment hatte ich nicht übel Lust, ihm die Flasche aus der Hand zu schlagen, und wäre statt seiner Annie oder Bill Cody gekommen, hätte ich es wahrscheinlich getan. Aber dann begriff ich, dass es kein Stolz oder gar gerechter Zorn war, was ich empfand, sondern nur kindlicher Trotz. Ich nahm die Flasche, schraubte den Verschluss ab und trank einen großen Schluck. Das Wasser war warm und schal, aber es tat gut.
»Du solltest nicht hier sitzen«, sagte Sitting Bull ernst. »Du bist jung und stark, aber du bist auch noch sehr geschwächt. Du wirst dich umbringen.« Er lächelte. »Das wäre sehr schade, Blitzhaar. Ich habe mich sehr anstrengen müssen, dich zu heilen.«
»Zum Teufel, was willst du?«, fauchte ich. »Ich bin nicht in der Laune, Konversation zu machen.«
Sitting Bull lächelte noch immer, aber jetzt wirkte es auf unbestimmte Art traurig. »Du liebst sie noch immer, nicht wahr?«, fragte er plötzlich.
»Sollte ich das nicht?«, entgegnete ich. »Es war nicht ihre Schuld, Sitting Bull. Necron hat sie gezwungen. Sie ist diesem Buch verfallen, aber sie … sie kann nichts dafür, verdammt noch mal!«
»Vielleicht hast du Recht«, sagte Sitting Bull ernst. »Aber ich spüre das Böse, das in ihr ist.«
»Was du spürst, ist dieses verfluchte Buch!«, sagte ich wütend. »Es ist nicht ihre Schuld!«
»Der Kranke, der die Pest in die Stadt bringt, ist auch unschuldig«, antwortete Sitting Bull sanft. »Und trotzdem jagt man ihn davon.«
»Was willst du?«, fragte ich zornig. »Bist du hier, um mich davon zu überzeugen, dass wir Priscylla zurücklassen müssen? Du verschwendest deine Zeit.«
»Wir hätten sie niemals hierherbringen dürfen«, antwortete Sitting Bull. »Ich mache mir Vorwürfe, es zugelassen zu haben.« Er senkte den Blick, klaubte eine Hand voll Sand auf und ließ ihn durch die Finger rinnen, als er weitersprach. »Vielleicht hast du Recht und sie ist unschuldig. Und vielleicht wäre es eine Gnade für sie, würden wir sie … erlösen.«
»Umbringen, meinst du«, fauchte ich. »Schlag dir das aus dem Kopf, Sitting Bull. Sonst tue ich es.«
Sitting Bull lächelte nicht. »Du liebst sie«, stellte er fest. »Und jetzt glaubst du, wir würden das nicht verstehen. Aber du irrst, Blitzhaar. Auch ich habe einmal geliebt, sehr sogar. Hast du das vergessen?«
Ich antwortete nicht, und so fuhr Sitting Bull fort: »Du bist verzweifelt, Robert. Du hast einen Kampf gekämpft – und vielleicht war es der Kampf deines Lebens; und du hast ihn gewonnen, aber jetzt -«
»Gewonnen?« Ich musste an mich halten, nicht zu schreien. »O ja«, sagte ich bitter. »Und wie ich gewonnen habe. Shadow ist tot und Shannon ebenfalls, und jetzt -«
»Und jetzt verlangen wir von dir, das Letzte zurückzulassen, was dir geblieben ist«, unterbrach mich Sitting Bull. Er lächelte. »O ja, ich kann dich verstehen. Sehr gut. Du denkst, dein Leben hätte keinen Sinn mehr, wenn du dieses Mädchen verlierst. Du denkst, du hättest genug bezahlt, für deinen Sieg. Du denkst -«
»Ich denke«, unterbrach ich ihn kalt, »dass du nicht weißt, worüber du redest, Häuptling. Ich habe diesen Kampf gekämpft, weil ich Priscylla befreien wollte. Ich bin hierher gekommen, weil Necron sie entführt hat, weil ich sie liebe und weil ich sie wiederhaben wollte, aus keinem anderen Grund.«
»Weil du sie liebst.« Sitting Bull nickte. Dann lächelte er. Aber seine Augen blieben ernst. Es war ein Ausdruck darin, der mir nicht gefiel. »Was liebst du, Robert?«
»Was … was meinst du?«, antwortete ich verwirrt.
»Du liebst diese Frau, gut«, erwiderte Sitting Bull. »Aber ich frage dich, was du liebst. Ihren Körper? Ihr Haar? Ihr Gesicht? Ihre Lenden? Ihre Brüste? Ihr -«
»Hör auf!«, unterbrach ich ihn. Meine Stimme zitterte vor Erregung. »Sprich nicht von ihr wie … wie von …«
»Von einem Stück Fleisch?« Sitting Bull lachte ganz leise. »Aber mehr ist sie nicht mehr, Blitzhaar. Du liebst sie, das Mädchen, das sie einmal war. Aber das ist sie nicht mehr. Sie ist nur noch ein Körper. Ein Ding, das atmet und isst und trinkt und ausscheidet, aber mehr nicht. Das Mädchen, das du kennen gelernt hast, gibt es nicht mehr. In ihr ist …« Er suchte einen Moment nach Worten. »Kälte. Ich spüre nichts als Leere und Kälte.«
»Hör auf!«, sagte ich. »Hör sofort auf, oder ich –«
»Oder was?« Sitting Bulls Blick wurde hart. »Willst du mich schlagen? Tu es, wenn es dich erleichtert. Ich werde mich nicht wehren.« Er breitete die Arme aus. »Tu es. Du wirst feststellen, dass sich die Wahrheit nicht erschlagen lässt.«
Plötzlich kam ich mir schäbig vor, diesem alten, erschöpften Mann gedroht zu haben. Ohne Sitting Bull wäre ich nicht mehr am Leben und Priscylla wahrscheinlich auch nicht mehr. Betreten senkte ich den Blick.
»Verzeih«, sagte ich. »Ich … es tut mir Leid.«
Sitting Bull lächelte. »Schon gut. Manchmal sagt jeder Dinge, die er besser nicht ausgesprochen hätte. Komm mit mir zurück ins Lager. Wir müssen reden.«
»Es gibt nichts zu reden«, antwortete ich. »Ich trenne mich nicht von Priscylla.«
»Auch nicht, wenn es dein Tod wäre?«
»Auch dann nicht«, antwortete ich. »Aber das wird nicht geschehen. Ich werde ihr helfen.«
»Und wie?«, fragte Sitting Bull milde. »Du kannst das NECRONOMICON nicht zurücklassen, ohne dass sie stirbt. Und du kannst dieses Buch nicht mitnehmen, Robert.«
»Ach?«, fragte ich böse. »Kann ich nicht?«
Sitting Bull schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er sehr ernst. »Ich werde es verhindern. Und Annie und Cody und die anderen auch. Wir haben darüber gesprochen, als du geschlafen hast.«
»Wie nett, dass ich wenigstens erfahre, dass ihr über meine Angelegenheiten redet, wenn ich nicht dabei bin«, fauchte ich.
»Es sind nicht deine Angelegenheiten«, belehrte mich Sitting Bull sanft. »Nicht, wenn das Leben zahlloser Unschuldiger auf dem Spiel steht.« Er schwieg einen Moment, um seinen Worten das gebührende Gewicht zu verleihen, dann fuhr er, noch immer sehr leise, aber in verändertem Tonfall, fort: »Ich bin gekommen, um dir einen Vorschlag zu machen, Blitzhaar. Wir wussten, wie deine Antwort ausfallen würde, und wir haben darüber geredet. Wir werden dir helfen.«
»Helfen?«, fragte ich böse. »Wobei? Wollt ihr knobeln, wer von euch Priscylla umbringt, damit ich es nicht tun muss?«
Sitting Bull ignorierte meine Worte. »Du bist ein Mann von großer magischer Macht«, fuhr er ruhig fort. »So wie auch ich über Dinge weiß, die anderen verborgen sind, und auch Ixmal. Er und ich und du, wir werden versuchen, den Geist des Mädchens vom Einfluss dieses Buches zu trennen. Nur einmal«, fügte er rasch und mit erhobener Stimme hinzu, als ich aufblickte. »Ein Versuch, Robert, nur ein einziger Versuch. Schlägt er fehl …«
Er sprach nicht weiter, aber das war auch nicht nötig. Wenn dieser eine Versuch fehlschlug, würde es nichts mehr geben, was zu retten ich versuchen konnte, das wusste ich und er wusste, dass ich es wusste. Aber hatte ich eine Wahl?
»Du … verlangst viel, Häuptling«, sagte ich stockend. »Und es könnte … gefährlich sein. Auch für dich.«
»Ich weiß«, antwortete Sitting Bull leise. »Manchmal ist der Preis dafür hoch, einen Freund zu haben. Willst du es tun?«
»Wann?«
»Heute Nacht«, antwortete Sitting Bull. »Du wirst jetzt zurückgehen in dein Zelt und ich werde dir einen Trank geben, der deine Kräfte zurückkehren lässt. Heute Nacht, wenn der Mond am Himmel steht und die Macht der Geister am größten ist, werden wir es versuchen.«
Die Macht der Geister, wiederholte ich in Gedanken. Und dabei hoffte ich inbrünstig, dass Sitting Bull genau wusste, von welchen Geistern er sprach.
Es dämmerte, als Balestrano zurückkehrte. Das schwächer werdende Licht des Tages verlieh der Burgruine etwas Gespenstisches: Alles schien genau anderes herum zu sein, als es sein sollte – die Schatten waren wie finstere Mauern, hinter denen sich Dinge bewegten, die sich nicht bewegen sollten, und die Schritte der Männer neben ihm kamen ihm irgendwie irreal vor. Das Wispern des Windes hatte etwas vom Geheul schattiger großer Wölfe, und dort, wo noch Licht war, war … irgendetwas.
Balestrano blieb stehen, blinzelte ein paar Mal, um den verwirrenden Effekt zu verscheuchen, und fuhr sich schließlich mit dem Handrücken über die Augen. Das Fremde, Beunruhigende, das sich in den Winkeln der Wirklichkeit eingenistet hatte, blieb trotzdem. Aber vielleicht war es auch nur Müdigkeit. Er war erschöpft und müde und enttäuscht und sein gebrochener und nur hastig geschienter Arm schmerzte fast unerträglich. Sie hatten weder Necron noch Robert Craven gefunden, dafür aber eine Menge anderer Dinge, die Balestranos düstere Vorahnungen vom Morgen annähernd zur Gewissheit hatten werden lassen. Die Ruine der Drachenburg war vollgestopft mit Dingen voller übler Magie, gefährlichen Dingen, die vernichtet werden mussten, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wie. Nein – er war nicht unbedingt in der Verfassung, über einen Schatten nachzudenken, der vermutlich nur seiner überreizten Phantasie entsprungen war.
»Fühlt Ihr Euch nicht wohl, Bruder Jean?«
Die Stimme des Kriegers riss Balestrano abrupt in die Wirklichkeit zurück. Er nahm die Hand herunter, lächelte verlegen und atmete hörbar ein. »Nein«, gestand er. »Ich bin müde und mein Arm schmerzt. Und wir sollten nicht hier sein.«
Der Templer – ein dunkelhaariger, breitschultrig gebauter Mann, nur wenig jünger als Balestrano, aber mit den kräftigen Händen eines Kriegers – nickte. »Dieser Ort macht mir Angst«, sagte er leise. »Wie lange bleiben wir noch hier?«
»Nicht mehr lange«, erwiderte Balestrano nach kurzem Überlegen. »Wir … wir brechen morgen auf, gleich bei Sonnenaufgang. Ich werde andere schicken, die Ruine zu bewachen. Ihr habt alles getan, als ich verlangen konnte.« Irgendwie kam er sich bei diesen Worten schäbig vor. Die meisten Kameraden des Kriegers, der vor ihm stand, hatten ihr Leben gegeben – und das war verdammt viel mehr gewesen, als er verlangen konnte.
Und wozu?, dachte er bitter. Nur um einen machtlüsternen alten Mann zu schlagen, der mit seinem Tun mehr Unheil heraufbeschworen hatte, als irgendeiner von ihnen jemals erfahren würde.
»Lass alles für den Abmarsch vorbereiten«, sagte er. »Wir brechen bei Sonnenaufgang auf. Die Männer sollen nur ein wenig Wasser mitnehmen, sonst nichts. Alles andere ist ersetzbar.«
Der Templer nickte. Es gelang ihm nicht ganz, seine Erleichterung zu verbergen. Keiner von ihnen fühlte sich wohl an diesem Ort. Selbst hier, eine halbe Meile unter der Ruine der Drachenburg, war ihre verfluchte Magie noch überdeutlich zu spüren, wie ein durchdringender Gestank, der die Luft verpestete.
»Soll ich Euch begleiten, Herr?«, fragte der Krieger, als sich Balestrano umwandte und mit schleppenden Schritten auf die Turmruine zuging. Für einen Moment war Balestrano versucht, das Angebot anzunehmen. Er war so müde. So unendlich müde. Ein stützender Arm hätte gut getan. Aber dann dachte er an das, was in den zerborstenen Überresten des Turmes auf ihn wartete, und schüttelte den Kopf. Keiner durfte sehen, was dort war. Dieses Geheimnis würde er mit in sein Grab nehmen. Und vielleicht darüber hinaus.
Balestrano war mit seinen Kräften am Ende, als er den halb niedergebrochenen Eingang des Turmes erreichte und das Gebäude betrat. Sein Herz jagte, als wolle es zerspringen, und jede noch so kleine Bewegung jagte flammende Schmerzpfeile durch seinen Arm und bis in die Schulter hinauf. Das Licht war schon schwach hier drinnen und im ersten Moment hatten seine Augen Mühe, überhaupt etwas zu erkennen. Trotzdem hielt er den Blick fast krampfhaft von den vier weiß verhüllten Körpern abgewandt, die in einer Ecke des kleinen Raumes lagen. Er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie da waren. Sie würden immer da sein, ganz gleich, wie lange er noch lebte und wie weit er vor ihnen floh. Heute Nacht, wenn er sicher war, dass die anderen schliefen und ihn niemand überraschen konnte, würde er sie einbalsamieren und ihre Körper so zurecht machen, dass niemand das Entsetzliche sah, das mit ihnen geschehen war, und am nächsten Morgen, ehe sie aufbrachen, würden die vier beigesetzt werden, hier, an dem Ort, an dem sie gestorben waren. Und trotzdem würden sie ihn verfolgen, das wusste er. Er würde sie im Traum sehen. Ihre vor Entsetzen und Qual zu Grimassen gewordenen Gesichter würden ihm entgegenstarren, wenn er die Heilige Messe las und in den Becher mit Messwein blickte, ihr Grinsen würde ihn durch die Zeilen der Bibel hindurch anstarren, ihr Kichern würde aus den Schatten erklingen, das – Balestrano fuhr wie unter einem Schlag zusammen.
Das Kichern entsprang nicht seiner überreizten Phantasie.
Es war Wirklichkeit!!!
Aus vor Entsetzen schier aus den Höhlen quellenden Augen starrte Balestrano in die Dunkelheit hinein. Der Raum war finster, erfüllt von wabernden Schatten, die ihm plötzlich eine Winzigkeit zu dunkel vorkamen, vom flüsternden Raunen des Windes, in dem er mit einem Male düstere, höhnisch kichernde Stimmen zu hören glaubte, von raschelnder Bewegung, die nicht nur vom Wind aufgewirbelter Staub und Sand war …
Und dann sah er die vier Bahren.
Ein halb erstickter, würgender Laut entrang sich Jean Balestranos Kehle. Seine Hände begannen unkontrolliert zu zucken. Seine Augen weiteten sich so sehr, dass sie schmerzten. Speichel lief aus seinem Mundwinkel, ohne dass er es auch nur bemerkte.
Sie waren leer.
Die vier Bahren waren leer!!!!
Die Toten waren nicht mehr da.
Aber aus den Schatten erklang das Kichern weiter. Lauter diesmal, meckernd und hell und unendlich böse.
Balestrano wollte aufspringen, schreien, davonlaufen, aber er konnte nichts von alledem. Zum ersten Mal in seinem Leben spürte er wirklich, was das Wort Entsetzen bedeutete. Er war gelähmt vor Grauen, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen oder das unkontrollierte Zucken seiner Hände zu unterdrücken. Für einen Moment war er nur noch ein zitterndes Bündel aus Angst.
Dann erscholl das Kichern wieder und irgendwie brachte Balestrano die Kraft auf, seinen Blick von den leeren Bahren zu lösen und in die Richtung zu schauen, aus der der grässliche Ton kam.
Er sah einen Schatten. Nur einen Schemen, groß und irgendwie fransig und von den ungefähren Umrissen eines menschlichen Körpers. Er bewegte sich. Fahrig. Unsicher. Bewegungen wie die einer Spinne, dachte Balestrano entsetzt.
Mühsam, jeder Millimeter, den er seinen Körper in die Höhe zwang, eine Qual, stemmte er sich hoch, machte einen Schritt auf den Schatten zu und blieb wieder stehen, als sich dieser stärker bewegte. Etwas blitzte in der Dunkelheit wie ein Paar finsterer Augen, die das Licht reflektierten.
»Nun, Bruder?«, erscholl eine leise, unendlich verzerrte Stimme aus den Schatten. »Bist du überrascht, uns zu sehen?«
Balestrano stöhnte vor Angst, als er die Stimme hörte. Sie klang … nicht menschlich. Sie klang, als spräche ihr Besitzer mit den zerfetzten Stimmbändern eines Reptils. Und trotzdem erkannte er sie.
»Bruder … Bruder Botho?«, keuchte er.
Die Stimme antwortete mit einem meckernden Lachen. Der Schatten trat ein wenig näher an Balestrano heran, und für einen Moment schimmerte das Weiß seiner Kleidung wie ein satanisches Irrlicht in der Dunkelheit. Darüber ein Gesicht, das zum Albtraum geworden war. Schwarz und verzerrt und mit Grauen erregenden Zügen. Nicht mehr das Gesicht eines Menschen. Dann, als hätte er beschlossen, dass Balestrano – für diesmal – genug gesehen hatte, zog er sich wieder zurück.
»Baphomet«, stammelte Balestrano. »Du … du bist …« Er brach ab, atmete tief und hörbar ein und raffte an Mut zusammen, was ihm geblieben war. »Weiche von mir, Satan!«, rief er mit zitternder Stimme. »Du hast bekommen, was du wolltest. Mein Wort ist gehalten. Jetzt geh. Weiche von mir in die Abgründe der Hölle, aus denen du gekommen bist.«
Aber der Schatten wich nicht. Seine einzige Reaktion auf Balestranos Worte war ein neuerliches, abgrundtief böses Lachen.
»So leicht ist es nicht, Bruder Jean«, kicherte er. »O nein, so leicht nicht.«
Eine eisige Hand schien sich um Balestranos Schädel zu legen und langsam, aber unbarmherzig zuzudrücken. All sein Mut verließ ihn. Plötzlich hatte er nur noch Angst. Ganz entsetzliche Angst. »Wer … wer bist du?«, stammelte er.
»Nicht der, für den du mich hältst, Bruder«, kicherte der Schatten. »Nicht Baphomet. Dein kleines Geschäft mit ihm ist schon in Ordnung gegangen.« Wieder kicherte er. »O ja, das schon. Du hast ihm unsere Seelen versprochen und er hat sie bekommen. Hörst du sie schreien? Hörst du, wie sie dich verfluchen, Bruder Jean, dich, dem sie vertraut haben? Hörst du sie?«
Balestrano krümmte sich wie unter einem Hieb. »Hör auf!«, wimmerte er. »Töte mich, wenn du willst, aber hör auf!«
»Töten?« Diesmal war es kein Kichern, was der Schatten hören ließ, sondern ein meckerndes, widerwärtiges Lachen. »Töten?«, wiederholte er. »Aber nicht doch. Das könnte dir so gefallen, wie? Ein sauberes Geschäft und ein paar Albträume als Zugabe; und niemand erfährt je, was du getan hast. Und vielleicht gibst du dir dann selbst noch die Absolution und bist frei, ehe du stirbst. Aber so leicht ist es nicht. Nicht diesmal.«
»Wer … wer bist du?«, wimmerte Balestrano. »Wer bist du, wenn nicht Baphomet?«
»Aber du hast meinen Namen doch gerade selbst genannt«, sagte er Schatten mit übertrieben gespielter Verwunderung. »Ich bin dein Bruder Botho – oder das, was du aus mir gemacht hast. Ich bin tot.« Er kicherte. »Jaja, Bruder Jean. Ich bin tot, genau wie die drei anderen. Und trotzdem bin ich noch da. Ich werde immer da sein. Wir werden immer da sein. Solange du lebst. Wir warten auf dich. Morgen, wenn die Sonne aufgeht.«
Und damit verschwand der Schatten. Von einer Sekunde auf die andere spürte Balestrano, dass er nicht mehr da war.
Mit einem haltlosen Wimmern brach Jean Balestrano zusammen und begann zu weinen. Aber es half nichts.
Priscylla erwachte, als ich ins Lager zurückkam und das Zelt betrat. Das heißt, sie öffnete die Augen, und ihre Hände, die bisher reglos auf dem ledernen Einband des Buches gelegen hatten, begannen sich fahrig zu bewegen, ohne Ziel und abrupt und ruckartig, wie kleine, von bösartigem Eigenleben erfüllte Dinge. Ich erschrak fast selbst über diesen Gedanken, aber genau das war es, was ich in diesem Augenblick dachte, und mit einem Male glaubte ich auch zu verstehen, was es war, das Sitting Bull, Cody und die anderen meinten. Selbst mir fiel es schwer, mich Priscyllas Lager zu nähern und nicht mit einem angewiderten Laut zurückzuprallen. Mein Blick glitt über ihr Gesicht, suchte ihre Augen. Sie standen weit offen, sehr starr, ohne zu blinzeln, und es war kein Erkennen in ihrem Blick. Ihre Augen waren leer und wenn irgendwo dahinter noch so etwas wie ein klares Bewusstsein war, dann musste es tief, unendlich tief unter etwas anderem verborgen sein, etwas das …
Ach zum Teufel, warum gab ich es nicht zu?, dachte ich wütend. Schließlich hatte mir Necron gesagt, was er getan hatte, und selbst wenn nicht, hätte ich schon ein kompletter Idiot sein müssen, es nicht selbst zu sehen. Das Mädchen, das da vor mir lag, war nicht mehr Priscylla. Es war genau, wie Sitting Bull behauptet hatte: Sie war nicht mehr als eine leere Hülle, ein Körper, der von etwas ganz anderem beherrscht wurde als ihrem Bewusstsein. Was sie beherrschte, war kein Dämon, nicht der Geist einer Hexe, wie schon einmal, sondern etwas viel viel Schlimmeres. Die Macht dieses satanischen Buches. Die Macht, die Necron entfesselt hatte, und die nur er allein – und vielleicht nicht einmal er – wieder zu bannen imstande gewesen wäre. Aber Necron war tot und mit ihm waren alle Hoffnungen dahin, Priscylla jemals wieder aus dem Griff des Wahnsinnes zu befreien.
