Die Bewahrer der Vergangenheit
Philipp, der in der Geselligkeit der nächtlichen Aula seines Herrn, umgeben vom Rest des Gesindes auf der großen Strohschütte liegend, merkwürdig schlecht geschlafen hatte, fand sich kurz nach dem Morgengrauen bei den Stallungen ein, um ein Pferd zu holen und in die Stadt zu reiten, erschöpft und schlecht gelaunt. Galbert, dazu ausersehen, ihn in die Stadt zu begleiten und dort auf ihn zu warten, war noch früher aufgestanden und beschäftigte sich mit einem zweiten Pferd anstatt des Maultiers, auf dem er gewöhnlich zu reiten pflegte. Philipp sah den zierlichen Sattel und fragte mißmutig: »Für wen sattelst du auf?«
»Die Frau, die beim Herrn zu Besuch ist, wird uns begleiten.«
»Wer hat das angeordnet?«
»Der Herr selbst; noch gestern nacht.«
Philipp wandte sich verärgert ab. Aude betrat den Stall und nickte ihm zu; als sie sein übellauniges Gesicht sah, zogen sich ihre Augenbrauen zusammen.
»Stimmt etwas nicht?« fragte sie.
»Ihr wollt mit in die Stadt reiten«, sagte er. Es klang wie ein Vorwurf, nicht wie eine Frage. Aude schloß den Halsausschnitt einer mit großen blauen Rauten gemusterten gonna, die sie über ihrem Kleid von gestern trug, mit einer Spange und sagte: »Natürlich; Ihr seid doch mein Begleiter, stimmt es nicht? Ich muß herausfinden, was mit Geoffroi geschehen ist, und das kann ich nur in der Stadt. Wenn Ihr ohnehin dorthin reitet, spart Ihr Euch einen zweiten Weg.«
»Ich habe selbst zu tun in der Stadt. Ich kann mich nicht auch noch um Euch kümmern.«
»Oh, ich kann warten, bis Ihr Euer Geschäft erledigt habt.« »Das kann lange dauern«, erwiderte Philipp garstig.
»Ich verlange ja nicht mehr, als daß Ihr mich danach zu ein paar Stellen begleitet, von denen ich hoffe, daß mein Mann dort gewesen ist: weitere Herbergen, die Ratsstube der Stadtschöffen, den Markt ...«
»... und noch hundert andere Plätze, vermute ich.«
»Wo sich die Männer eben aufhalten, wenn die Frauen nicht auf sie aufpassen«, sagte Aude spitz.
»Und was wollt Ihr tun, solange ich meine Geschäfte erledige? Die Zügel meines Pferdes halten?« brummte Philipp und beschloß, nicht auf Audes letzte Aussage einzugehen. »Da werde ich eben Euch begleiten und Euch auf Frauenart die Ohren vollsingen, bis Ihr nicht mehr wißt, wo Euer Kopf steht.«
Philipp erkannte, daß sie wütend war. Er seufzte.
»Ihr braucht nicht gleich auf mich loszugehen«, sagte er. »Nachdem Ihr seid auf mich losgegangen zuerst, soll ich jetzt meinen Mund halten, ist es so? Ihr habt Eure schlechte Laune abreagiert an mir, und – voilà – alles ist gut, und es ist Frieden?« rief sie aufgebracht.
Philipp warf Galbert einen Seitenblick zu; dieser schien eifrig damit beschäftigt, die bereits glänzende Flanke von Audes Pferd zu striegeln.
»He«, sagte Philipp. »Willst du den Gaul blankscheuern? Wenn du hier nichts mehr zu tun hast, dann geh dein verdammtes Maultier holen.«
Galbert grinste, aber er legte den Striegel beiseite und machte eilig, daß er davonkam. Philipp sah ihm ungnädig hinterher.
»Ich wollte Euch nicht den Mund verbieten«, sagte er dann heftig zu Aude. »Es gibt nur nichts mehr über das Thema zu bereden.«
»Es gibt immer dann nichts mehr über etwas zu bereden, wenn den Männern nichts mehr dazu einfällt.«
Philipp schnaubte und stellte fest, daß Aude ihm auf die Nerven ging. Sie mochte eine schöne Frau sein, aber ihr hartnäckiges Verlangen danach, unter allen Umständen das letzte Wort zu behalten, verdroß ihn. Er dachte an Dionisia, die ihre aussichtslose Lage mit tapferer Melancholie ertrug, anstatt so zänkisch zu sein wie Minstrels Frau.
»Was wollt Ihr von mir?« rief er. »Wollt ihr mir die Kehle durchschneiden? Hier!« Er deutete zornig auf seinen Hals. »Wenn Ihr kein Messer habt, könnt ihr es ja mit Eurer scharfen Zunge versuchen.«
Aude sah trotzig an ihm vorbei. Galbert näherte sich mit einem Maultier am Zügel und einem möglichst unbeteiligten Gesicht.
»Reiten wir jetzt los oder nicht?« fragte sie.
»Ja, wir reiten los.«
Aude stapfte zu ihrem Pferd und faßte in seine Mähne. Philipp machte einen widerwilligen Schritt auf sie zu, um ihr in den Sattel zu helfen, aber sie zog sich alleine hinauf und setzte sich zurecht. Sie zupfte am weiten Rock ihres Kleides. Die ärmellose gonna, fußlang mit einem langen Schlitz vorn und hinten, erlaubte ihr, den Leib ihrer schlanken Stute zwischen die Beine zu nehmen, aber das Kleid rutschte dennoch nach oben. Philipp versuchte, den Blick abzuwenden, damit er ihre Fesseln nicht sah. Es waren schlanke Fesseln, die in festen, halbhohen Schuhen steckten. Aude tat so, als habe sie seinen Seitenblick nicht gesehen. Sie sah auf ihn hinunter, noch immer verärgert.
»Da Eure Geschäfte so lange dauern werden, solltet Ihr endlich auch aufsitzen«, forderte sie ihn auf.
Philipp kletterte in den Sattel. Aude lenkte ihr Pferd an ihm vorbei aus dem Stall und trabte voran, ohne sich nach ihm umzusehen. Philipp warf Galbert einen besiegten Blick zu und folgte ihr.
Auf dem Weg zur Stadt verflog sein Zorn auf Aude, und auch ihr schien es ähnlich zu gehen. Nach einer Weile zügelte sie ihr Pferd und wartete, daß Philipp sie einholte. Ein Weile ritten sie schweigend nebeneinander her, während Galbert einige Schritte hinter ihnen blieb und so tat, als würde ihr Gespräch ihn nicht im mindesten interessieren. Das Gewitter des gestrigen Abends hatte noch verstreute Wolkenfetzen am Himmel zurückgelassen, und die Pferdehufe wirbelten mit dem trocknenden Staub der Straße eine Erinnerung an den Regengeruch der Nacht auf. Aude fuhr sich mit der Hand über ihren Nacken und rückte danach die Kappe mit dem Kinnschleier wieder zurecht. Das helle Licht ließ Philipp erkennen, daß sie blaß war und dunkle Schatten unter ihren Augen lagen. Er beugte sich zu ihr hinüber.
