Mai
2. Mai
Sieben Uhr morgens
Eine Fliege summte – als ich starb –
Im Raum die Stille schwoll
So wie die Stille in der Luft –
Wenn ein Sturm Atem holt –
Die Augen rings – schon ausgepresst –
Der Puls harrte gefasst
Des letzten Akts – da Er im Raum
Sich Fürstlich – offenbart –
Andenken hatte ich – vermacht
Und von mir überschrieben
Was übertragbar war – da schob
die Fliege sich dazwischen
Mit Blauem – taumelndem Gebrumm –
Zwischen das Licht – und mich –
Die Fenster schwanden mir – und dann
Verlor mein Sehn die Sicht –
Warum hält sie mir dauernd Vorträge? Es klingt wie eine Predigt. Die Predigerin Emily bekehrt die Jüdin. Ich halte mir die Ohren zu. Ich schließe die Augen.
Neun Uhr abends
Ich kann nicht den richtigen Stift finden, um das hier zu schreiben. Keiner liegt angenehm in meiner Hand. Ich nahm meinen Füller, aber er ist verstopft. Die Feder kratzt über das Papier und lässt kleine Tränen fallen. Ich kann nicht schnell genug schreiben, um mit meinen Gedanken Schritt zu halten. Ich durchwühlte meinen Schreibtisch und meine Büchertasche und probierte jeden Stift aus. Keiner passt.
Ich werde die Worte schreiben: Lucy ist tot.
Sie ist seit über einem Tag tot.
Endlich verstehe ich meine Rolle in der Tragödie. Ist es eine Tragödie? Oder eine Geschichte, die, noch während ich sie erzählte, zu Ende ging? Mir sind ohnehin nur wenige freie Seiten geblieben. Ich habe mein Tagebuch fast voll geschrieben. Das hatte ich mir vorgenommen.
Ich bin noch am Leben. Meine Hand hält meinen karminroten Füller, meinen kostbarsten Besitz. Und sie bewegt sich. Das wundert mich. Meine Hand zittert, bewegt sich aber. Das Blut fließt weiter durch meinen Körper, ohne dass ich ihm sagen muss, was es zu tun hat. Ich atme ein und aus.
Sie haben ihre Leiche weggebracht. Ihren toten Körper. Den Körper, der nicht mehr lebt. Ihre Mutter schluchzte haltlos, als sie mich umarmte. Die Krankenschwester, der Arzt, alle haben mir wieder und wieder Fragen gestellt, wollten wissen, was passiert war. Lucy hatte einen weiteren Anfall, und diesmal hörte sie auf zu atmen. Das brauche ich ihnen doch nicht zu sagen. Sie haben ihre einfache Wahrheit. Was sollen sie mit meiner besonderen Wahrheit anfangen?
Wäre doch nur ihre Mutter ans Telefon gegangen.
Licht aus
Im Flur kam ich an Mrs. Halton vorbei, sie war vielleicht aufgedreht. Sie weiß, wie sehr ich leide, das macht es noch schöner für sie. Sie muss sich um so vieles kümmern. Ist unglaublich beschäftigt. Sie muss mit den ganzen Mädchen reden und sie trösten, Lucys Mutter bei der Totenwache helfen und dafür sorgen, dass wir alle hingehen, Blumen bestellen, Lucys Schrankkoffer aus dem Keller holen und ihre Sachen einpacken. Es gibt so viel zu tun.
3. Mai
Ich öffne die Urne mit der Asche meines Vaters. Weiße Knochen ragen aus der weichen, grauen Asche. Ich verstreue eine Hand voll nach der anderen. Ich will sie loswerden. Der Wind bläst sie uns ins Gesicht. Ich habe seine Asche im Mund. Sie zergeht auf meiner Zunge. Meine Hände und mein Mund sind schwarz verfärbt. »Weg mit den Knochen«, ruft meine Mutter. Sie ist ungeduldig. Entreißt mir die Urne, zieht einen langen Knochen heraus und schleudert ihn in den Himmel. Dann noch einen und noch einen. Die weißen Knochen fliegen im Bogen hoch in den Himmel. Sie kommen nicht wieder runter.