Der Gedanke war so entsetzlich, dass ich fast geschrien hätte, aber in diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dass Necron noch am Leben wäre. Am Leben und hier und in meiner Gewalt, sodass ich ihn zwingen konnte, Priscylla aus diesem unseligen Bann zu befreien.
»Komm jetzt, Robert«, sagte eine sanfte Stimme hinter mir. Ich drehte mich um, erkannte Annie und rang mich zu einem flüchtigen, aber ehrlich gemeinten Lächeln durch.
»Ist es so weit?«, fragte ich. »Zeit für die Henkersmahlzeit?«
Annie blieb ernst. »Ixmal und Sitting Bull sind … bereit«, sagte sie stockend. »Ich soll dich holen.« Sie trat an meine Seite, blickte einen Moment auf Priscylla herab und konnte ein Schaudern nicht ganz unterdrücken. Ich verstand nur zu gut, was sie spürte. Sie wollte nicht, dass ich sah, welchen Widerwillen ihr dieser Anblick bereitete, und ich war ihr dankbar für diesen Versuch, auch wenn er kläglich misslang. Aber ich nahm ihr ihre Gefühle nicht übel. »Was ihr vorhabt ist … gefährlich«, sagte sie nach einer Weile, ohne mich dabei anzusehen.
Ich nickte. »Es ist möglich. Vielleicht. Vielleicht ist es auch ganz einfach. Und vielleicht geht es auch gar nicht.«
»Und vielleicht sterbt ihr auch alle«, fügte Annie düster hinzu. »Oder werdet wie … wie sie.«
Ja, dachte ich. Und vielleicht war dann alles vorbei. Der Gedanke schreckte mich nicht mehr; ganz im Gegenteil. Beinahe sehnte ich mich danach, endlich die Augen schließen zu können, für immer. Sitting Bulls Worte klangen hinter meinen Schläfen nach, so deutlich, als spräche er sie unmittelbar neben mir noch einmal aus. Ich hatte den Kampf meines Lebens gekämpft und ich hatte ihn gewonnen. Und langsam, ganz langsam begann die Erkenntnis in mir aufzukeimen, dass der Sieg zu teuer erkauft gewesen war.
Aber ich sprach nichts von alledem aus, sondern wandte mich ohne ein weiteres Wort um und verließ das Zelt. Sitting Bull und Ixmal erwarteten mich bereits, wie Annie es gesagt hatte. Ixmal blickte mich nicht an und als ich auf ihn zuging, fiel mir auf, dass er sich fast krampfhaft bemühte, nicht in die Richtung des Zeltes zu sehen, in dem Priscylla lag. Auch auf Sitting Bulls Zügen hatte sich ein sonderbarer, nicht zu deutender Ausdruck breit gemacht. Von Cody oder Lance Postlethwaithe war keine Spur zu sehen.
Der Sioux-Häuptling hielt mir eine flache hölzerne Schale entgegen, als ich vor ihm stehen blieb. »Trink.«
Ich gehorchte. In der Schale war eine farblose Flüssigkeit, die nicht sonderlich gut schmeckte, aber ich leerte sie tapfer bis zur Neige, reichte Sitting Bull das Gefäß mit einem dankbaren Nicken zurück und trat in mein Zelt. Obgleich erst wenige Augenblicke vergangen waren, seit ich Sitting Bulls Trank getrunken hatte, glaubte ich mich bereits schläfrig zu fühlen. Matt ließ ich mich auf die Pritsche sinken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte die durchscheinende Zeltbahn über mir an.
Irgendwann schlief ich ein.
Das Feuer brannte sehr hoch und trotz der Kälte, die die Wüstennacht gebracht hatte, war seine Wärme schon fast unangenehm. Die Flammen schlugen dreifach mannshoch gegen den Himmel und Funken stoben wie Schwärme kleiner brennender Käfer weit in die Nacht hinaus, ehe sie erloschen oder sich auf die Trümmerlandschaft herabsenkten.
Trotzdem warf Redirant immer wieder Holz nach. Die Hitze trieb ihm den Schweiß auf die Stirn und seine Hände und sein Gesicht brannten, aber er wurde nicht müde, mehr und mehr Holz auf den brennenden Stapel zu werfen und das Feuer zu immer höherer Glut zu entfachen. Und keiner der beiden anderen, die mit ihm auf Wache waren, protestierte auch nur mit einem Wort gegen sein scheinbar sinnloses Tun, obgleich ihnen die Hitze so unangenehm sein musste wie ihm. Aber sie schienen wie er zu spüren, dass irgendetwas mit dieser Nacht nicht stimmte, und wie er drängelten sie sich Schutz suchend in den Kreis schattenloser blendender Helligkeit hinein, den das Feuer in die Nacht stanzte. Dahinter lastete Schwärze. Eine Finsternis von solch absoluter Allumfassenheit, wie sie keiner der drei Tempelherren jemals zuvor erlebt hatte. Und … ja, und noch etwas.
André Redirant verscheuchte den Gedanken, warf ein weiteres Scheit auf die prasselnde Glut und wischte sich gleichzeitig den Schweiß fort, den ihm die erbarmungslose Hitze auf die Stirn trieb.
Seine Augen tränten und schmerzten von der gnadenlosen Helligkeit, die das Feuer verbreitete; trotzdem sah er nicht weg, denn den Blick vom Feuer zu wenden hätte bedeutet, in diese grauenhafte Dunkelheit zu starren, die dahinter lauerte.
Für einen Moment musste der Tempelritter mit aller Macht gegen die Vorstellung ankämpfen, dass diese Dunkelheit mehr war als die Abwesenheit von Licht, sondern etwas Großes, Finsteres, das mit unsichtbaren Zähnen an der schwankenden Front nagte, die ihm das Licht entgegenwarf.
Mit aller Macht schüttelte er den Gedanken ab. Aber es gelang ihm nicht ganz. Etwas blieb. Irgendetwas war in dieser Dunkelheit, das wusste er einfach.
Nervös blickte er auf, sah zu den beiden anderen hinüber und bückte sich dann, um die halb geleerte Feldflasche mit seinem Wasser aufzuheben.
Er zögerte einen ganz kurzen Moment, ehe er trank. Die Nacht war noch nicht zu einem Drittel vorüber und sein Wasservorrat würde nicht reichen. Es gab zwar einen Brunnen, der wie durch ein Wunder nicht verschüttet worden war, als das Kastell zusammenbrach, aber er lag auf der anderen Seite des Hofes, hinter der Wand aus Finsternis und Angst, und er wusste, dass er nicht dorthin gehen konnte. Nicht um alles in der Welt. Aber dann trank er doch, verschloss die Flasche sorgsam wieder und ging zu den beiden anderen Kriegern hinüber.
Keiner von ihnen sprach, als er neben ihnen in die Hocke ging, aber das war auch nicht nötig. Sie spürten dasselbe wie er, das bewies allein ihr Hiersein. Sie hätten es nicht gedurft, so wenig, wie sie dieses gewaltige Feuer überhaupt hätten entzünden dürfen. Balestrano hatte sie bestimmt, über seinen und den Schlaf des knappen Dutzends anderer Überlebender zu wachen, die von ihrer so stolzen Armee übrig geblieben waren, und hätten sie sich nach seinem Befehl gerichtet, hätten sie an drei verschiedenen Punkten der Ruinenfestung stehen und in die Nacht hinauslauschen müssen, statt hier zu hocken und sich zitternd um das Feuer zu scharen. Zum ersten Mal, solange sich Redirant zurückerinnern konnte, missachtete er einen Befehl. Er konnte nicht anders. Am Morgen, wenn die anderen erwachten und sie aufbrachen, würde er zu Balestrano gehen und seine Verfehlung melden und er würde die Strafe dafür demütig tragen. Jetzt hätte er sich eher beide Hände abhacken lassen, als in die Dunkelheit hinauszugehen.
Wie zur Antwort auf seine düsteren Gedanken erscholl irgendwo auf der anderen Seite des Feuers ein helles, trockenes Knacken. Redirant und die beiden anderen fuhren zusammen. In einer einzigen, blitzschnellen Bewegung legten sich ihre Hände auf die Schwerter, die sie an den Seiten trugen.
»Was war das?«, flüsterte Redirant. Seine eigene Stimme kam ihm fremd vor, so sehr zitterte sie vor Furcht und nur mühsam unterdrücktem Entsetzen. Keiner der beiden anderen antwortete, aber für endlose Sekunden starrten sie wie er gebannt und aus weit aufgerissenen, schreckgeweiteten Augen in die Nacht hinaus und versuchten vergeblich, die Schwärze jenseits des Feuers mit Blicken zu durchdringen.
Dann wiederholte sich das Geräusch und es war sehr viel lauter diesmal: ein helles Knacken, wie das Brechen eines trockenen Zweiges unter einem Fuß. Und eine Sekunde später glaubte Redirant einen Schatten zu sehen.
»Wer ist da?«, rief er. »Melde dich!«
Der Schatten antwortete nicht, aber er blieb stehen: ein großer, finsterer Umriss, gerade an der Grenze des Sichtbaren. Der Umriss eines Menschen.
Redirant stand auf, zog sein Schwert aus dem Gürtel und begann das Feuer zu umkreisen, so eng, dass die Flammen fast seine rechte Seite berührten. Einer der anderen begann auf der gegenüberliegenden Seite auf den Schatten zuzugehen, während der dritte stehen blieb, die Waffe halb erhoben.
»Wer ist da?«, fragte Redirant noch einmal, sehr viel schärfer diesmal und mit einer Kraft in der Stimme, die ihm die Angst gab. Er hob das Schwert, machte einen Schritt auf die schattenhafte Gestalt zu und blieb wieder stehen. »Ich befehle dir …«, begann er. Aber dann sprach er nicht weiter, denn in diesem Moment löste sich der Schatten aus seiner unheimlichen Starre und trat seinerseits einen Schritt auf Redirant und das Feuer zu. Seine Gestalt erschien im hellen Lichtschein der Flammen und Redirant atmete hörbar erleichtert auf, als er sah, dass es keines der Ungeheuer war, die ihm seine zum Zerreißen gespannten Nerven vorgegaukelt hatten, und auch keiner der in schwarze Seide gekleideten Drachenkrieger Necrons, der von den Toten auferstanden war, um den Tod seiner Kameraden zu rächen, sondern einer seiner eigenen Kameraden. Das flackernde Weißorange des Feuers beschien ein zerfetztes weißes Zeremoniengewand, brach sich auf den silbernen Ringen des Kettenhemdes darunter und ließ das blutrote Kreuz auf der Brust des Mannes in unheimlichem Widerschein aufglühen.
Dann fiel Redirants Blick auf die Hände des Mannes und aus seinem erleichterten Aufatmen wurde ein ersticktes Keuchen.
Die Hände des Mannes waren schwarz.
Nicht dunkel von Schmutz oder geronnenem Blut, sondern schwarz, von einer Farbe, die das Licht aufzufressen schien, und es waren auch nicht die Hände eines Menschen …
Was Redirant sah, waren Krallen, raubvogelartig gekrümmte, lederhäutige Krallen, die in zolllangen, rasiermesserscharfen Nägeln endeten, viel zu oft geknickt, als hätten sie ein paar Gelenke zuviel, und von nässenden Warzen und Pusteln übersät. Und sie bewegten sich! Der Mann hielt die Hände vollkommen still, aber sie bewegten sich trotzdem, die Haut zuckte und bebte, zog sich zusammen und zitterte, als liefe eine Armee widerlicher kleiner Insekten darunter entlang.
Dann machte der Mann in der Templeruniform einen weiteren Schritt und nun lag auch sein Gesicht im hellen Lichtschein des Feuers. Redirant sah ihn an.
Er schrie.
Nur ein einziges Mal und nicht sehr lange oder sehr laut, aber in seinem Schrei lag alles Entsetzen der Welt; und noch ein bisschen mehr.
Das Gesicht des Mannes war …
Redirants Verstand weigerte sich, den Anblick als wahr zu akzeptieren. Etwas in ihm zerbrach, mit einem hörbaren, schmerzenden Laut. Von einer Sekunde auf die andere überschritt sein Geist die Schwelle zum Wahnsinn, verkroch sich wie ein zitterndes Tier hinter den Barrieren der Verrücktheit. Aus André Redirant, dem Tempelritter, der Zeit seines Lebens keine Gegner gefürchtet hatte, wurde ein sabbernder Idiot, innerhalb eines einzigen Augenblickes. Hinter ihm begannen die beiden anderen wie von Sinnen zu kreischen und aus den Augenwinkeln sah er, wie weitere Schatten aus der Nacht emporwuchsen, aber er registrierte es nur, unfähig, in irgendeiner Weise darauf zu reagieren.
Wie gelähmt starrte er das unmögliche Ding vor sich an. Aber irgendetwas in ihm, vielleicht der Instinkt, der Tiere dazu treibt, sich selbst zu verstümmeln, um aus einer Falle zu entkommen, irgendetwas wehrte sich noch. Der Mann mit dem Albtraumgesicht trat mit einem höhnischen Kichern auf Redirant zu und streckte seine schrecklichen Hände aus. Redirant schrie auf, prallte einen halben Schritt zurück und trat in die Flammen. Unter seinen Stiefeln zerbrach brennendes Holz. Flammen und Funken hüllten ihn ein und sein Wams begann fast augenblicklich zu brennen, aber er spürte den Schmerz nicht einmal. Blind vor Angst und von dem puren Willen erfüllt, einfach nur zu überleben, hob er sein Schwert und schlug nach dem entsetzlichen Wesen. Seine Klinge zerfetzte das Wams des Angreifers, biss tief in seine Seite und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der Mann fiel, versuchte mit wild rudernden Armen sein Gleichgewicht wiederzufinden und stürzte endgültig, als Redirant ihm einen Tritt versetzte.
Ohne einen einzigen Laut fiel er nach vorne, die Arme weit vorgestreckt, um den Sturz abzufangen – direkt in die lodernden Flammen hinein. Sein Körper verschwand bis zum Gürtel in der flammenden Hölle aus Feuer und Glut. Zerborstenes Holz und Funken stoben wie in einer lautlosen Explosion in die Höhe und senkten sich auf Redirant herab.
Aber er spürte auch diesen neuerlichen Schmerz nicht, denn sein Blick war noch immer wie hypnotisiert auf den Angreifer gerichtet.
Er blieb nicht liegen.
Die Temperaturen dort, im Herzen des gigantischen Scheiterhaufens, mussten hoch genug sein, Eisen zu schmelzen, aber der Mann mit dem Albtraumgesicht blieb nicht liegen!
Er bewegte sich, stemmte sich hoch und herum und stand wieder auf.
Das Vorderteil seines Gewandes und sein Haar waren fort, binnen Sekunden zu Asche zerfallen.
Das dünne Gewebe aus Eisenringen, das sein Kettenhemd bildete, glühte hier und da in düsterem Rot.
Grauer Dampf stieg von der entsetzlichen Gestalt hoch.
Ihre Hände brannten.
Redirants Schreie steigerten sich zu einem Stimmband zerreißenden Crescendo, als die Gestalt ein meckerndes Kichern hören ließ und mit ihren furchtbaren brennenden Händen nach ihm griff.
Aber nicht sehr lange.
Ixmal weckte mich lange nach Einbruch der Dunkelheit. Ich erwachte übergangslos, und das Erste, was ich fühlte, war ein Strom neuer, pulsierender Kraft, der durch meine Glieder floss. Ich spürte, dass ich nicht sehr lange geschlafen hatte, aber ich spürte auch, dass es ein sehr tiefer, ruhiger Schlaf gewesen war, der mir eine Menge der verloren gegangenen Kraft zurückgebracht hatte. Mit einem Ruck setzte ich mich auf, angelte nach Hemd und Hose und wollte Ixmal dankend zunicken, aber der junge Flötenmann hatte sich bereits herumgedreht und mein Zelt wieder verlassen. Ich konnte es ihm nicht einmal verdenken. Nach allem, was ich gehört und selbst gesehen hatte, war es schon fast ein Wunder, dass es Sitting Bull überhaupt gelungen war, ihn zur Teilnahme an dieser – nun, was auch immer – zu überreden.
Rasch zog ich mich fertig an, nahm nach kurzem Zögern auch meinen Stockdegen und Andaras Amulett an mich und verließ das Zelt.
Die gute Laune, die sich meiner bemächtigt hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase, als ich ins Lager hinaustrat.
Was noch am Tage ein ganz normales, eher ein bisschen zu klein geratenes Zeltlager gewesen war, hatte sich in etwas verwandelt, was zu beschreiben mir im ersten Moment die Worte fehlten.
Mein Zelt war das einzige, das stehen geblieben war; offensichtlich aus Rücksicht auf meinen Schlaf und die Ruhe, die ich dringend benötigte. Alle anderen Zelte waren abgebaut und ein gutes Stück weiter westlich neu aufgeschlagen worden, sodass am Fuße der Felsgruppe ein ovaler, leerer Platz entstanden war, hufeisenförmig eingefasst von zerborstenem grauem Stein und sorgsam freigeräumt. In einem der beiden Brennpunkte der auf diese Weise gebildeten Ellipse brannte ein Feuer, mehr als mannshoch und mit Flammen, die einen sonderbaren grünlichen Schein verbreiteten. In dem anderen befand sich Priscylla.
Sie lag noch immer auf der Pritsche, aber sie war jetzt darauf festgebunden worden und das improvisierte Möbel stand auch nicht mehr auf seinen vier Beinen, sondern war mit Hilfe einiger Felsbrocken fast senkrecht aufgestellt worden, sodass es im ersten Augenblick aussah, als stünde Priscylla vor mir, lässig gegen die Liege gelehnt und das Buch mit beiden Armen an sich gepresst. Aber als ich näher kam, sah ich, wie fest die dünnen Lederriemen angezogen waren, die sie hielten. Sie hatte immer noch nicht die Kraft – vielleicht auch nur nicht den Willen – von selbst zu stehen. Nur das Buch hielt sie mit verzweifelter Kraft fest. Ihr Gesicht war ausdruckslos wie immer, aber in ihren weit geöffneten Augen schimmerte der Beginn einer vagen, noch nicht ganz formulierten Angst.
Instinktiv wollte ich auf sie zugehen, aber Sitting Bull – der vor dem Zelt auf mich gewartet hatte, ohne dass ich ihn indes bisher überhaupt bemerkt hätte – vertrat mir rasch den Weg und schüttelte den Kopf. »Nicht«, sagte er. »Du wirst all deine Kraft brauchen, für das, was wir tun werden.«
Ich blieb stehen. Der Anblick Pris, die gefesselt und hilflos wie an einem barbarischen Marterpfahl vor mir stand, brach mir fast das Herz, aber ich wusste, dass der alte Sioux Recht hatte. Wenn wir überhaupt eine Chance hatten, etwas für Priscylla zu tun, dann nur, wenn wir es schnell taten.
Erst jetzt bemerkte ich, dass auch Ixmals Indianer herangekommen waren. Wie durch Zufall schlossen sie den begonnenen Halbkreis, den die Felsen um Priscylla und das Feuer bildeten. Ihre nackten Oberkörper reflektierten das Licht der Flammen, als wären sie mit Öl oder Fett eingerieben, und auf ihren Gesichtern prangte eine barbarische, rot-grün gemusterte Bemalung. Sie waren bewaffnet, wie ich mit einem raschen, unangenehmen Anflug von Furcht registrierte.
Beinahe Hilfe suchend sah ich mich nach Bill, Annie und Postlethwaithe um und entdeckte sie schließlich auch – auf der anderen Seite des Platzes und ein gutes Stück von Ixmals Kriegern entfernt. Codys Gesicht war ausdruckslos wie eine Maske aus Stein und er sah mich nicht an, während Annies Züge eindeutig Angst zeigten. Nur Postlethwaithe schien völlig in seinem Element zu sein: Er hüpfte unruhig von einem Bein auf das andere und rückte ununterbrochen seine Brille auf der Nase zurecht, wobei er immer wieder ein leises »Faszinierend!« hören ließ.
»Komm.« Sitting Bull ergriff mich am Arm und führte mich wie ein Kind in den Kreis aus Felsen und Indianern hinein. Ixmals Krieger schlossen sich hinter uns enger zusammen und nach einer Sekunde trat auch Ixmal selbst neben mich und den Häuptling. Als einziger Indianer trug er keine Waffe. Dafür glänzte in seiner zur Faust geschlossenen Rechten etwas Kleines, Weißes, das ich nach einer Sekunde als die Knochenflöte erkannte, mit der er den Drachen gerufen hatte. Das dumpfe Gefühl von Furcht in mir steigerte sich zu jähem Entsetzen. Nur noch mit Mühe konnte ich mich beherrschen, nicht loszuspringen, Priscyllas Fesseln zu zerschneiden und dem ganzen barbarischen Zirkus ein Ende zu bereiten.
Aber natürlich tat ich es nicht.
Zwei Schritte vor Priscylla blieben wir stehen. Sitting Bull ergriff meine und Ixmals Hände, tausche einen schweigenden Blick mit Ixmal, woraufhin der junge Indianer seine Flöte an die Lippen hob, die Augen schloss und einen einzigen, hellen Ton blies.
Ein eisiger Windstoß fuhr durch das Lager, ließ Staub wirbeln und die Flammen für einen Moment höher prasseln. Ich fuhr zusammen und ließ um ein Haar Sitting Bulls Hand los. Mein Herz begann schneller zu pochen. Irgendetwas geschah. Ich begann zu begreifen, dass nichts von dem, was ich hier sah, Zufall war. Sitting Bull und die anderen mussten mit der Beschwörung begonnen haben, als ich noch schlief. Wahrscheinlich hatten sie ganz bewusst bis zum letzten Moment gewartet, ehe sie mich weckten. Die Luft war geladen mit unsichtbarer knisternder magischer Energie.
Abermals blies Ixmal in seine Flöte. Ein sonderbar dünner, klagender Ton erscholl, schwang sich zu fast schmerzhaften Höhen auf und verklang. Aber etwas blieb zurück. Vielleicht, dachte ich schaudernd, war ein Drache nicht das Einzige, was Ixmal mit seiner Flöte herbeirufen konnte. Und vielleicht war er noch das Harmloseste …
Dann begann das Trommeln.
Ich war sicher, bei keinem der Indianer, die hinter uns standen, eine Trommel oder irgendein anderes Musikinstrument gesehen zu haben, aber die Nacht war plötzlich erfüllt von dumpfem, unheimlichem Trommelschlag, einem rhythmischen, unangenehmen Dröhnen, das an- und abschwoll, lauter und leiser wurde, schneller und langsamer, und mich ganz allmählich in seinen Bann zu ziehen begann. Ich spürte, wie mein Herz in den hämmernden Takt der unsichtbaren Trommel verfiel, mein Atem plötzlich im gleichen Auf und Ab erfolgte, ja, selbst meine Gedanken plötzlich wie in einem bizarren Versmaß dem Rhythmus der Trommeln gehorchte.
Sitting Bull begann zu summen. Gleichzeitig bewegten sich seine Beine und Arme im Takt der Pauken und auch meine eigenen Glieder begannen, ohne und fast schon gegen meinen Willen, rhythmische, stampfende Bewegungen auszuführen. Langsam, uns immer noch an den Händen haltend und dumpfe, fremdartige Töne im Takt der barbarischen Musik summend, begannen wir Priscylla zu umkreisen und nach und nach schlossen sich uns auch die anderen Indianer an, bis wir einen weit auseinander gezogenen, summenden, stampfenden Kreis bildeten, in dessen Mitte Priscylla war.