»Fühlt Ihr Euch wohl?« fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe nicht viel geschlafen. Ich mußte über Geoffroi nachdenken.« Sie seufzte und rieb sich über den Leib. »Außerdem bin ich hungrig.«
»Habt Ihr vor unserem Aufbruch nichts gegessen?«
»Als ich in den Saal hinunterkam, sagte man mir, Ihr wärt schon zusammen mit – Galbért, das ist sein Name, richtig? – aufgebrochen. Ich mußte mich beeilen.«
»Das tut mir leid. Ich habe auch nichts bei mir, was ich Euch anbieten könnte, und ich fürchte, es wird ein langer Tag.« Er drehte sich im Sattel zu Galbert um. »Hast du etwas zu essen eingesteckt?«
»Warum, kracht dir jetzt schon der Magen?«
»Nicht mir, du Dummkopf, sondern Frau Aude.«
»Meine Taschen sind so leer wie ...«
»... wie dein Kopf, das hab’ ich mir gedacht«, brummte Philipp. Aude winkte ab.
»Ich habe ein paar Münzen eingesteckt. Vielleicht kann ich auf dem Markt etwas kaufen.« Sie lächelte plötzlich. »Wenn Ihr eine Herberge wißt, in der man sich etwas zu essen zubereiten kann, kann ich für uns kochen. Ich bin keine schlechte Köchin. Daß Geoffroi so dünn ist, liegt nicht an meinem Essen.«
»Ihr kocht das Essen selbst?«
»Zuweilen, wenn ich Lust dazu habe. Es macht mir Spaß.«
Philipp schüttelte den Kopf. »Das ist die Arbeit der Küchenmägde«, sagte er belustigt.
»Wer führt im Haus Eures Herrn die Frauengeschäfte? Die Überwachung der Vorratsspeicher und die Erhebung der Abgaben der Bauern? Euer Herr ist nicht verheiratet.«
»Ich selbst«, erklärte Philipp erstaunt.
»Und warum tut Ihr das?«
»Naja ... weil es sonst niemand macht«, sagte Philipp und fragte sich, worauf sie hinauswollte.
»Ihr könntet ja jemanden damit beauftragen. Eine der Frauen aus dem Gesinde; oder die Gattin eines der Gefährten Eures Herrn bitten, sich darum zu kümmern.«
»Damit gerade dann die Vorräte ausgehen, wenn der Herr seine Gefährten zum Mahl einladen will? Damit den Bauern jedesmal etwas anderes abverlangt wird, bis sie ganz wirr im Kopf werden? Nein danke«, sagte Philipp und winkte ab. »Da mache ich es lieber selbst.«
»Seht Ihr, da verrichtet Ihr auch eine Tätigkeit, die eigentlich nicht die Eure ist. Ebenso geht es mir mit dem Kochen.«
»Ihr meint damit, daß Ihr das Essen selbst zubereitet, weil Ihr besser kochen könnt als Eure Küchenmägde?«
»Nein«, lachte sie. »Da schließt Ihr von Euch auf andere. Ihr tut Eure Arbeit selbst, weil Ihr glaubt, keiner kann sie so gut wie Ihr erledigen. Ich tue meine Arbeit, weil ich Spaß daran habe.«
Philipp schob die Lippen nach vorn, aber er war nicht wirklich gekränkt. Er sah Aude abschätzend an, und sie gab seinen Blick frei zurück.
»Der Herr erhalte die Einbildungskraft der Männer«, sagte sie fröhlich. »Ich hoffe bloß, Ihr haltet Euch nicht auch noch für prädestiniert, die Kinder der Gefährten Eures Herrn zu erziehen und die schwangeren Dienerinnen zu verheiraten.«
»Nein, das ist mir zu gefährlich. Am Ende wollen die schwangeren Dienerinnen alle mich heiraten.«
Aude lachte und ritt dann ein paar Momente schweigend neben Philipp entlang.
»Ist Euch noch etwas eingefallen?« »Zu welchem Thema?«
»Zu Geoffroi, Euer Herr sagte, Ihr würdet Euch heute morgen vielleicht noch an mehr Einzelheiten zu Eurer Begegnung mit ihm erinnern.«
»Das ist leider nicht der Fall.«
»Warum belügt Ihr mich?« fragte sie sanft. Philipp starrte sie an und merkte, daß er rot wurde.
»Ich lüge nicht«, krächzte er.
Sie seufzte und blickte wieder geradeaus.
Der vicus der Judengemeinde lag östlich des Alten Marktes, zwischen der Marspforte und der Judenpforte, und begann hart hinter dem Rathaus. Im Unterschied zu den Judenvierteln anderer Städte bildete der vicus keine eigene kleine Stadt innerhalb der Stadtgrenzen, auch wenn dies von etlichen Patriziern bereits gewünscht und angeregt wurde. Die Mauern und Tore, die in den anderen Städten sowohl dazu dienten, die jüdischen Bewohner des Viertels in ihrem eigenen Bereich zu halten als auch etwaigen christlichen Besuchern von einem Aufenthalt in der Judengemeinde abzuraten, fehlten in Köln. Die Berührung der christlichen mit der jüdischen Einwohnerschaft war auf beiden Seiten zumindest geduldet. Dennoch bewegten sich wenige jüdische Bürger in den christlichen Wohnvierteln und umgekehrt; erstere hatten die Stätten ihres Verdienstes inmitten ihrer eigenen Leute und sahen kaum einen Anlaß, diese zu verlassen, letztere begaben sich nur in den Bereich der jüdischen Gemeinde, wenn dringende Geschäfte (in der Regel Kreditaufnahmen) sie dorthin führten. So war auf eine ungewisse Weise doch ein Ghetto entstanden, mit einer nicht ganz scharfen und dennoch spürbaren Abgrenzung der beiden Glaubensrichtungen untereinander, und wenn eine der beiden Bürgerschaften davon einen Nachteil hatte, dann waren es die Juden. Ghettomauern bilden auch einen gewissen Schutz, und Tore lassen sich gegen christliche Fanatiker verschließen, solange der Stadtherr geneigt ist, seine Juden zu schützen. In Köln hatte der Stadtherr zwar über die Generationen hinweg seine Hand über das Judenviertel gehalten (motiviert durch die Judenregal, die Gebühr, die die Juden für die Erlaubnis zum Wohnen und Arbeiten innerhalb der Stadtmauern entrichteten und die in die Tasche des Stadtherrn floß), aber ein handfester Schutz wie eine Mauer war nicht vorhanden. So hatte die Judengemeinde die allfälligen Pogrome ebenso erleiden müssen wie andere jüdische Gemeinden in anderen Städten, mit ihrem bisherigen Höhepunkt während der Morde und Plünderungen anläßlich des Aufbruchs des Pilgerheeres von Peter von Amiens vor hundertfünfzig Jahren. Den jüdischen Bürgern, im allgemeinen fröhlich und aufgeschlossen, eignete deswegen eine gewisse unterschwellige Fähigkeit zum Argwohn, die um so dramatischer zum Vorschein kam, je unruhiger die Zeiten waren. Zeiten, in denen der weltliche und der geistige Führer der Christenheit offen miteinander im Krieg lagen, hatten als besonders unruhig zu gelten. Und diejenigen, die das tausendjährige Reich Christi bereits herandämmern sahen und die Ansicht hegten, daß darin kein Platz war für die angeblichen Mörder des Heilands, würden dafür sorgen, daß sie noch unruhiger würden.
