MÜNCHEN
Als Clara am nächsten Morgen in den Spiegel sah, erschrak sie heftig. Ihre Nase war dick geschwollen und saß wie eine matschige Tomate in ihrem Gesicht. Rund um die Nasenpartie und unter ihren Augen, die winzig klein und müde aus einem Ring von Fältchen hervorblinzelten, hatte sich ein gewaltiger Bluterguss ausgebreitet und gab ihr das Aussehen eines k. o. gegangenen Boxers. Clara tastete vorsichtig die Schwellungen ab und verzichtete auf das Waschen. Mit einer nassen Bürste fuhr sie sich einige Male durch ihre störrischen Locken und presste sie mit beiden Händen an den Kopf. Dann zog sie sich rasch und wenig sorgfältig an und ging in die Küche, um Kaffee zu kochen. Ein Blick auf Elise, die ganz gegen ihre Gewohnheit schon winselnd an der Tür stand, und ein zweiter Blick auf die Uhr ließen sie laut fluchen. Sie hatte verschlafen. Rasch packte sie ihren alten Parka und die Aktentasche und verließ mit der hektisch vorauseilenden Elise die Wohnung. Frühstücken konnte sie auch bei Rita.
Als sie verschwitzt, mit wehender Jacke und klopfendem Kopfschmerz mit einem letzten Stück Croissant in der Hand ins Büro stürmte, stieß Linda, die Sekretärin, einen spitzen Schrei aus und hob ihre sorgfältig manikürten Fingerspitzen an den hübschen Mund: »Wie sehen Sie denn aus?«, hauchte sie entsetzt und schüttelte ihr glänzendes Silberhaar in den Nacken, offenkundig fassungslos darüber, wie tief jemand sinken konnte, wenn es um das äußere Erscheinungsbild ging. Clara warf den Kopf herum wie eine gereizte Natter und wollte etwas Scharfes erwidern, doch der Umstand, dass ihr Mund mit einem dreiviertel Croissant gefüllt war, hinderte sie daran. Wortlos kauend stapfte sie die Stufen zu ihrem Schreibtisch hinauf und warf die Aktentasche auf den Stuhl. Willi, der gerade am Telefon war, musterte sie mit erhobenen Augenbrauen und deutete mit seiner freien Hand überflüssigerweise zunächst auf seine, dann auf Claras Nase, während er desinteressiert in regelmäßigen Abständen »Ich verstehe, hm, ja, ich verstehe« ins Telefon murmelte. Als das Telefonat beendet war, wandte er seine ganze Aufmerksamkeit Clara zu, die sich inzwischen hinter ihren Aktenbergen verschanzt hatte.
»Du hast da was … in deinem Gesicht.« Er deutete wieder auf ihre Nase und grinste breit. »Hast du dich geprügelt?«
»In der Tat«, antwortete Clara maliziös und nahm sich eine Akte vom Stapel. Sie vertiefte sich in die Streitereien zweier Mieter über die Grillgewohnheiten der einen Partei. Seit Wochen versuchte Clara vergeblich, den Streit beizulegen, letzte Woche hatte er darin gegipfelt, dass der eine Mieter das brutzelnde Feuer der Freiluftköche mit einem Hochdruckreiniger gelöscht und dabei den Grill zerstört hatte. Höhe des Schadens rund zweihundertfünfzig Euro, wenn man die Reinigung des Teppichs mit berücksichtigte.
Clara ließ Willi noch ein paar Minuten in seiner Neugierde schmoren, dann gab sie nach. Sie klappte die Akte zu und erzählte ihm ihr gestriges Abenteuer. Den Mann vor der Pizzeria und den nächtlichen Besucher in ihrem Hinterhof, wer auch immer es gewesen war, verschwieg sie jedoch ebenso wie ihre eigenen Gespenster, die vergangene Nacht zurückgekehrt waren. All das kam ihr im Licht des strahlenden Vormittags ein wenig hysterisch und übertrieben vor.
Willi musterte sie prüfend, schwieg aber.
»Was?«, schnappte Clara. »Sag schon, dass du es Scheiße findest, was ich da mache.«
Willi hob seine Hände. »Wenn du es sagst …«
Clara hatte keine Kraft zu streiten. Sie musterte Willi aus müden Augen und versuchte Worte zu finden, die ihm erklären konnten, weshalb sie der Fall des Angelo Malafonte so aufbrachte.
Sie wollte ihm von dem Zorn erzählen, der sie angesichts Obersteins Arroganz schier überwältigt hatte, und von der bestürzenden Resignation und Angst in Malafontes Augen, wenn er unaufmerksam genug war, seine mühsam einstudierte Deckung aufzugeben. Doch sie konnte all das nicht sagen. Sie konnte sich nicht rechtfertigen. Denn damit hätte sie sich verraten. Hätte mehr offenbaren müssen, als ihr lieb war. Mehr, als sie sich selbst gegenüber zugestehen wollte. Sie hätte sich auf verbotenes Terrain wagen müssen, und dazu fühlte sie sich nicht in der Lage.
»Es ist so ungerecht«, sagte sie deshalb nur.
Willi lächelte. »Wann ist es das nicht?«
Später am Nachmittag begann Clara, sich langsam besser zu fühlen. Ein Aspirin, ein paar Eiswürfel und Ritas überdimensionales Thunfischsandwich ließen den inneren und den äußeren Schmerz allmählich verblassen. Rita setzte sich zu ihr, während Clara mit dem letzten Stück Weißbrot die würzige Soße vom Teller wischte. »Wie kriegst du nur diese Salsa so hin?«, fragte Clara kauend. »Gibt’s da ein Geheimnis?«
Rita zuckte mit den Schultern: »Ein Rezept von zuhause, kein Geheimnis. Vielleicht die Kapern?« Doch man sah, dass sie geschmeichelt war. Ihre Sandwiches waren berühmt. Sie warf Clara einen schrägen Blick zu. »Geht’s wieder mit deinem Gesicht?« Clara tastete vorsichtig an ihrer Nase herum und grinste. »Ich werd’s überleben. Dank deiner Fürsorge und deinem Sandwich.«
Ritas Lächeln war etwas verkrampft. Nach einer Weile, in der sie Clara nachdenklich musterte, senkte sie die Augen und presste die Lippen zusammen. Sie schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, jedoch nicht zu wissen, wie sie damit herausrücken sollte.
»Was ist los?«, fragte Clara rundheraus. »Du hast doch was.«
Rita schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist nur … ich meine, wenn … Du solltest es mir sagen, weißt du!«
»Was sagen?«, fragte Clara erstaunt.
Rita wand sich ein wenig. »Du musst nicht meinen, damit weitermachen zu müssen wegen … meinetwegen. Bitte, wenn so etwas passiert … Hör auf damit, ja?« Sie wollte aufstehen.
»Halt!« Clara hielt sie fest. »Könntest du dich etwas deutlicher ausdrücken, bitte? Ich verstehe kein Wort!«
Rita setzte sich zurück auf die Stuhlkante, warf aber immer wieder nervöse Blicke hinter die Bar, als warteten zahllose Gäste darauf, bedient zu werden und als säße nicht nur die alte Frau Schneider von nebenan mit ihrem Pudel bei ihrem täglichen Nachmittagskaffee in der Ecke. »Wegen dem Jungen, Malafonte …« Sie brach ab.
»Ja. Und weiter?«
»Es ist nicht so, dass du dich mir verpflichtet fühlen sollst, weil ich ihn dir vermittelt habe, hörst du?«
»Aber das tue ich nicht.« Clara verstand noch immer nicht, was Rita meinte. »Er ist mein Mandant, ich vertrete ihn. Was meinst du?«
Rita stand auf und deutete mit einer ungeduldigen Handbewegung auf Claras Gesicht. »Ich meine, du solltest nicht die Heldin spielen, du hast ja keine Ahnung, wie gefährlich das sein kann!« Dann nahm sie Claras Teller und ging eilig hinter die Theke zurück.
