TEIL 6

Die Kinder,
die die Welt ins
Gleichgewicht bringen

53

Zehn Minuten, bevor der Alarm losging und der Rhythmus zum letzten Schlag ausholte und in der alten, verlassenen Klinik sämtliche Elemente zusammenfügte, dachte Solomon St. Fort noch einmal im Detail darüber nach, was er zu tun hatte. Er hoffte, alles würde so verlaufen, wie sie es geplant hatten.

Als die Krankenschwester vor einigen Stunden noch einmal zu ihm gekommen war und ihm erzählte, was sie gesehen hatte und wen sie schützen wollte, hatte er ihr sogleich seine Hilfe zugesichert. Sollte die Frau, die nicht mehr ganz Myra war, ihre Transformation noch nicht gänzlich vollzogen haben, gab es noch eine Chance, dass er diesen Vorgang umkehren und sie dorthin zurückschicken konnte, wo sie hergekommen war.

Er wusste nicht, ob die Beschwörungsformeln, die sein Großvater ihm einst beigebracht hatte, wirksam wären. Er selbst hatte sie niemals anwenden müssen, er war nicht einmal sicher, ob Großvater es jemals getan hatte. Doch wenn er Myra zurückholen wollte, war es einen Versuch wert. Er hatte inzwischen erkannt, dass es für ihn selbst an diesem Tag um weit mehr ging als um Myra.

Es ging um Erlösung. Um die Erlösung einer Seele, die durch eine Lüge Verletzungen davongetragen hatte. Durch eine Lüge, an die er bereits viel zu lange zu glauben versuchte.

Hätte der Rhythmus ihn nicht dabeihaben wollen, wäre er jetzt nicht hier. Seine Zustimmung der Krankenschwester gegenüber, sein Einverständnis, die Tat zu begehen – was eine immense Gefahr für sein eigenes Leben und Wohlergehen bedeutete –, gehörte zum Plan des Rhythmus.

Zur vereinbarten Zeit, die so gewählt war, dass er den Schichtwechsel des Wachpersonals zu seinem Vorteil nutzen konnte, kletterte Solomon aus der Schlafkabine, die man ihm zugewiesen hatte, und ging durch die Eingangshalle – immer darauf bedacht, der Videokamera auszuweichen – bis zu einer Tür mit der Aufschrift ZUTRITT NUR FÜR AUTORISIERTES PERSONAL.

Mit Hilfe der Keycard, die die Krankenschwester ihm gegeben hatte, verschaffte er sich Zutritt zu einer Treppe, die in den Keller führte. Wenig später hatte er das Untergeschoss erreicht. Es sah genauso aus, wie sie es ihm beschrieben hatte: eine Reihe Vorratsschränke, daneben ein Labyrinth von Rohren. An der gegenüberliegenden Wand befand sich sein erstes Zielobjekt, der Verteilerkasten mit einer Reihe Schalter zur Kontrolle der gesamten Stromversorgung der Notfallstation. Darunter, auf dem Fußboden, lagen eine Taschenlampe und ein Schirm.

Solomon hob beides auf und sah sich die Schalter an, jeder von ihnen war mit einem Schild für einen Trakt der Notfallstation gekennzeichnet. Zunächst schaltete er den Notstrom aus. Anschließend, nach einem Stoßgebet zu Gott, Henry, dem Großvater und seiner geliebten verstorbenen Mutter, unterbrach er die Hauptstromleitung.

Fast unmittelbar danach begann oben das Geschrei.

Wenige Minuten später befand sich Solomon in einem der Hauptgänge, wo er sich mit Hilfe der Taschenlampe in der Dunkelheit zurechtfand. Ohne zu zögern näherte sich Solomon seinem zweiten Zielobjekt: einem gesicherten Feuermelder an der Wand. Mit dem passenden Schlüssel öffnete er das Türchen und löste den Alarm aus. Er hatte sich gefragt, ob der Feuermelder ohne Strom überhaupt funktionieren würde, doch die Krankenschwester hatte ihm versichert, dass der Alarm über eine gesonderte Stromversorgung lief.

Sie hatte recht gehabt! Der Lärm war ohrenbetäubend. Als der Alarm losging und die Sprinkleranlage zum Einsatz kam, spannte Solomon den Regenschirm auf.

Während die Klinik im Chaos versank, ging Solomon wieder nach oben und machte sich auf den Weg zu den Einzelzellen. Doch beim ersten Schritt in den entsprechenden Gang blendete ihn ein Lichtstrahl, und jemand fragte: »Wer zum Teufel sind Sie?«

Es war ein Police Officer, der vor EZ3 Wache gehalten hatte. Eine Hand über dem Kopf, versuchte er vergebens, nicht nass zu werden. Solomon setzte eine besorgte Miene auf und sagte: »Die Wachleute haben mich geschickt, um Sie abzuholen. Sie müssen zum Haupteingang. Die brauchen Ihre Hilfe bei der Evakuierung.«

»Was ist mit den Leuten hier drinnen?«

»Die kommen später an die Reihe.« Solomon bot ihm den Schirm an, und augenblicklich traf ihn ein Schwall kalten Wassers. »Hier nehmen sie den.«

Der Officer bedankte sich und eilte davon. Solomon wandte sich EZ6 zu.

Hinter dem vergitterten Fenster stand ein etwa Zwanzigjähriger, der so ruhig und friedlich wirkte wie ein Mönch beim Abendgebet. Doch als Solomon seine Taschenlampe auf die Fensterscheibe richtete, verzogen sich die Lippen des Jungen zu einem teuflischen Grinsen.

Im Duschraum hatte Solomon ihn schon einmal gesehen, in Begleitung von zwei Wachleuten. Sie hatten ihn unter die Dusche gebracht und dann Abstand gehalten, die Hände stets an ihren Waffen.

Er hatte da schon gefährlich ausgesehen. Und jetzt stand Solomon ihm ganz allein gegenüber. Solomon zögerte einen Moment lang.

Doch die Krankenschwester hatte ihm versichert, dass der Junge ihnen dabei helfen konnte, Myra hier rauszuschaffen. Und sollte irgendetwas nicht nach Plan laufen, war er genau der Typ, den man an seiner Seite haben wollte. Also betätigte Solomon die Gegensprechanlage und sagte: »Du bist Bobby, richtig?«

»Mach einfach die Tür auf, alter Mann.«

Solomon tippte den Code ein. Mit einem Summen sprang die Tür auf, und Bobby Fremont betrat den Gang.

»Warum hast du den Schirm abgegeben, du Arschloch?«

Solomon ignorierte die Beleidigung und zeigte auf EZ3. »Sie ist da drin.«

»Ich weiß, wo sie ist. Hältst du mich etwa für blöd?«

Fremont ging über den Gang zur Tür von EZ3. »Mach auf!«

Solomon spähte durch die Glasscheibe, doch in der Dunkelheit konnte er nichts erkennen.

»Na los, verdammt noch mal. Mach auf!«

Solomon tippte auch hier den Code ein.

»Beeil dich«, sagte er. »Wir müssen hier raus sein, bevor der Bulle zurückkommt.«

»Ach, leck mich doch!«, gab Fremont zurück. »Diesen Spaß genieße ich so lange, wie ich will.«

»Was soll das heißen?«

Fremont nahm ihm die Taschenlampe ab. »Dein Job ist erledigt, alter Mann. Jetzt geh und sag Lisa, die Schlampe hier ist so gut wie tot.« Mit einer Hand schubste er Solomon zurück. Dieser stolperte, beinahe wäre er auf dem nassen Fußboden ausgerutscht.

Hatte er das gerade richtig verstanden? Wollte Fremont Myra töten? Aber nein – das konnte doch nicht sein! Sie sollten sie doch auf den Parkplatz bringen und sich dort mit der Krankenschwester treffen.

Als er das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, ging Solomon auf den Jungen zu. Er sah, wie Fremont den Strahl der Taschenlampe auf das Bett richtete.