Auch ohne die architektonische Trennung zwischen der plateajudeorum und der übrigen Stadt schien es, als würde man eine andere Welt betreten, sobald man, vom Rhein her kommend, durch die Marspforte oder, von Westen wie Philipp und Aude, durch die Judenpforte geritten war. Aude hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, während Galbert sich ohne viel Murren im »Kaiserelefanten« absetzen ließ, wo er dem Wirt um den Bart und den Schankdirnen um ihre drallen Hinterteile gehen würde, um von dem einen ein paar Schluck Wein und von den anderen ein paar zärtliche Gunstbeweise geschenkt zu bekommen. Aude schien über den abrupten Übergang von den christlichen zu den jüdischen Gassen erstaunt zu sein; sie drehte den Kopf mit einer gewissen Aufmerksamkeit hin und her. Das vierte Laterankonzil hatte den Juden vorgeschrieben, einen hohen spitzen Hut zu tragen, um sich von den christlichen Bürgern ihrer Stadt zu unterscheiden, und die weltlichen Herrscher hatten sich den Geboten angeschlossen, indem sie den männlichen Juden zudem untersagten, sich prächtig herauszuputzen. Da sich nur wenige Christen in der Judengemeinde aufhielten, war das Leben in den Gassen demzufolge von den nüchternen, schwarzen Kaftanen und den seltsam anmutenden Kopfbedeckungen bestimmt und wirkte in seiner gepflegten Uniformität ungewohnt im Vergleich zu der bunten, vielfältigen (und unterschiedlich abgerissenen) Kleidung der christlichen Einwohner der Stadt. Die Abfallhaufen in der Mitte der Straße waren niedriger und vereinzelter, als ob die jüdischen Hausbesitzer die Verordnungen der Stadtbehörden, ihren Abfall selbst zu den Sammelgruben zu schaffen, ernster nahmen als die Christen.
Ungewohnt wirkte auch die Stille, in der das Leben im Judenviertel abzulaufen schien. Die Falte zwischen Audes Augenbrauen mochte darauf hindeuten, daß ihr die merkwürdige Stimmung auffiel, während Philipp, der sich schon des öfteren in der Nähe des vicus aufgehalten hatte, wenn er auch noch niemals darin gewesen war, unbefangen durch die Menge ritt. Es fiel ihm jedoch auf, daß er und Aude die einzigen Berittenen innerhalb einer großen Menge von Fußgängern waren. Die Menschen, die dem langsamen Schritt ihrer Pferde mit unbewegten Gesichtern auswichen oder ihnen kurze neugierige Blicke zuwarfen, sahen nicht anders aus als diejenigen außerhalb des Viertels, hatte man sich erst einmal an ihre Kleidung gewöhnt. Der Anteil an schlank gebauten, dunkelhaarigen Männern und zarten, hübschen Frauen mochte im Vergleich zum christlichen Teil der Stadt vielleicht überwiegen und ebenso der Putz der Frauen, der in verschwenderischer Pracht die aufgezwungene Schlichtheit der männlichen Kleidung ausglich, aber ansonsten war die Bevölkerung ebenso bunt gemischt wie anderswo. Philipp sah in die hübschen Gesichter der jungen Frauen und dachte an Dionisia.
»Wohin müssen wir uns wenden?« fragte Aude.
»An ihren Gemeindevorsteher. Ich brauche ein paar Namen und Adressen von ihm.«
»Wißt Ihr, wo er zu finden ist?«
Philipp schüttelte den Kopf. »In der Nähe des Rathauses, vermute ich. Sie haben dort ein Gemeindezentrum mit einer Synagoge, einem Backhaus, einem Bad und was weiß ich noch alles.« Er beugte sich zu einem Mann in mittlerem Alter, der eben ihren Pferden aus dem Weg gegangen war, hinunter und sprach ihn an.
»Könnt Ihr mir den Weg zu Eurem Gemeindevorsteher zeigen?«
Der Mann blickte ihm ins Gesicht, und Philipp zuckte betroffen vor der Ablehnung zurück, die dem Mann aus den Augen sprach. Als hätte er zu laut geredet, schienen sich gleichzeitig alle anderen Passanten um sie herum umzudrehen und sie anzustarren. Aude lenkte ihr Pferd näher an seines heran und machte ein besorgtes Gesicht.
»Ihr wollt zu Parnes Josef?« fragte der Mann mit kalter Höflichkeit.
»Wißt Ihr, wo sein Haus steht?«
Der Mann drehte sich zu zwei anderen Juden um, die neben ihn getreten waren und Philipp mit dem gleichen Mißtrauen musterten. Sie bewegten in einer beredten Geste die Hände: Wir wissen nicht, was von diesem gojim zu halten ist.
Zögernd beschrieb der erste Mann ihm den Weg. »Seid Ihr in offizieller Angelegenheit hier?« fragte er schließlich.
Was ist eine offizielle Angelegenheit? dachte Philipp. Er schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur ein paar Dokumente einsehen, und ich hoffe, Euer Parnes kann mir weiterhelfen.« Die Augen des Mannes weiteten sich. Er preßte die Kiefer zusammen und tauschte mit den beiden anderen Blicke aus. Inzwischen hatten sich weitere Menschen um sie geschart. Philipp spürte, wie die Flanke von Audes Pferd sein Bein berührte. Er wandte sich zu ihr um und wurde gewahr, daß wenigstens zwei Dutzend Menschen um ihre Pferde standen und einen dichten Ring bildeten. Verschlossene Gesichter waren ihnen zugewandt. Die Pferde schnaubten nervös angesichts der vielen Fremden um sie herum. Es wäre ein leichtes gewesen, ihn und Aude zu packen und von ihren Rücken zu ziehen.
»Ihr werdet nicht willkommen sein«, erklärte der Mann und wandte sich ab. Als hätte er ein Zeichen gegeben, begann sich die Menge zu zerstreuen. Nach wenigen Augenblicken waren Aude und Philipp wieder allein. Philipp atmete aus.
»Was liegt den guten Leuten denn hier im Magen?« fragte er Aude und probierte einen Scherz: »Hat Euer Pferd einem der Bürger ein paar Äpfel auf den Kopf fallen lassen?« Aude sah ihn ernst an.
»Sie haben Angst«, sagte sie.
»Was? Angst? Das sah mir eher nach Zorn aus.« Er drehte sich um, aber die Menschen um sie herum ignorierten sie wieder. Nur aus den Augenwinkeln sah er, wie ihnen verstohlene Blicke zugeworfen wurden; Augen wurden hastig gesenkt, sobald er sich in ihre Richtung wandte.
»Das ist nur die Wut, hinter der sich die Angst versteckt.« Philipp war nicht in der Laune, ihr zu widersprechen. Sein Herz schlug schneller als zuvor, und seine Unbefangenheit war verflogen. Er verwünschte sich dafür, Aude hierher mitgenommen zu haben. Unwillkürlich wandte er sich zum weit offenen Bogen der Judenpforte um, durch den sie eingetreten waren; die Gasse war leicht gekrümmt, und er war nicht mehr zu sehen, aber der niedrige Torturm ragte hinter den Hausdächern hervor. Es war nicht zu weit entfernt, um umzukehren.