Nachdem sie Lucy von mir weggeholt hatten, legte ich mich ins Bett und schlief. Ich schlief beinahe den ganzen Tag. Ich hatte keine Schlafprobleme. Später ging ich runter zum Abendessen. Ich weinte nicht. Alle Mädchen drängten sich nach dem Essen im Aufenthaltsraum aneinander. Diesmal war das Schweigen anders. Keine wusste, was sie sagen sollte. Gelegentlich wimmerte jemand, andere fuhren zusammen. Sie weinten abwechselnd. Ich weinte nicht einmal, als Lucys Mutter mich umarmte. »Verbrennen Sie die Leiche«, flüsterte ich ihr ins Ohr. Sie schaute mich erstaunt an und begann wieder zu schluchzen.
Ich bin mir sicher, dass Ernessa auch nicht geweint hat. Lucys ganz besonders gute Freundin. Heute Morgen habe ich sie in der Versammlung gesehen. Sie wirkte rot und verquollen, wie eine schwangere Frau.
Sofia und ich haben Lucys Mutter heute Nachmittag geholfen, alle Kleider einzupacken. Ihre Mutter musste sich irgendwie beschäftigen. Bevor sie Lucys Schmuckkasten in den Koffer legte, klappte sie ihn auf und hielt ihn uns hin. »Ich möchte, dass ihr euch etwas von Lucy aussucht.« Sie begann zu weinen, als Sofia und ich den Kasten auf dem Bett auskippten. Es waren die einzigen Geräusche im Zimmer: ihr leises Schluchzen und das Klirren von Gold und Silber. Es war uns peinlich, die Ketten, Armbänder und Broschen zu entwirren. Sofia suchte sich ein silbernes Bettelarmband aus. Das hatte zu Lucy gepasst. Vermutlich hatte sie in den letzten zehn Jahren immer etwas Neues drangehängt. Glöckchen, Herzen, Sterne, Pferde, Hunde, Rollschuhe. Ich nahm ihr goldenes Kreuz. Es hatte die ganze Zeit auf dem grünen Samt in ihrem Schmuckkasten gelegen. Sie hätte es jederzeit wieder anlegen können. Das Mädchen, das jeden Sonntag in die Kirche ging und Ostern einen Hut und ein Täschchen mit passenden Lackschuhen trug, hatte gewusst, wo es war.
4. Mai
MorgendämmerungIch hatte geglaubt, ich würde alles tun, um ihr das Leben zu retten. Das war, bevor man mich auf die Probe stellte.
In jener Nacht ging ich früh schlafen. Der Streit mit Lucy hatte mich erschöpft. Es war noch nicht mal zehn. Ich hörte Geräusche aus ihrem Zimmer. Lucy sprach mit jemandem. Ich lag im Bett und wusste, dass ich nicht gezwungen sein wollte, sie zu retten. Ich schloss die Augen und schlief ein. Mein Traum begann so allmählich, dass er mir nicht wie ein Traum vorkam. Ich erwachte und ging zu Lucys Zimmer. Die Badezimmertür öffnete sich, und ich ging hindurch. Lucys Bett war leer. Die Decke zurückgeschlagen. Die Matratze noch warm. Ich eilte in den Flur, über die Hintertreppe ins Erdgeschoss, durch die Tür. Jemand hatte schon einen Stock dazwischen geklemmt. Ich rannte die Auffahrt hinunter, vorbei an der breiten Freitreppe, die zur Residenz führt, vorbei an den japanischen Zierkirschen, die den oberen Sportplatz säumen. Die rosa Blumen waren verschwunden; vertrocknete, braune Blüten bedeckten den Boden. Die neuen Blätter waren silbrig grün. Steinchen und scharfe Stöcke bohrten sich in meine nackten Füße, als ich über das struppige Gras auf dem Hügelkamm rannte. Der Vollmond war gerade riesengroß über den Baumwipfeln hinter dem Sportplatz aufgegangen. Er schien so hell, dass er tiefe Schatten über das Gras warf. Es hätte Tag sein können. Es gab keine Verbindung mehr zwischen ihnen; man gelangte nicht von der Nacht zum Tag und wieder zurück. Ich stand oben auf dem Hügel. Lucy und Ernessa waren auf dem Sportplatz. Ihre weißen Nachthemden leuchteten.