Doch das Bett war leer.

»Was zum Teufel …«

Fremont leuchtete hektisch die ganze Zelle aus. Die Frau war nirgends zu sehen.

»Was soll denn das?«, knurrte er. »Lisa hat mir eine erstklassige Pussy versprochen. Wo, verdammt noch mal, steckt sie?«

Plötzlich, wie eine Antwort auf Fremonts Frage, ertönte ein Geräusch.

Ein leises Wimmern. Es kam von oben, und es klang eher animalisch als menschlich.

Fremont richtete die Taschenlampe an die Decke. Und selbst ihm, diesem hartgesottenen Kerl, gefror bei dem Anblick das Blut in den Adern.

»Scheiße!«, sagte er.

Einen Augenblick später sagte er nichts mehr. Denn er war vollauf damit beschäftigt, zu schreien.

54

Es begann zu regnen. Blackburn schaltete auf dem Weg zur Baycliff-Klinik die Scheibenwischer ein und rauchte die Winston bis zum allerletzten Zug. Wann würde De Mello endlich anrufen und ihm die Lokalisierung durchgeben?

Er überlegte, ob er noch einmal versuchen sollte, Carmody anzurufen, in der schwachen Hoffnung, dass er sich bei dem abgetrennten Ohr geirrt hatte. Gerade als er anhalten wollte, piepte sein Handy.

»Ich weiß nicht, was daran so lange gedauert hat«, sagte De Mello, »aber jetzt haben sie es lokalisiert.«

»Wo ist sie?«

»Baycliff – jedenfalls irgendwo da.«

»Irgendwo da? Was soll das denn heißen?«

»Das Signal kommt von einer Anhöhe. Irgendwo zwischen der neuen Klinik und der Ruine. Dem Satellitenfoto nach mitten aus dem Wald.«

Die Pfefferbäume. Die wuchsen da oben wie Unkraut.

Blackburn gefiel die Information überhaupt nicht, doch er tröstete sich damit, dass sie nur Carmodys Telefon geortet hatten, und nicht etwa sie selbst.

»Ist alles okay, Frank? Du klingst ein wenig nervös.«

»Alles roger«, antwortete Blackburn.

»Mach dir keine Sorgen um Carmody. Es geht ihr bestimmt gut.«

Er hatte De Mello noch nichts von dem Ohr erzählt.

»Übrigens«, fuhr De Mello fort, »wir haben gerade einen anonymen Hinweis bekommen, bei Tolan sei möglicherweise eingebrochen worden. Hogan und Pendergast gehen der Sache nach.«

»Noch nichts Neues von Tolan selbst?«

»Nein, immer noch nichts. Aber früher oder später wird er schon auftauchen.«

Wahrscheinlich später, dachte Blackburn. Viel später.

Er bedankte sich bei De Mello, sagte ihm, er solle seinen Hintern nach Hause schieben, und legte auf.

Dann schaltete er Blaulicht und Sirene ein und trat das Gaspedal durch.

Fünf Minuten später raste Blackburn die Straße zur Pepper Mountain Mesa hinauf. Kurz vor Baycliff schaltete er die Sirene ab und vernahm sogleich ein anderes Geräusch – das durchdringende Schrillen eines Feueralarms.

Er bog zum Parkplatz ab. Von dem Wagen, den er Carmody überlassen hatte, fehlte jede Spur, doch zu seiner Überraschung sah er, dass Personal und Patienten sowohl aus der Notfallstation als auch aus den übrigen Bereichen der Klinik herausströmten. Das Hauptgebäude war beleuchtet, doch die EDU war vollkommen dunkel, so als habe jemand die Stromversorgung unterbrochen.

Das war keine geordnete Evakuierung. Die Patienten wirkten widerspenstig und verwirrt. Das Klinikpersonal und die Sicherheitsleute hatten alle Hände voll damit zu tun, sie in Schach zu halten. Die Hälfte war durchnässt bis auf die Knochen, doch Blackburn hätte nicht sagen können, ob das an dem Regen lag, der sich rasch in ein Gewitter verwandelt hatte, oder ob die Sprinkleranlage zum Einsatz gekommen war.

Als er einen Officer in OCPD-Uniform mit Schirm entdeckte, parkte Blackburn den Wagen, lief zu ihm und zeigte seine Marke.

»Was ist hier passiert?«

»Wonach sieht es denn aus? Ein verfluchtes Durcheinander, das ist hier passiert.«

Blackburn zeigte auf die Notfallstation. »Ist Detective Carmody da drinnen?«

Der Uniformierte schüttelte den Kopf. »Habe meinen Dienst gerade erst angefangen, aber der Typ, den ich abgelöst habe, sagte, sie ist schon vor Stunden weggefahren.«

Mist, dachte Blackburn. Er hatte es gewusst, dass seine Hoffnung vergebens war.

Der Cop ging an ihm vorbei, um einen verwirrten Patienten aufzuhalten. Blackburn drehte sich um und sah in Richtung der Bäume. Mittlerweile regnete es ziemlich stark.

Blackburn überquerte die weitläufige Rasenfläche in Richtung eines schmalen Fußwegs, der durch ein BETRETEN-VERBOTEN-Schild abgeriegelt war. Auf halbem Weg hielt ihn jemand am Arm fest.

Er fuhr herum und erwartete einen der Verrückten, doch zu seiner Überraschung war es der alte Mann, den er letzte Nacht auf der Avenue gesehen hatte. Er sah gar nicht gut aus.

Seine Augen waren vor Schreck geweitet, sein Kittel war vorne zerrissen und voller Blut. Am Hals hatte er mehrere tiefe Schnittwunden, der linke Arm war aufgeschlitzt und blutete. Er hatte kaum noch die Kraft, sich auf den Beinen zu halten. Als sei er von einem wilden Tier angegriffen worden.

»Sie müssen sie aufhalten«, keuchte er.

»Wen? Und wer hat Sie so zugerichtet?«

»Sie wissen, wer das war. Die Frau! Die Frau, die mal Myra war. Jetzt gehört sie zu den Kindern. Zu den Kindern der Trommel. So wie Henry.«

Blackburn hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon der Alte redete. Er hätte es als Geplapper eines Verrückten abgetan, doch etwas in den Augen des Mannes sagte ihm, dass er lieber zuhören sollte.

»Wo ist sie?«

Der Alte hob mit Mühe den Arm, um auf die Bäume zu zeigen. »Da drüben. Sie müssen sie aufhalten … bevor sie jemandem weh tut. Sie müssen …«

Er strauchelte, fiel auf die Knie. Blackburn zog ihn hoch. Mittlerweile regnete es Bindfäden. Beide waren nass bis auf die Knochen, und neben ihnen bildete sich eine blutdurchtränkte Pfütze.

»Wie hat sie Ihnen das angetan? Hat sie ein Messer?«

Dem Alten gelang es, den Kopf zu schütteln, dann richtete er den Blick zum Himmel und ließ den Regen über sein Gesicht strömen.

»Erinnert mich an Hurrikan Katrina«, sagte er. »Er hätte mich damals schon holen müssen, für das, was ich getan habe. Doch er hat mich gerettet.«

»Wer?«

Der Alte hustete, spuckte eine Blase Blut. »Henry. Mein Bruder Henry.« Er schwieg, schien versunken in Erinnerungen. Dann sah er Blackburn an und fragte: »Können Sie ein Geheimnis bewahren?«

Blackburn wusste, dass der alte Mann sterben würde. »Ja.«

»Ich habe mir all die Jahre etwas vorgemacht. Wir tun das oft, nicht wahr? Uns selbst belügen.«

Blackburn nickte und musste daran denken, was er für Carmody empfand.