Aude folgte seinem Blick. »Wollt Ihr wieder zurück?« fragte sie.
Auf irgendeine Weise regte ihre unschuldige Frage Arger in ihm.
»Nein«, knurrte er. »Ich habe hier ein Geschäft zu erledigen. Gehen wir zum Gemeindevorsteher, bevor sie ihm noch alle möglichen Schauergeschichten über uns erzählen.«
»Das ist schon lange geschehen.«
Sie hatte recht; als sie das Gemeindezentrum erreichten, stand der Parnes vor der Tür, umgeben von einem Teil des Judenrates. Man hatte offensichtlich einen Boten zu ihm gesandt, noch während Philipp und Aude sich mit der Menge auseinandergesetzt hatten. Der Gemeindevorsteher trug den gelben Hut und einen weiten Mantel, auf dem der gelbe Judenfleck wie ein Fanal leuchtete. So wie er ihn zur Schau trug, wirkte er fast trotzig. Er hatte langes, fast weißes Haar, das an beiden Wangen herabwallte und wie nahtlos in einen ebenfalls weißen Bart überging. Der Bart reichte ihm bis zum Schlüsselbein. Sein Gesicht war finster, aber nicht finsterer als die der sieben Männer, die sich um ihn geschart hatten. »Was wollt Ihr?« fragte er.
Philipp, durch Audes Bemerkung über die mögliche Angst der Juden aufmerksam gemacht, versuchte, durch die Ablehnung im Gesicht des Gemeindevorstehers hindurchzublicken. Es schien ihm, daß er wie Aude imstande war, Furcht dahinter zu entdecken.
Der Gemeindevorsteher sah düster zu ihm hinauf. Philipp stieg vom Pferd, um den Größenunterschied zu beenden. Als er auf dem Boden stand, ließ er die Zügel seines Pferdes los; ein paar der Gemeinderäte kommentierten diese Demonstration mit einem erstaunten Blick. Ein Mann, der die Zügel seines Pferdes fahren läßt, begibt sich in die Hand derer, die ihn umringen. Philipp setzte ein Lächeln auf. Es fiel ihm schwer genug.
»Es muß sich um ein Mißverständnis handeln«, sagte er. »Ich möchte nur einige Eurer Gemeindemitglieder etwas fragen.«
»Was?«
»Ich suche Auskünfte über einen Mann, der vor dem letzten Pilgerzug nach Jerusalem bei einem Eurer Verleiher ein Darlehen genommen hat.«
Die Augen des Gemeindevorstehers verengten sich womöglich noch mehr.
»Wozu?« fragte er.
»Er hat seine Familiendokumente verloren, und ich hoffe, Abschriften wiederzufinden.«
»Warum fragt Ihr nicht in Euren Kirchen und Klöstern nach?«
»Ich ziehe die Sachkenntnis der jüdischen Bürger vor«, sagte Philipp mit einem treuherzigen Augenaufschlag.
Der Parnes wechselte nachdenkliche Blicke mit seinen Räten. Die Mehrzahl von ihnen hatte ihre Gesichter wieder geglättet und nickte. Der Parnes kaute unentschlossen auf seinem Bart, dann nickte er Philipp zu.
»Kommt herein«, sagte er und deutete auf die offenstehende Tür des Gemeindehauses.
Philipp dankte ihm und trat ein paar Schritte auf Audes Pferd zu.
»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, sagte er leise und grinste erleichtert. »Vielleicht haben wir einen ihrer Bräuche verletzt, als wir so mir nichts dir nichts in ihr Viertel geritten kamen.«
Aude schüttelte den Kopf, schickte sich aber an abzusteigen. Philipp hielt sie auf.
»Es wäre mir lieber, wenn Ihr draußen warten würdet«, sagte er.
Aude riß die Augen auf.
»Weshalb denn?« fragte sie ungehalten.
»Ich weiß, daß bei den Juden die öffentliche Unterhaltung zwischen den Geschlechtern verboten ist«, erklärte Philipp. »Daher glaube ich nicht, daß der Parnes sehr erbaut wäre, wenn ich Euch in sein Haus mit hineinschleppte, als wäret Ihr ein Mann und hättet alle seine Rechte.«
»Das sagt Ihr mir erst jetzt? Warum habt Ihr mich dann hierhergebracht?«
»Ihr habt Euch an meine Fersen gehängt«, gab Philipp zu bedenken und versuchte nicht zu grinsen. Zu seinem Erstaunen blieb Aude friedlich. »Ich werde mich beeilen«, versprach er. »Und ihr braucht Euch nicht zu ängstigen. Niemand wird Euch etwas antun.«
Aude machte ein verächtliches Geräusch. Philipp drehte sich nochmals um.
»Tut mir auch bitte den Gefallen, hier nicht herumzulaufen. Es gehört sich nicht für eine Frau, ohne Begleitung unterwegs zu sein. Das gilt im Judenviertel genauso wie außerhalb.«
»Paßt nur auf, daß Ihr Euch nicht daneben benehmt«, zischte Aude wütend.
Philipp konnte seine gute Laune nicht mehr zurückhalten. Er grinste Aude breit an. »Ich bin der Anstand in Person«, sagte er und schlüpfte in das Haus hinein.
Aude seufzte und setzte sich im Sattel zurecht. Ihr Zorn auf Philipp verrauchte ebenso schnell, wie er gekommen war, und machte einer leisen Erheiterung Platz. Sichtlich war ihm erst vor dem Haus des Gemeindevorstehers wieder eingefallen, daß jüdische Männer sich im Umgang mit den Frauen noch unnatürlicher benahmen als der Rest der Welt, und daß er es als Mittel genommen hatte, ihr ihre Hartnäckigkeit heimzuzahlen, belustigte sie eher, als daß sie sich darüber ärgerte. Auf seine Art wirkte seine Rache harmlos und wie ein Spiel, von dem er selbst nicht wußte, daß er es spielte. Die Fähigkeit zur wahren Boshaftigkeit fehlte ihm. Sie dachte, daß er darin in gewisser Weise Geoffroi ähnelte; dem Geoffroi, der er vor langer Zeit einmal gewesen war, bevor er die Arbeit jenseits der Grenze angenommen hatte und verändert davon zurückgekommen war. Nun, um ehrlich zu sein: Auch jener Geoffroi war nicht in Wirklichkeit so gewesen. Woran sie sich erinnerte, war das Wunschbild von Geoffroi Cantat, das sich in ihr geformt hatte, während sie auf die Hochzeit mit ihm wartete, und das er niemals völlig hatte erfüllen können.