Clara starrte ihr verblüfft nach. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Rita hatte ihre Geschichte mit der Tür, gegen die sie gelaufen war, nicht geglaubt, wobei Clara wohlweislich verschwiegen hatte, dass sich diese Tür im ersten Stock einer Pizzeria befand und sie dort nichts zu suchen gehabt hatte. Aber … glaubte sie tatsächlich, jemand hätte sie angegriffen? Geschlagen? Wegen Malafonte? Clara sprang auf: »Rita! Was weißt du über Angelo Malafonte?« Sie lief zu ihr hinter die Theke. »Du musst es mir sagen! Bitte! Was ist so gefährlich?«
Rita hatte sich schon wieder gefasst. Sie strich Clara mit einer liebevollen Geste ein paar Strähnen aus der Stirn und lächelte. »Nichts, cara, gar nichts. Hör nicht auf mich. Es war Unsinn, was ich eben gesagt habe. Ich bin eben immer so eine mamma, sogar bei dir, ich kann nichts dafür. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe.« Sie holte eine Tasse aus dem Regal »Cappuccino? Geht aufs Haus.«
Clara starrte sie an. Dann nickte sie stumm und ging zurück zu ihrem Tisch am Fenster. Sie glaubte Rita kein Wort. Es war ihr ganz und gar ernst gewesen mit dieser Warnung, egal, auf welche Weise sie jetzt versuchte, es herunterzuspielen. Doch weitaus mehr als ihre Worte zuvor hatte Clara Ritas Gesichtsausdruck erschreckt, als sie sich bemüht hatte, so zu tun, als wäre nichts gewesen: Clara hatte in Ritas Augen dieselbe hilflose, stumme, verzweifelte Leere gesehen, mit der Malafonte versuchte, seine Angst zu verbergen.
Als Clara an diesem Abend mit Elise nach Hause ging, grübelte sie noch immer über Ritas merkwürdiges Verhalten nach. Willi hatte sie auf ein Bier bei Murphy’s überreden wollen, doch sie hatte dankend abgelehnt. Die Schwellung an ihrer Nase ging zwar langsam zurück, aber trotzdem war ihr nicht nach Kneipe und Musik zumute. Sie sehnte sich nach einem gemütlichen Abend und nach viel Schlaf. Die hübsche Kirche, von der Clara nach all den Jahren, in denen sie in diesem Viertel arbeitete, noch nicht einmal den Namen wusste, schlug sechs Uhr. Clara war dankbar, dass es nicht regnete, und beschleunigte ihren Schritt. So oft wie möglich ging sie die Strecke ihres Heimwegs zu Fuß, so bekam Elise ihren Auslauf und Clara den Kopf frei. Doch heute nutzte sie den forschen Spaziergang nicht, um sich zu entspannen, sondern um ihre Gedanken zu ordnen. Wie passten all diese Dinge ins Bild? Was wusste Rita von Angelo Malafonte, und warum erzählte sie es ihr nicht? Immerhin war es sie gewesen, die ihn zu ihr geschickt hatte. Clara hielt es für vollkommen ausgeschlossen, dass Rita und Malafonte zusammen in irgendetwas verwickelt waren. Sie war gut an die fünfzig und ein Ausbund an Anständigkeit. Aber trotzdem wusste sie etwas über ihn. Etwas sehr Beunruhigendes, das nicht nur ihm, sondern auch ihr Angst machte. Es musste etwas sein, das in Italien seinen Ursprung hatte, da war sich Clara ziemlich sicher. Aber warum wagte Rita, die seit so langen Jahren schon in Deutschland lebte, nicht, mit ihr darüber zu sprechen? Oder war es am Ende gar keine Angst, die Clara gesehen hatte, sondern Scham? Zurückhaltung, die Befürchtung, Clara könnte das Problem nicht verstehen? Vielleicht eine Familiengeschichte. Hatte Rita nicht gesagt, sie und Angelos Mutter wären befreundet? Oder verwandt? Clara konnte sich nicht mehr genau erinnern und nahm sich vor, Rita morgen noch einmal danach zu fragen. Frauengeschichten? Eine sitzengelassene Freundin vielleicht, schwanger … irgendein Skandal. Das würde Ritas Schweigen erklären, denn sie war trotz ihrer blondgefärbten Haare und den hautengen Miniröckchen erstaunlich prüde und altmodisch. Gab es so etwas wie Blutrache noch in Italien? Clara meinte, sich zu erinnern, dass sie davon gehört hatte. Auf Sizilien war es vor nicht allzu langer Zeit zu einem »Ehrenmord« an einer jungen Frau und deren Geliebten gekommen. Der Mörder war nicht der gehörnte Ehemann, sondern dessen Bruder gewesen, der die Ehre der Familie wieder hatte herstellen wollen. Clara wusste nicht mehr genau, wie der Bruder bestraft worden war, jedenfalls war es eine lächerliche Strafe gewesen.
Clara ging langsamer. Paradoxerweise wurde ihr wohler bei dem Gedanken, dass Angelo womöglich eine verheiratete Frau geschwängert haben könnte und auf der Flucht vor dem Ehemann und dessen Familie war. So bekam seine Angst ein Gesicht, das menschlich war, verständlich, in gewisser Weise nachvollziehbar. Nicht mehr diese namenlose Bedrohung, die Clara jedes Mal verspürte, wenn sie die Panik in seinen Augen sah und von der sie meinte, auch bei Rita heute gestreift worden zu sein, wie von einem kühlen Windhauch, der durch das offene Fenster weht und einen unwillkürlich frösteln und die Schultern heben lässt. Kein Wunder, dass die Leute der Pizzeria Napoli nichts mehr mit Angelo zu tun haben wollten, wenn dies bedeutet hätte, dass ihnen von einem tollwütigem Ehemann und seinen Brüdern womöglich das Lokal zertrümmert worden wäre. Vielleicht hatten sie Angelo bereits aufgestöbert, als es zu der Razzia wegen des Rauschgifts kam, und die beiden Sachen hatten gar nichts miteinander zu tun. Oder aber … Clara blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen und starrte abwesend in die Luft. Ihr war etwas eingefallen. Eine Nebensächlichkeit, die sie bisher nicht weiter beachtet hatte. Ein Name, nur ein weiterer Name. Und doch war es möglich, dass er von Bedeutung war. Sie musste noch einmal mit Malafonte sprechen. Und mit Massimo Moro. Mit dem ganz besonders.
Zuhause angekommen streifte Clara mit einem Seufzer der Erleichterung ihre Schuhe von den Füßen und ließ sich ein heißes Bad einlaufen. Ein ruhiger Abend ohne Arbeit, ohne Aufregung, ohne Rätselraten, das war es, was sie sich ersehnte wie einen Schluck Wasser in der Wüste.
Später, auf der Couch vor dem Fernseher mit Elise neben sich, deren Kopf schwer auf ihren Füßen lag, fiel ein großer Teil der Anspannung der letzten Tage von Clara ab. Selbst Seans Abwesenheit schien weniger bestürzend als noch einen Tag zuvor. Eine leise Ahnung davon, dass sie sich irgendwann einmal sogar daran gewöhnen könnte, einen erwachsenen Sohn zu haben, der eigene Wege ging, schlich sich auf leisen Sohlen in ihr entspanntes Gemüt und nistete sich dort ein. Clara zappte durch die Programme, ohne etwas von den Dingen aufzunehmen, die in schneller Folge vor ihren Augen vorbeiflimmerten. Schließlich schaltete sie den Fernseher ab und griff nach dem Buch, das bereits seit über einer Woche aufgeschlagen auf dem Couchtisch lag. Ein altmodischer Krimi mit zahlreichen Verdächtigen in beschaulicher englischer Dorfidylle, das war genau das Richtige. Clara liebte die schrulligen, überzeichneten Landlords und Ladys, deren unbedarfte Dienerschaft und den überlegenen, gut aussehenden Kriminalkommissar. Sie genoss die feine Ironie, mit der die Figuren gezeichnet waren. In ihrer Gesellschaft fühlte sie sich immer warm und geborgen, ganz unabhängig davon, wie viele grässliche Morde dort auch passierten und welche seelischen Abgründe sich auftaten. Sie war nur die Betrachterin, saß im tiefen, mit kariertem Stoff bezogenen Lehnsessel des alten Herrenhauses neben dem prasselnden Kamin, die Jagdhunde zu ihren Füßen, und sah zu, wie draußen vor den Butzenscheiben die Stürme tobten.