»Wir belügen uns immer wieder, und dann besaufen wir uns auch noch, bis die Wahrheit irgendwann keine Rolle mehr spielt. Wir erinnern uns nur noch an die Lüge. An die Geschichten, die wir uns ausdenken, um nicht durch die Wahrheit über das, was wir getan haben, den Verstand zu verlieren.«

Er hustete noch mehr Blut. Dann fuhr er fort: »Ich habe meinen kleinen Bruder geliebt. Ich weiß nicht, warum ich ihn vor den Polizeiwagen gestoßen habe, aber … aber mein Instinkt hatte es mir befohlen. Es war der Rhythmus. Der Rhythmus hat mich dazu gebracht. Damit die Welt im Gleichgewicht bleibt.«

Er unterbrach sich, rang nach Luft. »Ich weiß nicht, warum sich Henry an dem versoffenen Bullen gerächt hat, und nicht an mir. Ich hatte es mehr verdient. Aber es muss einen Grund dafür gegeben haben. Etwas, das nötig war, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Und er muss gewusst haben, dass dieser Tag kommen würde.«

Abermals sah der Alte zum Himmel hoch. »Du hast es doch gewusst, Henry? Du hast es die ganze Zeit über gewusst.«

Donner grollte, und unter ihnen bebte die Erde.

Der alte Mann schloss die Augen, schien einer inneren Stimme zu lauschen, und sagte schließlich: »Vergib mir, kleiner Bruder. Bitte, vergib mir …« Er wurde noch schwerer in Blackburns Armen.

Er war tot.

Einen Moment lang starrte Blackburn ihn an. Das Grollen des Donners verschmolz mit den Geräuschen des Chaos um ihn herum. Er wusste immer noch nicht, wovon der alte Mann eigentlich gesprochen hatte.

Doch sein Geständnis – wenn es ein solches gewesen war –, die Reue für etwas, das er vor langer Zeit getan hatte, traf Blackburn bis ins Mark.

Vorsichtig legte er den alten Mann ins Gras. Dann rannte er los, auf die Bäume zu.

55

Tolan wusste, dass es hier einen Pfad gab, doch er wusste nicht, wo. Da er keine Taschenlampe hatte, war seine Sicht begrenzt.

Als der Feueralarm losging, war er sofort auf den Wald zugerannt. Lisa rief hinter ihm her, wollte ihn aufhalten, doch er achtete nicht darauf. Die Erkenntnis dessen, was er getan hatte, was sie getan hatten, wozu Lisa bereit gewesen war, um ihn zu schützen, ließ ihn immer noch taumeln.

Der Tag hatte mit einer einfachen, wenn auch Angst einflößenden Drohung begonnen – gleichgültig, ob Einbildung oder nicht –, und nun war alles dermaßen außer Kontrolle geraten, dass sich Tolan nicht vorstellen konnte, jemals wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Was er über sich selbst erfahren hatte, über seine Gräueltaten, brachte ihn zu der Überzeugung, dass ihm beim nächsten Blick in den Spiegel ein Dämon anstarren würde.

Dennoch, wenn das, was Lisa ihm erzählt hatte, die Wahrheit war, wenn der Rhythmus oder der Herzschlag oder was auch immer eine Art Zauber heraufbeschwor, und auch nur die leiseste Chance bestand, dass Abby zurückkehrte, war er bereit, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um sie zu beschützen.

Vorausgesetzt, es war noch nicht zu spät.

Er dachte an jene Nacht in Abbys Studio, daran, was Lisa beobachtet hatte, an die Wut, die ihn überkommen und dazu getrieben hatte, das Unvorstellbare zu tun. Er dachte nicht an Lisas Warnung, dachte auch nicht darüber nach, ob Gefahr von Abby ausging, und warum sie hierher zurückgekehrt war. Welche Strafe ihm auch immer bevorstand, er hatte sie verdient. Diese kleine Geste der Wiedergutmachung war vielleicht der Schlüssel zu seiner eigenen Erlösung.

Er irrte zwischen den Bäumen umher, geradeaus glaubte er plötzlich, den Pfad zu erkennen, einen schmalen unbefestigten Weg, der sich durch den Wald schlängelte. Doch als er näher kam, stellte er fest, dass er wohl im Kreis gelaufen war. Der Pfad war nicht mehr zu sehen. Er hatte die Orientierung verloren, wusste nicht mehr, in welche Richtung er gehen sollte.

In seiner Vorstellung stieg ein Bild von Bobby Fremont auf – wie er sich Abby bedrohlich näherte. Tolan blieb stehen und kniff die Augen zusammen, um das Bild zu vertreiben.

Während er dort stand und der Regen durch die Bäume rauschte, kam ihm plötzlich ein ganz anderer Gedanke: Wenn das, was Lisa gesagt hatte, der Wahrheit entsprach und Abby wirklich zurückgekehrt war, bestand dann nicht auch die Möglichkeit, dass er sich Vincent nicht nur eingebildet hatte? Waren diese Telefonanrufe möglicherweise genauso real, wie er sie empfunden hatte?

Und wenn das der Fall war, konnte es nicht ebenfalls sein, dass sich Vincent hier draußen herumtrieb und beobachtete, wie er, Tolan, kopflos umherirrte?

Das Klingeln eines Mobiltelefons riss Tolan aus seinen Gedanken. Leise, doch unverkennbar. Ganz in der Nähe. Er öffnete die Augen und sah sich um, doch er nahm nichts wahr als Bäume und Dunkelheit.

Es klingelte abermals. Er verschärfte den Blick, und tatsächlich, in einiger Entfernung nahm er ein schwaches Leuchten wahr.

Er kletterte über ein Gewirr aus abgebrochenen Ästen und näherte sich einer kleinen Lichtung. Seltsamerweise war sie übersät mit den Wracks alter Autos.

Dazwischen stand ein nagelneuer Wagen. Ein Crown Victoria. Frank Blackburns Zivilfahrzeug. Eine der hinteren Türen war weit geöffnet, die Scheinwerfer brannten, das Klingeln des Telefons kam aus dem Wagen.

Mit flauem Magen näherte Tolan sich dem Fahrzeug. Beim ersten Blick auf das Blut auf dem Rücksitz wurde ihm klar, dass dort ein Mord stattgefunden hatte. Jemand war abgeschlachtet worden.

Sue Carmody?

Verzweifelt versuchte er, sich zu erinnern, doch es erschien kein Bild vor seinem inneren Auge. War es doch Vincent gewesen? Handelte es sich hier um einen Mord, für den er, Tolan, sich nicht zu verantworten hatte? Nun, es war besser, sich keine Gedanken darüber zu machen. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr. Reine Zeitverschwendung. Es war wichtiger, die Orientierung wiederzufinden und sich auf den Weg zur Klinik zu machen, zu Abby.

Er versuchte seine eigenen Fußabdrücke zurückzuverfolgen. Ein letztes Mal klingelte das Mobiltelefon, danach war Stille.

Gerade als Tolan entschieden hatte, welchen Weg er einschlagen wollte, blendete ihn ein greller Lichtstrahl. Eine wohlbekannte Stimme sagte: »Nicht bewegen, oder ich puste Ihnen den verdammten Schädel weg!«

»Hände im Nacken verschränken«, befahl die Stimme. Der Mann, dem sie gehörte, stand unter den Bäumen. In der einen Hand hatte er eine Taschenlampe, in der anderen hielt er eine Pistole. Das Haar klebte ihm nass im Gesicht, auch seine Kleidung war durchnässt, und seine Stirn zierte ein Schmetterlingspflaster.

Blackburn.

Tolan hob die Arme und verschränkte die Hände im Nacken.

»Wo ist Carmody?«

Tolan zögerte, er wusste nicht, was er sagen sollte. Wenn er die Wahrheit sagte – ganz gleich wie vage er sie formulierte –, würde Blackburn mit Sicherheit abdrücken. Doch Tolan wollte am Leben bleiben, bis er Abby gefunden hatte.