Wieder fauchte der kalte Wind über das Lager und diesmal schossen die Flammen zehn, zwölf Yards weit in die Höhe, ehe sie, wie gegen eine unsichtbare Wand geprallt, auseinander fächerten und ein brodelndes Pilzdach aus Flammen über dem ovalen Platz bildeten. Funken regneten auf uns herab und ein paar senkten sich auf meine Kleider, mein Haar, selbst mein Gesicht, aber ich empfand keinen Schmerz.
Sitting Bull begann zu singen und obgleich es Worte in einer Sprache waren, die ich noch nie zuvor gehört hatte, stimmte ich – wie alle anderen – nach wenigen Augenblicken in diesen Gesang ein. Für einen ganz kurzen Moment blitzte der Gedanke in mir auf, dass ich einen reichlich idiotischen Anblick bieten musste, wie ich so inmitten eines Kreises heulender Indianer wechselweise auf einem und dem anderen Bein auf und ab hüpfte und Worte aus einer uralten Indianersprache grölte, aber ich war unfähig, irgendwie auf diesen Gedanken zu reagieren. Der Rhythmus der Trommeln, der Gesang und das schwermütige Klingen von Ixmals Pfeife hatten mich vollends in ihren Bann geschlagen.
Zum dritten Mal fauchte der eisige Wind über den Platz und diesmal spürte ich, wie irgendetwas mit ihm kam, etwas entsetzlich Großes und Kaltes und Körperloses, das auf den Flügeln des Sturmes aus den Dimensionen des Wahnsinns in unsere Welt hinübertobte und aus unsichtbaren Flammenaugen auf uns herabstarrte.
In diesem Moment ließ Sitting Bull meine Hand los. Ich stolperte, vom Schwung meiner eigenen Bewegung nach vorne getragen, fand im letzten Moment mein Gleichgewicht wieder und torkelte einen Schritt auf Priscylla zu, begleitet von Sitting Bull und Ixmal, der noch immer seine Flöte blies. Hinter uns schloss sich der Kreis der tanzenden Indianer wieder. Ihr Gesang wurde lauter, der stampfende Rhythmus ihrer Schritte schneller und auch die Töne, die Ixmals Flöte in die Nacht schleuderte, klangen plötzlich anders, irgendwie gereizt, aggressiv. Auf der anderen Seite des Platzes loderte das Feuer zu wabernder Weißglut auf, bis das fünfzehn Schritte messende Oval wie im grellen Licht eines ganzen Scheinwerferbündels dalag. Es gab keine Schatten.
Direkt zwischen Priscyllas Füßen entstand eine Flamme. Sie war klein und weiß und von einem Kranz giftgrüner Helligkeit eingefasst, und obwohl ich noch weit von ihr entfernt war, spürte ich einfach, dass sie keine Hitze verströmte, sondern irgendetwas anderes, etwas unfasslich Fremdes und Böses. Eine zweite Flamme erschien aus dem Nichts, nur ein Stück von der ersten entfernt, dann eine dritte, vierte, fünfte, bis Priscylla gänzlich von einem Kranz handspannengroßer giftgrüner Feuerkinder eingekreist war.
Dann begann das Buch zu glühen. Das rissige Schwarzbraun seines Einbandes erstrahlte wie unter einem unheimlichen, inneren Licht und mit einem Male brach Helligkeit zwischen den pergamentenen Seiten hervor, die gleiche, giftig grüne Helligkeit, wie sie auch die Flammen verstrahlten; ein Licht, das sich konzentrierte, sich ausbreiten wollte und von irgendetwas Unsichtbarem zurückgeworfen wurde – und zu einem Band dünner peitschender Tentakel aus Licht wurde, das dicht unterhalb von Priscyllas Herzen in ihrem Körper endete!
Ich schrie auf, riss die Arme hoch und wollte auf Priscylla zuspringen, aber Sitting Bull riss mich mit erstaunlicher Kraft zurück und schlug mir die flache Hand ins Gesicht. »Nicht!«, schrie er. »Du verdirbst alles!«
Sein Hieb brachte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich begriff, dass das grausame Licht nichts anderes war als das, was ich auch durch Shannons Augen gesehen hatte, der magische Nervenstrang, der den Geist des NECRONOMICONS mit dem meiner geliebten Priscylla verband. Sitting Bulls Zauber musste dem Shannons sehr ähnlich sein. Und jetzt sah ich auch, dass nicht alle Energiefäden in Priscyllas Brust endeten. Vier dünne, peitschende Ranken aus Licht strebten von ihr fort, in östlicher Richtung, um in der Nacht zu verschwinden.
Hinter uns steigerte sich der Gesang der Indianer zu einem grässlichen Röhren und Brüllen, wie der Todesschrei eines großen finsteren Tieres, und Ixmal blies immer stärker in seine Flöte, mit der er jetzt quietschende, jaulende Töne produzierte.
Und wieder spürte ich die Anwesenheit uralter indianischer Magie, das Dasein von irgendetwas unglaublich Großem, Kaltem. Es war Macht, pure, destruktive Macht, die keines Körpers mehr bedurfte, und es war eine böse, alles vernichtende Macht, deren einziger Daseinszweck Zerstören war.
Und trotzdem war sie uns nicht feindlich gesonnen. Sie war nicht unser Freund, weil sie prinzipiell niemandes Freund war, aber sie war auch nicht gegen uns – und irgendwie spürte ich plötzlich, wie ein Teil dieser Macht in mich floss und sich mit meinen eigenen bescheidenen Kräften vereinigte.
»Jetzt!«, schrie Sitting Bull.
Im gleichen Moment ergriffen er und Ixmal mich wieder bei den Händen, und im gleichen Moment spürte ich, wie die Springflut magischer Energie auch ihre Geister überflutete, sich mit etwas darin vereinigte und zu einem tobenden Orkan wurde.
Ein elektrischer Schlag von hundert Millionen Volt schien meinen Körper zu treffen. Jeder einzelne Nerv in meinem Inneren flammte auf. Ich schrie, krümmte mich und riss instinktiv die Hände in die Höhe, die Finger gespreizt und in einer fast beschwörenden Geste gegen Priscylla und das Buch gerichtet. Rechts und links von mir vollführten Ixmal und Sitting Bull die gleichen, absurden Bewegungen.
Und langsam, ganz ganz langsam gelang es mir, die fürchterlichen Ströme tödlicher Macht, die mich verbrennen wollten, zu leiten, sie zu kanalisieren und mich ihrer zu bedienen.
Ich schleuderte sie gegen das Buch.
Es war ein Moment absoluten Entsetzens. Ich war Teil dieser grässlichen Energien und ich spürte, wie sie in das NECRONOMICON eindrangen und auf irgendetwas trafen, etwas Finsteres und auf entsetzliche Weise Lebendiges, das darin lauerte, eine schleimige graue Spinne in einem Netz aus Dunkelheit. Etwas, das ebenso stark oder vielleicht stärker war als die Macht, derer wir uns bedienten.
Der Kampf war völlig lautlos. Für die anderen musste es so aussehen, als wären Ixmal, Sitting Bull und ich mitten in der Bewegung erstarrt, als stünden wir einfach nur da und starrten das Buch an, aber in Wahrheit war es eine Schlacht, ein ungeheuerliches Kräftemessen auf einer Ebene, die dem normalen Begreifen und Empfinden entzogen war. Ich war dabei. Ich ritt an der Spitze eines Heeres apokalyptischer Reiter, die auf ein Schlachtfeld auf Flammen preschten, spürte das Krachen von Thors Hammer, der gegen die Grundfesten der Welt prallte, fühlte die tödliche Umarmung des Sonnengottes, der die Nacht verschlang. GEH!, hämmerten meine Gedanken. GEH! LASS SIE IN FRIEDEN!, und GEH!, hämmerten Ixmals und Sitting Bulls Gedanken, immer und immer und immer wieder.
Und langsam, ganz langsam, begann der Wall zu brechen. Ich spürte, wie die ungeheure Macht des NECRONOMICONS zu wanken begann, erschüttert von einer Gewalt, die finsterer und zorniger und älter war als sie. Der erste leuchtende Energiefaden, nur für mich und die beiden anderen sichtbar, zerriss mit einem peitschenden Knall, pendelte einen Moment wie ein abgerissenes Insektenbein hin und her und erlosch, dann ein zweiter, dritter, vierter.
Aber noch war die Macht dieses höllischen Buches nicht gebrochen. Noch einmal bäumte sich sein unseliger Geist auf, und wieder krümmten wir uns vor Schmerz. Aber wieder war das Etwas, das Sitting Bull herbeigerufen hatte, stärker. Langsam, aber unbarmherzig, wurde das NECRONOMICON zurückgedrängt. Weitere Lichttentakel zerrissen und in die Wut und den Zorn, den ich spürte, mischte sich Pein.
Und plötzlich erscholl vor mir ein unendlich tiefes, qualvolles Stöhnen. Ich sah auf und blickte Priscylla an – aber es war nicht mehr Priscylla!
An der wie ein Marterpfahl aufgerichteten Bahre stand ein junger, blondhaariger Mann in einem schwarzen Burnus. Ein dunkler, feucht glänzender Fleck verunzierte sein Gewand an einer Stelle dicht unter dem Herzen und in seinen Augen, sehr klaren, hellblauen Augen, die mich mit tiefem Vorwurf anblickten, glomm ein furchtbarer Schmerz.
»Willst du das wirklich tun?«, fragte Shannon.
Ich schrie auf. Neben mir fuhr Sitting Bull zusammen und starrte mich aus schreckgeweiteten Augen an. Er sagte etwas, etwas, das beschwörend und verzweifelt und voller panischer Angst war, aber ich verstand seine Worte nicht. Mein Blick hing wie gebannt an Shannons Gesicht. Aus seinen Augenwinkeln liefen blutige Tränen.
»Du hast mich schon einmal umgebracht, Robert«, sagte Shannon. »Hier – siehst du?« Und damit hob er seinen Burnus an, sodass ich den kleinen Dolch sehen konnte, der oberhalb seines Herzens aus seinem Leib ragte. »Tu es nicht noch einmal, ich bitte dich.«
»Nein!«, kreischte Sitting Bull mit überschnappender Stimme. »Nicht, Robert!«
Aber es war zu spät. Die brodelnden Energien, die mich noch immer durchpulsten, fanden kein Ziel mehr. Aber sie waren da. Und sie entluden sich.
Es dauerte nur eine einzige, furchtbare Sekunde, und doch war es, als ginge die Welt unter.
Ein ungeheures Donnern und Krachen erscholl. Die Erde hob sich wie ein bockendes Pferd, bebte und sank wieder zurück. Ein handbreiter, gezackter Riss erschien direkt vor meinen Füßen im Boden und noch während ich stürzte, zerriss ein neuerlicher, peitschender Donnerschlag die Nacht. Ein Gewitter dünner, peitschender Blitze brach aus dem Buch in Priscyllas Armen, brannte lodernde Furchen in den Boden und ließ Erdreich und trockenes Geäst aufflammen. Zwei der grausam hellen dünnen Blitze trafen zwei von Ixmals Indianern und töteten sie auf der Stelle.
Ich fiel, rollte mich herum und schlug instinktiv die Hände über dem Kopf zusammen, auf weiteres Unheil gefasst.
Aber es war vorbei.
Ich spürte es im gleichen Moment, in dem ich die Augen aufschlug. Hinter mir loderte das Feuer höher denn je, der Platz hallte wider von entsetzten Schreien und den hastigen Schritten flüchtender Menschen, aber das Ringen der Urgewalten war vorüber. Die beiden unsichtbaren Giganten waren nicht mehr da.
Aber das, was ich sah, war noch schlimm genug.
Priscylla hing schlaff in den Fesseln, die sie hielten. Ihre Augen waren noch immer geöffnet, aber ihr Blick war leer und ihre Finger krallten sich so fest um das Buch, dass Blut unter ihren Nägeln hervorkam. Das riesige Feuer, das Ixmals Krieger entzündet hatten, war auseinander gefallen, als wäre eine Riesenfaust in den Holzstapel gefahren und hätte ihn zertrümmert. Brennende Äste waren in weitem Umkreis verstreut und hier und da glühte die Erde. Aus dem Riss, der eine Handspanne neben mir verlief, stoben Funken und heiße, übel riechende Luft. Einer von Ixmals Männern krümmte sich auf dem Boden, presste beide Hände gegen den Leib und stieß unentwegt kleine, wimmernde Laute aus, während Annie und Bill vergeblich versuchten, nach seinen Wunden zu sehen. Zwei weitere Indianer rührten sich gar nicht mehr.
Von jähem Schrecken erfüllt, fuhr ich herum und sah Sitting Bull neben mir knien, bei Bewusstsein, aber grau vor Schrecken und Schmerz im Gesicht. Seine Lippen bebten. Aus einer kleinen Wunde über seiner linken Braue lief Blut und verwandelte sein Gesicht in eine dämonische Grimasse.
Ich wollte die Hände nach ihm ausstrecken, aber ich kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen.
Irgendwo über mir, auf den Felsen, die die Hälfte unseres Lagers einfassten, blitzte es auf, und eine halbe Sekunde hörte ich das harte drohende Peitschen eines Gewehrschusses. Eine Handspanne vor mir stob der Staub auf. Ich spürte einen Luftzug wie die Berührung einer unsichtbaren glühenden Hand, als die Kugel abprallte und wenige Inches an meiner Wange vorbeizischte.
Plötzlich ging alles unglaublich schnell. Ich sah, wie Annie und Cody herumfuhren, wie Bill nach seiner Waffe griff und mitten in der Bewegung erstarrte, als weitere Schüsse krachten und rechts und links von seinen Füßen der Boden aufspritzte, dann erfolgte eine ganze Salve krachender Schüsse und mit einem Male waren wir von mehr als einem Dutzend Männern eingekreist, Männer in dunkelblauen, in der Nacht schwarz erscheinenden Uniformen, gelben Streifen an den Hosen und Gewehren in den Händen, deren Läufe sich drohend auf uns richteten.
Mühsam stemmte ich mich hoch. Ich wollte mich ganz aufsetzen, aber einer der so plötzlich aufgetauchten Angreifer trat auf mich zu und machte eine drohende Bewegung mit seiner Winchester, die mich abermals mitten in der Bewegung erstarren ließ.
»Keine Bewegung!«, sagte er drohend. »Wenn ich Sie wäre, Mister, würde ich nicht einmal zu heftig atmen.«
»Was … was soll das?«, stammelte ich verwirrt. »Wer sind Sie überhaupt, und -«
»Mein Name ist Slaugther«, antwortete der Mann. »Captain James Slaugther von der elften US-Kavallerie, um genau zu sein. Und wenn Sie oder einer ihrer roten Brüder auch nur falsch niesen, Mister, geben ich Ihnen mein Ehrenwort, dass dieser Name das Letzte ist, was Sie in Ihrem Leben hören.«
Die Schreie hatten ihn geweckt, aus einem Schlaf, der ohnehin nur sehr oberflächlich und von immer wechselnden Albträumen und Visionen geplagt gewesen war. Jean Balestrano fuhr hoch, blinzelte einen Moment verstört in die Dunkelheit hinein, die ihn wie eine lastende schwarze Decke einhüllte, und setzte sich vollends auf.
Der Schrei wiederholte sich, länger anhaltend und in einer Stimmlage, die schlichtweg unmöglich war. Balestrano sprang auf, stolperte durch den mit Unrat und Trümmern übersäten Raum und fiel auf die Knie, als sich sein Fuß an einem Hindernis verhakte, das in der Dunkelheit lauerte. Mit einem Schmerzlaut sprang er wieder auf, stolperte die letzten Schritte bis zur Tür – und blieb stehen, als wäre er vor ein unsichtbares Hindernis geprallt.
Vor ihm breitete sich ein Bild des Chaos aus. Nicht sehr weit entfernt von ihm brannte ein Feuer, dessen Schein ihn jede noch so kleine Einzelheit mit fast gespenstischer Deutlichkeit erkennen ließ. Jeder einzelne Mann aus seiner so grausam zusammengeschmolzenen Armee war auf den Beinen, das Kastell hallte wider von durcheinander schreienden Stimmen und Schritten und dem Klirren von Metall. Krieger rannten hin und her, Schwerter und Schilde in den Händen, die Flammen stoben hoch auf und ein entsetzlicher Brandgeruch wehte zu Balestrano herüber. Trotzdem konnte er nicht erkennen, was wirklich geschah.
Stockend, den verletzten Arm, der wieder zu schmerzen begonnen hatte, eng an den Körper gepresst, trat Balestrano aus dem Haus und winkte den nächst besten Krieger zu sich heran. »Was ist geschehen?«, fragte er. »Werden wir angegriffen?«
»Die Wache, Bruder«, stammelte der Templer. »Jemand hat die Wache … mein Gott, es … es ist schrecklich. Wir sind alle verloren!«
Balestrano starrte den Mann noch einen Moment lang durchdringend an, dann fuhr er herum und ging mit weit ausgreifenden Schritten auf das lodernde Feuer zu. Obgleich auf dem Hof noch immer ein heilloses Chaos herrschte und niemand wirklich zu wissen schien, wohin er lief und warum, begannen sich die Krieger doch allmählich dort zu versammeln und irgendetwas war an ihnen, das …
Balestrano spürte ihren Schrecken, ehe er zwischen ihnen hindurchtrat und sah, was neben dem auseinander gerissenen Holzstapel lag. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Ihm wurde übel. Bittere Galle sammelte sich unter seiner Zunge.
»Was … was ist hier passiert?«, murmelte er.
»Das weiß niemand, Bruder«, antwortete der Mann zu seiner Rechten. Er sah Balestrano nicht an. Seine Augen waren weit und starr vor Schreck, aber er schien unfähig, seinen Blick von den dunklen, an verkohltes Holz erinnernden Dingen zu lösen, die halb in, halb neben dem Feuer lagen. Neben einem davon lag ein Schwert. Die Klinge glühte rot.
»Wir hörten die Schreie, und … und dann … dann fanden wir sie«, fuhr der Templer fort. Seine Stimme versagte fast. »Sie … sie müssen das Feuer angezündet haben, um … gütiger Gott, jemand hat sie …«
»Es sind nur zwei«, unterbrach ihn Balestrano. Es fiel ihm unendlich schwer, seiner Stimme wenigstens den Anschein von Festigkeit zu verleihen. »Ich hatte drei Männer zur Wache eingeteilt. Wo ist der dritte?«
Niemand antwortete, aber Balestrano spürte, wie sich aller Blicke auf ihn konzentrierten. Und im gleichen Moment wusste er, was sie von ihm verlangten. Das, was er schon vor Stunden hätte tun sollen. Vielleicht schon vor einem Tag.
»Wir brechen auf«, sagte er laut. »Holt eure Mäntel und füllt eure Wasserschläuche. Alles andere bleibt hier. Wir gehen. Sofort!«
»Es sind fast dreißig Meilen, Bruder«, wandte einer der Krieger ein. »Wir werden kaum die Hälfte schaffen, bis es Tag wird.«
»Mit Gottes Hilfe erreichen wir den Berg!« Balestrano wischte den Einwand mit einer Handbewegung fort. Wie billig diese Worte plötzlich in seinen Ohren klangen. Mit Gottes Hilfe? Um ein Haar hätte er gelacht. Es war schwer vorstellbar, dass das, was hier geschehen war, wirklich Gottes Wille gewesen sein sollte. Vielleicht hatte er den Kredit, den das Schicksal ihm eingeräumt hatte, längst verspielt.
Trotzdem wiederholte er seine Handbewegung, fuhr herum und lief selbst zur Turmruine zurück, um seinen Mantel und die Wasserflasche zu holen. Eine kleine, böse Stimme in seinem Kopf wollte ihm zuflüstern, dass es längst zu spät war, noch zu fliehen, aber er ignorierte sie. Vielleicht war es für ihn zu spät, aber wenn er auch nur das Leben eines einzigen dieser Männer retten konnte, musste er alles tun, was in seiner Kraft stand.
Mit bebenden Fingern zerrte er seinen Mantel hervor, tastete im Halbdunkel nach der Wasserflasche und fand sie.
Als er sich aufrichtete, hörte er das Kichern.
Balestrano erstarrte. Er konnte ihn spüren. Er war hinter ihm, so dicht, dass er sich nur herumzudrehen und den Arm auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren. Es war wie eine Woge knisternder unsichtbarer Hitze, die seinen Rücken berührte. Mit einem Male war der Raum von erstickendem, heißem Brandgeruch erfüllt.
»Wohin so eilig?«, kicherte das Ding. Balestrano drehte sich nicht herum. Er hatte Angst, den Verstand zu verlieren, wenn er es täte. Aber das Wesen sprach weiter, mit einer Stimme, die aus den tiefsten Abgründen der Hölle zu erschallen schien.
»Oh, ich verstehe, Bruder Jean«, kicherte es. »Du willst weglaufen, wie? Fliehe den Ort deiner Schmach, Sünder!« Wieder kicherte der Dämon. »Das ist nicht nett, Bruder Jean, mich und die drei anderen einfach zurücklassen zu wollen. Oder hast du uns einfach nur vergessen?«
Das Ding bewegte sich. Obwohl Balestrano es noch immer nicht ansah, konnte er spüren, wie es näher kam, seine schleifenden Schritte hören. Der Brandgeruch wurde stärker und nahm ihm jetzt fast den Atem.
»Aber geh ruhig«, fuhr der Entsetzliche höhnisch fort. »Du hast ja Recht, Bruder. Dies ist ein ungemütlicher Ort. Lauf ruhig davon. Wer weiß, vielleicht erreichst du sogar den Berg und dein Tor. Vielleicht kommst du sogar zurück nach Paris.«
»Was willst du?«, wimmerte Balestrano.
Der Unheimliche schwieg einen Moment. Als er antwortete, troff seine Stimme von grausamen Spott. »Stimmt ja, Bruder, stimmt ja«, sagte er meckernd. »Ich bin ja nicht grundlos gekommen. Hier – ich habe etwas für dich.«
Und damit packte er Balestrano und riss ihn grob an seinem verletzten Arm herum.
Balestrano kreischte vor Schmerz.
Im ersten Moment.
Dann sah er, was der Schreckliche auf seinen ausgestreckten Armen trug, und seine Stimme versagte. Seine Augen quollen vor Entsetzen fast aus den Höhlen, als er auf das geschwärzte, qualmende Etwas herabblickte, das Ding, das dunkel geworden war und spröde wie verkohltes Holz.
Balestranos Sinne schwanden endgültig, als Botho von Schmid ihm den Leichnam André Redirants vor die Füße warf und in die Schatten zurücktrat.