Aude verspürte wieder die Sorge um Geoffroi, die sie schon zu spüren begonnen hatte, kaum daß sie verheiratet gewesen waren, und die sie weder jemals hatte benennen noch aus ihren Gedanken verbannen können, so daß sie ein steter Begleiter ihrer Gemeinsamkeit geworden war. Sie erkannte erstaunt, daß sie sich beinahe mit Erleichterung auf die Suche nach ihm gemacht hatte, obwohl die Dauer seines Fortbleibens noch durchaus keinen Anlaß zu ernsten Bedenken gegeben hätte. Die Erleichterung rührte daher, daß sich erstmals ein Weg gefunden hatte, ihrer Sorge einen Namen zu geben: Geoffroi ist etwas zugestoßen. Keine Angst ist so schlimm wie die vor etwas, das man nicht benennen kann.
Sie richtete den Blick auf ihre Umgebung. Mittlerweile hatte sie sich an das fremdartige Erscheinungsbild der Menschen im Judenviertel gewöhnt, aber das Gefühl, in eine andere Sphäre inmitten der Normalität einer abendländischen Stadt (was immer am Treiben in einer Stadt als normal betrachtet werden kann, spottete sie im stillen) geraten zu sein, verging nicht. Im Gegenteil – das abweisende Verhalten der Bewohner hatte es noch verstärkt. Selbst die Häuser wirkten beklommen. Sie mochten auf den ersten Blick nicht anders aussehen als außerhalb der Gemeinde, aber ein genaueres Hinsehen verriet ein unterschiedliches Lebensgefühl: Die Enge des Viertels und der Drang seiner Einwohner, ihre Behausungen in der Nähe der zentralen Synagoge zu suchen, hatte dazu geführt, daß die Gebäude noch dichter als draußen zueinander standen und den Eindruck einer Bienenwabe vermittelten, in der jede Biene ihre eigenen Bauvorstellungen verwirklicht hat. Die ständigen Enteignungen und Vertreibungen in der Vergangenheit hatten den Juden jedoch eine achtlose Einstellung zu unbeweglichem Eigentum aufgezwungen, und in dementsprechendem Zustand befanden sich die Bauten. Die Wände waren schief, die Dachschindeln voller Lücken, das Holz des Fachwerks moderte, und an vielen Stellen sah das lehmverbackene Stroh hinter dem Putz hervor. Die Quartiere sahen nicht viel besser aus als in einem Elendsviertel im christlichen Teil der Stadt. Sie sollten anfangen, die Frauen mitreden zu lassen, dachte Aude, dann wären ihre Häuser mehr als baufällige Steinhaufen und Bretterbuden. Aber sie war ungerecht, und sie wußte es. Die meisten der jüdischen Einwohner würden damit rechnen, wenigstens einmal im Leben aus ihrem Haus vertrieben zu werden, und so machte es keinen Sinn, seinen Stolz dareinzulegen; um so mehr, als ein reiches Haus unausweichlich den Schluß nahelegt, es befände sich ein wohlhabender Bewohner darin, und die Reichtümer der Juden hatten schon immer die Begehrlichkeit ihres Herrn, des Königs, ebenso erweckt wie den Haß des besitzlosen christlichen Pöbels.
Schließlich trat Philipp wieder aus der Tür und stellte sich vor ihr Pferd. Obwohl Aude die Zeit nicht lang geworden war, während sie ihren Gedanken nachhing, fühlte sie sich bemüßigt zu sagen: »Nennt Ihr das vielleicht sich zu beeilen? Ich fürchtete schon, hier Schimmel anzusetzen.« »Er hat mir die Namen aller Geldverleiher im vicus aufgezählt, die vor dem letzten Pilgerzug ihr Geschäft hier führten, und ihre Genealogie, angefangen bei Aschkenaz, von dem die Juden hier allesamt abzustammen glauben«, seufzte Philipp. »Ihr könnt noch froh sein, daß seitdem erst ein paar tausend Jahre vergangen sind.«
»Was wollt Ihr von den Geldverleihern? Muß Euer Herr ein Darlehen aufnehmen?«
»Nein; es geht nicht um meinen Herrn. Einer seiner Freunde ist ein Kardinal, und ich kümmere mich in dessen Auftrag um die Eigentumsdokumente eines Ritters eine Tagesreise von hier entfernt. Ich will versuchen, Abschriften dieser Dokumente bei den Geldverleihern zu finden. Er hat wahrscheinlich für seinen Zug ins Heilige Land Geld geliehen und dafür die Dokumente hinterlegt.«
»Und wie viele Namen hat der Gemeindevorsteher Euch genannt?«
»Acht.«
»Meine Güte. Habt Ihr schon bemerkt, daß es bereits nach dem Mittag ist? Wollt Ihr die alle heute noch aufsuchen?« »Zwei davon sind mittlerweile gestorben; drei waren durch die Aufhebung der Zinspflicht für die Pilgerfahrer nachher ruiniert und haben die Stadt schon lange verlassen; es bleiben also drei Männer, die ich aufsuchen muß.«
»Das hört sich etwas besser an.«
»Allerdings werde ich die Dokumente erst beim letzten der drei finden, wenn überhaupt«, wandte Philipp ein.
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Weil es mir immer so geht. Wenn der Bäcker aus Versehen einen Stein ins Brot gebacken hat, bin ich garantiert derjenige, der darauf beißt.«
»Pech macht widerstandsfähig«, sagte Aude mitleidlos.
»Ja; und es klebt. Also werdet Ihr an mir kleben bleiben müssen, bis ich meine Geschäfte zu Ende gebracht habe.«
»Ist Euch nun klargeworden, weshalb die Leute hier so ablehnend waren uns gegenüber?« fragte Aude, als sie nebeneinander in eine der Gassen ritten. Der Verkehr war bei weitem geringer als vorher. Es mochte an der dunklen Enge der Gasse liegen oder daran, daß die meisten Bürger ihre Behausungen aufgesucht hatten, um sich auszuruhen. »Sie haben Angst; das habt Ihr ganz richtig erkannt.« »Das war mir schon klar. Wovor haben sie Angst?«
Philipp zuckte mit den Schultern.