Plötzlich hob Elise mit einem Ruck den Kopf. Sie lauschte einen Augenblick angestrengt auf etwas, das nur sie hören konnte, dann sprang sie mit einem Satz von der Couch und lief auf den Flur. Clara hörte sie kurz bellen, laut und aufgeregt, dann begann sie zu knurren. Clara ging hinaus und legte dem Hund beruhigend ihre Hand auf den Kopf und spähte wie vergangene Nacht vergeblich durch den Sucher in den leeren Hausgang. Schließlich überwand sie ihre Furcht, packte Elise fest am Halsband und öffnete die Tür einen Spalt breit. »Hallo?« Ihre Stimme hallte ängstlich durchs Treppenhaus. Keine Antwort. In dem Moment riss Elise sich los und raste die Treppe hinunter. Clara rief vergeblich nach ihr. Nur ihr aufgeregtes Bellen war zu hören. Zögernd drückte Clara auf den Lichtschalter und folgte ihr so leise wie möglich. Elise stand an der Haustür und kratzte mit ihren breiten Vorderpfoten an der Klinke. Clara zog sie mit einer gewissen Kraftanstrengung zurück. »Sag mal, hast du sie nicht mehr alle?«, schimpfte sie, doch es klang nicht sehr überzeugend. Ihre Stimme zitterte. Mit weichen Knien ging sie hinauf zu ihrer Wohnung. Sie erschrak, als sie sah, dass sie die Tür weit offen stehen gelassen hatte. Was, wenn die Person, über die sich Elise so erregt hatte, nicht nach unten, sondern nach oben in den zweiten Stock gelaufen war und jetzt hinter der Tür auf sie wartete? Clara blieb stehen. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Dann warf sie einen Blick auf Elise, die völlig entspannt die letzten Treppenstufen erklomm und in ihren Hausflur trabte. Das beruhigte Clara, und sie hastete ihr nach. Rasch schloss sie die Tür und drehte den Schlüssel zweimal um. Der gemütliche Abend war dennoch verdorben. Die Lust auf englische Krimilektüre war ihr vergangen. Stattdessen zog Clara die Akte Malafonte noch einmal aus ihrer Tasche und nahm sie mit auf die Couch. Aufmerksam las sie das Aussageprotokoll von Massimo Moro, und tatsächlich, sie hatte sich nicht geirrt: Dort auf der wiedergefundenen zweiten Seite stand neben Angelo Malafonte noch ein zweiter Name, den Moro preisgegeben und den Clara bisher vollkommen vernachlässigt hatte: Gaetano Barletta. Angeblich ein Lieferant Malafontes, obwohl Moro sich dabei nicht sicher schien. Jedenfalls einer, der Malafonte kannte. Ein Freund? Oder etwa der Feind, nach dem sie suchte? Clara blätterte weiter, fand jedoch keinen weiteren Hinweis auf Gaetano Barletta. Auch nicht darauf, ob gegen ihn ebenfalls ein Verfahren eingeleitet wurde. Sie notierte sich die angegebene Adresse von Massimo Moro und beschloss, morgen dort vorbeizuschauen. Sie würde ja sehen, ob dieser Zeuge so »unauffindbar« war, wie Oberstein gemeint hatte. Und dann würde sie noch einmal ins Gefängnis müssen, um Malafonte zu sprechen.
Als sie ins Bett ging, warf Clara noch einmal einen Blick auf die Haustür und drückte prüfend die Klinke herunter. Das Licht in ihrem Flur ließ sie brennen. Erst sehr viel später, nachdem sie sich eine ganze Weile schon unruhig im Bett umhergewälzt hatte, fiel ihr auf, dass Malafontes Angst dabei war, auch sie einzuholen. Es war kein gutes Gefühl.
Clara überprüfte noch einmal unsicher die Adresse, als sie vor dem Haus angekommen war. Doch es war kein Zweifel möglich: Die herrschaftliche Villa im besten Teil Bogenhauses war laut Akte Massimo Moros Wohnanschrift. Wie passte das zu Malafontes schäbigem Zimmer oberhalb der Pizzeria Napoli? Clara las das kleine Schild an der Klingel, auf dem in edel geschwungener Schrift Johannes Simoneit stand. Nichts weiter. Kein Hinweis auf Moros Anwesenheit. Vielleicht hatte Richter Oberstein recht gehabt, und Moro war längst schon wieder in Italien oder hatte hier nie gewohnt. Clara kam der Name Simoneit irgendwie bekannt vor, sie konnte sich aber nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit sie ihn schon einmal gehört hatte. Vorsichtig spähte sie durch die Gitterstäbe des hohen Tores. Üppige Fliederbäume, Pfingstrosen und Hortensienbüsche säumten die sorgfältig geharkte Einfahrt. Zwischen den Pflanzen lugten Marmorstatuen hervor, Putten, griechische Jünglinge, und im Hintergrund auf dem gepflegten Rasen plätscherte ein Brunnen in Form einer Muschel, die das Wasser durch das Maul eines dicken Fisches empfing. Claras Zweifel, ob es angebracht war, hier ohne jede Voranmeldung zu erscheinen, verstärkten sich. Doch es war nicht mehr zu ändern. Sie hatte keine Lust, den ganzen Weg inklusive der für sie wie immer nervenaufreibenden U-Bahn-Fahrt umsonst gemacht zu haben. Aber sie war froh, dass sie wenigstens Elise bei Willi in der Kanzlei gelassen hatte. Sollte ihr überhaupt Einlass in dieses herrschaftliche Anwesen gewährt werden, so hatte sie definitiv die besseren Chancen ohne ein fröhlich sabberndes, mittelgroßes Kalb an ihrer Seite. Rasch fuhr sie sich mit den Händen über ihre Haare und versuchte, sie glatt zu drücken. Dann zog sie ihren dunkelgrünen Blazer gerade und knöpfte ihn ordentlich zu, bevor sie energisch auf die Klingel drückte. Ein knapper Summton erklang am Gartentor, ohne dass die Sprechanlage ertönte. Clara drückte das Tor auf und ging rasch auf das Haus zu. Der betörende Duft der blühenden Pfingstrosen stieg ihr in die Nase. Die Tür öffnete sich in dem Moment, in dem sie den Fuß auf die unterste Schwelle setzte. Ein großer schlanker Mann stand vor ihr und hob fragend die Augenbrauen. »Ja bitte?«
Clara starrte ihn an. Er war Anfang, Mitte sechzig, wirkte aber ziemlich jugendlich. Er trug einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt und eine schwarze Hose. Sein graues Haar war millimeterkurz geschoren. Clara erkannte ihn sofort wieder. Johannes Simoneit, natürlich, der Architekt. Ein Kollege ihres Vaters. Was hatte das zu bedeuten? Was hatte er mit Massimo Moro zu schaffen? Clara spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. War sie gerade mal wieder dabei, sich in höchstem Maße lächerlich zu machen?
»Sie wünschen?«
Er hatte sie nicht erkannt. Kein Wunder. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, auf einem Geburtstagsfest ihrer Mutter, war sie Ende zwanzig gewesen.
»Ich … Ist das die Adresse von Herrn Massimo Moro?«
Simoneits Augen wurden schmal, und er warf ihr einen misstrauischen Blick zu. »Wer will das wissen?«
»Mein Name ist Clara Niklas. Ich bin Anwältin und Verteidigerin eines … Freundes von Massimo Moro. Ich hätte nur ein paar Fragen, vielleicht kann er mir helfen.«
»Eines Freundes?«, kam es gedehnt von ihrem Gegenüber. »Was für ein Freund soll das sein?«
Clara wurde ungeduldig. Was sollte diese Ausfragerei bedeuten. »Sind Sie etwa Massimos Vater?«, gab sie kühl zurück.
Zu ihrer Überraschung lachte der Mann belustigt auf. »Nein. Das bin ich nicht.« Dann reichte er ihr eine kräftige braun gebrannte Hand und öffnete die Tür weiter, um sie eintreten zu lassen. »Entschuldigen Sie mein Misstrauen«, meinte er, während sie durch einen dunklen Flur gingen, »aber es war in letzter Zeit durchaus angebracht.« Nach dieser rätselhaften Bemerkung führte er Clara in ein Zimmer mit einem großen Erkerfenster zum Garten hinaus und entschuldigte sich, um Massimo zu holen. Als er gegangen war, sah Clara sich um. Angesichts der etwas kitschigen Gartengestaltung hatte sie Plüsch und schwere Vorhänge erwartet. Das Zimmer jedoch war bis auf eine schwarze Ledercouch mit Blick auf den steinernen Muschelbrunnen vor dem Fenster fast vollkommen leer. An den hohen weißen Wänden hingen afrikanische Masken aus dunklem Holz und ein großformatiges abstraktes Bild.