»Sie missverstehen die Situation«, sagte Lance ruhig. »Wenn Sie sich die Mühe machen würden, uns erklären zu lassen und einen Moment zuzuhören, würden Sie begreifen, wie gründlich Sie sich geirrt haben, Mister Slaugther.«
»Captain Slaugther«, korrigierte ihn Slaugther ruhig. »Oder einfach Slaugther, wie Sie wollen. Den Mister können Sie sich für komische Vögel wie Sie oder Ihre Freunde aufheben.« Er grinste böse. »Und was kann man da missverstehen?« Er schüttelte den Kopf, trat einen Schritt zurück und machte eine Bewegung mit dem Gewehrlauf, die den ganzen Platz einschloss. Am Ende dieses Dreiviertelkreises richtete sich die Mündung der Waffe wieder auf mich. So, wie die Mündung der großkalibrigen Waffe die ganze Zeit über auf mich gedeutet hatte. Was mich daran so nervös machte, war die Tatsache, dass die Winchester entsichert und durchgeladen war. Und dass Slaugthers Zeigefinger nervös am Abzug herumspielte.
Immerhin hatte Slaugther mir erlaubt aufzustehen, nachdem seine Männer – es waren an die zwei Dutzend, wie ich schätzte – Ixmals Krieger vor den Felsen zusammengetrieben und entwaffnet hatten. Zwei von ihnen hatten Priscylla losgeschnitten und in mein Zelt getragen und auch Sitting Bull, Ixmal, Annie, Cody, Postlethwaithe und ich waren zusammengescheucht worden, von einem halben Dutzend grimmig dreinschauender Soldaten, die jetzt hinter uns standen und nur auf eine Gelegenheit warteten, uns mit Kugeln zu spicken.
»So, wie ich die Sache sehe, sind meine Leute und ich wohl gerade noch rechtzeitig gekommen, um dieser jungen Lady das Leben zu retten«, fuhr Slaugther nach einer Pause fort. Er deutete auf das Zelt, in dem Priscylla verschwunden war. »Schätze, sie ist nicht der Meinung, dass ich irgendetwas missverstehe«, fügte er mit einem bösen Grinsen hinzu.
Postlethwaithe keuchte vor Unglauben, als er endlich begriff, und auch Annie starrte den dunkelhaarigen Captain aus runden Augen an. Einzig Cody und ich zeigten keine Anzeichen von Überraschung.
Warum auch? Für Slaugther sah die Sache wohl eindeutig genug aus: Er hatte eine Band kreischender, axtschwingender Indianer vorgefunden, die ein hübsches junges Mädchen an einen improvisierten Marterpfahl gebunden hatten und sie umtanzten, dazu einen offenbar geistesgestörten jungen Mann mit gefärbtem Haar, ein paar tote Indianer und drei komische Vögel, die dem Ganzen seelenruhig zusahen. Wahrscheinlich konnten wir von Glück sagen, dass er seinen Leuten nicht gleich Befehl gegeben hatte, uns zusammenzuschießen. Aber was noch nicht war, konnte ja durchaus noch kommen …
»Sie … Sie glauben doch nicht etwa, dass wir … dass wir der jungen Dame auch nur ein Haar krümmen wollten?!«, keuchte Lance, meinen warnenden Blick missachtend.
Slaugther grinste. »Aber nein doch! Das war sicherlich nur eine Liebeserklärung auf indianisch, wie?«
»Idiot«, sagte Cody ruhig.
Slaugthers Grinsen gefror. Ganz langsam drehte er sich herum, blickte Cody an – und rammte ihm warnungslos den Lauf seiner Winchester in den Leib. Bill keuchte, brach in die Knie und verkrampfte die Hände über dem Magen. Seine rechte Hand rutschte in die Nähe seines Pistolengürtels.
»Zieh ruhig«, sagte Slaugther herausfordernd. »Komm – gib mir einen Vorwand!« Drohend hob er das Gewehr. Die Mündung der Winchester war keine zwei Zentimeter mehr von Bills Stirn entfernt.
»Hören Sie auf, Captain«, sagte ich, so ruhig ich konnte. »Sie missverstehen die Situation wirklich. Ich kann alles erklären.«
»Schnauze!«, sagte Slaugther, ohne mich auch nur anzusehen.
»Aber ich kann -«
Weiter kam ich nicht. Slaugther stieß das Gewehr zurück, rammte mir den Kolben in den Leib und lachte böse, als ich mit einem würgenden Laut zusammenbrach.
»Sie sind ein ungehobelter Klotz, Captain Slaugther«, sagte Annie wütend. »Ist das Ihre Art, mit Leuten umzugehen, deren Tun Sie nicht verstehen?«
In Slaugthers Augen blitzte es auf. »Ich denke, ich verstehe genug«, sagte er, gefährlich leise. »Und was meine Art angeht, mit Verbrechern umzugehen, geht dich das einen feuchten Dreck an, Süße.«
»Für Sie immer noch Miss Oakley«, antwortete Annie kalt.
»Oakley?« Slaugther riss die Augen auf. »Etwa -«
»Annie Oakley, um genau zu sein«, bestätigte Annie. »Und das da –«, sie deutete auf Bill, der mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Füße zu kommen versuchte, »- ist Bill Cody. Besser bekannt als Buffalo Bill. Und jetzt fordern Sie uns doch noch einmal auf, unsere Waffen zu ziehen.«
Slaugther erbleichte. Aber die Unsicherheit hielt nur einen ganz kleinen Moment an, dann blitzte wieder Zorn in seinen Augen auf. Er fuhr herum, packte mich grob an der Schulter und riss mich grob in die Höhe. »Stimmt das?«, fauchte er.
Ich nickte, bekam aber nur ein unverständliches Krächzen hervor, denn meine Lungen weigerten sich noch immer, richtig zu atmen. Dabei hatte Slaugther nicht einmal mit voller Kraft zugeschlagen. Ich beschloss, in Zukunft nichts mehr zu glauben, was ich über Leute las, die nach einem Kolbenhieb aufstanden und weiterkämpften, als wäre nichts geschehen.
»Es stimmt«, mischte sich Lance ein. »Und der Herr, den sie da so gröblich behandeln, ist Mister Robert Craven, einer der -«
»Nie gehört«, brummte Slaugther – was mich in meiner Annahme bestätigte, dass er ein Analphabet sein musste.
»- einflussreichsten und vermögendsten Männer dieses Landes«, fuhr Lance ungerührt fort.
»So?«, brummte Slaugther und starrte mich an. Dann wandte er sich an Lance. »Und wer sind Sie?«
Lance warf sich in die Brust.
»Mein Name ist Postlethwaithe«, erklärte er. »Lancelot Postlethwaithe, ordentlicher Professor an der Universität von -«
»Postelwas?«, unterbrach ihn Slaugther.
»Postlethwaithe«, erklärte Lance ungeduldig. »Ich zeige Ihnen meine Papiere, warten Sie!«
Slaugther winkte ab, als Lance unter seinen Rock greifen wollte. »Schon gut«, maulte er. »Ich glaube dir. Der Name muss echt sein. Und die Papiere interessieren mich nicht. Ebensowenig wie die der anderen. Ihr könnt sie dem Richter zeigen, in Fort Harris.«
»Zum Teufel, was werfen Sie uns eigentlich vor?«, fragte ich wütend. Ich bekam allmählich wieder Luft und der grausame Schmerz in meinen Eingeweiden trug nicht unbedingt dazu bei, meine Laune zu heben. »Wir haben nichts getan, was verboten wäre!«
»Nein?« Slaugther grinste. »Da habe ich aber einen anderen Eindruck, Mister Raven.«
»Craven«, korrigierte ich ihn. »Raven ist aus einer anderen Serie.«
»Ich sehe zwei Tote Rothäute«, fuhr Slaugther ungerührt fort. »Und als ich hierher kam, habe ich ein Mädchen gesehen, das ganz offensichtlich gegen seinen Willen angebunden war und von einer Horde Verrückter gerade zu Tode gefoltert werden sollte. Ich denke doch, dass das verboten ist.«
»Verdammt nochmal, wir wollten Priscylla doch nichts antun!«, fuhr ich auf. »Dieses Mädchen ist meine Braut, sie Betonschädel! Ixmal und seine Männer wollten ihr helfen!«
»Helfen?« Slaugther hatte offensichtlich alle Mühe, nicht lauthals loszulachen. »Wobei denn, wenn ich fragen darf?«
»Sie ist … krank«, antwortete ich ausweichend. »Schwer krank.«
»O ja, und Sie wollten gerade einen Zauberspruch aufsagen, um sie zu heilen, was?«, fragte Slaugther höhnisch.
»So … ungefähr«, gestand ich. »Ich weiß, dass es sonderbar klingt, aber -«
»Das tut es nicht«, unterbrach mich Slaugther. »Es klingt wie die bescheuertste Ausrede, die mir je untergekommen ist.«
»Und trotzdem ist es die Wahrheit«, sagte Annie.
Slaugther zog die linke Augenbraue hoch, setzte dazu an, etwas zu sagen, begann aber dann stattdessen zu grinsen. »Nun, wenn das so ist, warum fragen wir sie dann nicht einfach?«, sagte er.
»Das hätte wenig Sinn«, sagte ich. »Sie ist … nicht bei sich. Ich glaube nicht, dass sie Ihnen antworten würde.«
Slaugthers Augen wurden zu dünnen, misstrauisch zusammengepressten Schlitzen. »Lassen wir es auf einen Versuch ankommen«, schlug er vor. »Vielleicht entlastet sie Sie ja. Oder haben Sie Angst vor dem, was sie sagen könnte?« Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern stocherte mit dem Gewehrlauf in meine Richtung und machte gleichzeitig eine Handbewegung zum Zelt hin.
Ich widersprach nicht mehr. Slaugthers plötzliche Zugänglichkeit täuschte mich keine Sekunde. Ich hätte mit Engelszungen reden und ihm alle Beweise der Welt vorlegen können – er hätte uns nicht geglaubt. Und dabei hatte ich das sichere Gefühl, dass das nicht nur an der vermeintlichen Opferung lag, deren Zeuge er geworden war. Slaugther und seine Männer waren sicher nicht zufällig hier aufgekreuzt. Ohne ein weiteres Wort folgten Annie, Bill und Lance und ich ihn zu dem Zelt, in das seine Leute Priscylla gebracht hatten.
Priscylla lag auf meinem Bett, als wir eintraten. Ihre Augen waren noch immer offen, ihr Blick war noch immer leer und ihre Hände umklammerten noch immer das Buch, das sie mit aller Kraft an sich presste. Sie war nicht allein. Ein junger Mann im blauen Uniformrock der US-Kavallerie saß auf dem Rand ihrer Pritsche und ein zweiter Soldat stand, das Gewehr mit beiden Händen vor der Brust haltend, im Hintergrund und beäugte Bill und mich misstrauisch.
»Nun, Pedersen?«, wandte sich Slaugther an den jungen Soldaten, der neben Pri saß. »Wie geht es ihr?«
Pedersen zuckte hilflos mit den Achseln. Ich glaubte nicht, dass er Arzt war, obgleich er eine schwarze Tasche neben sich stehen und eine Art primitives Stethoskop in der Hand hatte. Aber auf seinen Zügen lag ein Ausdruck solcher Anteilnahme und solchen Kummers, wie ihn sich ein wirklicher Arzt kaum leisten konnte, wollte er nicht an seiner Arbeit verzweifeln. Sanitätsoffizier, schätzte ich. Und wenn Arzt, dann frisch von der Uni.
»Körperlich scheint sie gesund zu sein«, antwortete Pedersen nach einem spürbaren Zögern. »Bis auf ein paar Kratzer – und eine vollkommene Erschöpfung. Aber sonst …«
»Was sonst?«, schnappte Slaugther.
»Sie antwortet nicht«, sagte Pedersen ausweichend. »Sie ist wach und reagiert, wenn man sie anfasst, aber sie …« Er brach ab, blickte erst mich, dann Slaugther sehr unglücklich an und zuckte abermals mit den Achseln. »Sie muss einen furchtbaren Schock erlitten haben«, sagte er schließlich.
»Das glaube ich auch.« Slaugther warf mir einen bösen Blick zu, beugte sich über Pedersens Schulter und runzelte demonstrativ die Stirn, als er auf das NECRONOMICON herabblickte. »Was soll der Unsinn?«, fauchte er. »Wieso nehmen Sie ihr dieses Ding nicht ab? Es muss einen Zentner wiegen!«
»Ich habe es versucht«, sagte Pedersen schnell. »Aber sie wehrt sich. Sie beginnt zu schreien, wenn man es nur anfasst.«
»Humbug!«, behauptete Slaugther. »Weg mit diesem blöden Ding! Die arme Kleine kriegt ja gar keine Luft mehr!« Und damit beugte er sich weiter vor und wollte das Buch mit beiden Händen fassen.
Aber Priscylla war schneller. Sie schrie auf, schlug nach Slaugthers Händen und presste das Buch mit aller Macht an sich. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse der Angst.
»Sie bringen sie um, wenn Sie ihr das Buch wegnehmen, Captain«, sagte Annie ernst. »Bitte glauben Sie mir.«
Slaugther glaubte ihr ganz offensichtlich nicht. Aber er versuchte auch nicht noch einmal, Priscylla das Buch mit Gewalt zu entreißen, sondern tat etwas, von dem ich bisher nicht einmal angenommen hatte, dass er es konnte: Er lächelte. Fast wie ein richtiger Mensch.
»Hören Sie, Miss«, sagte er. »Ich will Ihnen nichts tun. Ich will Ihnen auch das Buch nicht wegnehmen. Ich lege es nur neben Ihr Bett, damit Sie das Gewicht nicht so stört, okay? Direkt neben Sie. Niemand wird es anfassen, das schwöre ich.«
Und tatsächlich nahm Priscylla ganz langsam die Hände herunter. Slaugther lachte triumphierend, griff nach dem NECRONOMICON und runzelte verblüfft die Stirn, als er spürte, wie schwer es war. »Also, ich lege es nur neben das Bett«, sagte er noch einmal. »Wir sind Ihre Freunde, Priscylla. Niemand will Ihnen Böses. Glauben Sie mir?«
»Nein«, sagte Priscylla, hob blitzschnell die Hand, hielt Slaugthers Kinn damit fest und riss ihm mit der anderen das rechte Ohr ab.
Die Nacht musste fast vorüber sein, aber am Horizont zeigte sich noch kein Licht. Auch der Mond war noch nicht untergegangen, ja, scheinbar nicht einmal weiter auf seiner Bahn gewandert und auch die Sterne hatten sich nicht merklich bewegt, wenngleich sich Balestrano in diesem Punkt nicht sicher war; er hatte sich niemals um Sternbilder und ihre Wanderung das Firmament entlang gekümmert. Aber die Nacht musste einfach vorüber sein, denn der Berg lag vor ihnen und das war etwas, was beinahe unmöglich war.
Aber eben nur beinahe, dachte Balestrano müde. Irgendwann nach Mitternacht waren sie aufgebrochen und sie waren in sehr scharfem Tempo marschiert, wobei er als Schwächster zwar die Geschwindigkeit bestimmte, trotz seines Alters und der immer stärker werdenden Schmerzen in seinem gebrochenen Arm aber kräftig ausgeschritten war, denn die Angst gab ihm zusätzliche Kraft. Jetzt hatten sie den Berg erreicht. Nur noch wenige hundert Schritte und dann ein Aufstieg, der ihnen vermutlich auch noch das letzte bisschen Kraft rauben würde, aber zu schaffen war. Und dann das Tor. Die Rettung. Wenigstens für die anderen.
Balestrano war vollkommen sicher, dass es der richtige Berg war, obgleich ihm der logische Teil seines Denkens sagte, dass das nicht möglich sei. Auf dem Weg zur Drachenburg hatten sie eine ganze Nacht und den guten Teil eines Tages gebraucht – und da waren sie ausgeruht und im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, jetzt waren sie alle erschöpft und die meisten von ihnen verletzt; und sie hatten kaum ein Drittel der Zeit gehabt. Und trotzdem: Selbst in der Nacht war die spitze Nadel aus Lava unverkennbar; ein Dorn, der den tief hängenden schwarzen Himmel aufzuspießen schien und im Dunkel der Nacht verschwamm, ehe er seinen Gipfel wirklich sehen konnte. Vielleicht, dachte Balestrano matt, war es Necrons Zauber gewesen, der den Weg hin zu seiner verfluchten Burg länger und Kräfte zehrender hatte werden lassen als zurück. Vielleicht war auch ein Wunder geschehen und Gott hatte beschlossen, wenn schon nicht ihn, dann wenigstens das Häufchen zu Tode erschöpfter Männer zu retten, das ihm folgte.
Er vertrieb den Gedanken, raffte noch einmal alle Kraft zusammen und ging ein wenig schneller, um an die Spitze der kleinen Kolonne zu gelangen. Die Männer machten ihm respektvoll Platz, aber Balestrano bemerkte auch die ängstlichen Blicke, mit denen sie ihn maßen, wenn sie glaubten, er merke es nicht. Noch vor Tagesfrist wäre er überzeugt gewesen, dass es Sorge war, was er in den Augen der Männer las. Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Vielleicht war es schlichtweg Angst. Vielleicht sah man ihm seine Schuld auch deutlich an und er war der einzige Narr, der das bisher noch nicht bemerkt hatte.
Seine Gedanken begannen sich zu verwirren und er spürte, wie die Erschöpfung ihre knochige Hand nun auch nach seinem Geist ausstreckte. Für einen Moment war er versucht, der stummen Verlockung nachzugeben und sich einfach in den Sand sinken zu lassen und zu sterben. Aber solche Gedanken waren lästerlich und er bekämpfte sie mit dem bisschen Energie, das ihm noch geblieben war. Sein Leben gehörte längst nicht mehr ihm. Er hatte es verspielt, schon vor Tagen, und es war ihm nur noch geliehen worden, von den Männern mit den schwarzen Schreckensgesichtern. Balestrano wusste nur nicht, wozu. Und er war nicht sehr sicher, ob er die Antwort überhaupt wissen wollte.
Als sie den Berg erreicht hatten, blieb er stehen. Einen Moment lang machte sich echte Panik in ihm breit, als er den Pfad nicht fand, denn die Nacht schien mit einem Male noch dunkler zu werden und der Koloss aus Lava ragte wie ein Stück geronnener Schwärze vor ihm auf. Aber dann brach sich ein Lichtstrahl auf poliertem schwarzem Stein und als er genauer hinsah, entdeckte er den schmalen Pfad, der in engen Serpentinen den Berg hinauf und zu der kleinen Höhle auf halber Höhe führte.
Und er sah den Schatten.
Es war wie ein noch dunklerer Fleck auf dem Schwarz des Berges, nur für ihn sichtbar, und nur für ihn voller Entsetzen. Für eine endlose Sekunde glaubte er Brandgeruch zu spüren, das Glitzern von Licht auf kleinen bösen Knopfaugen zu sehen.
Sie waren da!
Sie warteten auf ihn, dort oben, einen Schritt vor dem Höhleneingang!
»Bruder?«
Balestrano fuhr wie unter einem Hieb zusammen, wirbelte herum und riss schützend die Arme vor das Gesicht.
Aber es war nur einer seiner Begleiter, der herangekommen war und die Hand erhoben hatte, wie um ihn an der Schulter zu berühren. Balestranos scheinbar sinnlose Reaktion ließ ihn innehalten. Auf seinem Gesicht lieferten sich Sorge und stärker werdende Furcht ein stummes Duell.
Verlegen nahm Balestrano die Hände herunter, umklammerte seinen schmerzenden Arm mit der Hand und versuchte zu lächeln. »Verzeih«, sagte er leise. »Ich … muss wohl in Gedanken gewesen sein. Ich bin müde.«
Der Templer nickte verständnisvoll. »Wir sind alle erschöpft«, sagte er. »Macht dir der Arm zu schaffen?«
Balestrano nickte. Es war das Einfachste, es dabei zu belassen. Es gab Momente, in denen die Lüge der Wahrheit vorzuziehen war. »Ja«, sagte er. »Aber es ist bald überstanden. Was … willst du?«
Der Templer zögerte einen Moment, fast, als müsse er erst überlegen, aus welchem Grund er überhaupt gekommen war. Dann hob er die Hand und deutete nach rechts, um den Berg herum. »Ein Lager«, sagte er. »Bruder Simon hat ein Lager entdeckt, auf der anderen Seite des Berges. Man sieht den Feuerschein ganz deutlich. Und Stimmen.«
Balestrano schwieg sekundenlang. Er wusste, was der Mann von ihm hören wollte – trotz allem, was hinter ihnen lag, mussten die Männer halb wahnsinnig vor Furcht sein, das entsetzliche Tor noch einmal zu betreten, denn es verkörperte alles, was sie in ihrem Leben fürchten und hassen gelernt hatten. Und auf der anderen Seite des Berges waren Menschen. Menschen und Wärme und Schutz.
Aber vielleicht war es ja gerade das, was sie denken sollten.
Balestrano war der Verzweiflung nahe. Er wusste einfach nicht mehr, was richtig war, welche Entscheidung nun den Tod und welche die Rettung brächte; wenn überhaupt. Er war hilflos. Hilflos und allein wie niemals zuvor in seinem Leben. Um wie viele Züge waren ihm seine schrecklichen Gegenspieler voraus? Wie oft musste er das Gegenteil dessen tun, was eigentlich richtig schien, um wirklich das Richtige zu tun? Und was, wenn er einen Schritt zu weit dachte?
Balestrano drehte sich wieder herum, ballte in hilflosem Zorn die Faust und blickte wieder zu dem nur für ihn sichtbaren Schatten vor dem Höhleneingang hinauf.
Komm, flüsterte eine Stimme hinter seiner Stirn. Komm, Bruder. Wir warten auf dich!
Unsichtbar in der Nacht öffneten sich schreckliche Klauenhände. Ein dünner, geschlitzter Mund mit rasiermesserscharfen Knochenleisten anstelle von Zähnen verzog sich zu einem höhnischen Grinsen. In schwarzen Knopfaugen flammte die Mordlust.
»Nein!«, sagte Balestrano laut. Der Krieger sah ihn verwundert an, schwieg aber. »Nein!«, sagte Balestrano noch einmal. »Ich werde nicht kommen. Diesmal nicht, Brüder.«
Der Mann neben ihm runzelte die Stirn. Balestrano atmete hörbar ein, drehte sich auf dem Absatz herum und machte eine Kopfbewegung in die Richtung, in die der Mann zuvor gedeutet hatte. »Bruder Simon soll das Lager erkunden«, sagte er bestimmt. »Aber vorsichtig. Wir folgen ihm. Wenn es keine …« Er brach ab, zögerte einen Moment und sprach mit deutlich veränderter Betonung weiter: »Wenn ihm die Menschen, die dort lagern, freundlich gesinnt erscheinen, werden wir zu ihnen gehen und uns ihnen anschließen.«
Die Erleichterung auf den Zügen des Templers war nicht zu übersehen. Er nickte, fuhr auf der Stelle herum und verschwand in der Dunkelheit, um Balestranos Befehl auszurichten.
Hoch über ihm, nur für Jean Balestrano hörbar, aber überdeutlich, erscholl ein enttäuschtes Fauchen. Wie das Zischen einer Schlange. Nur böser.
Pedersen trat gebückt durch den Eingang, schloss die Plane sorgfältig wieder hinter sich und setzte sich auf die Kante von Priscyllas Liege. Er sah erschöpft aus und obwohl es draußen sehr kalt geworden war, klebte seine Uniformjacke an seinem Leib; er roch durchdringend nach Schweiß.