»Was weiß ich? Vielleicht, daß ihre Häuser zusammenbrechen, wenn die Tritte eines Pferdes den Boden erschüttern. Ehrlich gesagt beschäftigt mich diese Frage auch.«
»Hört doch auf herumzualbern«, sagte Aude. »Haben sie nichts zu Euch gesagt, was sie bedrückt?«
»Nein. Sie waren am Ende unserer Unterhaltung zwar mehr als höflich, aber darüber haben sie nicht gesprochen.«
»Und Ihr habt auch nicht gefragt, nehme ich an.«
»Ich hatte nicht das Gefühl, vor dem Gralskönig zu stehen, als ich mich mit dem Parnes unterhielt«, erklärte Philipp bissig. »Oder hätte ich fragen sollen: wo drückt der Schuh, edler Parnes Titurel?«
»Der leidende Gralskönig hieß Amfortas«, sagte Aude herablassend. »Titurel war sein Vater. Ihr allerdings würdet einen trefflichen Parzival abgeben.«
»Wie auch immer«, seufzte Philipp friedlich und breitete die Arme aus. »Was glaubt Ihr denn, wovor die guten Leute hier Angst haben?«
»Vor uns.«
»Vor uns beiden? Ich weiß, ich sehe furchterregend aus, aber Ihr ... «
»Vor den Christen und ihren Greueltaten«, erwiderte Aude ungeduldig. »Überall in Frankreich hört man von Überfällen und Brandschatzungen auf die Judenviertel; sogar davon, daß christliche Pöbelhaufen die Juden auf offener Straße erschlagen. Vor ein paar Jahren wurden ganze Wagenladungen ihrer Schriften öffentlich verbrannt.«
»Das habe ich allerdings auch gehört.«
»Unser allerchristlichster König hat die Männer dazu aufgerufen, jedem, der Falsches über den christlichen Glauben sagt, das Schwert in den Wanst zu stoßen. Es wird nicht lange dauern, dann wird er die Juden bei uns entweder alle umbringen lassen oder sie zumindest aus dem Land werfen. Natürlich wird er ihnen vorher noch jeglichen Besitz wegnehmen. Und überall tauchen Fanatiker und Prediger auf und führen Hetzreden. Ich habe sogar schon gehört, daß manche aufstehen und ankündigen, das Ende der Zeiten wäre nahe und die Wiederkehr Christi stünde bevor und man müsse die Juden ausrotten, damit Christus nicht seiner Mörder ansichtig würde, wenn er auf die Welt zurückkäme.«
Audes Worte weckten eine Erinnerung in Philipp: der Prophet, der auf dem Marktplatz über das Kommen des Weltuntergangs berichtet hatte, die Pilger, die seine Worte unterbinden wollten. Wäre auch er noch auf die Vernichtung der Juden zu sprechen gekommen, wenn ihm die Pilger die Zeit dazu gelassen hätten?
»Laßt uns die Geldverleiher aufsuchen«, sagte er düster.
Der Gemeindevorsteher hatte Philipp die Häuser beschrieben, in denen die Geldverleiher ihrer Tätigkeit nachgingen; in der Enge des Judenviertels waren sie nicht schwer zu finden. Vor einem Eingang, der mit wenigen Stufen in das vollkommen finstere Innere eines Hauses hinunterführte, dessen Fensteröffnungen mit Sackleinen verhängt waren, befand sich der Stand des ersten Mannes: ein niedriger Tisch mit einer bunten, abgestoßenen Platte, hinter der ein älterer Mann mit dem üblichen gelben Hut und einem dichten Kinnbart stand. Der schwarze Kaftan verhüllte seinen Bauch und ließ ihn imposant erscheinen, wo er nur dickleibig war. Seine Augen waren von einem kahlen Grün unter gekräuselten grauen Augenbrauen; gekräuselt war auch das graue Haar, das unter dem Hut hervor bis in seinen Nacken fiel und über den Ohren in zwei widerspenstigen Büscheln abstand. Er hatte die Hände auf dem Rücken zusammengeschlagen und blickte Philipp und Aude unbewegt entgegen. Ein Knabe stand hinter ihm, barhäuptig, ein Buch in beiden Armen. Er schien gleichzeitig über das Buch und über die wenigen Gegenstände zu wachen, die von einer Stange im Rücken des Geldverleihers baumelten und offensichtlich Faustpfänder waren, deren Zeit abgelaufen war und die zum Verkauf standen. Philipp entdeckte eine Anzahl von Krügen, zwei oder drei mit Nieten geschmückte Gürtel und zu seinem Erstaunen auch ein Schwert samt Gehänge in einer abgetragenen Scheide. Der Junge faßte das Buch fester, als Philipp von seinem Pferd stieg und vor den Tisch trat: Es schien größere Schätze zu beherbergen, als die kümmerliche Ansammlung von Pfandstücken darstellte.
»Yohai ben David?« fragte Philipp den älteren Mann. Aus der Nähe wirkte er jünger; es war der Bart, der sein Gesicht alt gemacht hatte. Er mochte das Alter von Philipps Herrn besitzen. Der Mann nickte. Philipp fragte sich, ob sein Herr damals bei diesem Mann Geld geliehen hatte und wie er sich dabei gefühlt haben mochte, von einem Gleichaltrigen ein Darlehen aufzunehmen.
»Der Parnes hat mir Euren Namen genannt. Ich benötige eine Auskunft.«
Die Augenbrauen ben Davids zuckten in die Höhe. Er neigte den Kopf zur Seite.
»Die Christen kommen gewöhnlich zu mir, weil sie Geld benötigen«, sagte er trocken. Seine Stimme war voll und rauh; sie paßte zu seiner Statur.
»Wenn es einmal soweit ist, werde ich mich Eurer erinnern«, versprach Philipp. »Einstweilen reicht es mir, wenn Ihr mir sagt, ob ein bestimmter Mann Geld bei Euch geliehen hat und welche Unterlagen er als Pfand hinterlegte.«
»Woher wißt Ihr, daß er sich an mich wandte?«
»Ich weiß es nicht. Ihr seid eine Möglichkeit von dreien.« »Dann solltet Ihr die anderen beiden Möglichkeiten vorziehen.«
»Weshalb?«
»Weil es nicht meine Gewohnheit ist, Auskünfte über meine Kunden zu erteilen.«
Philipp starrte ihn einen Augenblick ungläubig an.
»Ihr könntet ihm damit helfen«, brachte er hervor.
»Ich pflege nur mit Darlehen zu helfen.«
»Dann könnt Ihr heute die Gelegenheit ergreifen, Euer Repertoire zu erweitern«, sagte Philipp mit erwachendem Ärger.
»Darauf lege ich keinen Wert.«
Philipp wandte sich unwillkürlich zu Aude um, die auf ihrem Pferd sitzen geblieben war, aber sie zuckte nur mit den Schultern. Er faßte den Geldverleiher genauer ins Auge, aber an seiner Miene hatte sich nichts geändert. Unter seinen autoritären Augenbrauen hervor blickte er Philipp regungslos an.
»Vielleicht werde ich Euch doch nicht in Betracht ziehen, sollte ich mir jemals ein Darlehen nehmen müssen«, sagte Philipp.
»Das steht Euch frei.«
»Wenn es darum geht, daß Ihr fürchtet, Geheimnisse zu verraten«, versuchte Philipp sein Glück noch einmal, »könnt Ihr beruhigt sein. Ich ordne eine Familienangelegenheit für diesen Mann, und ich bin in seine Verhältnisse vollkommen eingeweiht.«
Der Geldverleiher zuckte mit den Schultern, ohne sich dazu zu äußern.
»Ihr könntet mir zumindest sagen, ob er damals bei Euch vorgesprochen hat; wenn er es tat, erspare ich mir wenigstens den Weg zu den anderen beiden Adressen.«
»Wie lautet der Name?« »Radolf Vacillarius.«
Yohai ben David sah Philipp einen Augenblick schweigend an. Sein Blick verlor sich ins Leere. Philipp hatte den Eindruck, daß sich vor den Augen des Geldverleihers Listen entrollten, die nur er sehen konnte. Der Junge runzelte die Stirn und trat einen Schritt nach vorn. Er hielt das Buch in Reichweite seines Vaters.
»Diesen Namen kenne ich nicht«, sagte ben David und schenkte dem Jungen einen Blick, der diesen erstarren ließ. Er zog das Buch wieder zu sich heran und versuchte, mit der Hausmauer in seinem Rücken zu verschmelzen.