»Lucy«, rief ich, »Lucy!«
Sie hörten mich nicht. Ernessa stand hinter und über Lucy. Sie hatte sie am Haar gepackt und zog sie vom Boden hoch. Lucys Haar schimmerte im Mondlicht wie Gold. Sie schwebten, gewichtslos wie Engel. Die sorgsam geordneten Falten ihrer Nachthemden verbargen die Füße. Engel brauchen keine Füße. Es ärgert mich immer, wenn auf alten Gemälden die Zehen unter den Gewändern hervorlugen. Lucy streckte die Arme zur Seite, am Ellbogen gebeugt, die Finger ausgestreckt, als drückte sie mit aller Gewalt gegen etwas.
Ich rannte zu ihnen hinunter. Es dauerte lange. Die Luft war dick wie Wasser und presste sich gegen mich. Meine Beine bewegten sich auf und ab, aber ich kam nicht voran. Diesen Traum habe ich mein ganzes Leben lang geträumt und bin immer zu spät gekommen.
Lucys Körper lag verkrümmt am Boden. Ernessa war weg.
Ich hob Lucy auf und drückte mein Gesicht an ihres. Ihr Atem war ein leises Gurgeln.
»Lucy, lass mich hier nicht allein. Das lasse ich nicht zu.«
Sie hörte auf zu atmen, ihr Mund wurde starr. Ich begann sie zu schütteln. Zuerst ein bisschen, dann immer fester. Ich schlug ihren Kopf auf den Boden. Ihr Haar war eine wirre Masse. Ich konnte sie noch ins Leben rütteln. Ich war wütend, weil Lucy sterben konnte, indem sie einfach die Augen schloss.
Dann suchte ich ihren Hals, die Stelle zwischen den Augen, die Haut über dem Herzen, die Brustwarzen nach Zeichen ab, die mir verraten könnten, wie man vom Leben zum Tod gelangt. Ich fand keine. Die Bücher irrten sich alle. Die Zeichen sind unsichtbar. Nicht mal mit einem Mikroskop könnte man sie finden.
Ich erwachte in meinem Zimmer, das Mondlicht strömte durch das unverhängte Fenster. Zuerst dachte ich, jemand wäre in mein Zimmer gekommen und hätte die Deckenlampe eingeschaltet. Charley wäre hereingeklettert und spielte mir einen dummen Streich. Aber Charley war schon lange weg.
Ich sprang aus dem Bett. Rannte in Lucys Zimmer. Die Tür öffnete sich für mich. Das Bett war leer und warm. Alles geschah genau wie in meinem Traum.
Sie fanden mich im Gras, Lucys Kopf im Schoß. Es dämmerte gerade, und das Gras unter uns war feucht und kalt. Meine Beine waren taub.
Nach dem Abendessen
Heute Nachmittag hielten wir die Totenwache für Lucy. Morgen bringen sie sie zur Beerdigung nach Hause. Ihr Vater ist nicht gekommen.
Der weiße Sarg stand ganz allein mitten im Zimmer. Die Leute in ihren schwarzen Kleidern hatten sich an den Wänden aufgereiht. An beiden Enden des Sarges hatte man hohe Urnen aufgestellt, aus denen weiße Blumen quollen. Sie sah tot aus, wirklich tot. Ihre grünliche Haut hätte jeden überzeugt, dass sie tot war und nicht nur schlief. Sie hatte die Augen geschlossen, ihr goldenes Haar war sorgfältig frisiert, das Gesicht geschminkt, die Lippen rosig, der Körper parfümiert, die Hände unter einem Berg weißer Rosen waren gefaltet. Sie trug das weiße Kleid von der Abschlussfeier im letzten Jahr und die passenden weißen Schuhe, und sie war auf weißen Satin gebettet. Alles war weiß, weiß. Und die Düfte waren dick und Schwindel erregend. Die Balsamierflüssigkeit roch widerlich nach überreifem Obst. Ich beugte mich lange über sie, und niemand wagte, mich daran zu hindern. Ich hatte sie gefunden. Ich hatte ihren letzten Atemzug gespürt. Ich hatte sie ganz für mich gehabt. Ich nahm ein winziges Silbermesser und den Streifen Schwarz-Weiß-Fotos von Lucy und mir aus der Tasche. Ich schob das Messer zwischen ihre steifen Hände. Die Fotos unter die Falten ihres Kleides. Es waren vier Bilder, und auf dem letzten lachten wir wie wild, wollten uns gegenseitig aus dem winzigen Rahmen schubsen. Wir hatten uns die Arme um die Schultern gelegt.
Es wird nicht verhindern, dass sie wird, was sie wird, doch das Messer kann sie vielleicht beschützen, und die Fotos werden sie an dem einsamen Ort, an dem man nichts als Hunger verspürt, an mich erinnern.