»Alles in Ordnung«, sagte er matt. »Er hat sich ein bisschen beruhigt.«
»Was heißt das, im Klartext?« fragte Cody.
»Er schläft. Ich habe ihm etwas gegen seine Schmerzen gegeben. Möglicherweise war die Dosis ein wenig hoch.« Pedersen grinste, wurde aber sofort wieder ernst. »Morgen früh wird er mir dafür vermutlich die Zähne einschlagen, aber es war die einzige Möglichkeit. Ich habe einfach keine Lust, heute Abend noch ein paar Leute zu verarzten.« Er seufzte, fuhr sich mit beiden Händen durch das Gesicht und musterte Bill und mich abwechselnd. »Wissen Sie eigentlich«, fuhr er nach einer Pause fort, diesmal an mich gewandt, »dass Sie jetzt genauso gut hängen könnten, Mister Craven?«
»Und warum?«
Pedersen grinste schief. »Slaugther ist ein sehr jähzorniger Mann. Er ist der Meinung, Sie hätten gewusst, dass das Mädchen gemeingefährlich ist. Ich fürchte, er denkt, Sie hätten ihn absichtlich so nahe an sie herankommen lassen, damit sie ihm die Augen auskratzt oder so etwas.«
Ich zog es vor, überhaupt nicht darauf zu antworten, sondern ging – mit den trippelnden, kleinen Schritten, zu denen mich die Ketten zwangen, die sich um meine Fußknöchel schmiegten – auf ihn zu, ließ mich auf das andere Ende der Pritsche sinken und betrachtete abwechselnd ihn und Priscyllas im Schlaf entspanntes Gesicht. Nachdem sie Slaugther auf so dramatische Weise davon überzeugt hatte, dass er wirklich nicht mit ihr reden konnte, war sie fast sofort eingeschlafen. Ich wusste nicht, ob ich froh darüber sein sollte. Die Geschehnisse begannen sich allmählich zu einem beunruhigenden Ganzen zu formen. War es wirklich Zufall, dass Priscylla ausgerechnet jetzt das erste Mal wirklich ruhig schlief? Oder war nur irgendetwas in ihr zufrieden gestellt worden, etwas, das Blut haben wollte und es bekommen hatte?
Ich vertrieb den Gedanken und wandte mich an Pedersen.
»Sie mögen Slaugther nicht, wie?«
Pedersen lächelte gequält; ungefähr auf die Art, als hätte ich ihn gefragt, ob er Zahnschmerzen möge.
»Niemand mag Slaugther«, sagte er schließlich. »Er ist ein Schwein, Mister Craven. Aber ein verdammt guter Soldat.«
Das überraschte mich nicht. Ich kannte Typen wie Slaugther zur Genüge. Man traf sie oft in Positionen dicht unter der Spitze der Machtpyramide. Sie mussten gut sein, weil sie sonst untergingen. Ein Mann, der keine Freunde hat, dafür aber ein herausragendes Talent darin, sich Feinde zu machen, musste in seinem Fach einfach gut sein, um zu überleben. Aber das beantwortete nicht die Frage, die mir und den anderen schon auf der Zunge brannte, seit Slaugther und seine Männer hier aufgetaucht waren.
»Warum sind Sie hier, Pedersen?«, fragte ich. »Sie sind doch nicht durch Zufall ausgerechnet hier aufgekreuzt, oder?«
Der junge Arzt – er war wirklich Doktor der Medizin, aber, wie ich vermutet hatte, gerade erst vor zwei Monaten von der Universität gekommen – sah mich einen Moment lang ernst an, als überlege er, ob er mir mit der Antwort auf meine Frage nun ein Staatsgeheimnis verriete oder nicht. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Niemand kommt durch Zufall hierher, Mister Craven. Wir wurden geschickt.«
»Von wem?« fragte Annie.
»Vom Kommandanten von Fort Harris«, antwortete Pedersen. »Wir hörten … Gerüchte.«
»Gerüchte?«
Pedersen nickte. »Ja. Normalerweise gibt Slaugther einen Dreck auf Gerüchte, aber es waren ein bisschen viele. Leute, die hier vorbeikamen, erzählten von sonderbaren Dingen, die vorgehen sollten. Seltsame Lichterscheinungen während der Nacht, unheimliche Laute, Spuren und vor allem Indianer, die sich hier herumtreiben sollten.«
»Oh, und da ist Ihr famoser Captain Slaugther natürlich sofort losgestürmt, um ein paar Skalps zu erbeuten, wie?«, fragte Cody böse.
Seltsamerweise reagierte Pedersen ganz anders, als ich erwartet hatte. Er schien nicht einmal verärgert zu sein, sondern blickte Bill nur einen Moment lang stirnrunzelnd an, ehe er den Kopf schüttelte. »Jetzt tun Sie Slaugther Unrecht, Mister Cody«, sagte er sanft.
Bill schnaubte, hob wütend die Arme und rasselte mit den Ketten, mit denen er wie wir alle gebunden war. »Ich merke es schon«, sagte er.
Pedersen blieb ernst. »Man kann eine Menge gegen Captain Slaugther sagen«, fuhr er fort. »Aber ein Indianerhasser ist er nicht. Wäre er das, hätte er Sie und Ihre Begleiter ohne Warnung niederschießen lassen. Und noch etwas«, fügte er mit leicht erhobener Stimme hinzu, als Cody abermals auffahren wollte. »Der alte Indianer, der bei Ihnen ist – sein Name ist Sitting Bull, nicht wahr?«
Cody zögerte einen ganz kurzen Moment zu antworten; gerade lange genug, Pedersen zu sagen, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. »Wie kommen Sie darauf?«, fragte er.
Pedersen lächelte. »Sie sind ein bekannter Mann, Mister Cody«, sagte er. »Ebenso wie die Leute, die in Ihrer Begleitung reisen. Sitting Bull gehört auch dazu. Habe ich Recht?«
»Und wenn?«, fragte Bill anstelle einer direkten Antwort.
»Es war sehr klug von ihnen, seinen Namen nicht zu nennen«, sagte Pedersen. »Ein paar der Jungs in unserer Kompanie waren damals dabei, als die Sioux Custer und seine Leute ausgelöscht haben. Ich glaube nicht, dass Sitting Bull noch am Leben wäre, wenn hier alle wüssten, wer er ist. Slaugther hat ihn sofort erkannt. Aber er hat nichts gesagt.«
»Wie großzügig«, sagte Cody wütend. »Wahrscheinlich hatte er Angst, uns nicht mehr unbeschädigt in sein verdammtes Fort bringen zu können.«
»Wo liegt dieses Fort Harris überhaupt?«, fragte ich rasch, ehe Bill endgültig Gelegenheit fand, einen Streit vom Zaune zu brechen.
»Nicht weit von hier«, antwortete Pedersen. »Zwei Tagesritte westlich.«
»Im Westen?« Cody runzelte die Stirn und klirrte zornig mit seinen Ketten. »Das ist die Gott verdammt entgegengesetzte Richtung, in die wir wollen. Ich muss nach New York. Das Schiff wartet nicht auf mich.«
»Nur keine Sorge, mein lieber Freund«, ertönte eine Stimme vom Eingang her. »Ein toter Mann braucht kein Schiff. Und die Galgen in Fort Harris sind mindestens genauso gut wie die in New York.«
Ich sah, wie Pedersen zusammenfuhr und ein bisschen bleicher wurde, als er ohnehin schon war, als er Slaugthers Stimme hörte. Keiner von uns hatte bemerkt, dass er hereingekommen war. Wahrscheinlich fragte sich der arme Kerl jetzt, wie viel von seinen Worten der Captain wohl gehört haben mochte.
Betont langsam drehte ich mich herum und blickte Slaugther an.
Wäre die Situation etwas weniger unangenehm gewesen, hätte er einen durchaus komischen Anblick geboten. Sein Gesicht war geschwollen und zur Hälfte rot angelaufen und über seinem rechten Ohr lag ein dicker Verband, der mit einem Knoten unter seinem Kinn gehalten wurde. Er sah aus wie die typische Witzfigur im Wartezimmer eines Dentisten. Übrigens war er auch genau so übler Laune.
»Sie … Sie sollten eigentlich schlafen, Sir«, stotterte Pedersen ängstlich. »Sie haben eine Menge Blut verloren.«
Slaugther brachte ihn mit einem einzigen, eisigen Blick zum Verstummen. Pedersen schien ein Stück in sich zusammenzuschrumpfen und drehte sich hastig um, um sich über die schlafende Priscylla zu beugen.
»Der Posten meldet eine verdächtige Bewegung draußen in der Wüste«, sagte Slaugther plötzlich. Er starrte mich an. »Das sind nicht zufällig noch ein paar von Ihren rotärschigen Freunden, die gerade darüber nachdenken, wie sie uns am besten erledigen könnten, Mister Craven? Das wäre nämlich äußerst peinlich für Sie.« Er grinste schief. »Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie der Erste sind, der in die ewigen Jagdgründe humpelt.«
»Dort draußen ist niemand von uns«, antwortete Cody an meiner Stelle. »Und wenn es so wäre, hätten Sie nichts von ihm zu befürchten.«
»Keiner von Ihren Freunden?«, vergewisserte sich Slaugther. Cody schüttelte den Kopf. »Ich rate Ihnen, die Wahrheit zu sagen«, fuhr Slaugther fort. »Es könnte -«
Ich sprang auf. »Zum Teufel, Captain«, unterbrach ich ihn. »Was müssen wir noch tun, um Ihnen zu beweisen, dass wir weder Verbrecher noch verrückt sind? Das Ganze ist ein einziges großes Missverständnis.«
»Ich weiß, ich weiß«, seufzte Slaugther. »Die Gefängnisfriedhöfe sind voll von Missverständnissen, Craven.«
Ich seufzte, schluckte die wütende Antwort, die mir auf der Zunge lag, herunter und widerstand im letzten Moment der Versuchung, dem bösen Spiel ein Ende zu bereiten und ihn schlichtweg zu hypnotisieren. Über kurz oder lang würde mir wohl keine andere Wahl mehr bleiben, als dies zu tun, aber noch schreckte ich vor dieser letzten Möglichkeit zurück. Ich habe es immer gehasst, einen Menschen seines freien Willens zu berauben. Es hat etwas Entwürdigendes.
Und davon ganz abgesehen war ich nicht einmal sicher, ob es mir gelingen würde, diesen Betonschädel geistig zu beeinflussen.
»Okay, Captain«, sagte ich. »Versuchen wir es noch einmal.« Ich deutete auf Priscylla. »Sie haben selbst erlebt, dass sie krank ist, oder? Ixmal und Si … und der andere Medizinmann haben versucht, ihr zu helfen. Auf eine Weise, die Ihnen vielleicht seltsam vorkommt, das gebe ich zu. Aber sie war niemals in Gefahr.«
»So«, machte Slaugther. Sein Blick wurde durchdringend. »Draußen liegen zwei tote Indianer, Mister Craven. Gehört das vielleicht zu ihrer Art von Hilfe?«
»Das war ein Unfall«, mischte sich Lance ein. »Ich kann es bezeugen.«
Slaugther sah ihn nicht einmal an. Stattdessen schüttelte er abermals den Kopf, sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Zorn an und seufzte hörbar: »Wissen Sie, Mister Craven«, fuhr er fort, »das Ganze ist mir zu kompliziert. Ich bin hierher geschickt worden, weil es hier nicht mit rechten Dingen zugehen soll, und was ich finde, scheint diese Tatsache zu bestätigen. Sollen sich andere die Köpfe darüber zerbrechen. Ich für meinen Teil werde tun, was mir befohlen wurde, und Sie und diese ganze Bande sicher nach Fort Harris bringen.«
»Zum Teufel mit ihrem Fort Harris!«, fauchte Cody. »Wir müssen auf dem schnellsten Wege nach New York. Und das Mädchen da muss zu einem Arzt.«
»Pedersen kümmert sich um sie«, sagte Slaugther lächelnd. »Er ist zwar noch ein bisschen jung und redet vielleicht ein wenig zu viel -« Bei diesen Worten sah er Pedersen durchdringend an, und der junge Doktor schrumpfte ein weiteres Stück in sich zusammen, »- aber er ist ein verdammt guter Arzt, glauben Sie mir. Und jetzt kein Wort mehr.«
Cody schnaubte. In seinen Augen blitzte es kampflustig auf. Er trat einen Schritt auf Slaugther zu. Und wahrscheinlich wäre es jetzt wirklich zum Streit zwischen den beiden ungleichen Männern gekommen, wäre nicht in diesem Moment die Zeltplane ein weiteres Mal zurückgeschlagen worden. Ein hektisch gerötetes Gesicht unter einem blauen Käppi lugte herein, und Slaugther drehte sich mit einem unheilschwangeren Stirnrunzeln herum.
»Was ist los?«, fauchte er. »Ich hatte Befehl gegeben, mich nicht zu stören.«
»Ver … zeihung, Sir«, stotterte der Soldat. »Aber Harris und Stone sind zurück. Sie haben einen Mann aufgegriffen, der vor dem Lager herumschlich.« Er lächelte verunglückt. »Sie … sollten ihn sich ansehen«, fügte er hinzu.
Slaugthers Stirnrunzeln vertiefte sich. Aber er sagte kein Wort mehr, sondern fuhr mit einer zackigen Bewegung auf dem Absatz herum, scheuchte den Mann beiseite und trat aus dem Zelt. Neugierig folgt ich ihm und blieb erst stehen, als sich der Gewehrlauf des Soldaten in meinen Magen bohrte. Aber zumindest scheuchte er mich nicht ins Zelt zurück, sodass ich mitansehen konnte, was draußen geschah.
Die beiden Soldaten, von denen der Mann gesprochen hatte, waren dicht vor dem Feuer stehengeblieben, wie um Sorge zu tragen, dass sie auch ja gut beleuchtet wurden. Zwischen ihnen stand eine gebeugte, heruntergekommene Gestalt.
Und als ich sie sah, wusste ich auch, was der ungläubige Ton in der Stimme des Soldaten zu bedeuten hatte.
Der Mann war etwas kleiner als ich, aber wesentlich breitschultriger. Unter dem zerrissenen Kettengewebe seiner seltsamen Kopfbedeckung quoll lockiges schwarzes Haar hervor, und sein Gesicht war gezeichnet von einer Anstrengung, die ihn bis an die Grenzen seiner Kräfte erschöpft haben musste. An seiner Seite hing ein gut meterlanges, beidseitig geschliffenes Schwert. An seinem linken Arm prangte ein dreieckiger Schild, weiß und schartig und mit einem gleichschenkligen roten Kreuz mit gespaltenen Enden bemalt. Das gleiche Symbol wiederholte sich auf der Brust seines zerfetzten weißen Rockes, unter dem das Silber eines Kettenhemdes blitzte.
Vor uns stand ein Tempelritter.
Captain Slaugther schien von dem unglaublichen Anblick noch um einiges mehr überrascht zu sein als ich, denn er blieb eine volle Minute wie vom Donner gerührt stehen und starrte den Templer an. Dann trat er, noch immer stockend und sichtlich um seine Fassung kämpfend, auf den Mann zu und blieb abermals stehen. Er versuchte sogar zu salutieren, aber das Ergebnis seiner Bemühungen war einigermaßen kläglich.
»Guten … Abend«, stammelte er. »Ich bin … Captain Slaugther von der elften US-Kavallerie. Und … mit wem habe ich … das äh … Vergnügen?«
Der Templer sah auf. Sein Blick war leer und ich sah, dass er vor Erschöpfung schwankte. Aber seine Stimme war überraschend klar, als er antwortete: »Ich bin Bruder Simon«, sagte er. »Und ich danke Gott dafür, dass wir Sie und Ihre Leute gefunden haben, Captain. Wir sind in großer Gefahr. Die Schergen des Teufels sind auf unserer Spur.«
Captain Slaugther machte: »Oh?«, – was mir in Anbetracht der Situation ein äußerst geistreicher Kommentar zu sein schien – und trat einen weiteren Schritt auf Bruder Simon zu.
Genauer gesagt – er wollte es.
Denn in diesem Moment hob der Tempelritter den Blick, sah zu mir hinüber – und erkannte mich.
Seine Augen weiteten sich. Für den tausendsten Teil einer Sekunde blitzte Unglauben in seinem Blick auf. Dann überschlug sich alles.
Der Templer bewegte sich mit einem Male so schnell, dass das Auge seinen Bewegungen kaum mehr zu folgen vermochte. Mit einem einzigen, unglaublich raschen Ruck riss er sich aus dem Griff der beiden Soldaten zu seinen Seiten los, stieß Slaugther zu Boden und zog einen Dolch aus dem Gürtel.
Er warf die Waffe mit aller Kraft.
Der Dolch schien sich in einen silbernen Blitz zu verwandeln. Ich sah ihn heranfliegen und ich wusste, dass der Wurf mir galt und die Waffe mich töten würde, aber meine Reaktion kam zu spät; meine Bewegungen erschienen mir lächerlich langsam im Vergleich mit dem heranrasenden Dolch.
Das Messer verfehlte mich.
Aber es traf Pedersen, der hinter mich getreten war, und tötete ihn auf der Stelle.
Er hatte die Schüsse gehört: zuerst einen, dann einen zweiten, dann eine ganze Salve peitschender Gewehrschüsse, die so schnell aufeinander erfolgten, dass sie fast wie eine einzige, nicht endende Explosion klangen. Und er wusste ganz genau, was sie bedeuteten. Trotzdem fuhr er wie unter einem Peitschenhieb zusammen, als er die Schritte hörte und die Stimme, die mit einer Mischung aus Verzweiflung und Zorn schrie, dass sie Bruder Simon getötet hatten.
Balestrano wandte sich mit einem Ruck um, schlug die Hand vor die Augen und presste die Zähne so fest zusammen, dass kleine feurige Pfeile durch seinen Kiefer schossen. Aber es half nichts. Der körperliche Schmerz vermochte den anderen, tiefer gehenden nicht zu vertreiben.
Wieder einer, dachte er verzweifelt. Sollte er denn gar keine Chance haben? War denn alles, was er tat, falsch?
Herr im Himmel!, schrie er in Gedanken. Wenn du meine Stimme noch hörst, dann hilf ihnen!
Aber alles, was er zur Antwort bekam, war ein lautloses meckerndes Lachen in seinen Gedanken und es kam ganz und gar nicht aus dem Himmel.
Hinter ihm ertönten Schritte und als er sich herumdrehte, sah er einen Krieger auf sich zulaufen, taumelnd und so schwach vor Erschöpfung, dass er drei Schritte vor ihm auf die Knie fiel und sekundenlang würgend nach Luft rang, ehe er überhaupt sprechen konnte.
»Tot«, stammelte er. »Sie … sie haben ihn … erschossen, Bruder. Sie haben … Simon ermordet.«
»Was ist geschehen, Bruder?«, fragte Balestrano mit erzwungener Ruhe. »Sprich.«
Der Templer keuchte, versuchte sich hochzustemmen und sank wieder in den Sand zurück, als seine Beine unter seinem Gewicht nachgaben. Die Adern an seinem Hals pochten so heftig, als wollten sie zerreißen.
»Ich bin Bruder Simon gefolgt«, begann er schwer atmend. »Wie du befohlen hast. Er … er wurde von zwei Männern aufgegriffen, aber zuerst schienen sie freundlich. Trotzdem hielt ich mich noch weiter verborgen.«
»Das war richtig.« Balestrano nickte. »Weiter?«
»Sie brachten ihn ins Lager«, fuhr der Templer fort. »Ich sah, wie … wie er mit einem von ihnen sprach. Einem Mann in Uniform, vielleicht ihr Anführer, dachte ich.«
»Dachtest du?« Balestrano war die Wortwahl des Kriegers nicht entgangen.
Der Mann nickte. In seinem Gesicht zuckte ein Nerv. »Er ist bei ihnen, Bruder«, stammelte er. »Necrons Verbündeter. Der Mann mit der weißen Strähne.«
Balestrano keuchte. Sein Herz machte einen schmerzhaften Sprung. »Craven?«, fragte er ungläubig. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher!«, antwortete der Templer. »Ich habe ihn erkannt. Ganz genau. Bruder Simon sah ihn auch und versuchte ihn zu töten, aber sie waren schneller. Sie … sie haben ihn erschossen. Er hatte keine Chance.«
»Craven?«, murmelte Balestrano, als hätte er die letzten Worte des Mannes gar nicht gehört. »Robert Craven? Er lebt? Und er ist hier?«
Der Mann nickte. Er sagte nichts mehr und auch Balestrano verfiel für lange Minuten in Schweigen. Hinter ihm bewegten sich Schatten. Die Dunkelheit grinste höhnisch. Aber das sah niemand.
Und selbst wenn Balestrano es gesehen hätte – jetzt wäre es ihm gleich gewesen.
»Ruf die anderen zusammen«, sagte er nach einer Weile. »Erzähle ihnen, was geschehen ist. Und dann haltet euch bereit.« Plötzlich war alle Schwäche aus seiner Stimme gewichen. »Wir greifen das Lager an, noch ehe die Sonne aufgeht.«
»Nichts mehr zu machen.« Annie seufzte, richtete sich mit einer sonderbar hilflos wirkenden Bewegung auf, und warf einen raschen, fast hilfesuchenden Blick auf Sitting Bull. Aber auch der alte Sioux-Häuptling schüttelte nur den Kopf.
Er hatte Pedersen als Erster untersucht, aber selbst seine geschickten Hände waren zu spät gekommen. Der junge Arzt musste auf der Stelle tot gewesen sein.
»Es tut mir Leid«, sagte Annie, diesmal an Slaugther gewandt, der mit steinernem Gesicht und vor der Brust verschränkten Arme vor dem Zeltausgang stand. Seit dem uns allen unerklärlichen Amoklauf des Tempelritters waren kaum fünf Minuten vergangen und draußen im Lager herrschte noch immer helle Aufregung. Durch die dünnen Zeltbahnen drangen aufgeregte Stimmen, Schritte und Schreie, dann und wann das Wiehern eines Pferdes oder Hufschlags. Slaugther war vor wenigen Augenblicken wieder zu uns hereingekommen, nachdem er den Toten flüchtig untersucht und seine Männer auf die Felsen über dem Lager gescheucht hatte, wo Sie mit entsicherten Gewehren Wache standen. Seltsamerweise hatte er kein Wort gesagt; bisher.
Jetzt aber blitzte es in seinen Augen auf. »Leid?«, wiederholte er Annies Worte. Seine Stimme hatte einen beißenden Klang. »So, es tut Ihnen also Leid, Miss Oakley.« Er schürzte die Lippen, atmete hörbar ein und blickte einen Moment auf Pedersen herab, ehe er fortfuhr, viel leiser und mit völlig veränderter Betonung: »Es ist schön, wenn es Ihnen Leid tut, Miss Oakley. Vor allem, wenn man bedenkt, wie erfüllt Pedersens Leben bisher gewesen ist. Und lang.« Er sah auf, blickte aber mich an, nicht Annie, als spüre er instinktiv, wer der Hauptverantwortliche für all das hier war. »Diese Mission hier war sein erster Befehl, wissen Sie das, Craven?«
»Bitte, Captain«, sagte ich. »Sie müssen uns glauben, dass es uns Leid tut. Niemand wollte das.«
»Natürlich nicht, Craven«, antwortete Slaugther. »Dieser Irre wollte nicht Pedersen treffen, nicht wahr, sondern Sie? Der Dolch galt Ihnen.«
Ich nickte. Es wäre wohl ziemlich albern gewesen, das Offensichtliche abzustreiten.