»Bitte«, sagte er. »Ich muss zur Klinik.«

Der Strahl der Taschenlampe blieb unerbittlich. »Sie sehen nicht so aus, als seien sie verletzt. Runter auf die Knie!«

Tolan tat, was von ihm verlangt wurde. Unter ihm knackten Zweige. In den Baumkronen über ihm heulte noch immer der Wind.

»Wo ist sie?«, fragte Blackburn. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«

»Bitte, dafür habe ich jetzt keine Zeit. Ich muss Abby finden.«

»Abby?«

Tolan erkannte seinen Fauxpas und korrigierte sich hastig. »Jane. Jane X. Ich muss zu ihr.«

»Ich fürchte, da kommen Sie zu spät.«

Tolans Herz begann zu rasen. »Was?«

»Da herrscht das reine Chaos. Sie ist abgehauen. Zusammen mit ein paar anderen Verrückten.«

»Woher wissen Sie das?«

»Einer der Patienten hat es mir erzählt, ein alter Mann.«

Schon wieder der alte Mann.

»Er hatte einen Zusammenstoß mit ihr und ist nicht gerade gut dabei weggekommen. Er sagte, sie kam von hier.«

Tolan richtete den Blick auf die dunklen Silhouetten der Bäume. Sollte das heißen, Bobby Fremont hatte es nicht geschafft? War Abby in Sicherheit? War sie irgendwo hier in diesem Wald? Hielt sie sich versteckt?

»Ich weiß nicht, mit welcher Art Waffe sie unterwegs ist, aber sie hat ihn schrecklich zugerichtet. Aber ehrlich gesagt interessiert mich das im Moment einen Dreck. Ich will nur wissen, was Sie mit …«

Er unterbrach sich und richtete den Strahl der Taschenlampe auf den Crown Victoria hinter Tolan.

»Mistkerl«, murmelte er und kam einen Schritt näher. »Was haben Sie mit ihr gemacht?«

Plötzlich raschelte es ganz in der Nähe, eine blitzschnelle Bewegung zwischen den Bäumen – und diesmal kam sie nicht vom Wind.

Blackburn blieb stehen und ließ das Licht der Taschenlampe durch die Dunkelheit schweifen. »Was war das?«

Tolan drehte sich um. Abby?

Es raschelte wieder, dieses Mal auf der anderen Seite der Lichtung. Höher in den Bäumen, wie der Flügelschlag einer Fledermaus.

Blackburn richtete die Taschenlampe in die Höhe, doch es war nichts zu sehen. Einen Moment lang war Tolan unbeobachtet und fragte sich, ob er aufspringen und loslaufen sollte – doch in dem Moment leuchtete Blackburn ihm ins Gesicht.

»Versuchen Sie es ruhig«, sagte er. »Aber sie werden nicht sehr weit –«

Wieder schnitt ihm ein Geräusch das Wort ab. Ein dumpfer Schlag.

Blackburn stieß scharf den Atem aus und ging in die Knie. Tolan sah ihn fallen. Dann richtete er seinen Blick auf Lisa, die mit einem dicken Ast in der Hand hinter Blackburn stand. Sie warf den Ast beiseite, beugte sich über den Bewusstlosen und nahm ihm die Pistole ab.

»Steh auf«, befahl Lisa Tolan. »Du hast gehört, was er gesagt hat. Deine heiß geliebte Abby ist abgehauen, und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass sie dir etwas tut. Wir müssen zu Ende bringen, was wir angefangen haben.«

Blackburn bewegte sich. Lisa richtete die Waffe auf seinen Kopf, bereit abzudrücken.

Tolan sprang auf die Füße. »Lisa, nicht!«

»Ich habe keine Wahl«, sagte sie. »Er hat dich gesehen. Er weiß alles.«

»Nein! Ich weiß es zu schätzen, dass du mir helfen willst, aber du bist keine Mörderin. Tu das nicht!«

»Was macht das noch für einen Unterschied?«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst«, sagte Tolan. »Glaub mir, ich würde alles geben, wenn ich rückgängig machen könnte, was ich getan habe.«

Wieder dieses Rascheln. Hinter Lisa, in den Bäumen. Ein weißer Blitz.

Abby?

Tolan ging hinüber zu Blackburn, hob die Taschenlampe auf und leuchtete in den Wald. Nichts. Doch plötzlich raschelte es wieder, zu seiner Rechten. Anschließend ein leises Flüstern: »Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«

Lisa und er wechselten einen Blick. Er leuchtete in Richtung des Geräuschs. Wieder nichts.

»Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«

»Oh, mein Gott«, sagte Lisa mit panikerfülltem Blick.

Abermals ein Rascheln, dieses Mal zu seiner Linken.

»Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«

Tolan richtete den Lichtstrahl in die entsprechende Richtung – und dort war sie, zusammengekauert unter einem Pfefferbaum sah sie Lisa und ihn aus dunklen, wilden Augen an. Sie war nicht das Produkt seines verwirrten Geistes, sie war echt. Ausgesprochen echt.

»Abby«, sagte er, überwältigt von Schmerz, doch auch unfassbar erleichtert. Sie lebte. Sie war zurückgekehrt, und sie wirkte nicht im mindesten gefährlich. Sie war wieder die Frau, die er fünf Jahre zuvor kennengelernt hatte, die ihn in ihr Bett gelassen und in ihr Herz geschlossen hatte.

Seine verlorene Seele.

»Oh, mein Gott«, wiederholte Lisa mit zitternder Stimme und hielt sich schussbereit.

»Nein!«, schrie Tolan und schlug ihr mit der Taschenlampe gegen den Arm. Krachend löste sich ein Schuss. Tolan drehte sich zu Abby um – sie war nicht mehr dort.

56

»Lieber Himmel!«, sagte eine Stimme. »Was zum Teufel ist denn mit Ihnen passiert?«

Blackburn hatte den Mund voller Blätter. Er spuckte sie aus und öffnete die Augen. Sein Kopf fühlte sich an, als sei er auf die doppelte Größe angeschwollen. Er rollte sich auf die Seite und lenkte seinen Blick mühsam in Richtung der Stimme. Alles, was er erkennen konnte, waren zwei ineinander übergehende Lichtkegel. Er sah doppelt. So ein Mist!

»Da hat Sie wohl jemand ausgetrickst«, sagte die Stimme. Hände griffen nach ihm und richteten ihn auf. Clayton Simm hockte sich neben ihn und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf Blackburns Kopf. Zunächst betastete er das Schmetterlingspflaster, anschließend eine Stelle oberhalb von Blackburns Schläfe. Sie fühlte sich feucht an. Blackburn zuckte, als ihn ein stechender Schmerz durchfuhr.

»Sieht schlimm aus«, sagte Simm. »Sie sollten sich nicht zu viel bewegen.«

»Was machen Sie denn hier draußen?«

»Feueralarm. Einige Patienten sind auf und davon. Ich dachte, ich hätte einen Schuss gehört. Hat einer der Patienten Sie angegriffen?«

»Nein«, antwortete Blackburn und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. »Oder – vielleicht. Ich weiß nicht.« Blinzelnd sah er Simm an. »Ich dachte, Sie machen die Nachtschicht.«

»Dank Ihnen und etwa zehn Tassen Kaffee sind meine Schlafgewohnheiten etwas durcheinandergeraten. Und da ich schon einmal wach war, dachte ich, ich könnte auch etwas Sinnvolles tun.«

»Da haben Sie sich ja genau die richtige Nacht ausgesucht! Helfen Sie mir auf.«

»Ich glaube, Sie sollten –«

»Tun Sie es einfach!«

Simm stand auf, streckte die Hand aus und zog Blackburn hoch. Alles drehte sich. Blackburn musste sich an Simms Arm festhalten, bis er wieder einigermaßen stehen konnte.