Auf einem kleinen Tisch oder Hocker, der aussah, wie der Zahn eines Dinosauriers, stand ein runder Aschenbecher aus glänzendem Marmor. Zwei Zigarettenkippen lagen darin, was Clara als Einladung auffasste, ihre eigenen Zigaretten herauszuholen und sich eine anzuzünden. Sie öffnete eines der hohen Fenster und lehnte sich hinaus, während sie einen tiefen Zug nahm. Der süße Duft der Pfingstrosen und das plätschernde Wasser des Brunnens hatten eine beruhigende, ein wenig einschläfernde Wirkung, und so fiel ihr zunächst gar nicht auf, dass niemand zurückkam. Erst als sie die Zigarette geraucht hatte und Massimo Moro noch immer nicht erschienen war, wurde sie stutzig. Sie öffnete die Tür und horchte. Von irgendwoher drangen Stimmen zu ihr. Laute erregte Stimmen, von denen eine Johannes Simoneit gehörte. Sie ging ein paar Schritte durch den Flur auf die Tür zu, hinter der sie ihn und Massimo Moro vermutete, und lauschte vorsichtig:
»Bitte, Max!«, sagte die tiefe Stimme des Architekten gerade, und es klang flehend und zugleich ein wenig genervt. »Du kannst dich doch nicht ewig verstecken!«
Clara verstand die Antwort nicht. Es klang dumpf, so als ob der andere Mann sich beim Sprechen die Hände vor das Gesicht hielt.
Drängend fuhr Simoneit fort: »Sie ist Anwältin. Vielleicht kann sie dir ja sogar helfen!«
Ein gedämpftes Heulen, irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen, war die Antwort, und Clara hielt es für angebracht, sich bemerkbar zu machen. Leise trat sie ein paar Schritte zurück, dann rief sie laut und vernehmlich: »Hallo? Herr Simoneit?«
Das Schluchzen brach unvermittelt ab, und Simoneit erschien an der Tür. Er wirkte besorgt, aber bemühte sich um ein Lächeln. »Es tut uns leid, dass wir Sie warten ließen. Kommen Sie bitte. Wie Sie sich sicher vorstellen können, geht es Max nicht sehr gut. Trotzdem halte ich es für das Richtige, wenn er mit Ihnen spricht.« Er senkte die Stimme ein wenig, bevor er weitersprach: »Gehen Sie bitte behutsam mit ihm um, er ist noch sehr … labil, was ja kein Wunder ist, nicht wahr?« Er sah sie fragend an, und Clara beeilte sich zu nicken, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, wovon Simoneit sprach.
»Natürlich.«
»Und bitte, bemühen Sie sich, nicht zu erschrecken, wenn Sie ihn ansehen«, flüsterte er leise in ihr Ohr, während sie den Raum betraten, in dem Massimo Moro auf Clara wartete.
Diese letzte Bitte war fast unmöglich zu erfüllen, das wurde Clara mit Entsetzen bewusst, als der junge Mann vor ihr auf der eleganten, mit glänzendem, rotem Stoff bezogenen Couch den Kopf hob und ihr ins Gesicht blickte. Er musste einmal sehr schön gewesen sein. Dunkle Locken umrahmten einen schmalen Kopf mit großen, braunen Augen und einem ausdrucksstarken Kinn. Doch von dieser Schönheit war nichts mehr übrig geblieben. Sein Gesicht war von tiefen, unregelmäßig verheilten Schnitten durchzogen und mit Blutergüssen bedeckt, die in allen Farben schillerten. Ein Augenlid hing schlaff herab, unter der Augenbraue befand sich eine tiefe, schwarz verkrustete Wunde, die ihn offenbar fast das Augenlicht gekostet hatte. Das Schlimmste von allem jedoch war seine Nase. Eine kühn geschwungene Adlernase musste er einmal besessen haben, soweit man das noch erkennen konnte. Jetzt war sie mehrmals gebrochen, das sah sogar Clara, und an der Spitze fehlte ein großes Stück, was ihm ein wenig das Aussehen eines Zombies gab. Clara schluckte und bemühte sich, keine allzu deutliche Reaktion zu zeigen, zumal sie Moros Augen unverwandt auf sich gerichtet spürte. Ihr Blick eilte zu Simoneit, der sich neben Moro auf die Couch gesetzt hatte und sie ebenfalls ansah. Er hatte die Lippen fest zusammengepresst, und in seinen Augen stand eine Trauer, die Clara unvermittelt begreifen ließ, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen. Sie dachte an ihre flapsige Bemerkung zuvor, ob Simoneit etwa Moros Vater sei, und Schamröte schoss ihr ins Gesicht. Der Architekt schien ihrem Gedankengang gefolgt zu sein. Ein spöttisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. Clara senkte für einen Moment die Augen. »Tut mir leid«, murmelte sie, während sie sich in den Sessel gegenüber der Couch setzte.
»Was, was tut Ihnen leid?«, herrschte Moro sie an. »Darf man fragen, was Sie damit zu tun haben, dass es Ihnen leidtun muss?« Seine Stimme war aggressiv, darunter lauerte, kaum verborgen, Verzweiflung. Simoneit legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Dich hat Frau Niklas nicht gemeint, Max, das war ein … Spaß zwischen uns beiden.« Er zwinkerte Clara zu, und ihr gelang ein kleines, aber umso dankbareres Lächeln. Massimo Moro warf den beiden einen argwöhnischen Blick zu, schwieg aber. Simoneits Hand lag unverwandt auf seinem Arm.
»Was wollen Sie nun wissen, Frau Rechtsanwältin?« Der Architekt schlug einen sachlichen Ton an und machte damit deutlich, dass er die Zeit für den Austausch von höflichen Nettigkeiten als beendet betrachtete. Vielleicht wollte er aber auch nur dem jungen Mann an seiner Seite ein Gefühl von Sicherheit und Schutz bieten, indem er vom Eindruck seines zerstörten Gesichts zum eigentlichen Thema schwenkte.
Clara indes fiel es schwer, sich auf etwas anderes zu konzentrieren als auf die Brutalität, mit der jemand den jungen Italiener angegriffen hatte. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die beiden davon auszugehen schienen, dass sie darüber bereits Bescheid wissen müsste. Sie räusperte sich und sehnte sich nach einer weiteren Zigarette. Doch sie wagte nicht zu fragen, kein Aschenbecher war zu sehen, und das ganze Zimmer sah aus wie aus einer dieser edlen Hochglanz-Wohnzeitschriften kopiert: Mit Ausnahme der roten Couch gab es nur weiße und cremefarbene Möbel mit perfekt aufeinander abgestimmten Accessoires auf einem flauschig weichen, ebenfalls weißen Teppich, der genau so aussah, als ob darauf unweigerlich verstreute Asche landen müsste und nur mit einer aufwändigen chemischen Reinigung wieder zu entfernen wäre.
Sie richtete sich in ihrem Sessel ein wenig auf und beschloss, ohne Umwege zum Kern der Sache zu kommen: »Herr Moro, ich vertrete Herrn Angelo Malafonte.« Sie versuchte, den jungen Mann so unbefangen wie möglich anzusehen.
»Max!«
»Wie bitte?«
»Nennen Sie mich Max.«
»Also gut, Max. Sie haben vor Gericht eine Aussage gemacht, die meinen Mandanten belastet …«
Moro lachte bitter. »Eine Aussage! Jawohl.« Dann deutete er sich mit dem Finger an die verstümmelte Nase und meinte höhnisch: »Das war auch eine Aussage!«
»Wollen Sie damit etwa andeuten, dass … mein Mandant Sie so zugerichtet hat?« Clara spürte, wie ein leichter Schauder über ihren Rücken lief. Das war unmöglich. Sie konnte sich doch wohl nicht so in Malafonte getäuscht haben? Und wenn doch? Was wusste sie schon von ihm? Vielleicht war er ein ausgezeichneter Schauspieler? Nein. Unmöglich. Sie sah Moro fest ins Gesicht.
Moros Lachen war jetzt echt. Es klang unwirklich schön und fröhlich, so als gehörte es nicht zu ihm. Nicht mehr. Es gehörte zu dem alten Max, zu dem, der er einmal gewesen sein musste. »Angelo? Ich bitte Sie! Der ist zu so etwas doch nicht fähig. Er hat sich doch immer in die Hosen gemacht vor Angst.«
»Wovor hatte er denn solche Angst?«
»Was weiß denn ich? Die haben doch immer irgendetwas am Kochen da unten.«
»Da unten? Was meinen Sie damit?«, wollte Clara wissen.