»Warum?«, fragte Slaugther ruhig.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete ich. »Ich weiß nicht einmal -«
Slaugther schlug warnungslos zu.
Ich sah seine Faust kommen, aber meine Reaktion war viel zu langsam. Slaugthers Hieb ließ mich zurücktaumeln und stürzen. Einen Moment lang blieb ich benommen liegen, dann öffnete ich stöhnend die Augen, hob die aneinander gebundenen Hände und betastete meine Unterlippe. Sie war aufgeplatzt und blutete stark. Mein ganzer Kiefer war taub.
»Fühlen Sie sich jetzt besser?«, fragte ich leise.
Slaugther starrte auf mich herab, kam näher und blieb breitbeinig über mir stehen. Seine Hände waren noch immer zu Fäusten geballt.
»Sie werden mir jetzt endlich sagen, was hier vorgeht, Craven«, sagte er, ganz ruhig, aber in einem so drohenden Ton, dass ich einen eisigen Schauder verspürte. Ich wollte antworten, aber Slaugther sprach mit der gleichen, eisigen Betonung weiter: »Ich will kein ich weiß es nicht und das verstehen Sie ja doch nicht mehr hören, Craven, ist das klar? Es ist mir scheißegal, ob ich das Recht dazu haben oder nicht, aber ich werde die Wahrheit aus Ihnen herausprügeln, wenn es sein muss. Ich will wissen, was dieser Mumpitz zu bedeuten hat! Zuerst treffe ich auf eine Bande verrückter Rothäute, dann auf eine übergeschnappte Kannibalentochter und dann dieser Kerl im Affenkostüm, der herkommt und einen meiner Leute umlegt! Zum Teufel, ich will jetzt eine Antwort oder ich hänge Sie höchstpersönlich auf, Craven!«
Ich wagte es nicht mehr, ihm zu widersprechen. Nicht einmal so sehr aus Angst, sondern viel mehr, weil ich ihn im Grunde verstehen konnte. Für jemanden, der die Vorgeschichte nicht kannte, musste dies alles wie die Uraufführung eines Laienspielstückes aus dem Irrenhaus aussehen. Allerdings aus der geschlossenen Abteilung.
Mühsam setzte ich mich auf, wischte mir mit dem Handrücken das Blut vom Kinn und sah zu Slaugther hoch. »Glauben Sie mir, wenn ich sage, dass ich wirklich nicht weiß, warum der Templer versucht hat, mich zu töten?«, fragte ich.
»Templer?«
»Der Mann im Affenkostüm, wie Sie ihn nannten, Captain«, mischte sich Lance ein. »Das, was Sie als Affenkostüm bezeichneten, ist die traditionelle Tracht der Rit -«
Lance verstummte, als sich Slaugther halb herumdrehte und ihn anstarrte. Er wurde blass. Aber Slaugthers erwarteter Wutausbruch kam nicht. »Ich weiß, was ein Tempelritter ist, Professor«, sagte er ruhig. »Genauer gesagt, was sie waren. Dieser Orden ist vor fünfhundert Jahren aufgelöst worden. Denken Sie sich etwas Intelligenteres aus, wenn Sie mich für dumm verkaufen wollen.«
»Der Professor sagt die Wahrheit«, sagte ich. »Der Templerorden wurde offiziell ausgelöscht, aber in Wahrheit existierte er weiter. Es gibt ihn noch heute. Verdammt nochmal, Sie haben es doch mit eigenen Augen gesehen!«
Slaugther starrte auf mich herab und schwieg.
»Sie laufen natürlich nicht mehr in ihren historischen Gewändern herum«, fuhr ich fort, ein wenig unsicher geworden. »Eigentlich tragen sie sie nur noch, wenn sie sich im Geheimen treffen.« Oder wenn sie in den Kampf ziehen, fügte ich in Gedanken hinzu. Aber das sprach ich vorsichtshalber nicht aus. Hätte ich auch noch versucht, Slaugther von Necron und der Drachenburg und allem anderem zu erzählen, hätte er mir wahrscheinlich schlichtweg einen Knebel verpasst und mich ins nächste Irrenhaus geschleift. Oder auf der Stelle erschossen.
»Und?«, sagte Slaugther, als ich nicht schnell genug weitersprach.
»Das und verstehe ich selbst nicht«, gestand ich. »Ich kenne diese Männer; recht gut sogar. Aber bis vor ein paar Minuten war ich der Meinung, dass wir … nun, zumindest Verbündete sind, wenn schon keine Freunde.«
Aber noch während ich diese Worte aussprach, musste ich an eine Szene denken, die erst wenige Tage zurücklag: Der Mann, der Pedersen getötet hatte, war nicht der erste Templer gewesen, der versuchte, mich umzubringen. Reynaud de Mezieres hatte das gleiche versucht. Aber damals war einfach zu viel geschehen, als dass ich Zeit gefunden hätte, darüber nachzudenken. Was zum Teufel war in Paris geschehen, dass die Templer mit einem Male versuchten, mich umzubringen?
»Das ist also alles«, vergewisserte sich Slaugther.
Ich nickte. »Alles, was ich Ihnen im Moment erklären kann, Captain«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie dieser Mann hierher kommt. Und ich weiß noch viel weniger, warum er mich töten wollte. Das ist die Wahrheit.«
Ich sah ihn durchdringend an und ich tat noch ein kleines bisschen mehr: Ich griff ganz behutsam nach seinem Geist. Nicht, dass ich ihn wirklich hypnotisierte oder ihm seinen freien Willen nahm; nein – aber ich gab ihm einen ganz kleinen Schubs in die richtige Richtung. Als ich den Blick senkte, war er deutlich mehr geneigt, mir zu glauben.
Was nicht etwa hieß, dass er auch nur einen Deut freundlicher geworden wäre.
»In Ordnung, Craven«, sagte er hart. »Für jetzt belassen wir es dabei. Ich finde auch ohne Ihre Hilfe heraus, was es mit diesen Verrückten auf sich hat, glauben Sie mir.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Cody.
Slaugther schnaubte. »Ich werde ein paar meiner Männer losschicken«, sagte er. »Möglicherweise schleichen ja draußen noch mehr von diesen … ausgestorbenen Tempelrittern herum. Dieser Wahnsinnige sprach in der Mehrzahl, haben Sie das vergessen?«
»Eine Patrouille?« Ich erschrak. »Um Gottes willen, tun Sie das nicht, Captain.«
Slaugthers Augen wurden zu engen, misstrauisch zusammengepressten Schlitzen. »Und warum nicht, wenn ich fragen darf, Mister Craven?«
»Weil Sie keinen Ihrer Männer wiedersehen würden, Captain«, antwortete ich. »Glauben Sie mir – wenn dort draußen wirklich noch mehr Tempelritter sind, reiten Ihre Leute in den sicheren Tod.«
»So?«, fragte Slaugther. »Das klingt überzeugend. Allerdings gibt es noch eine andere Möglichkeit – nämlich die, dass Sie Angst um Ihre Freunde haben, Craven. Wer weiß, vielleicht könnte einer von ihnen etwas erzählen, was Ihnen nicht in den Kram passt.«
»Captain, ich meine es ernst!«, sagte ich. »Ihre Leute haben keine Chance!«
»Gegen einen Haufen Verrückter in bunten Kleidern und mit langen Messern?« Slaugther lachte böse. »Dies hier ist die US-Kavallerie, Craven. Kein Kindergarten!«
Aber wieder war es Lance, der mir beisprang. Und diesmal ignorierte er sogar Slaugthers drohende Blicke. »Sie sollten diese Warnung ernst nehmen, Captain«, sagte er ruhig. »Nach allem, was ich über die Tempelritter gehört und gelesen habe, sollen sie so gut wie unbesiegbar gewesen sein.«
Slaugther machte ein obszönes Geräusch. »Scheiße, Professor. Gehen Sie raus. Vor dem Zelt liegt einer ihrer unbesiegbaren Tempelritter. Und er ist ziemlich tot.«
»Das war etwas ganz anderes«, sagte ich. »Er kam freiwillig hierher und ihre Leute hatten die Waffen auf ihn angelegt. Dort draußen in der Dunkelheit haben sie keine Chance. Die Wüste ist ihr Element!«
Slaugther antwortete gar nicht mehr. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und stampfte aus dem Zelt.
»Dieser Narr«, flüsterte Postlethwaithe. »Wenn das dort draußen wirklich Tempelherren sind, wird er ein Gemetzel erleben, gegen das Alamo ein Spaziergang war.«
Ich sagte nichts darauf. Aber irgendwo in meinen Gedanken war eine kleine gehässige Stimme, die mir zuflüsterte, dass Lance wohl eher untertrieben hatte.
Es musste eine gute halbe Stunde vergangen sein, seit Slaugther uns allein gelassen hatte – nicht allerdings, ohne eine gleich vierfache Wache draußen vor dem Zelt zurückzulassen. Ihre Umrisse waren deutlich durch den dünnen Zeltstoff hindurch zu erkennen und manchmal drang das leise Klirren von Metall herein, wenn sie an ihren Waffen spielten. Ich glaubte ihre Nervosität beinahe riechen zu können.
Die Aufregung draußen im Lager indes hatte sich allmählich gelegt, wie ich durch den schmalen Spalt im Eingang erkennen konnte, und auch hier drinnen im Zelt war es sehr still geworden. Wir hatten kaum ein Wort gewechselt, seit Slaugthers dramatischem Abgang. Annie und Bill hockten in einer Ecke, gegeneinander gelehnt und Annie mit geschlossenen Augen, den Kopf an Codys Schulter geschmiegt. Für einen Moment spürte ich einen Anflug absurder Eifersucht. Aber wirklich nur für einen Moment.
Mit einem resignierenden Seufzer drehte ich mich herum und blickte wieder auf Priscylla herab. Sie schlief noch immer und auf ihren Zügen lag noch immer dieser mir Angst machende, seltsam zufriedene Ausdruck. Ich spürte einen eisigen Schauer. Ich hatte mich lange gegen den Gedanken gewehrt, aber es war so: Ganz langsam, aber unaufhaltsam, begann ich Angst vor Priscylla zu empfinden. Nicht vor ihr natürlich, aber vor dem, in was sie sich verwandelt hatte. Ihr Geist war tiefer denn je im Banne finsterer Magie. Und ich bezweifelte, dass es mir jemals gelingen würde, ihn jemals wieder ganz daraus zu lösen.
Mein Blick fiel auf das NECRONOMICON, diese in schwarzes Leder gebundene Monstrosität, die auf ihrer Brust lag, und fast ohne mein Zutun hob ich die Hand und streckte sie nach dem Buch aus.
Aber ich führte die Bewegung nicht zu Ende. Möglicherweise würde es mir sogar gelingen, dieses Buch zu nehmen und aufzuschlagen, und möglicherweise war es mir sogar möglich, das zu tun, was mir ein kleiner lästerlicher Kobold hinter meiner Stirn seit geraumer Weile zuflüsterte und darin zu lesen, um einen Bannspruch zu finden, der Priscylla befreite. Ja, ich war in diesem Moment sogar sicher, dass ich es gekonnt hätte.
Aber ich war auch genauso sicher, dass es nicht helfen würde. Vielleicht würde ich Priscyllas Geist befreien, aber was immer geschah, es würde nur noch schlimmer werden. Man konnte das Böse nicht mit dem Bösen bekämpfen, ohne mehr Böses zu zeugen.
»Glaubst du, dass du ihr helfen kannst?«, fragte eine Stimme hinter mir. Ich sah auf, zog die Hand beinahe erschrocken zurück und blickte in Postlethwaithes Gesicht. Er stand hinter mir und hatte die Brille abgenommen, um in Gedanken damit zu spielen. Er sah sehr alt aus. Müde.
»Helfen?« Ich zuckte mit den Achseln.
»Wenn das alles hier vorbei ist, meine ich«, sagte Lance. Er setzte sich mir gegenüber auf die Bettkante, strich Priscylla mit spitzen Fingern eine Haarlocke aus der Stirn und musterte das Buch, als sehe er es zum ersten Mal. Aber er ging mit keinem Wort darauf ein.
»Wenn wir das alles hier überleben, vielleicht«, antwortete ich nach einer Weile. »Wenn. Aber ich bin nicht sicher, dass es so kommt.«
»Das da draußen sind wirklich Tempelritter, nicht?«, fragte Lance plötzlich, und mir wurde klar, dass ihm diese Frage schon die ganze Zeit auf der Seele gelegen hatte. »Ich meine, echte Templer, kein Haufen Verrückter, der sich in historische Kostüme gekleidet hat, wie Slaugther glaubt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind echt, Lance. Ich fürchte, nur zu echt.«
»Wenn das stimmt, schickt Slaugther seine Patrouille in den Tod«, sagte Lance bestimmt. »Dieser Idiot!«
»Er kann nichts dafür«, sagte ich schwach. »Er ist bestimmt kein Mann, den ich zum Freund haben möchte, aber du kannst nicht verlangen, dass er wirklich begreift, was hier geschieht. Ich an seiner Stelle würde nicht anders reagieren.« Plötzlich lachte ich leise. »Der arme Kerl tut mir fast Leid. Ich glaube, wenn jetzt auch noch Howard in Begleitung Kapitän Nemos auftauchen würde, würde er völlig durchdrehen.«
»Nemo?« Lance runzelte die Stirn. »Du meinst den Nemo? Den Kapitän der NAUTILUS? Es … es gibt ihn wirklich?«
Ich nickte.
»Und das Schiff auch?«
»Ich bin darauf gefahren«, antwortete ich.
Lance starrte mich einen Moment ausdruckslos an, dann nickte er, zog sein Taschentuch aus der Jacke und begann mit kleinen nervösen Bewegungen seine Brille zu polieren. »Natürlich«, murmelte er. »Warum frage ich eigentlich? Ich habe einen leibhaftigen Dinosaurier gesehen, bin lebenden Steinfiguren begegnet und ein paar Gespenstern und ich habe mich mit einem Engel unterhalten, der …« Er brach ab, schluckte nervös und sah mich betroffen an. »Verzeih«, murmelte er. »Ich … ich wollte nicht … ich wollte dich nicht daran erinnern.«
»Schon gut.« Ich lächelte, obwohl es mir schwer fiel. »Es ist … nicht schlimm. Vielleicht muss ich irgendwann einmal darüber reden.«
»Du hast sie geliebt, nicht wahr?«
»Shadow?«
Lance nickte. »Shadow. Uriel.«
Diesmal fiel es mir schwer, meine Fassung zu wahren. Selbst Cody blickte auf und sah Lance einen Moment lang erschrocken an.
»Du … du weißt, wer …« Ich brach ab. Ich selbst hatte erst in Necrons Burg – und auch nur durch einen vielleicht nicht ganz unbeabsichtigten Versprecher Necrons – erfahren, wie Shadows wirklicher Name war. Und ich hatte es bisher einfach nicht wahrhaben wollen.
»Sie hat es mir nicht gesagt«, sagte Lance. »Wenn es das ist, was dich so erschreckt. Aber ich kann lesen. Und denken.« Er lächelte. »Es gibt nur vier, Bob. Und wie ein Michael oder ein Lucifer sah sie nicht gerade aus. Wie ein Gabriel übrigens auch nicht.« Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht ganz.
Ich war dankbar, dass in diesem Moment draußen vor dem Zelt Schritte laut wurden und Slaugther zurückkam. Er wirkte aufgeregt. Der Verband über seinem Ohr war dunkel geworden und durchgeblutet, aber das schien er nicht einmal zu bemerken.
»Kommen Sie, meine Herren«, sagte er aufgeregt. »Ich denke, das dort draußen wird sie interessieren.«
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Die Patrouille kommt zurück«, erklärte Slaugther triumphierend. »Unversehrt. Und mit einem ihrer unbesiegbaren Tempelheinis als Gefangenen!« Er trat vom Eingang zurück und fuchtelte ungeduldig mit den Händen, als wir nicht schnell genug aus dem Zelt kamen.
Ich teilte seinen Optimismus allerdings nicht zur Gänze. Wenn sich dort draußen in der Wüste wirklich eine Abteilung von Jean Balestranos Tempelrittern aufhielt, war es schwer vorstellbar, dass sie sich von ein paar Kavalleriesoldaten überrumpeln ließen.
Andererseits hatten die Soldaten den Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite. Der Templer, der Pedersen getötet hatte, hatte sichtlich nicht damit gerechnet, mich bei den Soldaten anzutreffen, und den Vereinigten Staaten von Amerika hatten die Tempelherren meines Wissens nach den Krieg noch nicht erklärt. Möglicherweise waren es auch nur zwei oder drei Mann gewesen. Ich hatte den Untergang der Drachenburg mit eigenen Augen mitangesehen. Wenn ihn einige der Angreifer überlebt hatten, mussten sie am Ende ihrer Kräfte sein.
Aber all diese Fragen waren reine Zeilenschinderei. Ich würde die Antworten in wenigen Minuten bekommen.
Slaugthers ganze Truppe war am westlichen Ende des Lagers zusammengelaufen, ausgenommen die Männer, die Ixmals Indianer bewachten – aber selbst sie blickten neugierig in die Richtung, aus der sich der Hufschlag der Patrouille näherte. Einzig die drei Soldaten, die auf den Felsen oberhalb des Lagers Aufstellung genommen hatten und mit schussbereiten Gewehren in die Nacht hinausstarrten, rührten sich nicht.
Unvermittelt blieb ich stehen und blickte noch einmal zu den drei nur als bloße Schatten erkennbaren Männern auf den Felsen hinauf. Der Hufschlag war jetzt schon sehr nahe gekommen und beinahe glaubte ich in der Dunkelheit jenseits des Feuers schon die Gestalten der vier Reiter zu erkennen – aber die Männer dort oben bewegten sich nicht.
»Slaugther!«, rief ich.
Slaugther reagierte nicht.
»Slaugther!«, rief ich noch einmal und jetzt so laut, dass sich ein paar der Kavalleriesoldaten herumdrehten und stirnrunzelnd in meine Richtung blickten. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
Aber es war schon zu spät, selbst wenn Slaugther auf meine Warnung gehört hätte – was er nicht tat.
Die Reiter waren heran. Sie ritten nicht im Galopp, aber doch sehr schnell, sodass der Gefangene, der zwischen ihnen ging, aus Leibeskräften rennen musste, um nicht von dem Lasso zu Boden gerissen und mitgeschleift zu werden, mit dem er gefesselt war. Sie nahmen ihr Tempo auch nicht zurück, als sie näher kamen, so dass Slaugthers Soldaten, die zusammengelaufen waren, instinktiv zurückzuweichen begannen.
Und in diesem Moment bewegten sich die Soldaten oben auf den Felsen.
Was danach kam, ging so schnell, dass ich nicht einmal mehr Gelegenheit zu einem erschrockenen Ruf fand.
Der Gefangene, der mit weit ausgreifenden Schritten zwischen den vier Reitern einherlief, stolperte plötzlich, schlug lang hin und wurde ein Stück weit mitgeschleift.
Dann ließ er das Seil los.
Und im gleichen Moment eröffneten seine vier Bewacher das Feuer auf Slaugthers Männer.
Die Überraschung war vollkommen. Die vier Gewehrschüsse krachten unglaublich rasch hintereinander und jeder einzelne traf sein Ziel. Vier von Slaugthers völlig überrumpelten Soldaten sanken getroffen zu Boden, aber schon peitschte die nächste Gewehrsalve und wieder brachen zwei der Blauröcke in die Knie. Die anderen spritzen in heller Panik auseinander, als die vier Reiter ihren Tieren die Sporen in die Seiten trieben und rücksichtslos auf sie zusprengten, unterstützt von dem fünften Mann, der jetzt kein Lasso, sondern ein scharf geschliffenes Schwert in den Händen hielt. Und auch in den Händen der Reiter blitzten plötzlich tödliche Klingen, die sie mit erbarmungsloser Wucht auf die flüchtenden Soldaten heruntersausen ließen.
Abermals krachten Schüsse, aber es dauerte einen Moment, bis mir klar wurde, dass es nicht die vier Angreifer waren, die jetzt auf die Soldaten feuerten – sondern die Wächter oben auf den Felsen! Genau genommen dauerte es bis zu dem Moment, in dem eine Gewehrkugel wie eine bösartige Bleihornisse an meinem Ohr vorbeisummte und neben mir in den Boden fuhr.
Instinktiv ließ ich mich fallen, rollte über die Schulter ab und landete unsanft auf der Nase, als ich die Bewegung beenden und aufspringen wollte, von meinen Fußfesseln aber nachhaltig daran gehindert wurde.
Mein Missgeschick rettete mir das Leben, denn der nächste Schuss war besser gezielt gewesen: Die Kugel pfiff genau dort entlang, wo sich mein Kopf befunden hätte, wäre ich aufgestanden. Hastig fuhr ich herum, kroch auf Händen und Füßen ein Stück zur Seite und richtete mich erst wieder auf, als ich im Sichtschutz des Zeltes angelangt war.
Was ich sah, ließ mich vor Entsetzen abermals erstarren. Seit dem heimtückischen Überfall war noch keine halbe Minute vergangen, aber das Lager glich einem Schlachtfeld. Die vier Templer waren aus den Sätteln gesprungen und feuerten jetzt nicht mehr aus ihren Gewehren, aber sie hatten ihre Schwerter gezogen und wüteten damit fürchterlich unter Slaugthers Männern. Es war ein bizarrer Anblick: die Soldaten waren bis an die Zähne bewaffnet und alles andere als Schwächlinge oder feige – und doch schienen sie keine Chance gegen die rasenden Templer zu haben. Wer jemals die Behauptung aufgestellt hat, dass Schusswaffen einem Schwert überlegen seien, der hat nie gesehen, was eine solche Waffe in der Hand eines Mannes anrichten konnte, der wirklich damit umzugehen verstand. Hinzu kam die Überraschung, die wirklich vollkommen gewesen war.
Und die Tatsache, dass es ein Selbstmordkommando war.
Die Templer mussten wissen, dass sie keine Chance hatten, den Angriff zu überleben. Aber es war ihnen sichtlich egal. Ich sah, wie einer von Slaugthers Männern endlich auf die Idee kam, seinen Revolver zu ziehen und auf einen der Angreifer anzulegen, aber der Templer machte nicht einmal den Versuch, auszuweichen, sondern drang mit hoch erhobenem Schwert auf ihn ein.
Der Soldat drückte ab, traf und der Templer stürmte weiter, rannte dem unglückseligen Kavalleristen sterbend das Schwert in den Leib und brach über seinem Opfer zusammen.
Wieder krachte eine ganze Salve dumpfer Gewehrschüsse. Zwei, drei von Slaugthers Leuten brachen getroffen zusammen, und irgendetwas fuhr mit einem hörbaren »Flopp!« dicht neben meiner Schulter durch die Zeltbahn und wühlte den Boden auf.