»Genau das habe ich gemeint. Vielleicht sollten Sie sich wieder hinsetzen. Ich hole Hilfe.«

Blackburn antwortete nicht und kämpfte gegen den Brechreiz an. Noch immer sah er alles doppelt. »Wo ist meine Glock?«

Simm ließ den Lichtstrahl über den Boden gleiten. »Ich sehe sie nirgends.« Plötzlich entdeckte er etwas und hob es auf. »Haben Sie das verloren?«

Es war ein Fetzen Zeitungspapier. Der Bericht über Anna Marie Colson, den Kat in Tolans Haus gefunden hatte. Er musste ihm aus der Manteltasche gerutscht sein, als er zu Boden ging. Das Papier war nass, aber nicht durchgeweicht. Simm sah sich das Foto der Studenten an. Auch Blackburn versuchte den Blick scharf zu stellen und betrachtete es noch einmal genauer.

Er sah in die jugendlichen, frischen Gesichter und war plötzlich überrascht. Etwas war ihm bisher entgangen. Eine Person sah nicht in die Kamera, hatte den Blick abgewandt und eine merkwürdige Miene aufgesetzt.

»Ist das Michael?«, fragte Simm.

Blackburn sah unwillkürlich auf Tolans lächelndes Gesicht, dann riss er Simm den Zeitungsartikel aus der Hand und steckte ihn wieder in die Manteltasche.

»Ich muss zur alten Klinik.«

»Warum?«

»Bringen Sie mich einfach auf den Fußweg. Ich komme dann schon allein zurecht.«

»Den Eindruck habe ich nicht«, sagte Simm. »Wenn ich Sie loslasse, fallen Sie sofort auf die Schnauze.«

Blackburn wischte sich ein nasses Stück Laub von der Wange. »Wäre nicht das erste Mal.«

Tolan huschte zwischen den Bäumen hin und her, bis er endlich die Ruine der alten Klinik erreichte. Es regnete inzwischen so stark, dass die unebene Einfahrt im Schlamm versank.

Er glaubte, Abby nach dem Schuss noch einmal gesehen zu haben, in einigen Metern Entfernung. Ohne sich umzudrehen, war er sofort hinter ihr hergerannt, mit Lisa im Schlepptau.

»Nein, Michael! Du kannst ihr nicht trauen! Sie ist nicht die, für die du sie hältst!«

Doch Tolan hörte gar nicht hin. Nichts, was Lisa sagte, konnte ihn noch aufhalten. Nicht, nachdem er dieses Gesicht gesehen hatte. Dieses schöne Gesicht mit den strahlenden braunen Augen. Er wollte alles wieder in Ordnung bringen, Abby in die Arme schließen, sie festhalten und ihr sagen, wie sehr er bereute, was er getan hatte.

Doch hier, am Waldrand, peitschte ihm der Regen ins Gesicht und er sah keine Spur mehr von ihr. Der Funke freudiger Erregung, den er noch vor wenigen Augenblicken verspürt hatte, verwandelte sich allmählich in wachsende Verzweiflung.

Ihm war, als rufe am Ende der Einfahrt der dunkle Schlund des Haupteingangs nach ihm. Tolan fühlte sich angezogen wie von einem Sog. Er richtete Blackburns Taschenlampe darauf. War sie dort?

Plötzlich hatte er eine Art déjà vu: Abby, auf dieser dunklen Schwelle stehend. Wie die Erinnerung an einen Traum. »An diesem Ort geschieht es, Michael. Hier läuft alles zusammen, kommt alles wieder ins Gleichgewicht.«

Tolan nahm seinen Mut zusammen, durchquerte die Einfahrt und ging hinein.

»Michael!«

Als sie sah, wie er die Schwelle übertrat, brach es Lisa fast das Herz. Nach allem, was sie für ihn getan hatte, nach all den Opfern, die sie für ihn gebracht hatte, nach all den Jahren, in denen sie ihre eigenen Interessen hintangestellt hatte, weil sie in liebte und ihn beschützen wollte, musste er das tun?

Er ließ sie links liegen. Ließ sie einfach zurück. Gedemütigt. Und alles nur wegen ihr. Wegen Abby. Immer wieder Abby.

Das vergangene Jahr – die vergangenen fünfzehn Jahre – hatte Lisa damit verbracht, ihn zu umsorgen, sein verwundetes Herz zu hegen und zu pflegen, ihm zu versprechen, sie sei immer für ihn da, selbst in den finstersten Augenblicken der Trauer.

Und was bekam sie nun dafür? Für ihn würde sie immer die zweite Geige spielen. Sie wusste, dass er an Abby dachte, wenn sie miteinander schliefen. Einmal hatte er sogar ihren Namen gesagt, ohne sich dessen bewusst zu sein. Doch Lisa hatte es ihm gegenüber nie erwähnt, hatte sich nie beklagt. Konnte sie denn gar nichts tun, damit er sie endlich bemerkte?

Sie war eine schöne Frau. Schon viele Männer hatten ihr das gesagt. Sie spürte ihre Blicke, ihr unwillkürliches Verlangen, doch sie war nie darauf eingegangen, hatte sie niemals ermutigt. Denn ihr Herz gehörte Michael. Es hatte ihm immer gehört, und es würde ihm für alle Zeit gehören. Ganz gleich, wie er sie behandelte. Gleichgültig, wem er nachjagte.

Sie hatte geglaubt, es würde schließlich funktionieren, das eine gemeinsame Jahr, doch nun zerstörte diese Frau alles. Diese Irre.

Aber Lisa war stets optimistisch. Sie wusste, auch diese Nacht würde vorübergehen. Bald wäre dieser schreckliche Tag vorbei, und wenn sie alles aufgewischt hatte – eine Aufgabe, zu der sie sich berufen fühlte –, würde alles wieder seinen gewohnten Gang gehen. Dann hätte sie eine weitere Chance, Michael für sich zu gewinnen.

Doch zunächst einmal musste sie ihn finden. Und Abby. Bevor etwas Furchtbares geschah. Der alte Mann hatte sie davor gewarnt.

Mit Blackburns Waffe in der Hand rannte sie durch den Regen, vorbei an ihrem BMW, der vor dem Eingang stand. Plötzlich blieb sie stehen und drehte sich um. Ein kalter Schauer durchfuhr sie. Der Kofferraum stand offen. Sie hatte ihn nicht geöffnet.

Sie ging zurück, sah hinein und fühlte, wie ihr Herz sank. Die Decke war noch dort, getränkt von Regenwasser und Blut – doch die Leiche war verschwunden.

Hatte Michael sie fortgetragen? Nein, dazu hatte er keine Zeit gehabt. Vor einem Moment noch hatte sie ihn gesehen.

Konnte Abby es getan haben? Das schien noch unwahrscheinlicher. Doch wenn es keiner von beiden gewesen war, wer hatte es dann getan?

»Hey!«, rief eine Stimme.

Lisa fuhr herum. Zwischen den Bäumen tauchte Detective Blackburn auf, mit einer blutenden Wunde an der Schläfe. Und ausgerechnet Clayton Simm stützte ihn. Er wirkte ebenso überrascht wie sie.

»Nicht bewegen, verflucht noch mal!«, schrie Blackburn. »Rühren Sie sich nur ja nicht von der Stelle!«

Sie hätte diesen Mistkerl vorhin erschießen sollen. Sie hätte nicht auf Michael hören und es sich ausreden lassen dürfen.

Nun, besser spät als nie.

Die beiden Männer kamen näher, und sie hob die Pistole und drückte ab.

57

Als sie die Waffe hob, sprang Blackburn zur Seite.

»Lieber Himmel«, fluchte Simm und machte einen Satz in die andere Richtung.

Dann prasselten Schüsse. Simm kroch unter die Bäume, Blackburn warf sich in den Schlamm und entging nur knapp einer Kugel. Schmerz schoss durch seinen Kopf, und als er den Blick nach oben richtete, sah er wieder alles doppelt – zwei ineinander übergehende Bilder von Tolans Freundin, die auf die alte Klinik zulief. Einen Augenblick später war sie verschwunden.