»Seid Ihr sicher?« fragte Philipp unwillkürlich. Der Geldverleiher richtete seinen vernichtenden Blick auf Philipp.
»Absolut«, sagte er zwischen den Zähnen.
»Der Mann zog als Pilgerfahrer ins Heilige Land.«
Yohai ben David zeigte daraufhin zum erstenmal eine Art Mienenspiel. Er verzog die Lippen und senkte die Brauen über seine Augen herab.
»Dann kann er ohnehin nicht zu meinen Kunden gehört haben. Geht nun und hört auf, meine Zeit zu verschwenden.«
»Weshalb kann er nicht bei Euch gewesen sein?« fragte Philipp hartnäckig.
»Weil ich niemals Geld an Christen verliehen habe, die sich mit dem Schwert in der Hand nach Jerusalem aufmachten.«
Philipp sah betroffen zu Boden und verwünschte den Gemeindevorsteher im stillen. Aber es war sein Fehler; er hatte nach Geldverleihern gefragt, die vor dem letzten Kreuzzug tätig gewesen waren, nicht, wer zu ihren Kunden gezählt hatte.
»Ich lege mein Geld nicht bei Leuten an, die es nur verwenden, um damit zu brandschatzen und zu plündern – und dabei aller Wahrscheinlichkeit nach auch noch ums Leben kommen. Das wäre schlechter Geschäftssinn«, erklärte Yohai ben David mit erstaunlicher Redseligkeit. Er verzog den Mund.
»Unter welchen Umständen verleiht Ihr dann Euer Geld?« »Hauptsächlich für Hochzeiten. Wenn zwei Menschen heiraten, tun sie das, um sich gemeinsam ein Vermögen zu schaffen. So ist mein Geld günstig angelegt: wenn es sich bei meinen Kunden vermehrt.« Seine finstere Miene schien sich für einen Augenblick aufzuhellen, als er sich im Glanz seiner eigenen Klugheit sonnte. Dann sanken seine Augenbrauen wieder herab.
»Nun wünsche ich Euch noch einen guten Tag«, sagte er und trat demonstrativ von seinem Tisch zurück. Er blickte in die Ferne und machte keine Anstalten mehr, seine Augen auf Philipp zu richten.
»Das war vielleicht ein unfreundlicher Kerl«, knurrte Philipp, als er und Aude außer Hörweite ben Davids waren.
»Er hatte auch nur Angst, wie alle anderen.«
»Wenn sich die Angst bei diesen Leuten immer so äußert, wünschte ich, etwas zu ihrer Aufheiterung tun zu können.«
»Wahrhaft christlich gedacht.«
»Hat Euch schon einmal jemand gesagt, daß Eure Zunge so spitz ist wie der Giftzahn einer Schlange?« fragte Philipp, weil er sich noch immer über den Geldverleiher ärgerte.
»Mehrfach«, erklärte Aude vergnügt. Philipp seufzte und wußte zum wiederholten Mal nicht, was er ihr antworten sollte.
Der Name des zweiten Geldverleihers lautete Jehuda Meir. Anders als Yohai ben David betrieb er sein Geschäft nicht auf der Straße, sondern vom Inneren seines Hauses aus. Neben einer verschlossenen Tür war ein Mauerdurchbruch geschaffen worden, in dem eine halbhohe, schwere Truhe mit flachem Deckel stand und das Loch in seiner ganzen Breite ausfüllte. Jehuda Meir stand dahinter, in einem Zimmer, das den Eindruck machte, jeder Passant habe durch die Maueröffnung etwas hineingeworfen, das er nicht mehr brauchte. Bei genauerem Hinsehen ergab sich so etwas wie ein Muster in der Unordnung, und wenn es auch nur darin bestand, daß zwischen den Gebrauchsgegenständen, Schriftrollen und Stoffbahnen kleine Wege zu sehen waren, die dem Geldverleiher die Bewegung in seinem chaotischen Reich ermöglichten. Philipp raunte Aude ins Ohr: »Wenn Radolf bei diesem Kerl gewesen ist, dann können wir gleich aufgeben; er kann froh sein, wenn er am Abend noch den Weg in seine Schlafkammer findet.« Er verzog das Gesicht und näherte sich dem Geldverleiher mit der Skepsis, die die Begegnung mit Yohai ben David in ihm geweckt hatte. Jehuda Meir nickte ihm erwartungsvoll zu. Mit beginnender Erleichterung erkannte Philipp, daß dieser Mann nicht von der Atmosphäre der Düsterkeit umfangen war, die seine bisherigen Begegnungen geprägt hatte.
»Ich möchte Euch um eine Auskunft bitten«, begann Philipp sein Verslein von neuem.
Jehuda Meir, der sich äußerlich nicht sehr von seinem Vorgänger unterschied, wenngleich er tatsächlich so alt zu sein schien, wie sein Bart ihn machte, war Philipps Ansinnen gegenüber nichtsdestotrotz aufgeschlossener. Er verlangte von Philipp einige Daten über Radolf Vacillarius, um sich davon zu überzeugen, daß Philipp die Lebensumstände des Burgherrn kannte, und krächzte dann: »Wenn das, was Ihr mir geschildert habt, mit dem übereinstimmt, was sich in meinen Unterlagen befindet, betrachte ich Euch als legitimiert. Dann könnt Ihr Einblick in alles erhalten, was mir vorliegt.«
»So sagt Euch der Name etwas?« rief Philipp hoffnungsvoll.
»Durchaus nicht. Ich wollte nur klarlegen, wie sich die Dinge verhalten.«
»Gut«, sagte Philipp. »Wie war der Name noch mal?«
»Radolf Vacillarius.«
»Ah ja.« Der Geldverleiher brummte etwas und blieb hinter seiner Truhe stehen. Nachdem einige Augenblicke vergangen waren, ohne daß er sich geregt hätte, fragte Philipp: »Was ist los?«
»Ich denke nach«, erklärte Jehuda Meir.
»Ob Ihr den Namen nicht doch kennt?«
»Nein; wohin ich die Dokumente gelegt haben könnte.«
»Du liebe Güte«, murmelte Philipp leise. Er sah zu Aude hinüber, die außerhalb Meirs Blickwinkel stand und sich vor Lachen schüttelte.
Der Geldverleiher kraulte sich den Bart und krauste die Stirn. Schließlich leuchteten seine Augen auf. Er hob den Finger und lächelte Philipp an.
»Ah ja!« rief er. Er schlurfte mit schnellen Schritten zu einem der Haufen und nahm einen Stoß Dokumente, die zwischen zwei hölzernen Deckeln zusammengebunden waren, von seinem Gipfel. Zufrieden lächelnd brachte er ihn zu der Truhe und fädelte die Schnüre auf. Philipp betrachtete ihn erwartungsvoll. Er warf Aude einen zweiten Blick zu, und diese verzog anerkennend den Mund. Jehuda Meir legte den oberen Deckel beiseite und überflog die spärlichen Zeilen auf dem ersten Dokument. Er nickte bedeutungsschwer.
»Ist das eine von Radolfs Abschriften?« fragte Philipp fassungslos. Meir blickte auf.