»Annie!«, schrie ich. »Die Wächter! Es sind Templer!«
Annie Oakley reagierte so, wie ich gehofft hatte. Sie hatte sich zu Boden geworfen wie ich, als das Schießen begann, aber jetzt sprang sie auf, lief – durch die Fußfesseln behindert, aber trotzdem sehr schnell – auf einen gefallenen Soldaten zu und warf sich auf ihn. Noch im Fallen riss sie seine Waffe aus dem Holster, rollte herum und gab kurz hintereinander drei Schüsse ab. Danach war niemand mehr da, der uns von den Felsen herab unter Feuer nehmen konnte.
Und auch der Kampf vor uns war zu Ende. Slaugthers Soldaten, die sich endlich von ihrem Schrecken erholt hatten, hatten die fünf Tempelritter überwältigt.
Aber welchen Preis hatten sie dafür bezahlt!
Ich sah auf Anhieb mindestens sechs Tote; und eine weitaus größere Anzahl mehr oder weniger schwer Verwundeter. Auch Slaugther selbst war nicht ganz ungeschoren davongekommen: ein langer, wenn auch nicht sehr tief gehender Schnitt zierte seine rechte Wange, als er wutschnaubend vor mir auftauchte. Seine Augen flammten vor Zorn wie kleine, lodernde Kohlen. Wie ein leibhaftiger Racheengel stapfte er auf mich zu, stieß Sitting Bull, der sich ihm in den Weg stellen wollte, einfach beiseite und grabschte mit einer seiner nicht gerade kleinen Hände nach mir. Ich versuchte beiseite zu springen, war aber nicht schnell genug, sodass er mich zu fassen bekam und wie eine Strohpuppe schüttelte.
»Sind Sie jetzt zufrieden, Craven?«, brüllte er. »Sehen Sie sich um – das alles ist Ihr Werk!« Damit versetzte er mir einen Stoß, der mich nach vorne und auf die Knie taumeln ließ, riss mich aber sofort wieder hoch und holte mit der freien Hand aus, als wolle er mich schlagen. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende und irgendetwas in seinem Blick schien zu erlöschen; statt der brodelnden Wut, die ich noch einen Sekundenbruchteil zuvor darin gesehen hatte, machten sich Erschrecken und dann ein dumpfer Schmerz in seinen Augen breit.
»Verzeihen Sie«, murmelte er. »Ich habe einfach die Beherrschung verloren.«
»Das macht nichts«, log ich. Meine Knie schmerzten, so wuchtig hatte er mich zu Boden gestoßen. Trotzdem fiel es mir schwer, Slaugther wirklich böse zu sein. Ich glaube nicht, dass ich den Schock, den die Ereignisse für ihn bedeuteten, wirklich in vollem Umfang verstehen konnte. Beinahe tat er mir sogar Leid.
Slaugther trat unruhig von einem Bein auf das andere, zog seinen Colt aus dem Holster und steckte ihn wieder zurück. Seine Finger spielten nervös am Griff der Waffe. Sein Blick huschte über das Lager, das sich unversehens in ein Schlachtfeld verwandelt hatte, dann über die Felsen, auf denen die Wächter gestanden hatten, und blieb schließlich an der Waffe in Annies Händen haften.
Annie Oakley hielt ihm den Revolver hin, wobei sie die Waffe am Lauf ergriff. Slaugther machte Anstalten, sie zu nehmen, aber dann schüttelte er den Kopf. »Behalten Sie das Ding«, murmelte er. »Sieht so aus, als könnten Sie besser damit umgehen als ich.«
Annie schob den Colt nachlässig unter ihren Gürtel und musterte Slaugther stirnrunzelnd. »Sie haben nicht zufällig das Bedürfnis, sich bei mir zu bedanken, Captain?«, fragte sie spitz.
Slaugther schluckte und verlor noch ein kleines bisschen mehr an Farbe. Aber er sagte kein Wort, sondern fuhr mit einem Ruck herum und deutete mit dem Zeigefinger auf Cody. »Sie«, sagte er. »Gehen Sie zu meinem Adjutanten und lassen Sie sich von ihm ein Gewehr geben. Und sie -«, damit wandte er sich wieder an mich, »- werden mir jetzt endlich sagen, was hier gespielt wird.«
Sein abermaliger Stimmungsumschwung verwirrte mich ein wenig. Ich hatte nicht erwartet, dass er mir um den Hals fallen und Blutsbrüderschaft mit mir schließen würde, aber was jetzt geschah, ließ mich schaudern. Slaugthers Wut war einem kalten, vielleicht noch schlimmeren Zorn gewichen. Für einen Moment hatte ich wirklich Angst vor ihm.
»Ich weiß es nicht, Captain«, gestand ich.
»Aber wir haben sie gewarnt«, fügte Lance hinzu.
Slaugther schenkte ihm einen bösen Blick und wandte sich wieder an mich. Seine Augen wurden schmal. »Dann erzählen Sie mir doch einfach alles, was sie nicht wissen«, sagte er lauernd. »Nur zu, Craven. Ich bin ganz Ohr.«
Zum Teufel, was sollte ich ihm erzählen? Ich wusste doch selbst nicht, was hier vorging. Die Templer waren zweifellos Überlebende der Streitmacht, die Necrons Burg geschleift hatte – aber wenn, dann waren sie zumindest potenziell unsere Verbündeten. Warum sie uns angriffen, war mir ein Rätsel. Und genau das sagte ich Slaugther. Diesmal unterbrach er mich nicht, sondern hörte schweigend zu, während ich versuchte, ihm so wenig wie möglich von der Wahrheit zu verraten, ohne direkt lügen zu müssen.
»Sie sagen, dieser … Geheimbund und Sie wären Verbündete?«, sagte er schließlich, als ich zu Ende gekommen war.
»Nicht direkt«, schränkte ich ein. »Aber wir sind auch alles andere als Feinde.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, grollte Slaugther. »Ein halbes Dutzend von meinen Männern ist tot, Craven. Irgendjemand wird dafür bezahlen, das schwöre ich Ihnen. Ich möchte nur wissen, wohin ich die Rechnung zu schicken habe.«
»Sie werden nichts mehr irgendwohin schicken, wenn sie wiederkommen, Slaugther«, sagte Annie ruhig. »Oder glauben Sie wirklich, das war alles?« Sie deutete auf die toten Templer und verzog die Lippen zu dem humorlosesten Lächeln, das ich jemals gesehen hatte. Wenigstens bis dahin. Eine Sekunde später blickte ich in Slaugthers Gesicht und erkannte ein Grinsen darin, das selbst Vlad Dracul persönlich einen Schauder über den Rücken gejagt hätte.
»Natürlich nicht«, sagte er kalt. »Aber das nächste Mal sind wir vorbereitet. Ich werde ihren maskierten Freunden einen Empfang bereiten, mit dem sie bestimmt nicht rechnen.«
Lance seufzte, schüttelte den Kopf und griff sich an die Nase, um seine Brille zurecht zu rücken. »Sie begreifen es immer noch nicht, wie?«, seufzte er.
»Was?«, schnappte Slaugther. »Dass Sie und Ihre Freunde nicht die harmlose Reisegesellschaft sind, für die Sie sich ausgegeben haben?«
»Dass unsere maskierten Freunde, wie Sie sie bezeichnen, alles andere als harmlose Verrückte sind«, korrigierte ihn Lance ungerührt. »Sie und Ihre Männer in Ehren, Captain, aber sie stehen der besten Armee der Welt gegenüber. Den am besten ausgebildeten Soldaten, die es jemals gegeben hat.«
»Im Moment stehe ich nur ein paar Toten gegenüber«, antwortete Slaugther abfällig. »Sie haben uns überrascht. Das nächste Mal werden sie sich blutige Köpfe holen, verlassen Sie sich darauf.«
Lance sagte gar nichts mehr. Aber sein Blick wurde plötzlich sehr besorgt.
»Alle deine Männer werden sterben«, sagte das Ding. Balestrano war allein mit ihm und der Nacht. Vor einer halben Stunde waren die Schüsse auf der anderen Seite des Berges verklungen und keiner der acht Krieger, die er losgeschickt hatte, war zurückgekommen. Es würde auch keiner mehr kommen. Er hatte einen Fehler begangen, einen entsetzlichen, nicht wieder gut zu machenden Fehler. Zorn und Hass hatten sein Urteilsvermögen getrübt, nur für einen Augenblick, aber lange genug, eine Entscheidung zu treffen, die acht der elf Krieger, die ihm geblieben waren, das Leben kostete. Er hatte Robert Craven unterschätzt. Wieder einmal.
»Nun?«, kicherte das Ding, das einmal André de la Croix gewesen war. »Bist du zufrieden, Bruder Jean? Deine Aufgabe ist fast erfüllt. Nur noch drei sind übrig. Gib ihnen Befehl, das Lager anzugreifen, und auch sie werden sterben.« Es lachte, ein böser, schaudernd machender Laut, der einen Moment lang im Wind mitschwang und dann verklang.
»Warum … tust du das?«, stöhnte Balestrano. Er drehte sich um, starrte aus weit aufgerissenen Augen auf die nur schattenhaft erkennbare Gestalt und versuchte die Dunkelheit hinter ihr mit Blicken zu durchdringen. Er war sich nicht sicher, aber irgendetwas war darin, etwas Großes, Kantiges, das sich mit eckigen Bewegungen wie ein absurdes menschengroßes Insekt vor dem Hintergrund des Berges abhob. »Warum quälst du mich so?«
»Das ist eine äußerst dumme Frage für einen Mann deiner Intelligenz, Bruder«, kicherte das Ungeheuer.
»Ich weiß«, stöhnte Balestrano. »Aber warum tötet ihr mich nicht, wenn es das ist, was ihr wollt?«
Der Unheimliche lachte leise; ein Laut, der sich wie das Echo fernen Donners an der unsichtbaren Flanke des Berges brach und sonderbar verzerrt zurückhallte. »Weil du es nicht willst, Bruder«, zischelte er. »Du glaubst, du wärest bereit, aber es ist nur Feigheit. Oh, du würdest dich mit Freuden in dein eigenes Schwert stürzen, verlangte ich es, aber es wäre nicht ehrlich. Du hast uns verraten. Du hast unsere Seelen an den Teufel verschachert, aber du bist nicht bereit, dafür zu bezahlen. Du willst sterben, aber nicht, um zu büßen, sondern aus Feigheit. Sterben ist ja so leicht, nicht?« Er kam näher, hob seine zu einer entsetzlichen Klaue gewordene Hand und berührte Balestrano flüchtig damit an der Wange. Der Templer fuhr schaudernd zurück. Die Haut des Ungeheuers war hart und heiß wie glühendes Sandpapier. »Der Tod ist der Ausweg der Feiglinge«, fuhr die Bestie fort. »Ein kurzer Schmerz und alles ist vorbei, nicht? Aber so leicht kommst du uns nicht davon. Wir werden dich holen, aber erst, wenn du bereit bist.«
»Ihr wollt, dass andere für mich büßen«, murmelte Balestrano. Das Ding antwortete nicht, aber gerade sein Schweigen war Antwort genug. »Ihr tötet meine Männer, damit ich leide.«
»Wir?«, kicherte das Ding. »Du warst es, der sie in den Tod geschickt hat. So wie uns. Aber es sind noch drei übrig. Was ist, Bruder? Worauf wartest du? Warum befiehlst du ihnen nicht hinzugehen und die Soldaten anzugreifen?«
Balestrano schwieg. Seine Gedanken drehten sich wild im Kreis. Er wusste, dass das entsetzliche Wesen Recht hatte, tausend Mal Recht, mit jedem Wort, das es sprach. Ist mein Hass wirklich so groß?, dachte er schaudernd. War sein Wille, Robert Craven zu vernichten, wirklich so übermächtig, dass er nun auch noch die wenigen verbliebenen Männer, die ihm ihr Leben anvertraut hatten, in einen sinnlosen Tod schicken würde. Drei … Drei von fünfhundert.
Plötzlich kam das entsetzliche Wesen abermals näher. Ein Funke von Misstrauen glomm in seinen matten Knopfaugen auf. »Ich weiß, was du jetzt denkst, Bruder«, sagte es hart. »Aber das werden wir nicht zulassen.« Eine schwarze Klauenhand deutete in die Nacht und zum Gipfel des Berges hinauf, zu der Höhle, in der das magische Tor lag. »Du denkst, du könntest sie zurückschicken, damit sie überleben und du dir auf diese Weise auch noch dein Seelenheil erkauft hast, wie? Balestrano, der Märtyrer.« Es machte ein ordinäres Geräusch. »So leicht kommst du uns nicht davon. Sie werden sterben, einer nach dem anderen, und du wirst es sein, der für ihren Tod verantwortlich ist. Es wird genau so sein, als hättest du selbst sie umgebracht.«
»Warum?«, stöhnte Balestrano. »Warum diese Grausamkeit, André? Nur aus Rache?«
»Weil wir Leben brauchen«, zischelte das Wesen. »Der Tod anderer erhält uns am Leben, Bruder. Worüber beschwerst du dich? Du warst es, der uns zu dem gemacht hat, was wir jetzt sind.«
»Leben?« Balestrano starrte ins Leere. Großer Gott, dachte er, ich bin hierher gekommen, um das Böse aus der Welt zu verbannen, und nun bin ich selbst zu seinem Werkzeug geworden.
»Aber ich mache dir einen Vorschlag«, fuhr der Unheimliche fort, wieder mit diesem leisen, satanischen Kichern in der Stimme. »Von den fünfhundert, die du mitgebracht hast, leben noch drei. Drei Narren, die dir trotz allem noch immer vertrauen. Du kannst sie haben. Schick sie zurück, wenn du dafür bezahlst.«
»Bezahlen? Aber womit denn?«, stöhnte Balestrano.
»Mit anderen Leben«, kicherte das Ding. »Mit denen der unschuldigen Soldaten dort. Der Indianer. Robert Cravens und seiner Freunde. Du kennst doch diese Art von Geschäften, nicht wahr? Unser Leben gegen die Vernichtung der Drachenburg. Jetzt biete ich dir einen Handel an. Die Leben deiner drei letzten Männer gegen die deiner Feinde. Drei Leben gegen dreißig. Erlaube uns sie anzugreifen – und deine Männer dürfen gehen.«
»Erlauben?«, wiederholte Balestrano verstört. »Aber wie könnte ich es euch verbieten?«
»Gar nicht«, antwortete das Wesen hart. »Aber es ist nicht die Frage, ob du es kannst, Bruder. Es ist die Frage, ob du es willst.«
Und endlich begriff Balestrano.
Trotz allem hatte er die Bosheit des Ungeheuers unterschätzt, in das sich de la Croix verwandelt hatte. Es stand in seiner Macht, ihn und die drei anderen und die Männer auf der anderen Seite des Berges zu vernichten, so leicht, wie ein Mensch ein Insekt zertrat. Aber er wollte ihn quälen. Er wollte, dass er die Entscheidung traf, seine Männer oder die zehnfache Zahl von Unschuldigen zu opfern. Er wollte ihn zwingen, die Schuld an diesem entsetzlichen Gemetzel zu tragen.
»Nun?«, fragte de la Croix, als Balestrano auch nach einer geraumen Weile noch nicht antwortete. »Wie ist es, Bruder? Einer deiner Freunde gegen zehn deiner Feinde. Ist das ein Angebot?«
»Du Teufel«, murmelte Balestrano.
Das Ding kicherte. »Zu viel der Ehre, Bruder. Und keine Antwort. Also?«
Balestrano antwortete nicht. Aber das war auch nicht nötig. Das Ding vor ihm las seine Gedanken zu mühelos, wie ein aufgeschlagenes Buch. Nach einer Weile verschwand es ohne ein weiteres Wort. Und nach einer weiteren Weile – in der Balestrano starr und wie gelähmt dagestanden hatte, ohne sich zu rühren, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken und ohne zu denken – glomm hoch über ihm dicht unter der Spitze des Berges ein mattgrünes Licht auf.
Dreimal.
Etwas fehlte. Ein Teil in dem gewaltigen Puzzle, dessen Auflösung Tod hieß und in dem auch wir nur kleine Bruchstücke waren, war noch nicht an seinem Platz. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es lebenswichtig für uns war, es zu finden, ehe es einer unserer Feinde tat. Dabei hatte ich die Lösung praktisch schon in Händen gehabt, das spürte ich. Ich hatte sie nur nicht erkannt.
Ohne dass ich mir der Bewegung auch nur bewusst gewesen wäre, hob ich die Hand und berührte Priscyllas Finger. Ihre Haut fühlte sich eiskalt an und irgendwie zu glatt für die Haut einer Lebenden; und ihr Puls ging so schnell, dass ich sein hektisches Rasen bis in ihre Fingerspitzen fühlen konnte. Sie hatte sich nicht geregt, seit wir das Zelt wieder betreten hatten, sondern lag noch immer starr da, mit geöffneten Augen, aber leerem Blick. Auf ihren Zügen lag noch immer dieser entsetzlich zufriedene Ausdruck, der mich schaudern ließ.
Und ihre Linke umklammerte noch immer dieses fürchterliche Buch; wie einen Schatz, von dem ihr Leben abhing.
Vielleicht mehr.
Sitting Bull kam hinter mir beinahe lautlos ins Zelt und trat an meine Seite. Anders als uns hatte Slaugther ihm und den anderen Indianern keine Waffen zugestanden, obgleich Lance und ich ihn beschworen hatten, es zu tun. Aber der Soldat war hart geblieben. Vermutlich hatte er vor Ixmal und seinen Kriegern mindestens ebenso großen Respekt wie vor den Templern, die irgendwo draußen in der Dunkelheit noch lauern mochten.
»Wie sieht es aus?«, fragte Annie.
Statt einer Antwort schüttelte Sitting Bull nur stumm den Kopf. Slaugther hatte sich so gut auf den zu erwartenden Angriff vorbereitet, wie er es zu können glaubte – die Feuer waren bis auf eines dicht an der Felswand gelöscht worden und seine und Ixmals Männer hatten sich aus dem Lichtkreis zurückgezogen, um keine Ziele mehr zu bieten. Oben auf den Felsen stand jetzt einer von Ixmals Indianern und hielt Wache; zumindest in diesem Punkt hatte ich Slaugther überreden können, den Eingeborenen zu trauen. Und Slaugthers Männer waren bereit.
Nur dass all diese Vorsichtsmaßnahmen nichts nutzen würden, glaubte mir Slaugther einfach nicht. Ich hatte auch keinen triftigen Grund für meine Überzeugung angeben können, aber ich spürte einfach, dass der Angriff, mit dem jeder von uns rechnete, völlig anderer Art sein würde, als der Captain glaubte. Es war nur eine Ahnung, aber wenn ich nicht schon vor Jahren gelernt hätte, auf meine Ahnungen zu hören, hätte ich die gleichen Jahre nicht mehr erlebt.
»Wie spät ist es?«, fragte ich müde.
Lancelot Postlethwaithe kramte umständlich seine Taschenuhr unter der Jacke hervor, klappte den Deckel auf und warf einen Blick auf das Ziffernblatt. »Fünf«, sagte er. »Nicht ganz.«
»Bald geht die Sonne auf«, murmelte Cody. »Wenn wir Glück haben und sie …«
Er sprach nicht weiter, sondern brach mitten im Wort ab, als er meinem Blick begegnete. Wir würden ganz bestimmt kein Glück haben. Die Templer dort draußen müssten schon mehr als komplette Narren sein, wenn sie den Vorteil, den ihnen die Dunkelheit bot, nicht ausnutzten. Bei hellem Tageslicht hatten sie keine Chance gegen Slaugthers Soldaten mit ihren modernen, weit reichenden Waffen. Und das wussten sie verdammt gut.
»Wie geht es dem Mädchen?«, fragte Sitting Bull plötzlich.
Ich fuhr zusammen, blickte kurz zu ihm auf und dann wieder auf Priscyllas bleiches, eingefallenes Gesicht herab. »Unverändert«, murmelte ich. »Sie reagiert nicht.« Ich beugte mich vor, um meine Worte zu demonstrieren, hob die Hand über Priscyllas Gesicht und bewegte sie dich vor ihren Augen. »Siehst du?«
Sitting Bull nickte. Sorge spiegelte sich auf seinem alten, faltenzerfurchten Gesicht. »Die Mächte des Schicksales sind gegen uns«, murmelte er, auf eine Art, als wären die Worte gar nicht für uns bestimmt. »Wäre der weiße Mann mit seinen Kriegern nur einen Augenblick später gekommen …«
Verwirrt sah ich auf. »Wie meinst du das?«
Sitting Bull seufzte. »Das Buch«, sagte er schließlich. »Es sind seine Mächte, Robert.«
»Das … NECRONOMICON?«, wiederholte ich verstört. Ich begriff, worauf der alte Sioux hinauswollte, aber es fiel mir schwer, seinen Gedanken zu folgen. »Du meinst, das alles hier hätte … hätte mit ihm zu tun?«
»Wir waren nahe daran, Blitzhaar«, sagte Sitting Bull nickend. »Deine und Ixmals und meine eigenen Kräfte haben ihm wehgetan. Vielleicht hätten wir es besiegt.«
»Aber das … das ist Unsinn!«, widersprach ich, wenn auch eher aus Hilflosigkeit als echter Überzeugung. »Was hat das Auftauchen der Templer …«
Aber ich sprach nicht weiter, denn plötzlich wusste ich es. Von einer Sekunde auf die andere war der fehlende Mosaikstein da.
Für einen winzigen Augenblick glaubte ich die entsetzliche Szene noch einmal zu sehen: Priscylla, die hilflos an den bizarren Marterpfahl gefesselt war, das kalte, alles verzehrende Feuer, das aus dem Buch brach, die gleißenden, nur für mich sichtbaren Linien magischer Energie, die aus dem Buch züngelten …
Nicht alle hatten in Priscyllas Herz geendet. Vier der dünnen, peitschenden Fühler aus purer Energie waren in der Nacht verschwunden, irgendwo in dem lauernden Dunkel, das das Lager umgab …
Ich sprang so heftig auf, dass Sitting Bull instinktiv einen halben Schritt zurückwich und Annie und Lance erschrocken aufblickten. Großer Gott, was für ein Narr war ich gewesen! Ich hatte die Lösung praktisch die ganze Zeit über in Händen gehalten und war einfach zu dumm gewesen, sie zu erkennen! Dabei war es so einfach!
Unsere vereinigten Kräfte hatte das Buch bedroht und vielleicht, wenn wir Zeit zu einem zweiten Versuch gehabt hätten, hätten wir die finstere Macht des NECRONOMICONS sogar gebrochen. Und es hatte nicht anders reagiert, als auch ein lebendes Wesen an seiner Stelle reagiert hätte – es hatte sich gewehrt. Seine unsichtbaren Fühler, die ich für einen winzigen Moment gesehen hatte, hatten hinausgegriffen in die Wüste und schlichtweg Hilfe herbeigerufen! Aber es hatte erst eines uralten Indianerhäuptlinges bedurft, mir die Augen zu öffnen!
»Du weißt, was du da sagst, Sitting Bull?«
»Es ist das Buch, Blitzhaar«, sagte Sitting Bull sehr ernst. »Es lebt noch immer. Und es wird uns alle töten, wenn wir es nicht zerstören.«
Ich starrte ihn an. Zerstören … Ja, vielleicht war es sogar möglich, das NECRONOMICON zu zerstören, denn obgleich es ein Born unendlich mächtiger finsterer Magie war, war es verwundbar.