»Na, da unten im Süden, Kalabrien, Sizilien. Bei denen läuft doch immer irgendwas Krummes.« Moro rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her.
»Sie sind nicht aus dem Süden, nehme ich an?«
Moro schüttelte den Kopf und schob trotzig das Kinn vor. »Turin.«
Clara dachte an ihre Eifersuchtstheorie und fragte: »Gab es irgendwelche Frauengeschichten? Ist er vor irgendetwas davongelaufen?«
Moro sah sie verdutzt an: »Frauengeschichten? Bei Angelo?
Nie im Leben.« Er verzog den Mund zu einer spöttischen Grimasse. »Der ist doch noch grün hinter den Ohren.«
»Trotzdem hat er Angst. Wovor denn?«
»Warum fragen Sie ihn das nicht selbst, Frau Rechtsanwältin?«
Clara nickte langsam. Er hatte recht. So kamen sie nicht weiter. Selbst wenn Moro etwas davon wusste, würde sie es auf diese Weise nicht erfahren.
Doch Moro sprach unvermittelt weiter: »Ich glaube, er ist in irgendwas ganz Beschissenes verwickelt, keine Ahnung, was. Aber der Angelo ist ein guter Kerl. Ein ganz armer Hund ist das, wenn Sie es genau wissen wollen.«
Clara sah ihn an. Versuchte sich vorzustellen, ob so etwas wie eine Freundschaft diese beiden so unterschiedlichen jungen Männer verbunden hatte. Hatten sie sich einander anvertraut? Oder nur ab und zu einen Joint geraucht und in den Discos herumgestanden, stumm, jeder in seine eigenen Gedanken und Probleme verstrickt?
»Waren Sie gut befreundet?«, wollte sie wissen.
Moro zuckte mit den Achseln. »Was heißt befreundet? Man kennt sich eben. Er ist in Ordnung. Für einen von da unten«, fügte er einschränkend dazu.
»Aber trotzdem haben Sie ihn verraten.«
Moro lachte auf, es war mehr ein Ächzen. »Ja, das habe ich wohl. Max der Verräter.« Abscheu tropfte aus seinen Worten hervor.
»Warum haben Sie es getan? Warum haben Sie ihn hingehängt?« Clara hasste sich für diese Frage. Sie wusste die Antwort ja längst.
Moro warf ihr einen abwägenden Blick zu und schüttelte den Kopf: »Sie würden es mir sowieso nicht glauben«, sagte er verächtlich.
Clara erwiderte seinen Blick: »Und wenn doch?«
Moro antwortete nicht. Er schien mit sich zu kämpfen. Die Stille lastete für einen Moment im Raum wie etwas Greifbares, das mit ihnen wartete und die Spannung ins Unerträgliche zu steigern schien.
»Verdammt!« Moro zerriss das Schweigen und sprang auf. »Verdammt noch mal. Ich hab keinen Bock auf diese Scheiße!« Er lief im Zimmer umher wie ein gefangenes Tier und fluchte auf Italienisch weiter. Simoneits mahnendes »Max!« verhallte folgenlos. Irgendwann blieb Moro mitten im Zimmer stehen: »Ich brauch was zu rauchen.« Clara gestattete sich ein leises Aufatmen. Sie wusste, dass sie gewonnen hatte. Er würde es ihr erzählen. Sie reichte ihm ihre Schachtel Zigaretten.
Moro zögerte. Er warf Simoneit einen fragenden Blick zu, den dieser mit stummem Kopfschütteln verneinte. Clara glaubte zu verstehen, dass Moro sich unter »was rauchen« etwas anderes als nur eine Zigarette vorgestellt hatte. Doch er fügte sich und nahm stumm eine von Claras Zigaretten. Er zündete sie sich an und gab auch Clara Feuer, die die Gelegenheit dankbar nutzte. Dann zog er unter der Couch einen Aschenbecher heraus, den er zwischen sie auf den Tisch stellte. Er war bis obenhin voll mit abgebrannten Stummeln von selbst gedrehten Zigaretten. Ein schwacher, süßlicher Geruch stieg Clara in die Nase, den sie noch recht gut von früher kannte.
Als Moro sich wieder gesetzt hatte, nahm Clara den Faden vorsichtig wieder auf: »Dr. Oberstein war der Richter, der Sie vernommen hat. Ich kenne ihn.« Sie lächelte bitter. »Leider«, fügte sie hinzu. »Er hat Sie bedroht, nicht wahr?«
Sowohl Moro als auch Simoneit warfen ihr überraschte Blicke zu.
Clara nickte befriedigt. »Er hat Ihnen mit … unangenehmen Konsequenzen gedroht, falls Sie keine Namen nennen. Er hat Sie unter Druck gesetzt. Er hat Sie dazu gezwungen, Malafonte zu verraten. War es nicht so?«
Moro nickte stumm und senkte den Blick auf die Zigarette, die er unablässig zwischen seinen Fingern drehte. Clara bemerkte, dass er wohlgeformte, langfingrige Hände hatte.
»Was hat er gesagt? Womit hat er Sie bedroht?«
Moro schloss die Augen und schüttelte stumm den Kopf. Clara konnte es sich denken, doch das genügte nicht. Sie würde Moros Aussage brauchen.
»Bitte, Max!«
Simoneit schüttelte den Kopf: »Frau Niklas, Sie wissen doch offenbar schon alles darüber. Warum soll er Ihnen diese Details jetzt auch noch erzählen?«
Clara biss sich auf die Lippen und zog ein paar Blätter aus ihrer Tasche: »Das ist das Protokoll von Max’ Aussage. Die entscheidenden Seiten wurden zunächst unter Verschluss gehalten, aber es ist mir gelungen, sie zu bekommen. Doch das hilft uns leider nicht viel weiter: In allen Passagen, in denen Richter Oberstein etwas zu Max sagt, lief das Band nicht mit.« Sie reichte den beiden Männern die zwei Seiten und deutete auf die in Klammern gesetzten Bemerkungen: Band defekt stand dort jedes Mal, wenn Oberstein ein Frage stellte. Bei den Antworten Moros wiederum war das Band offenbar einwandfrei gelaufen.
»Ich brauche Ihre Aussage, um Oberstein damit zu konfrontieren, verstehen Sie? Ohne Ihre Aussagen dazu ist dieses Protokoll nicht viel wert. Er wird alles abstreiten.«
Moro starrte einen Augenblick auf das Papier, dann schob er es mit einer abrupten Handbewegung zurück zu Clara und sprang wieder auf. »Sie sind doch verrückt! Sie glauben, ich würde freiwillig noch einmal vor Gericht gehen? Vergessen Sie’s!« Er ging zu einem kleinen Schreibtisch vor dem Fenster und warf Clara ein Bild in einem silbernen Rahmen auf den Schoß. Obwohl sie ahnte, wer auf dem Foto abgebildet war, erschütterte es sie doch, Moros Gesicht zu sehen, als es noch unversehrt gewesen war. Das Bild zeigte Moro lachend, Arm in Arm mit Johannes Simoneit, irgendwo an einem Strand. Braun gebrannt, mit makellosen, kühnen Gesichtszügen. Moro stützte sich auf die Lehnen ihres Stuhls und schob sein Gesicht so nahe an Clara heran, dass sie unwillkürlich zurückzuckte. »Sehen Sie, wie ich aussehe? Was glauben Sie, was die mit mir machen, wenn sie erfahren, dass ich noch eine Aussage gemacht habe? Glauben Sie, es interessiert die, was ich gesagt habe? Für niemanden werde ich das machen, auch nicht für Malafonte, das können Sie mir glauben, Frau Anwältin.«
Clara bemerkte, dass Moros Pupillen unnatürlich geweitet waren, was seine Augen so dunkel wirken ließ. Sicher war er drogensüchtig. Heroin? Kokain vielleicht. Obwohl die körperliche Nähe Moros ihr ähnliches Unbehagen bereitete, wie in einem voll besetzten Aufzug zu fahren, widerstand sie dem Impuls, von ihm abzurücken, und erwiderte so eindringlich wie möglich seinen Blick. »Es geht dabei nicht nur um Malafonte, Max. Es geht um Sie! Wollen Sie …« Sie sah ihm in seine geweiteten Augen und versuchte mit aller Kraft, ihn hinter seiner Abwehr zu erreichen. »Wollen Sie, dass dieser Richter damit durchkommt? Wollen Sie das, ja?« Damit drückte sie ihm das Bild vor die Brust. »Los! Erzählen Sie mir, was dieser Scheißkerl zu Ihnen gesagt hat!«
Moro starrte sie an. Irgendetwas änderte sich an seiner Haltung. Etwas wich zurück. Vielleicht war es der Umstand, dass sie, eine Anwältin, den Richter als Scheißkerl bezeichnet hatte, vielleicht war es auch etwas anderes. Er griff nach dem Bild und ließ sich zurück auf das Sofa plumpsen. Nach einer stummen Ewigkeit, in der sich niemand im Raum bewegte, begann er zögernd und mit leiser, äußerlich unbeteiligter Stimme zu sprechen. Er sah Clara dabei nicht an, sondern hielt seinen Blick unverwandt auf das Bild gerichtet. »Es gab damals eine Razzia in der Wunderbar. Ich hatte’n bisschen was dabei, Gras und ein paar Ecstasy-Pillen. Sie haben mich gleich mitgenommen.« Er nahm sich ungefragt noch eine von Claras Zigaretten, die noch auf dem Tisch lagen, und fuhr sich ein paar Mal fahrig durch die Haare, bevor er weitersprach: »Dieser Richter, das war so ein Kleiner mit dunklem Bart. Er hat ganz leise gesprochen, ruhig, so als ob er mein Freund wäre.« Er atmete tief ein und schloss für einen Moment die Augen. »Im Knast würden sie sich freuen, so ein hübsches Mädchen wie mich zu ficken, hat er gesagt. Und ob ich schon einmal eine Faust im Arsch hatte.« Er warf Clara einen prüfenden Blick zu, um zu sehen, ob sie von seinen Worten geschockt war. Doch Clara nickte nur. Etwas Ähnliches hatte sie schon erwartet. »Und er meinte, dass dann niemand von meinen reichen … Freiern mehr auf mich aufpassen könnte. Am Ende hat er gelacht und gesagt, er gäbe was dafür, mich hübschen Kerl zu sehen, wie ich auf Knien darum betteln würde, irgendeinen Schwanz lutschen zu dürfen für ein bisschen Dope.« Simoneit griff nach seinem Arm, wollte seine Hand drücken. Doch Moro schüttelte ihn ab. Hastig stand er auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer. Mit einem Knall schlug die Tür hinter ihm zu.