Blackburn rappelte sich auf. Er schwankte, doch dann gewann er das Gleichgewicht zurück. Sein Kopf hämmerte, und die Wunde an seiner Schläfe blutete stärker. Er drehte sich nach Simm um, um sich zu vergewissern, dass er nicht verletzt war, doch er sah ihn nirgends. Der Ärmste hatte bestimmt die Hosen voll und rannte zurück zur neuen Klinik.

Blackburn stolperte auf den Eingang des alten Gebäudes zu. Auf halbem Weg musste er eine Pause einlegen und lehnte sich gegen den BMW. Erst in diesem Augenblick bemerkte er den offenen Kofferraum und die blutige Decke. Sofort wurde ihm klar, dass dort eine Leiche gelegen hatte.

Sue Carmodys Leiche.

Seit dem Moment, als er ihren Rubinohrring gefunden hatte, wusste er, dass sie tot war. Das letzte bisschen Hoffnung, sie sei vielleicht doch noch am Leben, hatte der Regen längst fortgespült.

Für Tolan waren die Schüsse kaum zu hören. Sie klangen nicht viel lauter als ein leises Knallen aus einer fernen Welt, ebenso wie der Wind und der Regen.

Das alte Klinikgebäude – mit seinem verkohlten und bröckelnden Mauerwerk, den geborstenen Fensterscheiben, den zerbrochenen Fliesen und der abblätternden Farbe, mit seinen langen, finsteren Gängen und den düsteren Räumen – war eine Welt für sich.

Die Einzelheiten waren ihm genauer im Gedächtnis geblieben, als er vermutet hätte. Dennoch sah es bei Nacht anders aus, in der Dunkelheit wirkte der Verfall noch unheilvoller. Es war sonderbar, dass er trotz allem eine Art Trost empfand. Innerhalb dieser Mauern hatte er die letzten unbeschwerten Stunden mit der Frau verbracht, die er ewig lieben würde. Tolan spürte ihre Gegenwart. Er tastete sich den Gang entlang und folgte einer Biegung, bis er am Fuß einer breiten Treppe stand, die zum oberen Stockwerk hinaufführte.

Abby hatte diese Treppe gefallen. An jenem Tag hatte sie sie mindestens ein Dutzend Mal fotografiert. Wie immer hatte sie sich Zeit gelassen, um exakt die richtige Perspektive zu finden. Er fühlte, dass sie hier war. Als Geist – oder war es wirklich sie, die sich in der Dunkelheit versteckte?

Aus dem oberen Stockwerk kam ein Geräusch. Tolan leuchtete mit der Taschenlampe die Treppe hinauf. Das Licht flackerte und wurde schwächer. Wahrscheinlich hatte der Regen die Lampe beschädigt.

»Abby?«

Die Wände warfen das Echo seiner Stimme zurück. Er bekam keine Antwort. Mit der Hand schlug er gegen die Taschenlampe, doch das Licht flackerte nur kurz auf, um gleich darauf vollständig zu verlöschen.

Mist.

Wiederum hörte er ein Geräusch von oben. Ein Wimmern?

Tolan ließ die Lampe fallen, nahm zwei Stufen auf einmal und tauchte ein in die Dunkelheit des oberen Stockwerks. Er folgte einem langen Korridor. Ganz am Ende bewegte sich etwas.

»Abby?«

Tolan beschleunigte seine Schritte, bis er mit dem Schienbein gegen etwas Hartes, Metallisches stieß. Er zuckte vor Schmerz zusammen, stolperte und landete schließlich auf allen vieren.

Als er sich umwandte, stellte er fest, dass er über einen tragbaren Generator gestolpert war. Das dicke Kabel schlängelte sich bis zu einem kleinen, fensterlosen Raum.

Wofür war denn das? Wohnte hier oben etwa jemand?

Tolan rieb sich das Schienbein und wartete, bis der Schmerz nachließ. Dann stand er auf und ging auf den Raum zu, plötzlich regte sich etwas in seiner Erinnerung – ein weiteres déjà vu.

In der Mitte des Raums stand ein Tisch, der sich schräg zum Boden neigte, daneben ein Rollwagen mit einem Gerät für Elektroschocks. An der schwarz gestrichenen Decke hing eine Lampenfassung, in der die Glühbirne fehlte.

Diese Lampenfassung hatte er schon einmal gesehen. Aber wann?

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hörte er abermals das Geräusch. Er wandte sich um und lauschte angestrengt. Dieses Mal klang es weniger wie ein Wimmern, sondern eher wie das schwache Echo eines Schreis.

Eilig folgte Tolan dem Geräusch und fand sich in einem weiteren langen Korridor wieder. Am anderen Ende führte eine offene Flügeltür in einen Raum, an den er sich erinnerte. Er war mit Abby dort gewesen.

Der Tagesraum. Sie hatte ein Foto von ihm gemacht, jenes, das nun über seinem Bett hing.

Er betrat den riesigen Raum mit den hohen, vergitterten Fenstern. In der Mitte befand sich eine Ansammlung kaputter Tische und Stühle, die am Fußboden festgeschraubt waren. Unter einem der Tische kauerte eine zierliche Gestalt.

Abby.

Bei ihrem Anblick blieb Tolan wie angewurzelt stehen.

Sie bemerkte seine Gegenwart, wandte sich um, und sah ihn mit feucht glänzenden Augen an. »Michael?«

Beim Klang ihrer Stimme fühlte Tolan, wie sich etwas in seiner Brust löste. Eine Welle von Gefühlen durchströmte ihn. Abby erhob sich und breitete die Arme aus.

»Ich bin es, Michael. Ich bin zu dir zurückgekehrt.«

Er durchquerte den Raum und riss sie in seine Arme. Er presste sie so fest an sich, dass er fürchtete, sie könne zerbrechen, doch es schien ihr nichts auszumachen. Ihre Augen füllten sich abermals mit Tränen, und auch er weinte, unfähig sich zu beherrschen.

»Ich habe so lange gebraucht, um hierher zurückzukommen«, flüsterte sie. »Ich habe es mit aller Kraft versucht. Ich dachte schon, es sei zu spät.«

»Es ist gut, Abby. Jetzt bist du doch hier. Du bist bei mir.«

Lange hielten sie sich umschlungen. Tolan war überwältigt von einer Mischung aus Freude und Schuld, doch er wollte nicht daran denken, was er ihr angetan hatte. Wie grausam er gewesen war.

»Ich will dich nicht belügen«, sagte sie schließlich, als wüsste sie, was in ihm vorging. »Du hast mich verletzt, Michael. So oft in jenen letzten Tagen. Und dann, an dem Abend …«

»Es tut mir so leid«, sagte er, presste sie noch fester an sich und versuchte, die Tränen zurückzuhalten.

»Doch ich bin nicht aus diesem Grund hier«, fuhr sie fort. »All das ist nicht mehr wichtig.«

Überrascht wich er vor ihr zurück. »Wie kannst du so etwas sagen? Was ich dir angetan habe, ist unverzeihlich.«

»Nein, Michael …«

»Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern. Ich will mich nicht daran erinnern.« Er schloss die Augen. In seinem Inneren hörte er Lisas Stimme. »Sie hat mir erzählt, was sie gesehen hat. Sie hat alles beobachtet.«

»Von wem sprichst du?«

»Von Lisa. Sie war an jenem Abend dort. Und sie hat mir mehr erzählt, als ich hören wollte.«

Abby sah ihn fragend an. »Was hat sie dir erzählt?«

»Alles, was geschehen ist. Unser Streit. Das Messer in meiner Hand. Das Blut …« Abermals schossen ihm die Tränen in die Augen. »Ich wollte dir nie weh tun, Abby. Niemals. Das musst du mir glauben!«

Einen Moment lang starrte Abby ihn an. Sie schien nicht zu begreifen, was er ihr sagen wollte. Doch plötzlich verstand sie und zog ihn an sich. »Oh, mein Gott, Michael, nein … Mach dir keine Vorwürfe. Es war nicht deine Schuld.«

Tolan wich erneut vor ihr zurück. »Was?«

»Ich kann nicht glauben, dass sie dir das eingeredet hat. Du warst es nicht. Ganz bestimmt nicht.«

Tolan war verwirrt. »Was sagst du da?«

»Lisa hat dich belogen. Alles an ihr ist eine Lüge. Deshalb bin ich zurückgekommen. Um dich vor ihr zu warnen.«

»Mich zu warnen?«

»Du darfst nicht glauben, was sie dir erzählt«, sagte Abby. »Nicht du hattest das Messer in der Hand. Sie hatte es.«

Tolan versuchte, diese Ungeheuerlichkeit zu verarbeiten. Doch in dem Moment betrat Lisa den Raum und richtete Blackburns Waffe direkt auf Abbys Brust.