Ich stand auf und sah mich um. Alle hatten sich abgewandt. In der Ecke stand ihre Mutter mit schwarzem Kostüm, schwarzen Pumps, schwarzer Handtasche und redete mit Mrs. Halton. Sie war jetzt absolut gefasst. Woran dachte sie wirklich, während sie redete und reizend lächelte? Dass sie Lucy mit in das Haus nehmen würde, in dem die keuchenden Atemzüge ihres Mannes die ganze Luft aufsogen und der kleine weiße Pudel dauernd bellte? Ich ging hin, um mich von ihr zu verabschieden. Ich wollte Lucys Mutter sagen, dass alles meine Schuld gewesen sei. Ich wollte ihr sagen, dass Lucy mir nicht mehr vertraut hatte, dass wir keine Freundinnen mehr gewesen waren, dass ich sie nicht mehr kannte, nicht mehr kennen wollte. Wie hätte ich sie retten können, wo sie so entschlossen war zu gehen? Ich brachte kein Wort heraus.
Die Mädchen vom Flur standen zusammengedrängt in einer Ecke, weinten, trauten sich nicht an den Sarg. Ich wollte ihnen sagen, dass sie keine Angst haben müssten. Lucy war schön. Selbst Sofia war in letzter Minute gekommen. Jemand hatte sie überredet. Nur Ernessa war in der Schule geblieben. Ich weiß, wie sehr sie Beerdigungen verabscheut, den erstickenden Geruch.
Als Sofia mich neben der Tür entdeckte, rannte sie auf mich zu und packte mich am Arm.
»Gehst du?«, fragte sie.
Wir gingen gemeinsam zurück. Das Bestattungsinstitut liegt nur zehn Minuten von der Schule entfernt. Wir kamen immer daran vorbei, wenn wir nach einer Pommes und Cola im Drugstore noch durch die Stadt liefen. Wir machten Witze über Bob, der im Hinterzimmer die Leichen herrichtete. Lucy war abergläubisch. Sie betrachtete gern die Blumen im Blumengeschäft nebenan, wollte dann aber unbedingt die Straßenseite wechseln. Sie ging nie am Bestattungsinstitut vorbei. Sie fand es gruselig.
Wir schwiegen die meiste Zeit. Ich dachte, Sofia wäre zu überwältigt, um zu reden, doch sie nahm nur allen Mut zusammen, um mich mit etwas zu konfrontieren.
»Ich glaube, du solltest wissen, was die anderen über dich reden«, sagte sie. »Sie meinen, du seist schuld an ihrem Tod.«
»Was soll das heißen?«
»Du hast sie mitten in der Nacht nach draußen geschleppt.«
»Ich bin rausgegangen, um sie zu suchen. Ich wollte sie retten. Ihr habt doch darauf bestanden, mit ihr sei alles in Ordnung. Ihr habt gesagt, ich solle mich nicht einmischen.«
»Sie geben dir die Schuld.«
»Mir ist egal, was sie denken. Was ist mit dir? Was denkst du denn?«
»Willst du das ehrlich wissen? Ich denke, du bist lange von Lucy und Ernessa besessen gewesen. Du konntest ihre Freundschaft nicht akzeptieren. Ich habe Angst, dass du Lucys Tod in etwas verwandelst, das einfach nicht stimmt.«
»Ich habe immer gewusst, was Ernessa mit Lucy macht. Ich bin nicht auf ihren Tod angewiesen, um die Wahrheit zu erkennen. Er überzeugt mich von gar nichts. Und du willst die Wahrheit nicht wissen.«
Sofia versuchte zu lächeln, konnte das Lächeln aber nicht festhalten.
»Ich will dir nur helfen«, sagte sie.
Ich erwiderte ihr Lächeln.
5. Mai
MorgendämmerungIch möchte Lucy ihren Tod zurückgeben. Ich möchte verhindern, dass Ernessa sie in eine Kreatur verwandelt. Eine unglückliche, verzweifelte, hoffnungslose Kreatur. Lucy schwebt mit leerem Gesicht durch die Ewigkeit. Sie versteht nicht, was mit ihr geschehen ist. Sie wird für immer ein Opfer bleiben.