Simoneit erhob sich ebenfalls. Er wirkte wie zerschlagen, obwohl er die Geschichte sicher nicht zum ersten Mal gehört hatte. »Ich denke, das war deutlich genug.« Er ging zur Tür. »Es ist Ihnen hoffentlich klar geworden, dass er diese Dinge niemals vor einem Gericht wiederholen wird?«
Clara nickte resigniert. Dann stand sie ebenfalls auf und stopfte die Blätter des Protokolls und ihre Zigaretten zurück in ihre Tasche. »Ich verstehe das. Andererseits …« Sie zögerte mit einem Blick auf das Foto, das Moro vor seinem Abgang achtlos auf den weißen Teppich hatte fallen lassen. »Andererseits wäre es gut für ihn. Sich zu wehren, meine ich. Wenigstens dagegen.«
Simoneit zuckte mit den Achseln. »Vielleicht. Aber er lässt sich nicht helfen.« Clara sah ihn an, wie er mit hängenden Armen und müde gesenktem Kopf vor ihr in dem perfekten Zimmer stand, nicht weniger hilflos als sein verzweifelter Geliebter, der mit Leichtigkeit sein Sohn hätte sein können.
»Man kann nicht ihr Leben für sie leben«, meinte Clara plötzlich und wusste selbst nicht, warum sie das sagte. »Sie müssen es selbst in den Griff bekommen.« Simoneit warf ihr einen überraschten Blick zu, dann erschien ein melancholisches Lächeln auf seinem Gesicht: »Ja, das müssen sie wohl.«
Simoneit begleitete Clara bis zum Gartentor. Doch bevor er sich verabschieden konnte, fiel Clara noch etwas ein, was sie die ganze Zeit hatte fragen wollen. Sie blieb stehen. Simoneit, der sie jetzt offensichtlich loswerden wollte, runzelte die Stirn. Clara ließ sich davon nicht einschüchtern, tastete sanft über die dicken rosa Blüten der Pfingstrosen. »Wer war es?«, fragte sie und ließ ihren Blick über den Garten schweifen. »Wer hat ihm das angetan?«
»Das wissen Sie nicht?« Simoneits Stimme klang ungläubig. »Ich dachte, das wäre klar?«
Clara antwortete nicht. Sie streichelte die Pfingstrose und wartete schweigend. Als Simoneit endlich antwortete, war es die Antwort, die Clara erwartet hatte. Dennoch konnte sie es nicht glauben.
»Es war natürlich dieser Barletta. Dieser dreckige Mistkerl.« Simoneit atmete schwer.
»Er hat Max so zugerichtet, nur weil er dem Richter seinen Namen genannt hat?« Clara schüttelte den Kopf. »Das kann ich mir nicht vorstellen. Das kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein.«
Simoneit lachte ein hässliches, bitteres Lachen. »Für Leute wie die ist so etwas mehr als Grund genug.«
»Aber wer sind die? Was steckt dahinter?«
Simoneit schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Ich dachte, Sie wüssten darüber Bescheid. Sie haben doch gehört. Das ist etwas zwischen Barletta und Malafonte, Max hat damit gar nichts zu tun.« Er warf ihr einen verzweifelten Blick zu. »Es war purer Zufall, dass Max ausgerechnet Barlettas Namen genannt hat, verstehen Sie? Dieser Barletta hatte sich ein paar Tage vorher in der Wunderbar einmal bei Max nach Angelo erkundigt, hat ihm ausrichten lassen, Gaetano Barletta suche ihn. Das war alles. Max kannte Barletta gar nicht, er hat ihn nur einmal gesehen! Dieser Richter wollte Namen hören, und Max hat ihm welche geliefert.« Er seufzte. »Das Ergebnis haben Sie ja gesehen.«
Mit stummem Entsetzen versuchte Clara zu begreifen, was sie da eben gehört hatte. Ein Zufall. Es war nichts als ein Zufall gewesen, der dazu geführt hatte, dass Massimo Moros Gesicht aussah, wie in einen Häcksler geraten. Sie begann, Angelos Angst zu verstehen.
Simoneit pflückte eine der Pfingstrosen ab und reichte sie Clara.
»Ich glaube, wir können uns gar nicht vorstellen, mit was für Leuten wir es hier zu tun haben«, sagte er und sprach damit Claras Gedanken aus, als hätte er sie gehört. Dann fügte er noch hinzu: »Passen Sie gut auf Ihr schönes Gesicht auf.«
Clara wurde rot: »Ich kann ganz gut auf mich aufpassen, danke«, erwiderte sie kühl und bereute es sofort. Es war nicht nötig, zu dem Architekten so ruppig zu sein. Er hatte ihr nicht zu nahe treten wollen. Doch er lächelte nur und öffnete ihr galant das Tor. Sie gab ihm ihre Visitenkarte: »Falls Max es sich noch anders überlegt.« Simoneit schob das Kärtchen in seine Hosentasche und nickte unverbindlich. »Grüßen Sie mir Ihre Eltern«, meinte er zum Abschied, dann ging er zurück zum Haus. Der Kies knirschte leise unter seinen weichen Sohlen. Clara starrte ihm verblüfft nach. Mit keinem Blick, keiner Geste hatte er zu erkennen gegeben, dass er sie kannte.
In Gedanken versunken ging Clara die stille Straße zurück zur U-Bahn. Abwesend strich sie über die samtigen Blätter der Blüte in ihren Händen. Die Dinge, die sie gehört hatte, lagen wie ein zäher, dicker Klumpen in ihrem Magen. Sie konnte damit nichts anfangen. Es war wie das unvermittelte Eintreten in eine fremde Welt gewesen, in der eine fremde Sprache gesprochen wurde. Und doch war es nicht so. Alles passierte hier, in München, in ihrer Stadt und vor ihren Augen, und sie musste sich damit befassen. Ob sie wollte oder nicht. Sie musste Angelo dazu bringen, ihr zu sagen, was der Grund dafür war, dass Barletta nach ihm suchte. Ihre Theorie von dem betrogenen Ehemann hatte sich nach dem Besuch bei Moro in nichts aufgelöst. Es steckte etwas anderes dahinter. Etwas ungleich Bedrohlicheres.