»Ich glaube, es wird Zeit für dich, zu gehen.«

58

Blackburn hatte das obere Ende der Treppe beinahe erreicht, als er das Echo von Stimmen hörte. Einen Moment lang dachte er, es seien Stimmen in seinem Kopf, nachdem dort alles durcheinandergerüttelt worden war. Er fühlte sich benommen, ihm war schlecht, und am liebsten hätte er sich einfach hingelegt und sehr, sehr lange geschlafen.

Doch wenn man sich auf einer Mission befand, blieb für so etwas wie Schlaf keine Zeit. Man musste weitergehen, bis man sein Ziel erreicht hatte, ganz gleich, wie schwer es fiel.

In diesem speziellen Fall verfolgte Blackburn kein hehres Ziel, es war auch ganz sicher nicht ungefährlich – insbesondere, wenn man die Tatsache in Betracht zog, dass ihm seine Glock abhanden gekommen war. Doch sein Ziel war das Einzige, was ihn aufrecht hielt. Das Einzige, was ihn noch antrieb.

Seit er den Rubinohrring gefunden hatte und später die blutige Decke im Kofferraum des BMW, diktierte ihm das Gefühl von Verlust und Endgültigkeit, die Gewissheit, Carmody niemals lebend wiederzusehen, dieses Ziel.

Es ging nicht mehr darum, einen Mörder zu jagen.

Es ging darum, einen Mörder zu töten.

Und das Seltsame war, die Zielperson war nicht mehr dieselbe wie zuvor. Als er sich im Wald mit Clayton Simm noch einmal die jugendlichen Gesichter auf den Zeitungsfotos angesehen hatte, war ihm eine furchtbare Erkenntnis gekommen: Das einzige Gesicht, das nicht lächelte und nicht in die Kamera sah – war das der Krankenschwester Lisa Paymer.

Eine wesentlich jüngere Lisa natürlich, doch sie war es eindeutig. Mit kaum verhohlener finsterer Miene sah sie, anstatt in die Kamera zu lächeln, das Opfer an. Anna Marie Colson.

In dem Augenblick erkannte Blackburn seinen Irrtum. Er war, im Gegensatz zu Tolan, kein Experte für die Mechanismen des menschlichen Geistes, doch dieser kleine Einblick in Lisa Paymers Seele rückte alles ins rechte Licht. Er hatte es hier mit klassischer psychotischer Besessenheit zu tun.

Anna Marie Colson hatte sich an Paymers Schwarm herangemacht, und Paymer hatte sie einfach niedergeschossen. Doch wie so oft wiederholte sich die Geschichte, und Jahre später griff Paymer nach einem Messer, einem PowerBlast 2000 und machte sich erneut an die Arbeit. Sie hatte nur einen einzigen Fehler gemacht: sich mit Todd Hastert und Carl Janovic anzulegen.

Blackburn war noch nicht klar, wie und wo sie Hastert kennengelernt hatte, doch Paymer selbst hatte ihm erzählt, dass sie im County General gearbeitet hatte. Er war sich sicher, dass sie dort an die entscheidenden Informationen über Vincent van Gogh kam.

Ein genauerer Blick auf Paymers Kontoauszüge würde zweifellos einige interessante Bewegungen offen legen. Die Beweise, die Blackburn in Tolans Haus gefunden hatte, sprachen natürlich für sich, aber er hielt an seiner Theorie fest, dass Tolan hereingelegt worden war.

Doch in diesem Augenblick interessierte Blackburn nichts von alldem. Jetzt ging es einzig und allein um Paymer. Und sie würde die Nacht nicht überleben.

Als Blackburn das Ende des langen Korridors erreicht hatte, wurden die Stimmen lauter und deutlicher.

»Hör nicht auf sie, Michael. Sie ist ein Monster. Ein verfluchter Dämon.«

»Leg die Waffe hin, Lisa. Es muss doch niemand verletzt werden.«

Blackburn beschleunigte seine Schritte – soweit in seinem Zustand überhaupt von Beschleunigung die Rede sein konnte. Er bog um eine Ecke und betrat einen weiteren langen Korridor, an dessen Ende sich eine breite, offene Tür befand. In dem großen Raum dahinter befanden sich drei vertraute Gestalten: Tolan, die Psycho-Tante und Paymer.

Paymer hatte eine Waffe. Seine Waffe.

Abrupt blieb Blackburn stehen und versteckte sich in einer dunklen Türöffnung. Gleichzeitig mit der Glock war ihm auch die Stablampe abhandengekommen, und er brauchte irgendeine Waffe, etwas Schweres, womit er zuschlagen konnte.

Er brauchte ein Rohr. Er wünschte, er hätte genug Geistesgegenwart gehabt und das Brecheisen aus dem Kofferraum mitgenommen.

Blackburn sah sich in der Dunkelheit um, fand aber nichts, was er hätte verwenden können. Gerade wollte er wieder aus seinem Versteck hinaustreten, als er unwillkürlich innehielt. Er spürte, dass jemand hinter ihm war.

Blackburn machte eine halbe Drehung und hob abwehrend die Arme, doch er konnte sich nicht auf seine Reflexe verlassen und bewegte sich einfach zu langsam.

Ein harter Schlag auf den Solarplexus ließ ihn zusammenklappen, dann traf ihn eine Faust am Rücken. Er lag auf dem Boden und krümmte sich, und wieder einmal drehte sich alles. Allmählich wurde es langweilig.

Eine dunkle Gestalt hockte sich neben ihn und hielt ihm den Mund zu.

»Ruhig Blut! Lassen wir den Kindern ihren Spaß.«

Lisa fuchtelte mit der Pistole herum, doch Tolan stellte sich schützend vor Abby. »Lisa, hör mir zu …«

»Versuch bloß nicht, sie zu beschützen, du Mistkerl!«

»Ich flehe dich an, lass sie in Ruhe.«

»Bitte, Michael, hör auf. Willst du mir jetzt etwa erzählen, wie sehr du mich liebst? Mir versprechen, dass ab morgen alles besser wird?« Ihr Blick war irre. Der Blick einer Psychopathin.

»Mit der Pistole zu drohen, bringt dir auch nicht das, was du willst.«

»Ach nein? Bis jetzt hat es funktioniert.«

Tolans Aufnahmekapazität stieß an ihre Grenzen, zu viele Informationen hatte er in zu kurzer Zeit verarbeiten müssen. Alles, was er sich selbst unterstellt hatte, all der Schaden, von dem er geglaubt hatte, er habe ihn angerichtet, war reine Erfindung. Lügen einer eifersüchtigen Frau. Doch was ihm am meisten Angst machte, war die Tatsache, dass er ihr geglaubt hatte.

»Sie ist eine Hure. Das hast du selbst gesagt. Und dann hast du dagestanden wie ein armseliger Idiot und dir auch noch eine Ohrfeige eingefangen.«

Da fiel ihm alles wieder ein. Sein Erinnerungsvermögen kehrte zurück. Der Blackout war nicht das Produkt einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung gewesen. Nein, es war die Reaktion auf ein schwerwiegendes Trauma, denn er hatte mit ansehen müssen, wie seine Frau von seiner besten Freundin erstochen wurde.