Ich wache morgens auf, gehe zum Frühstück runter, in den Unterricht, übe Klavier, mache Sport, erledige die Hausaufgaben, esse zu Abend, bade, schlafe. Wie kann ich die Uhr zurückdrehen? Kann ich nicht wenigstens die Vergangenheit beherrschen, wenn Ernessa schon die Zukunft beherrscht?
Ruhezeit
Heute Morgen habe ich vor dem Mittagessen Klavier geübt. Ich kann nicht spielen. Ich bleibe an Passagen hängen, die ich früher mühelos geschafft habe. Meine Hände zittern, wenn ich sie vor mich halte. Ich kann sie nicht kontrollieren. Sie sind Blätter im Wind. Es weht kein Wind.
Die Kellertür war angelehnt. Ich habe sie mit den Fingerspitzen aufgestoßen und bin die Treppe hinuntergegangen. Der eigenartige Geruch ist seit einiger Zeit verschwunden. Heute roch es nur nach trockenem Staub. Es brannte Licht, eine nackte Glühbirne hing von der Decke, erhellte einen Kreis auf dem grauen Zementboden und ließ in den Ecken Spritzer aus Dunkelheit. Oben an den Wänden gab es kleine, schmutzige Fenster, die schwaches Licht hereinließen. Ich kam an aufgestapelten alten Möbeln vorbei. Unsere Schrankkoffer sind an der hinteren Wand aufgereiht. Sie lagern hier während des Schuljahrs. Reihen schwarzer Kästen. Ihr Name stand vorn drauf, unter dem Schloss, in Goldbuchstaben: E. A. Bloch. Der Koffer war mit Aufklebern übersät – Cunard Line, Holland-Amerika-Linie, Compagnie Générale Transatlantique. Die roten und blauen Aufkleber waren zerfranst und abgerieben; nur eine Papierhaut haftete noch an der schwarzen Oberfläche. Auf dem neuesten, leuchtendsten Aufkleber mit dem Namen der Schule konnte man noch den Namen und das Reiseziel lesen. Und bei einem Aufkleber an der Seite. Die meisten der verblichenen, schrägen handschriftlichen Lettern waren noch zu erkennen: Bloch, Brangwyn Hotel. Vor ihrem Koffer lag Dreck.
Als sie zurückgekommen ist, war ihr alles vertraut: die breiten Veranden, die das Hotel umgaben; die Dächer mit den roten Schindeln; die Wohnzimmer im Erdgeschoss; der Speisesaal, die große Treppe, der Ballsaal. Hatte sie im selben Zimmer mit Blick auf den hinteren Hof gewohnt? Sie hatte ein Picknick in der Hütte beim Wald gemacht, auf einer Decke an der Seite des Hügels gesessen. Sie hatte den Nachmittagstee auf der Veranda eingenommen und war mit einem Pony über den oberen Sportplatz geritten. Gab es damals schon die japanischen Zierkirschen? Sie müssen noch klein gewesen sein, mit Zweigen, die wie dürre Arme herabhingen. Ihre Mutter erholte sich, sie nicht. Ihre Mutter fand einen neuen Mann. Sie gab sich gefasst, doch in ihr polterten die Gedanken gegeneinander. Sie füllte die lange Wanne mit warmem Wasser. Unter Wasser tat es weniger weh. Die dunklen Farbschnörkel umwogten sie. Als das ganze Wasser rot war, konnte sie nicht mehr sehen.
Es läutet zum Abendessen. Ich werde ständig unterbrochen.
Nach dem Abendessen
Das schwere Messingschloss hing offen am Koffer. Es war so einfach, die beiden Schließen neben dem Schloss zu öffnen und den Deckel hochzuklappen. Ich ließ den Geruch der Wälder nach einem Regentag heraus: feucht, pilzig, verrottet. Schwarze Erdkrumen hafteten noch an allem. An Steinen, Stöcken, Blattfetzen, modrigen Holzstücken, Moos polstern, Flechten, Schalen, Strohhalmen, Gräsern, Blumen, geflügelten Ahornsamen, Birkenkätzchen, Rosskastanien, zerdrückten Motten, getrockneten Spinnen, grauen Wespennestern, verfilzten Federklumpen, Fellbüscheln, vergilbenden Knochen, einem Schlangenkiefer, Schneckenhäusern, Tierkot. Das alles hatte man mit beiden Armen vom Boden geschaufelt und in den Koffer geworfen. Mittendrin war eine Kuhle, die ihr Körper hinterlassen hatte, ein Körper, der gewichtslos und doch eine Last war. Als Kopfkissen diente ein dickes Notizbuch. Ich hob es hoch und trug es zum Fenster, um es zu lesen. Es waren Hunderte Seiten steifes, blau liniertes Papier. Jede Seite war vorn und hinten auf allen Linien beschrieben. Jeden Tag gab es einen Eintrag: Zeit, Ort, eine kurze Beschreibung des Wetters, nie mehr als zwei oder drei Wörter, die nicht mal eine ganze Zeile einnahmen. Die Tage liefen ineinander. Schnee. Regen. Sonne. Kühl. Westwind. Hagel. Hitze. Frisch. Langweilig und sinnlos. Ich las und las. Siebzig Jahre ohne Pause. Es gab keine Geheimnisse in ihrem Leben.