Aber das Buch zu zerstören, würde nichts anderes als Priscyllas Tod bedeuten. Vielleicht nicht ihren körperlichen Tod, aber der Unterschied war nur akademischer Natur. Der lebende, atmende und noch immer wunderschöne Körper, der vor mir auf der einfachen Pritsche lag, war nicht die Priscylla, die ich liebte. Es war nichts. Nur ein Stück lebendes Fleisch. Trennte ich die Verbindung zwischen ihr und dem Buch gewaltsam, würde er das bleiben, für alle Zeiten.
»Wir haben keine Wahl, Robert«, sagte Sitting Bull leise. Und plötzlich begriff ich, dass er ganz genau wusste, was ich dachte. Er hatte gewollt, dass ich diesen Gedanken dachte.
»Nein«, sagte ich.
Sitting Bull lächelte traurig. »Ich verstehe dich«, sagte er sanft. »Aber es steht mehr auf dem Spiel als ihr Leben.« Er deutete auf Priscylla, dann auf sich selbst. »Oder meines oder das deine«, fuhr er fort. »Slaugthers Soldaten, Ixmal und seine Krieger, wir alle hier – niemand wird die Nacht überleben, wenn wir dem Bösen nicht Einhalt gebieten. Und vielleicht werden noch sehr viel mehr Menschen sterben, wenn sich das Böse ausbreitet, Robert.«
Er hatte Recht. Es änderte nichts an meiner Liebe zu Priscylla und meinem verzweifelten Entschluss, ihr Leben zu verteidigen, aber er hatte Recht. Die Mächte des NECRONOMICONS, entfesselt und ungelenkt, die über eine ahnungslose Welt hereinbrachen – der Gedanke war unvorstellbar.
»Ich kann es nicht«, flüsterte ich. »Nicht um alles in der Welt, Sitting Bull.«
»Ich weiß«, sagte der alte Indianer. »Wenn es dein Wunsch ist, dann … werde ich es tun.«
Jeden anderen hätte ich wahrscheinlich allein um dieser Worte willen umgebracht. Aber ich spürte, dass Sitting Bull es ehrlich meinte.
»Es … würde deinen Tod bedeuten«, sagte ich stockend. Obwohl ich mich mit aller Macht dagegen wehrte, füllten Tränen meine Augen. Meine Stimme begann zu zittern, so heftig, dass ich meine eigenen Worte kaum mehr verstand.
»Ich weiß«, antwortete Sitting Bull ruhig. »Deshalb bin ich es, der dir diesen Vorschlag macht.« Er lächelte milde. »Ich bin ein alter Mann, mein Freund. Die Spanne, die ich noch zu leben habe, ist nicht mehr sehr lang. Der Tod schreckt mich nicht. Und ich rette das Leben sehr vieler anderer damit.«
»Vielleicht«, antwortete ich, noch immer verzweifelt nach Ausflüchten und Gründen suchend, die Sitting Bulls Vorhaben unmöglich machen würden. »Es … es könnte sinnlos sein. Was, wenn … wenn es dich umbringt, ohne dass du ihm schaden kannst?«
»Das wirst du verhindern«, antwortete er. Das Schlimme war, dachte ich entsetzt, dass er es nicht verlangte. Ich war sicher, dass Sitting Bull, Annie und Buffalo Bill mich mit Leichtigkeit überwältigen und festhalten konnten, um das Buch auch gegen meinen Willen zu vernichten. Aber sie überließen mir die Wahl. Sie stellten mich vor die grausame Alternative, das Leben von dreißig oder vierzig Unschuldigen gegen das Priscyllas aufzuwiegen.
»Nun?«, fragte Sitting Bull nach einer Weile.
Ich antwortete nicht, sondern drehte mich mit einem Ruck um und starrte an Annie vorbei gegen die Zeltwand. Tränen rannen über mein Gesicht, aber diesmal versuchte ich nicht einmal mehr sie zurückzuhalten. In meiner Brust begann sich ein tiefer, unglaublich kalter Schmerz auszubreiten. Verzeih mir, Priscylla, dachte ich, immer und immer wieder. Und nach einer Weile hörte ich, wie Sitting Bull hinter mir mit monotoner Stimme uralte Beschwörungsformeln zu flüstern begann …
In einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen und obwohl sie die Wüste binnen Minuten in einen gigantischen Backofen verwandeln würde, war es jetzt noch so kalt, dass mein Atem vor meinem Gesicht sichtbar wurde. Meine Hände zitterten und ich musste mich zu jedem einzelnen Schritt zwingen. Unsichtbare Zentnerlasten zerrten an meinen Beinen und in mir war eine lautlose Stimme, die immer und immer wieder schrie, dass ich herumfahren und Priscylla mit mir nehmen solle, um zu rennen, so weit ich nur konnte.
Stattdessen ging ich weiter auf das prasselnde Feuer zu. Priscylla lag schlaff in meinen Armen, schlafend, aber mit offenen Augen. Sie kam mir sonderbar leicht vor. Das glückliche Lächeln auf ihren Zügen war eine böse Verhöhnung der Gefühle, die in mir tobten.
Wie Sitting Bull von Slaugther die Erlaubnis für eine zweite Beschwörung erlangt hatte, wird mir wohl auf immer ein Rätsel bleiben. Vielleicht hatte er ihn schlichtweg hypnotisiert – etwas, das ich dem alten Sioux ohne weiteres zutraute. Aber gleichwie, es war alles bereit: Das Feuer loderte wieder so hoch wie beim ersten Mal und Ixmals Indianer bildeten einen weiten Halbkreis um den lodernden Holzstapel. Slaugthers Soldaten waren beinahe unsichtbare Schatten in der Dunkelheit ringsum. Alles schien wie beim ersten Mal.
Nur, dass es diesmal kein Rettungsversuch, sondern eine Hinrichtung sein würde.
Sitting Bull blieb stehen und deutete mit einer Kopfbewegung zu Boden. Behutsam ließ ich mich auf die Knie sinken, bettet Priscylla vorsichtig vor mir auf den harten Sand und blieb einen Moment reglos so hocken. Dann richtete ich sie wieder auf, lehnte ihren Oberkörper gegen meine Hüfte und hielt sie fest. So fest ich konnte.
Ixmals Indianer begannen zu summen: nicht das monotone, einlullende Lied vom ersten Mal, sondern eine düstere, aggressive Melodie, die mein Herz zum Rasen brachte. Die Dunkelheit jenseits des Feuers zog sich zusammen wie ein riesiges, körperloses Tier, das Schmerzen litt. Die Flammen überzogen die Felswand mit Blut.
Sitting Bull ging mit langsamen, gemessenen Schritten um mich herum, blieb einen Moment reglos stehen und beugte sich dann zu Priscylla herab. Seine Lippen flüsterten noch immer unhörbare Worte aus einer längst vergessenen Sprache. Er wirkte wie in Trance und war es vermutlich auch.
Und dann ging alles blitzschnell.
Mit einer ungeheuer raschen Bewegung riss Sitting Bull Priscylla das Buch aus der Hand, richtete sich auf und fuhr herum. Priscylla schrie auf, sprengte meinen Griff mit unmenschlicher Kraft und sprang in einer schlichtweg unmöglichen Bewegung auf und hinter Sitting Bull her. Sie verfehlte ihn, aber noch während sie fiel, klammerte sich ihre rechte Hand um Sitting Bulls Bein und riss es zurück. Der alte Sioux taumelte, fiel schwer auf die Seite und stieß einen keuchenden Schmerzlaut aus. Das Buch entglitt seinen Händen, schlitterte ein Stück weit auf das Feuer zu und blieb eine Hand breit davor liegen.
Priscylla kreischte immer noch wie von Sinnen. Abermals sprang sie auf, warf sich auf Sitting Bull und begann ihn mit Fäusten und Fingernägeln zu bearbeiten. Annie und ich versuchten sie zurückzureißen, aber dieses kleingewachsene, zarte Mädchen entwickelte die Kräfte einer Tobsüchtigen. Ich sah, wie Annie von einem fast beiläufigen Hieb getroffen und meterweit davongeschleudert wurde, dann traf mich selbst ein mittelgroßer Vorschlaghammer unter dem Kinn und ließ mich steif wie ein Brett zurückfallen.
Etwas, das härter als der Sand, aber nicht ganz so hart wie Stein war, dämpfte meinen Aufprall. Eine glühende Hand strich über mein Gesicht und versengte mein Haar und meine Brauen.
Instinktiv griff ich zu und spürte steinhartes Leder unter meinen Fingern, dazwischen uraltes Pergament, das wie ein lebendes Wesen pulsierte und bebte. Das NECRONOMICON!
Und im gleichen Moment, in dem sich meine Finger um das uralte Buch des Bösen schlossen, hörte Priscylla auf, aus Sitting Bulls Gesicht Mus zu machen.
Für einen Moment erstarrte sie. Langsam, wie eine Bewegung, die gegen ihren Willen geschah, wandte sie den Kopf und blickte mich an.
Ihr Gesicht war das einer Wahnsinnigen, eine verzerrte Grimasse, in dem die Augen wie kleine brennende Seen loderten. Ihre Lippen bebten. Speichel lief über ihr Kinn. »Robert«, flüsterte sie.
Und vielleicht war es gerade das, was den letzten Anstoß gab.
Sie sprach mit Priscyllas Stimme, jenem sanften, seidenweichen Flüstern, das ich vor so langer Zeit zum letzten Mal gehört hatte. Und plötzlich war Angst in ihren Augen, nackte, panische Angst.
»Robert, tu es nicht«, flehte sie. »Du tötest mich.«
Ich schrie auf, warf mich herum – und schleuderte das NECRONOMICON mit aller Macht in die Flammen.
Priscylla kreischte, fiel von Sitting Bulls Brust herunter und krümmte sich wie unter Schmerzen.
Und etwas anderes, sehr Großes, fiel von den Felsen über dem Lager und landete krachend im Feuer.
Der Anblick war so unglaublich, dass ich für einen Moment allen ernstes an meinem Verstand zweifelte.
Inmitten der prasselnden Flammen stand ein Mann! Sein Aufprall hatte das Feuer auseinander gerissen und brennende Scheite und Funken in alle Richtungen spritzen lassen. Die Felsen waren zehn Meter hoch und im Inneren des lodernden Scheiterhaufens mussten Temperaturen herrschen, die Eisen zum Schmelzen brachten – aber er lebte! Er lebte und richtete sich mühsam auf. Torkelnd, wie benommen von dem harten Aufprall, stemmte er sich auf die Füße, blieb einen endlosen Augenblick lang regungslos stehen und bückte sich dann nach dem NECRONOMICON! Seine Kleider und seine Hände brannten, aber das Buch war unversehrt, als er es aus den Flammen hob.
Dann trat er mit einem einzigen, raschen Schritt aus dem Feuer heraus und blieb dicht vor mir stehen.
Mein Herz wollte es ihm gleich tun, als ich sein Gesicht sah.
Ich konnte die Hitze spüren, die die unmögliche Gestalt ausstrahlte. Das Kettenhemd, das unter den verschmorten Resten seines Templergewandes sichtbar war, glühte. Dünne graue Rauchfäden kräuselten sich von seinen Schultern. Sein Gesicht und seine Hände waren schwarz.
Aber sie waren nicht verbrannt.
Das Ding, das vor mir stand, war kein Mensch.
Es war eine Kreatur, die wie die böse Karikatur eines Menschen aussah.
Alles an ihm war schwarz, ein Schwarz von einer Tiefe, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte. Seine Hände waren Klauen, schrecklich verkrümmte schwarze Krallen aus Horn, und sein Gesicht eine Maske des Entsetzens, schmal, grausam, mit kleinen matten Knopfaugen wie Kugeln aus Stahl, die in eine Maske aus dem gleichen Material eingelassen waren. Der Mund ein Schlitz, aus dem ein fürchterliches, zischendes Lachen kam.
Hinter mir krachte ein Schuss. Ich sah, wie die Kugel gegen seine Stirn schlug, so präzise zwischen seine Augen platziert, dass an der Identität des Schützen kein Zweifel mehr blieb, und als Querschläger davonheulte. Die Horrorgestalt wankte nicht einmal.
Plötzlich krachten irgendwo in der Dunkelheit hinter uns mehr Schüsse. Menschen schrien, ein Pferd kreischte in irrsinnigem Schmerz, von einer fehlgeleiteten Kugel getroffen, dann krachte eine ganze Gewehrsalve. Etwas Dunkles, Unmenschliches huschte dicht am Rande meines Gesichtfeldes vorbei und tötete einen von Ixmals Männern.
Und endlich erwachte ich aus meiner Erstarrung. Mit einem verspäteten Schreckensschrei prallte ich zurück, stolperte über Sitting Bull und schlug rücklings auf den Boden. Die Templer-Karikatur vor mir kicherte böse, folgte mir und blieb abermals stehen. Eine ihrer schrecklichen Klauen streckte sich aus und half Priscylla auf die Füße; die andere, noch immer schwelend, umklammerte das Buch. Es war nicht einmal beschädigt.
Mühsam richtete ich mich auf, kämpfte die Mischung aus Entsetzen und ohnmächtigem Zorn nieder, die sich meiner bemächtigt hatte, und versuchte den Blick des Unheimlichen zu fixieren. Mit aller Macht konzentrierte ich mich.
»Lass es fallen«, sagte ich. »Wirf es ins Feuer!«
Die Gestalt zögerte. Irgendetwas änderte sich im Blick ihrer entsetzlichen Augen, aber ich konnte nicht erkennen, was es war: Furcht oder Spott.
»Wirf es ins Feuer!«, sagte ich noch einmal. Ich unterstrich meine Worte mit aller suggestiven Macht, die ich aufbringen konnte.
»Du verschwendest deine Kräfte, Robert Craven«, sagte eine Stimme hinter mir. Eine Stimme, die ich kannte.
Ich fuhr herum, sprang halbwegs auf die Füße und erstarrte mitten in der Bewegung.
Das Lager hatte sich in ein Chaos verwandelt, einen Hexenkessel aus Schreien und Schüssen und rennenden Gestalten, aber von alledem sah ich kaum etwas. Mein Blick hing wie gebannt auf der schmalschultrigen, weißhaarigen Gestalt im Zeremoniengewand eines Templers, die, begleitet von einem zweiten Monster-Mann, wenige Schritte hinter mir aufgetaucht war.
»Balestrano?«, flüsterte ich. »Sie?«
»Ich.« In Jean Balestranos Stimme war eine Härte, die mich schaudern ließ. Hass, dachte ich. Das war Hass, den ich hörte. Hass auf mich? Aber warum? »Überrascht, mich zu sehen?«
Wieder krachten Schüsse, eine ganze Salve diesmal, die den Boden dicht neben Balestrano und seinem schrecklichen Begleiter aufspritzen ließen. Balestrano zuckte nicht einmal mit der Wimper. Sein Blick war starr auf mich gerichtet. Seine Augen brannten vor Hass.
»Jetzt bezahlst du, Robert Craven«, sagte er. »Für alles.«
»Bezahlen? Was …« Plötzlich begriff ich. »Das war Ihr Werk«, flüsterte ich entsetzt. »Sie haben diese … diese Kreaturen gerufen.«
»Ja!«, schrie Balestrano. »Um dich zu vernichten, Craven! Ich habe es geschworen und ich werde es tun! Jetzt!«
Und dann geschah etwas Sonderbares. Die Schatten hinter ihm hörten auf miteinander zu kämpfen und zwei weitere der schwarzen Albtraumgestalten erschienen neben Balestrano. Vereinzelt krachten noch Schüsse und ich hörte hastige, trappelnde Schritte. Aber der Kampf war so rasch vorbei, wie er begonnen hatte. Ich begriff, dass es nur diese drei Ungeheuer gewesen waren, die Slaugther und seine Soldaten angegriffen hatten.
Wie um meinen Gedanken zu bestätigen, tauchte in diesem Moment Captain Slaugther selbst hinter Balestrano auf, eine Winchester in der Hand, deren noch rauchende Mündung auf den Rücken des alten Mannes zielte. Er schien instinktiv erkannte zu haben, dass Balestrano der Anführer der Angreifer war.
»Nicht, Captain«, sagte ich hastig. »Es wäre Ihr Tod. Das hier«, fügte ich etwas leiser hinzu, »geht nur mich und Bruder Balestrano etwas an.«
Slaugther zögerte tatsächlich. Unsicher irrte sein Blick zwischen mir und Balestrano hin und her. Seine Hände krampften sich um das Gewehr.
»Du täuschst dich, Craven«, sagte Balestrano hart. »Sie werden sterben.«
»Ja, ja«, kicherte die Schreckensgestalt neben ihm. »Einer nach dem anderen, nicht wahr, Bruder?«
»Was bedeutete das?«, fragte ich hilflos. »Wer … wer sind diese Wesen, Balestrano? Warum greifen Sie uns an! Um Gottes willen, wir sind doch Verbündete!«
Balestranos Reaktion war ganz anders, als ich geglaubt hatte. Er schrie auf, sprang auf mich zu und schlug mir so hart mit der flachen Hand über den Mund, dass ich abermals auf die Knie fiel.
»Sprich dieses Wort nicht aus, du Verräter!«, kreischte er mit überschnappender Stimme. »Schau sie dir an! Schau dir diese Männer an, Craven! Sie waren meine Freunde! Meine Brüder, die mir vertraut haben. Durch deine Schuld sind sie zu dem geworden, was sie jetzt sind! Durch deine Schuld sind fünfhundert ihrer Kameraden draußen in der Wüste verblutet! Durch deinen Verrat -«
»Sie sind ja verrückt«, unterbrach ich ihn stöhnend. Meine Lippe war aufgeplatzt und blutete, so stark hatte er zugeschlagen. »Wir stehen auf der gleichen Seite! Ich war ebenso Necrons Feind wie Sie!«
Balestrano schlug mich ein zweites Mal. »Lügner!«, kreischte er. »Verdammter Lügner!«
»Aber er sagt die Wahrheit, Bruder«, kicherte das entsetzliche Wesen hinter mir.
Balestrano erstarrte. Von einer Sekunde zur anderen wich alles Blut aus seinem Gesicht. Seine Augen quollen aus den Höhlen, als er den schwarzgesichtigen Dämon anstarrte. »Was … hast … du … gesagt?«, stammelte er.
»Dass er die Wahrheit spricht«, antwortete das Ungeheuer. Seine Stimme klang eindeutig fröhlich. »Er war immer dein Verbündeter. Dein treuester Verbündeter übrigens.«
»Aber das … das kann nicht sein!«, keuchte Balestrano. »Er … er hat … der Überfall und … und die Toten …«
»Wovon sprechen Sie, Balestrano?«, fragte ich alarmiert.
»Paris!«, stammelte Balestrano. »Der … der Überfall auf die Katakomben. Sie … Sie waren doch dabei. Ich habe Sie doch gesehen!«
»Paris?« Ich schüttelte den Kopf, wischte mir das Blut vom Mund und stand auf. »Ich schwöre Ihnen, dass ich nicht weiß, wovon Sie reden, Balestrano«, sagte ich. »Ich war in meinem ganzen Leben nur ein einziges Mal in Paris, und das war, als wir gemeinsam gegen Ihren übergeschnappten Bruder gekämpft haben.«
»Aber das ist nicht wahr!«, kreischte Balestrano. »Ich habe Sie erkannt. Sie haben Bruder Sarim befreit und -«
»Das hat er nicht«, sagte das Wesen hinter mir. Es kicherte. »Du hast dich täuschen lassen, Bruder. Es ist alles so, wie er behauptet. Übrigens – falls es dich interessiert – es war Robert Craven, der Necron getötet hat.«
Balestrano stöhnte wie unter Schmerzen. Er wankte, taumelte einen Schritt zurück und sank mit einem wimmernden Laut auf die Knie.
»Du hast dich geirrt, Bruder«, fuhr das entsetzliche Wesen hinter mir fort. Die drei anderen stimmten mit einem hämischen Lachen zu. »Es war alles umsonst. Deine Brüder sind um eines Irrtumes willen abgeschlachtet worden. Ist das nicht ein entzückender Gedanke?«
»Ich habe versagt«, stöhnte Balestrano. Er krümmte sich, schlug die Hände vor das Gesicht und ließ ein trockenes, gequältes Schluchzen hören. »Mein Gott, was habe ich getan?« Plötzlich blickte er auf, starrte einen Moment lang Priscylla und dann das Buch in der Hand des schwarzgesichtigen Ungeheuers an.
»Das haben Sie nicht, Balestrano«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Sie … wurden getäuscht. Sie haben getan, was Ihnen richtig erschien.«
»Das habe ich nicht!«, brüllte Balestrano. Er schien nun wirklich den Verstand zu verlieren. Sein Blick begann zu flackern. »Sie verstehen nicht! Sie alle werden sterben! Diese vier werden sie töten!«
»Das stimmt«, sagte einer der Dämonen fröhlich. »Wir haben ein kleines Geschäft abgeschlossen, Bruder Balestrano und ich und meine Brüder. Euer Leben gegen das von drei seiner Brüder. So ähnlich wie du – nur umgekehrt.«
»Was bedeutet das?«, fragte Balestrano. Wieder machte sich Schrecken auf seinen Zügen breit.
Ich erklärte es ihm.
Balestrano schwieg sehr, sehr lange, als ich ihm erzählt hatte, was der Preis für unser aller Überleben sein sollte. Als er endlich sprach, klang seine Stimme wie die eines Toten.
»Ihr habt das gewusst, nicht?«, flüsterte er. Die Worte galten den vier Schreckensgestalten, aber er sah sie nicht an. Er sah überhaupt nichts an. Sein Blick ging ins Leere. »Ihr habt alles gewusst. Ihr habt gewusst, wie er sich entscheiden würde. Das Leben des einzigen Menschen, den er liebt, gegen das von dreißig Unschuldigen.« Er stöhnte. »Die gleiche Wahl, vor die ihr mich gestellt habt.«
»Aber er hat anders entschieden, Bruder«, kicherte der Unheimliche hinter mir. »Seine Wahl war richtig. Er hat sich für den Schmerz entschieden. Du für die Schuld.«
Balestrano atmete hörbar ein. »Tötet … ihn nicht«, flüsterte er. »Ich flehe euch an, verschont ihn und die anderen. Sie sind unschuldig.«
»Das ist ja gerade das Lustige«, kicherte der Dämon. »Nein, nein, das Geschäft gilt. Es sei denn, du bietest uns etwas.«
Balestrano nickte. Sein Gesicht war starr. »Der Schmerz oder die Schuld«, wiederholte er die Worte des entsetzlichen Wesens. »O mein Gott, was habe ich getan?« Er stand auf, blickte einen Moment auf Priscylla und mich herab und atmete abermals hörbar ein. »Ich habe mich entschieden«, sagte er dann. »Verschont ihre Leben.«
»Und was bietest du uns dafür, Bruder?«, fragte das grauenhafte Wesen. Seine Hände bewegten sich gierig.
»Mich«, sagte Balestrano mit fester Stimme. »Ihr habt erreicht, was ihr wolltet, Brüder. Ich … ich bin bereit. Nehmt mich.«
Und sie nahmen ihn.