»Sie hat dich betrogen, Michael. Ich habe versucht, es dir zu beweisen, deshalb habe ich die Kondome in ihre Handtasche gesteckt. Ich wusste, du würdest sie zur Rede stellen, und dann hätte sie es zugeben müssen.«

Hinter sich hörte Tolan etwas rascheln. Abby trat einen Schritt zurück und verschwand in der Dunkelheit.

»Ich verstehe das alles nicht«, sagte er. »Abby hat dich immer als Freundin betrachtet. Sie hat dir nie etwas getan.«

»Sie hat dich mir weggenommen! Und als ihr immer häufiger Streit hattet, dachte ich, wir beide hätten vielleicht doch eine Chance. Aber dann habt ihr diesen kleinen Ausflug hierher unternommen, wo sie ihre tollen Fotos gemacht hat. Ich bin euch gefolgt, habe euch beobachtet, und da wusste ich, dass sie dich nie würde gehen lassen. Sie hatte dich für immer am Haken.«

»Sie brauchte mich nicht zu ködern, Lisa. Ich habe sie geliebt. Ich liebe sie immer noch.«

Wieder dieses Rascheln hinter ihm. Ein leises schmerzverzerrtes Wimmern. Tolan wandte sich um und blickte suchend in die Dunkelheit.

»Abby?«

»Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«

Er sah wieder Lisa an. »Hörst du? Sie spricht von dir.«

»Eine Lüge steht auf einem Bein, die Wahrheit auf zweien …«

»Ich habe getan, was ich tun musste«, sagte Lisa.

»Und was ist mit dem Mord letzte Nacht? An der Avenue? Warst du das auch?«

»Er war eine Bedrohung für uns.«

»Für uns?«

»Dich und mich.«

Hinter ihm erneutes Murmeln, doch unverständlich.

Tolan behielt die Pistole im Auge und bewegte sich langsam rückwärts auf Abby zu. Er versuchte, sie in der Dunkelheit zu erkennen.

»Wenn du wolltest, dass sie stirbt, warum hast du sie nicht einfach letzte Nacht umgebracht, als sie dir in Janovics Apartment über den Weg lief?«

Mit flackerndem Blick sah Lisa ihn an. »Wenn ich gewusst hätte, dass sie es war, hätte ich es sicher versucht. Ich habe ein Geräusch gehört und bin weggerannt wie ein verschrecktes Kaninchen.«

Das Rascheln hinter Tolan wurde lauter.

Etwas an Abby schien sich zu verändern. Er dachte daran, was er in der Einzelzelle erlebt hatte, die Verschiebung der Gesichtszüge, das fehlende Ohr.

»Abby, geht es dir gut?«

Lisa machte einen Schritt nach vorn und versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. »Kapierst du es nicht, Michael? Es geschieht tatsächlich. Genau wie der alte Mann gesagt hat. Sie ist jetzt eins dieser Kinder. Ein Kind der Trommel.«

»Lass sie in Ruhe!«

Lisa zielte mit der Pistole. »Das kann ich nicht zulassen.«

»Hör auf«, sagte er. »Du sollst ihr nicht weh tun.«

»Weg da! Sonst treffe ich dich noch.«

Doch Tolan blieb stehen. Lisas Miene verhärtete sich, sie richtete die Pistole auf die Dunkelheit hinter ihm.

»Komm raus, du Schlampe. Zeig dich. Zeig ihm, was für ein Monster du bist.«

Sie hatte den Finger am Abzug. Plötzlich ertönte ein hoher, durchdringender Schrei, und eine Gestalt löste sich aus der Dunkelheit.

Die Gestalt sah Abby nicht mehr im Entferntesten ähnlich, schien nicht einmal menschlich. Geschmeidig wie ein Tier griff sie nach Lisa. Mit aufgerissenen Augen stolperte diese zurück, immer noch schussbereit. Tolan schrie: »Nein!« und warf sich vor sie. Als die Pistole losging, spürte er, wie sich Hitze mitten in seiner Brust ausbreitete.

Er stürzte zu Boden, und abermals ging die Pistole los, immer wieder. Unter qualvollem Schmerzgeheul fiel jemand neben ihn.

Dann nur noch Stille.

59

Jemand weinte.

Tolan wälzte sich am Boden und griff sich an die Brust, seine Hand färbte sich rot. Er stellte zu seiner Überraschung fest, dass neben ihm nicht die Gestalt lag, die er noch vor einem Augenblick wahrgenommen hatte, sondern Abby, blutüberströmt. Sie atmete genauso schwach wie er.

Nicht schon wieder, dachte er. Ich will sie nicht noch einmal verlieren!

Er nahm ihre Hand, und sie umklammerte die seine. Ihre Worte waren ein mühsames Röcheln: »Es ist an der Zeit, Michael … Jetzt kannst du mitkommen …«

»Abby, nein …«

»Es ist gut so … Wir werden zusammen sein … Wir werden für immer zusammen sein …«

»Versprich mir das!«, sagte er.

Sie lächelte. »Ich verspreche es.«

Sie presste noch einmal seine Hand und schloss dann leise die Augen. Einen Augenblick später, im Angesicht des Todes, setzte die Rückverwandlung ein. Ihre Gesichtszüge veränderten sich, die Wangenknochen wurden kräftiger, die Nase schmaler. Innerhalb von Sekunden fand sich Tolan neben einer Fremden wieder: Jane X Nummer 314.

Doch es war nicht mehr wichtig. Tolan wusste, bald würde er bei Abby sein, denn auch er begann zu schweben. Von weit entfernt hörte er ein Schluchzen. Lisa beugte sich über ihn und griff weinend nach seiner Hand. Er fragte sich, ob für Menschen wie sie ein Platz in der Hölle reserviert war.

»Verlass mich nicht!«, schrie sie. »Wag es bloß nicht, zu sterben.«

Doch genau das tat er. Es würde nicht mehr lange dauern.

»Es tut mir so leid, Michael. Warte! Du musst noch –«

Plötzlich riss sie ungläubig die Augen auf, die Worte blieben ihr im Halse stecken.

Schließlich verstand sie. Fühlte den Schmerz.

»Es tut weh«, sagte sie kaum wahrnehmbar und sackte in sich zusammen.

Tolan starrte in ihre leblosen Augen. Um wirkliche Überraschung zu zeigen, fehlte ihm die Kraft. Dennoch war er überrascht, als er sah, wer hinter Lisa stand.

Ein vertrautes Gesicht. Ein Freund. Niemand Geringeres als Clayton Simm. Mit einem blutigen Skalpell in der Hand.

Er lächelte Tolan an, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ich fürchte, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Doktor. Ehrlich gesagt, ist mir der Verlauf des Geschehens ein wenig peinlich.«

»Clay?« Tolan versuchte, zu begreifen, was hier vor sich ging. »Du warst es …? Du bist …?«

Seine Stimme versagte.

»Vincent, wolltest du wohl sagen. So werde ich im Moment zumindest genannt. Wer weiß, wie ich morgen heißen werde.«

Er bückte sich und wischte das Skalpell an Lisas BEST-OF-SHOW-T-Shirt ab.

»Tut mir leid, dass es so gekommen ist. Aber jeder macht mal einen Fehler.«

Er lächelte wieder und verschwand in der Dunkelheit.

»Bestell Han van Meegeren schöne Grüße von mir.«

Nachdem Vincent gegangen war, stolperte laut polternd Detective Blackburn herein. Er sah aus, als hätte ihn ein riesiger Truck angefahren.

Beim Anblick der Toten entfuhr ihm ein Fluch, dann brach er bewusstlos zusammen.

Ein allerletztes Mal schloss Tolan die Augen, Abbys liebliche Stimme im Ohr. Schlaf Michael. Es ist Zeit zu schlafen.