Ernessa glitt durch die Zeit, rasch, auf der Suche nach denen, die waren wie sie. Jetzt war sie wieder hier, wo sie begonnen hatte.
Ich wandte mich den jüngsten Einträgen zu, fast am Ende des Buchs. 1. Mai, Brangwyn, wärmer. Das war alles. Nur das Wetter hat Einfluss auf sie. Sie ist anfällig für Sonne, Regen, Schnee, Wind. Keine Erwähnung von Lucys steifem Haar im Mondlicht oder den silbernen Blättern der Zierkirschen. »Ich glaube nicht an Geister, aber ich glaube an die Ewigkeit.«
Ich riss die Seiten aus ihrem Tagebuch und verstreute sie über dem Koffer. Das weiße Papier schwebte herunter wie ungeheure, flatternde Motten.
Sie hatte nur noch wenige Seiten übrig. Sie hatte so viele Jahre in ein einziges Buch gezwängt.
Auch bei mir geht der Platz zu Ende. Die Wörter quellen über die Seite hinaus, an den oberen und seitlichen Rand, zwischen die geraden Linien. Meine Handschrift ist winzig, unmöglich zu lesen.
6. Mai
MittagszeitHeute habe ich Mathe blaugemacht. Ich kam um genau 10.45 Uhr zum Proberaum und wartete, bis sie aus der Kellertür herauskam. Sie ging um 10.53 Uhr durch den Flur. Damit bleiben ihr sieben Minuten, um ins Schulgebäude zu gehen und pünktlich zum Unterricht zu kommen.
Nach dem Abendessen
Sobald der Unterricht zu Ende war, ging ich in mein Zimmer. Ich schwänzte das Softball-Training, das um Viertel nach drei beginnt. Ich zog meinen Regenmantel an, um die Uniform zu verbergen, und ging am Bahnhof vorbei in die Stadt. An der ersten Tankstelle machte ich Halt. Sie lag neben dem Supermarkt, in dem Lucy und ich immer die tiefgefrorenen Honigbrötchen gekauft hatten, die wir am Wochenende aßen. Ich sagte dem Tankwart, meine Mutter sei ein paar Straßen weiter mit leerem Tank liegen geblieben. Er verkaufte mir eine Gallone Benzin und gab mir einen Plastikkanister und einen Schlauch zum Einfüllen. Ich versprach, die Sachen später zurückzubringen. Ich gab ihm zwei Vierteldollarmünzen. Bevor ich die Tankstelle verließ, wischte ich den Kanister mit Papierhandtüchern ab, damit meine Hände nicht nach Benzin rochen. Der Kanister steht hinter den Büschen hinter der Residenz. Da kommt nie einer hin. Es war leichter, als ich gedacht hatte. Ich hatte befürchtet, ich würde mich nicht trauen, den Tankwart zu fragen, aber es war gar kein Problem.
Mitternacht
Die Tage sind falsch. Die Nächte sind wahr.
Am Tag vertreibe ich sie, aber nachts kommen sie wieder. Sie gleiten unter meiner Tür hindurch in meine Träume. Ich sehe Lucy wieder, und ich seufze erleichtert, weil alles nur ein Traum war. Nichts davon ist wirklich geschehen. Dann wollen wir uns umarmen und stellen fest, dass wir beide ins Nichts greifen. Lucy will, dass ich sie rette. Das merke ich an der Art, wie sie die Arme ausstreckt und nicht aufgeben will. Sie saugt geräuschvoll die Luft ein, als wäre sie es nicht gewöhnt, den seltsamen Äther einzuatmen, in dem sie nun lebt. Immer taucht Ernessa auf, mit dunklen Schatten unter den Augen. Sie steht abseits, beobachtend, belustigt. Jede Nacht wird Lucy blasser. Bald werde ich nicht mal mehr in meinen Träumen glauben, dass nichts geschehen ist.