Clara seufzte und stieg die Treppen hinunter zum Bahnsteig. Warum konnte sie sich nicht einfach darauf beschränken, dem jungen Italiener zu einer möglichst niedrigen Strafe zu verhelfen, und alles andere beiseiteschieben? Andere würden das tun. Sie würden sich auf ihren Job konzentrieren und nicht gleichzeitig versuchen, die Welt zu retten. Sie war nicht verantwortlich für das, was Malafonte womöglich in Italien angestellt hatte. Sie würde auch Richter Oberstein höchstwahrscheinlich nicht aus seinem Amt vertreiben können, und die Politik würde so bleiben, wie sie war. Mit und ohne Clara Niklas.
Die U-Bahn war fast leer, als sie in den Bahnhof einfuhr, und Clara atmete auf. Bis zum Odeonsplatz würde sie wenigstens genug Luft zum Atmen haben. Sie setzte sich auf eine Bank ganz am Ende des Waggons mit dem Rücken zur Wand. Während sie blicklos die schwarzen Tunnelwände hinter der schmutzigen Scheibe vorüberziehen sah und versuchte zu vergessen, wie viele Tonnen Erde, Stahl und Beton sich über ihr bis zur Oberfläche auftürmten, wurde ihr klar, dass sie es niemals über sich bringen würde, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen. Solange noch die Möglichkeit bestand, irgendetwas zu bewegen, würde sie nicht lockerlassen. Sie konnte nicht anders. Sie hatte es noch nie gekonnt. Weltverbesserin nannten ihre Eltern sie früher, wenn sie wieder einmal die Schule schwänzte, um gegen irgendetwas zu demonstrieren oder einen Verweis für ungebührliches oder aufmüpfiges Betragen mit nach Hause brachte. Und während es bei ihrer Mutter immer liebevollbesorgt klang, hatte ihr Vater für solche Flausen nur Verachtung übrig. Schon die Achtundsechziger waren für ihn nur hoffnungslose Träumer und Spinner gewesen, dass aber seine jüngste Tochter Jahre später ohne Not den Aufstand probte, war ihm schier unbegreiflich und ein ständiger Dorn im Auge.
Die U-Bahn fuhr in den Bahnhof Odeonsplatz ein. Hier musste Clara umsteigen. Während sie die Rolltreppe zu ihrem Bahnsteig betrat, versuchte sie, sich für die Menschenmassen, die sie auf dieser Linie erwarten würden, innerlich zu wappnen. Heute war es besonders schlimm, das sah sie schon von weitem, als sie sich dem Bahnsteig näherte. Trauben von Touristen sammelten sich bereits vor dem einfahrenden Zug. Sie lief an ihnen vorbei, um ein paar Waggons weiter hinten einzusteigen, doch vergeblich. Der ganze Bahnsteig war voll mit Menschen. Sie warf einen Blick auf die Uhr und war kurzzeitig versucht, einen späteren Zug zu nehmen, verwarf jedoch den Gedanken. Sie hatte sich vorgenommen, ihrer Angst nicht mehr auszuweichen, also würde sie in diesen Zug einsteigen. Mit halb geschlossenen Augen ließ sie sich von der schiebenden und drückenden Menge durch die geöffneten Türen lotsen, machte sich so gefühl- und widerstandslos wie möglich. Wie Wasser, dachte sie bei sich, ein Gedanke, der ihr schon oft über Schlimmeres hinweggeholfen hatte. »Du bist wie Wasser. Du passt dich an, fließt einfach weiter, wohin der Lauf dich führt.« Sie blieb gleich neben der Tür stehen, das Gesicht zur Wand, und ließ die anderen weiterdrängeln. In dieser Ecke fiel sie am wenigsten auf, blieb ihr am meisten Platz, das wusste sie aus Erfahrung. Gerade als sich die Türen schließen wollten, zwängte sich in letzter Sekunde noch ein Mann herein und blieb hinter ihr stehen. Sie drehte den Kopf nicht nach ihm um, hoffte nur, er würde ihr nicht so nahe kommen, dass sie sich berührten. Während der Zug mit einem Ruck anfuhr, hielt sie die Augen auf den Boden vor ihr in der Ecke gerichtet und versuchte, ruhig zu atmen und nicht daran zu denken, mit wie vielen Menschen sie in dieser engen Röhre tief unter der Erde eingepfercht war. Zwischen ihren Schulterblättern sammelte sich der Schweiß, und sie verstärkte den Griff um die Haltestange. Der Mann hinter ihr stolperte und rempelte sie an. Sie zuckte zusammen. Wartete auf eine Entschuldigung, die nicht kam. Wartete darauf, dass er sich zurückzog, was er nicht tat. Er blieb an ihren Rücken gelehnt stehen. Sie roch Rasierwasser und Tabakrauch und spürte seinen warmen Atem in ihrem Nacken. Dann kam er noch einen Schritt auf sie zu und presste sie plötzlich mit seinem ganzen Gewicht in die Ecke. Clara erstarrte, als sie seine Hände an ihren Beinen spürte. Langsam wanderten sie nach oben, strichen über ihren Po, ihre Hüften, drückten ihre Brüste. Sie wollte sich umdrehen und dem unverschämten Flegel eine scheuern, doch sie konnte nichts dergleichen tun. Sie war wie gelähmt. Hilflos fühlte sie jetzt, wie der Mann sich noch dichter an sie drängte und sich an ihr zu reiben begann, spürte eine Hand zwischen ihren Beinen. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie war nicht in der Lage, sie abzuwischen. Sah es denn niemand? Warum riss ihn niemand weg von ihr? Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber es kam nur ein heiseres Krächzen heraus, das niemand hörte. Im gleichen Moment verlangsamte der Zug die Geschwindigkeit, und sie fuhren in den nächsten Bahnhof ein. Die Hände des Mannes lösten sich aufreizend langsam von ihr. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, und in dem Moment, als die Türe sich öffnete, war er verschwunden.
Als der Zug wieder anfuhr, stand Clara noch immer am gleichen Fleck, die Hand so fest um die Haltestange gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann, plötzlich lösten sich die Finger einer nach dem anderen, und Clara sank lautlos in die Knie, wie in Zeitlupe. Sie hörte noch den Aufschrei einer Frau neben ihr, dann war Stille.
Als Clara wieder zu sich kam, stand eine Menge Menschen um sie herum und sah sie besorgt an. Neben ihr kniete eine junge Frau und hielt ihr eine Flasche Wasser vors Gesicht. »Sind Sie auch schwanger?«, meinte sie mitfühlend, und Clara gewahrte den beträchtlich gewölbten Bauch der Frau. Unpassenderweise löste dieses Frage bei Clara ein völlig unmotiviertes hysterisches Kichern aus, und sie nahm schnell einen Schluck aus der Wasserflasche. Dann schüttelte sie den Kopf: »Nein, ich bin nicht schwanger, es … es geht schon wieder.« Unbeholfen rappelte sie sich auf und ignorierte die Sternchen, die bei dieser Bewegung vor ihren Augen zu flimmern begannen. »Ich muss nur hier raus!« Während sie dies sagte, spürte sie die Panik zurückkehren und beeilte sich, sich irgendwo festzuhalten. Ein Mann nahm sie am Arm und führte sie aus dem wartenden Zug. In dem Moment kam ein Angestellter der U-Bahn-Gesellschaft angelaufen, ein Telefon in der Hand. »Wir rufen einen Sanitätswagen!«, rief er schon von weitem im Bemühen, Kompetenz und Reaktionsschnelle zu beweisen. Clara versuchte, sich zusammenzureißen, und schüttelte energisch den Kopf. »Nein danke. Das ist nicht nötig.« Sie ließ den Mann, der sie herausgeführt hatte, los und wehrte, jetzt, da sie wieder auf eigenen Füßen stehen konnte, noch entschiedener ab: »Ich brauche nur etwas frische Luft, danke. Vielen Dank für Ihre Mühe.« Sie drückte ihrem erstaunten Helfer die Hand, nickte dem U-Bahn-Mitarbeiter zu, der das Handy noch immer in der erhobenen Hand hielt, und stakste zittrig, aber zielstrebig davon. »Sind Sie sicher …«, rief ihr jemand nach und sie nickte noch einmal, ohne sich umzudrehen. »Ganz sicher, meine Herren, ganz sicher.« Dann hatte sie die Rolltreppe erreicht. Clara zitterte noch immer, während sie nach oben fuhr, die rechte Hand fest auf die glatte, schwarze Gummioberfläche des Handlaufs gedrückt.