7. Mai
Freitag, Ende der WocheMiss Norris war gar nicht überrascht, als ich mit meinem Tagebuch und Stift vor ihrer Tür stand. Ich hatte es den ganzen Tag in der Büchertasche herumgetragen. Sie war den ganzen Morgen hier. Vermutlich ist sie als Einzige oben geblieben, als der Alarm losging. Sie achtete nicht auf den Alarm und die Autos.
»Ich habe Sie draußen gar nicht gesehen«, sagte ich.
»Ich wusste, dass ich hier oben sicher bin. Ich wollte meine Vögel nicht im Stich lassen. Notfalls hätte ich das Fenster öffnen und sie fliegen lassen können.«
Ich sitze an dem Tisch, an dem wir zusammen Griechisch übersetzt haben. Ich sehe keine Bücher, Notizhefte oder Stifte. Nur eine Tasse Tee steht auf dem Tisch, auf der Untertasse liegt ein silberner Löffel. Sie hat mich allein gelassen. Sie liest im Nebenzimmer. Sogar die Vögel sind still. Ich habe ihr gesagt, ich müsste eine Weile Tagebuch schreiben.
Nachdem das Feuer gelöscht war, durften wir nicht zurück in die Residenz. Alle Mädchen fanden sich in schweigenden blaugrauen Gruppen zusammen und wurden ins Schulgebäude getrieben. Ich glitt ins Naturwissenschaftsgebäude und ging durch den Übergang am Aufenthaltsraum vorbei nach oben in die Residenz. Es war absolut still. Ich hielt Ausschau nach Miss Olivo mit dem wiegenden Kopf auf dem mageren Hals, die tonlos vor sich hin summte, doch ihr Stuhl war leer.
Sie hätte heute Morgen in ihrem Koffer im Keller liegen müssen, so wie sie es jeden Morgen bis 10.53 Uhr tut. Ich hätte den Deckel öffnen sollen, um sicherzugehen, dass sie drin lag, weder tot noch lebendig, verletzlich und schwach, und ich hätte ihr etwas ins Herz stoßen oder ihren Kopf abtrennen sollen, so wie sie es in Büchern machen. Aber ich wollte sie nicht ansehen.
Als die Flamme das Benzin berührte, überraschte mich die Gewalt der Explosion. Mit einem Blitz hatten die Flammen Ernessas Koffer eingekreist. Die Hitze kam plötzlich und war überall, die Flammen sogen mir die Luft aus den Lungen. Ich wollte sehen, wie das Feuer ihn verzehrte, geriet aber in Panik. Ich wollte nicht mit ihr gehen.
Draußen schloss ich mich den Mädchen auf der Auffahrt an, doch sie wichen vor mir zurück. Ich roch. Der Rauch haftete an meinen Kleidern. Gerade eben habe ich in Miss Norris’ Bad versucht, mir den Geruch von den Händen zu waschen, doch es ist mir nicht gelungen. Ich wusch und wusch, aber der Geruch ist in meine Haut gedrungen. An meinem verschmierten Gesicht und den versengten Haaren erkannten sie, dass ich das Feuer gelegt hatte. Meine Augen prickelten und standen voller Tränen. Meine Kehle brannte. Ich hätte kein Wort sagen können, selbst wenn mich jemand angesprochen hätte. Sie ließen mich vorbei. Nur Sofia schaute mir ins Gesicht. Ich stand abseits mit verschränkten Armen und sah, wie sie mich beobachteten. Wer kann über mich urteilen?
Die Feuerwehr traf ein. Es waren vier Autos. Alle drehten sich zu den Männern in den schwarzen Anzügen und Helmen. Sie wickelten die dicken Schläuche ab, zerschlugen mit den Beilen die Kellerfenster und spritzten auf die Flammen, die aus den Fenstern schlugen. Die Mädchen holten alle wie mit einer Kehle Luft, als das Wasser mit Wucht herausschoss. Die Feuerwehr hatte den Brand bald gelöscht. Es war mir egal, dass die Residenz nicht abgebrannt war. Sollte sie doch ewig stehen bleiben. Ich hatte den Keller und die Proberäume zerstört. Ich hatte erreicht, was ich wollte. Nur um das Klavier tat es mir Leid.
Nachdem das Feuer gelöscht war, drang nur noch körniger, dichter schwarzer Rauch aus den zerbrochenen Fenstern. Sie hatte sich damit vermischt, ihr nicht ganz wirkliches Selbst hatte sich im ewig Körperlosen aufgelöst, kämpfte darum, wieder in den festen Zustand zu gelangen.
Ich wollte Lucys Seele retten. Aber ich wollte auch Ernessa bestrafen. Sie in ein entsetzliches Nicht-Sein treiben, eine Amphibie, die zwischen Land und Wasser gefangen ist.
Ich ging ein Stück die Auffahrt hinunter, weg von diesen Mädchen. Hinter den Fenstern des Übergangs bewegte sich ein Schatten durch den Flur. Ich erspähte ihn in jeder Glasscheibe, wie in Zeitlupe, und in der Bewegung wurde die Gestalt deutlicher. Als sie ein Körper geworden war, blieb sie am letzten Fenster stehen und presste ihr Gesicht an die Scheibe. Niemand außer mir sah, wie sie herausschaute.
Sie kam aus der Tür des Naturwissenschaftsgebäudes, ging auf ihre seltsame Art, bei der sie den Boden nicht zu berühren scheint. Sie hielt sich wie immer von den anderen Mädchen fern und ging die Auffahrt hinunter. Es war kurz vor Mittag. Die Sonne stand hell und hoch am Himmel. 7. Mai, Brangwyn, strahlender Sonnenschein. Noch ein ereignisloser Tag in der Ewigkeit. Hinter jedem Mädchen lag ein kleiner Schatten, ein dunkler Fingerabdruck auf dem Asphalt. Ihre Seelen. Etwas, das man festnageln kann und das einem gestohlen werden kann, wenn man nicht aufpasst. Nur Ernessa hatte keinen Schatten. Sie stand in einem Kreis aus gelbem Licht, als wäre die Sonne eine Glühbirne, die direkt über ihr hing, als könnte sie jederzeit hinaufgreifen und sie ausknipsen.
Hätte ich mich nicht gewehrt, hätte Ernessa Lucy vielleicht nicht töten müssen. In Lucys Körper war genügend Blut, um beide zu nähren. Um beide hier zu halten. Lucy hätte in ihrem geschwächten Zustand bleiben, zu- und abnehmen können wie der Mond. Sie hätte rein bleiben können.
Nein, Ernessa brauchte den Orgasmus mit weit geöffneten Augen.
Jeden Tag hätte sie Lucy angesehen und gedacht: Ich mach’s. Ich mach’s nicht. Ich mach’s. So wie ich das dünne Stück Stahl aus meinem Schreibtisch nehme, es in der Hand halte und betrachte, als sähe und fühlte ich es zum ersten Mal. Ich mach’s nicht. Ich mach’s. Heute Morgen habe ich es zwischen die Seiten meines Tagebuchs gelegt.
Ich schaute aus dem Fenster von Miss Norris’ Wohnung und konnte vier Stockwerke unter mir den Gehweg sehen, der noch nass war. In den Vertiefungen hatten sich dunkle Pfützen gesammelt. Die Feuerwehrleute hatten einen Bereich abgesperrt, der mit Scherben und verkohlten Holzstücken übersät war. Ernessa ging die Freitreppe vor der Residenz hinunter zur Auffahrt, stieg in das grüne Auto, das auf sie wartete, und fuhr davon. Sie hatte nichts dabei. Niemand hielt sie zurück. Sie denken nur an mich.
Ich habe weniger zu schreiben, als ich dachte. Auch gut. Es sind keine Seiten mehr übrig. Ich schreibe diese Worte auf das hintere Vorsatzblatt, eine nackte weiße Seite ohne Linien, die meine Gedanken in Ordnung halten könnten. Ich höre Schritte vor Miss Norris’ Tür. Wie gut ich dieses Geräusch kenne – das hohle Klacken der Absätze von Erwachsenenschuhen, wenn sie den leeren Flur hinuntergeht. Ich habe die letzten drei Jahre nichts anderes gehört. Mrs. Halton steht inmitten eines Knäuels grauhaariger Damen. Ich höre auch Stimmen. Miss Norris kommt gerade aus dem Nebenzimmer.
Sie sind vor der Tür. Ich muss Stift und Tagebuch weglegen.