Willi ließ seinen Blick über die hohen Regale schweifen und überlegte, wo er das Buch, das er so dringend benötigte, hingestellt hatte. Erst letzte Woche hatte er es noch benutzt. Es konnte doch nicht verschwunden sein? Sein Blick glitt ab und wanderte hinunter in den unteren Raum, der nur durch ein paar Stufen von seinem Arbeitsplatz getrennt war, und blieb an Linda haften. Sollte er sie bitten, endlich einmal Ordnung in seine umfangreiche Bibliothek zu bringen? Es tat ihm jetzt schon weh, daran zu denken, wie eine fremde Person seine Bücher nach irgendeinem Schema F sortierte und er sich dann an diese Ordnung zu halten hatte. Es würde ohnehin nicht funktionieren. Er selbst hatte es schon mehrmals versucht. Hatte sie nach dem Alphabet, den Autoren, den Rechtsgebieten und einmal sogar nach der Größe sortiert. Alles umsonst. Wenn es um seine Bücher ging, war er nicht in der Lage, sich an eine vorgegebene Ordnung zu halten, weder an die eigene, noch an die eines anderen. Die Reihenfolge seiner Bücher folgte nichts anderem als seinen Gedankengängen, und da diese mitunter recht unkonventionelle Wege gingen, konnte man nicht erwarten, dass die Bücher immer brav an einer Stelle blieben. Willis rechtliche Interessen waren weit gefächert, und er hatte eine Vorliebe für exotische Rechtsgebiete. Im Augenblick beschäftigte er sich mit einem Fall von zwei Schrebergärtnern, die erbittert um die Anbringung eines Fahnenmastes kämpften. Dafür benötigte er den Kommentar zur Bayerischen Kleingartenverordnung, der jedoch spurlos verschwunden zu sein schien. Willi schielte misstrauisch zu Claras Schreibtisch. Ihre in Willis Augen erschreckend banale Literatursammlung passte auf ein Regalbrett hinter ihrem Stuhl an der Wand und umfasste nicht viel mehr als die Standardwerke. Die Kleingartenverordnung war darunter nicht zu finden. Auf Claras Schreibtisch hingegen türmten sich Akten, dazwischen hingen lose Zettel heraus, und Notizen auf gelben Leuchtstreifen mahnten drohend den Ablauf irgendeiner Schriftsatzfrist. Gekrönt wurden die Stapel von einer leeren Kaffeetasse. Willi sah auf die Uhr. Clara sollte längst wieder im Büro sein. Sie war nach der Mittagspause aufgebrochen, um einen Zeugen in der Sache Malafonte zu befragen, und hatte ihm Elise dagelassen, die auf ihrer Matratze hinter Claras Schreibtisch lag und zufrieden auf irgendetwas herumkaute. Jetzt war es fast fünf Uhr, und Clara war noch nicht zurück. Er fragte Linda, ob sie sich zwischenzeitlich gemeldet habe, doch Linda schüttelte den Kopf und bedachte Willi mit einem ihrer intensiven Blicke.
Vielleicht sollte er doch einmal mit ihr ausgehen, überlegte er nicht zum ersten Mal. Linda war ausnehmend hübsch, recht clever und tüchtig. Außerdem schien sie auf so etwas wie eine Verabredung mit Willi zu warten, jedenfalls kam es ihm so vor. Jedes Mal, wenn er gleichzeitig mit ihr Feierabend machte, beschäftigte sie sich aufreizend lange mit irgendwelchen Nebensächlichkeiten auf ihrem Schreibtisch, rückte den Locher und die Stifte hin und her und kontrollierte immer wieder, ob auch der Kopierer ausgeschaltet war. Sie versuchte, mit ihm zusammen die Kanzlei zu verlassen und ihn in Gespräche über Kinofilme oder irgendein neues Lokal in der Innenstadt zu verwickeln. Er war noch nie darauf eingegangen und wusste selbst nicht richtig, warum. Er hatte nie wirklich Lust verspürt, mit Linda ins Kino zu gehen. Lieber saß er mit Clara an der Theke im Murphy’s oder blieb zuhause in seinem winzigen, altmodischen Apartment am Englischen Garten. Ein Zimmer, Wohnküche, Bad, eine kleine Terrasse. Längst hätte er sich etwas Größeres und Modernes leisten können, aber er war überzeugt davon, in der Stadt nichts Vergleichbares finden zu können: Wenn er das Fenster öffnete, war nichts anderes zu hören als der Schwabinger Bach und morgens Vogelgezwitscher. Neben ihm wohnte eine neunzigjährige Dame, die früher Balletttänzerin gewesen war und jetzt noch immer würdevoll und in wehenden Kleidern am Stock ging. Sie lud ihn ab und zu zum Teetrinken ein und zeigte ihm Bilder aus längst vergangenen Zeiten, als sie ein graziles, zerbrechliches Geschöpf gewesen war, mit großen Rehaugen wie Audrey Hepburn, spitzen Schultern, und einem ernsten Gesicht. Sein Schlafzimmer war zugleich Bibliothek, und in den Regalen stapelten sich zweireihig Romane, Sachbücher, Bildbände, alles, nur keine Rechtswissenschaft. Die Arbeit nahm er nie mit nach Hause. Grundsätzlich nicht. Auch Clara hatte er noch nie zu sich nach Hause eingeladen, obwohl er sich das wiederum schon sehr oft vorgenommen hatte. Seine Scheu davor, irgendetwas in ihrer harmonischen »Nicht-Beziehung« zu zerstören, war jedoch noch größer als sein Wunsch, mehr daraus zu machen. Er liebte Clara. Irgendwie. Gleichzeitig hoffte er inständig, sie würde es nie bemerken. Er glaubte, recht gut darin zu sein, seine Gefühle zu verbergen, und Clara hatte ihrerseits noch nie zu erkennen gegeben, dass sie in Willi mehr sah als einen Kollegen und guten Freund.
Willi sah noch einmal auf die Uhr und seufzte. Nachdem die Bayerische Kleingartenverordnung nicht wieder aufgetaucht war, hatte es keinen Sinn, noch weiter hierzubleiben. Wo nur Clara blieb? Sollte er Elise mit zu sich nachhause nehmen? Er warf einen Blick auf den großen grauen Hund, der jetzt seinen Kopf zwischen die Pfoten gelegt hatte und tief zu schlafen schien. Linda war am Nachmittag mit ihm eine Stunde spazieren gegangen, und Elises Bedarf an Bewegung war damit vollauf gedeckt.
Gerade als Willi begonnen hatte, seinen Schreibtisch aufzuräumen, öffnete sich die Tür, und Clara kam herein. Willi erschrak, als er sie sah. Sie wirkte vollkommen fertig. Ihr Gesicht war bleich mit einem ungesunden gelblichen Schimmer, und auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen. Ihre Locken klebten feucht an den Schläfen, und die Lippen schienen überhaupt keine Farbe zu haben. Sie schien Linda, die sie aufgeschreckt begrüßte, gar nicht zu bemerken, sondern ging ohne ein Wort zu Willi hinauf und ließ sich erschöpft auf ihren Stuhl fallen. Ihr grüner Blazer war zerknittert, und Willi bemerkte, dass ihre Hände zitterten.
Willi öffnete den Mund, um tausend Fragen zu stellen, doch Clara kam ihm zuvor. Ungewohnt leise, mit einer Stimme, die Willi gar nicht von ihr kannte, bat sie ihn ohne weitere Erklärung: »Bringst du mich bitte nach Hause?«
Willi nickte besorgt und sprang auf. Er nahm Clara am Arm und hatte dabei das Gefühl, sie würde gleich in Ohnmacht fallen. Doch sie fiel nicht. Stumm ging sie neben Willi hinaus zu seinem Auto. Elise folgte ihnen. Erst als sie einstiegen und Willi die Dogge auf den Rücksitz seines alten Volvo springen ließ, sah er, worauf sie den ganzen Nachmittag so hingebungsvoll herumgekaut hatte: Es war sein Kommentar zur Bayerischen Kleingartenverordnung, den sie wie eine Trophäe vor sich hertrug. Mit spitzen Fingern zog er das Buch aus Elises Maul. Es hatte die liebevolle Behandlung nicht gut überstanden. Er würde ein neues Exemplar brauchen. Mit einem Seufzer klemmte er es sich unter den Arm und beeilte sich, Clara nach Hause zu bringen.