»Was?« sagte er. »Aber nein. Das gehört zu den Dokumenten über die bar mizwah meines Neffen Jochanan. Plötzlich ist mir wieder eingefallen, wo ich es hingetan habe.« Er brummte zufrieden, nahm das Pergament und band den Stapel wieder zusammen. Erschüttert beobachtete Philipp, wie er den gebundenen Stoß auf einen ganz anderen Haufen zurücklegte. Als er wieder zur Truhe zurückkam, schenkte er Philipp erneut sein freundliches Lächeln.
»Radolf Vacillarius«, erklärte Philipp hilfreich.
»Natürlich, natürlich«, brummte Meir. »Habt Ihr vielleicht gedacht, ich hätte den Namen vergessen?« Er blickte nachdenklich auf den Deckel der Truhe nieder. Das Dokument über die Aufnahme seines Neffen in die Erwachsenengemeinschaft geriet in sein Blickfeld, und er musterte es mit ungnädigem Erstaunen.
Dann packte er es und legte es auf einen Stoß unterschiedlich großer Dokumente zu seiner Rechten, die nicht gebunden waren. Das Dokument rutschte hinter den Stapel und flatterte in einen dunklen Winkel, ohne daß Meir es bemerkt hätte.
»Also«, sagte er. »Radolf ... ?«
Philipp schloß die Augen. »Vacillarius.« Er hörte die erstickten Geräusche, mit denen Aude ihr Gelächter zu dämpfen versuchte, und sagte im stillen ein paar lateinische Formeln auf.
»Ich hab’s«, erklärte Meir. »Radolf Vacillarius. Selbstverständlich.«
Er eilte zu einem der am weitesten entfernten Stapel und kramte dort herum. Undeutlich konnte Philipp sehen, wie er Stöße von Pergamenten und lederne Rollen riskant aufeinandertürmte, bis ein wackliger Turm von mehr als einer Elle Höhe entstanden war. Mit einem dünnen, staubigen und an den Kanten eingerissenen Stoß Dokumente kam Meir wieder zum Vorschein. Er schwenkte sie triumphierend und legte sie vor Philipp ab.
»Da!« sagte er.
Philipp schnürte den Packen auf. Er sah Meir mißtrauisch an, aber dieser blickte voller Erwartung auf das Bündel nieder. Plötzliche Erregung begann Philipp zu erfüllen. Er zerrte hastiger an den Knoten. Selbst Aude trat heran und schaute ihm über die Schultern. Endlich gab der Knoten nach; Philipp legte den Deckel beiseite und musterte das zuoberst liegende Schriftstück.
»Das ist ja alles völlig unleserlich«, rief er enttäuscht.
»Arabische Schriftzeichen«, kommentierte Aude.
Meir blickte ihn erwartungsvoll an. »Nicht das, was Ihr gesucht habt?«
»Nein, zum Henker!« rief Philipp.
»Warum habt Ihr mir das überhaupt gezeigt?«
»Ich hoffte, es wäre das, wonach Ihr sucht.«
»Wißt Ihr denn selber nicht, was das ist?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand der Geldverleiher.
Philipp hörte, wie Aude schnell ein paar Schritte beiseite trat und erstickt zu prusten begann. Er ließ den dünnen Deckel des Stoßes auf die Truhe fallen.
Im Hintergrund der Stube ertönte ein scharrendes Geräusch. Meir drehte sich um und sah gerade noch, wie sein Turm in sich zusammenstürzte. Er schlug die Hände zusammen.
»Oje!« rief er und eilte an die Stätte des Unglücks. »Oje!« Er raffte die überall herumliegenden Bündel und Rollen zusammen und verteilte sie auf den nächstliegenden Stapeln. »Das finde ich nie wieder zusammen«, jammerte er. Als er sich endlich wieder umdrehte, waren seine beiden Kunden verschwunden. Er schüttelte verwundert den Kopf und trat wieder an seine Truhe heran. Daß ihre Oberfläche leer war, schien ihn zu verwundern. Er kratzte sich am Kopf und kniff die Augen zusammen. Wo war das Dokument über Jochanans bar mizwah?
Die Stube von Benjamin ben Petachya lag abseits, am düsteren Ende eines Seitengäßchens, das sich gegenüber von Sankt Laurenz befand. Die Hausmauern, die das Gäßchen einrahmten, waren schmucklos, grob und nur da und dort durch Fenster oder Türen aufgelockert, so daß man an der Mauer einer abweisenden Festung entlangzulaufen glaubte. Der Boden bestand aus festgestampftem Erdreich, das stets feucht und weich war, weil die Sonne es niemals lange genug erreichte, um es auszutrocknen. In den Schatten schwammen Pfützen wie stumpf glänzende Augen, die einen unsichtbaren Himmel widerspiegelten. Philipp spähte den Lauf des Gäßchens hinauf. Es waren keinerlei Tische oder Stände darin zu sehen und auch keine Menschenseele.
»Hat der Gemeindevorsteher Euch diese Adresse mitgeteilt?« fragte Aude zweifelnd.
»Leider.«
»Ich dachte, wenn man ein Geschäft hat, will man auch von den Kunden gesehen werden.«
»Kommt darauf an, ob die Kunden beim Geschäftemachen gern gesehen werden.« Sie folgten der Mauer bis zu einer niedrigen Tür, die erstaunlich massiv im verfallenden Putz wirkte. Philipp stieg ab und faßte die Klinke, um einzutreten, bedachte sich eines Besseren und klopfte lautstark gegen die Tür. Nach wenigen Augenblicken öffnete ein mittelgroßer, schlanker Mann, der seinen Judenhut nur in der Hand hielt und Philipp musterte. Das Ergebnis der Musterung schien zu sein, daß er Philipp und seine Begleiterin, für die er kaum einen Blick übrig hatte, als nicht besonders wichtig einstufte. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seinen Hut aufzusetzen.
»Bitte?« fragte er mit mäßigem Interesse.
Philipp brachte eine an die Erfordernisse mittlerweile angepaßte Version seines Spruchs zum besten: daß er Unterlagen über Kredite an einen Teilnehmer des letzten Pilgerzugs suche, dem er bei der Ordnung seiner Familienangelegenheiten helfe und dessen volles Vertrauen er genieße. »Ein Pilgerfahrer ins Heilige Land?« Der Geldverleiher schüttelte den Kopf. »Ich habe so gut wie nie an diese Leute Geld verliehen. Die Rechtslage bei der Rückforderung war mir zu unsicher.«
Philipp ließ die Schultern sinken. »Das habe ich heute schon einmal gehört.«
»Jeder Mann, der seine Sinne beieinander hat, überlegt es sich zweimal, ob er ein solches Geschäft eingeht.«
»Ihr wart meine letzte Hoffnung«, seufzte Philipp.
»Was ist mit meinen Zunftgenossen? Habt Ihr die schon befragt?«
»Ich war bei allen, die bereits vor der letzten Pilgerfahrt einen Geldverleih besaßen; das heißt bei allen, die sich noch in der Stadt befinden. Mit Euch sind es drei, die noch ihre Tätigkeit aufrechterhalten. Ich hoffte wider alle Vernunft, bei einem von Euch die benötigten Unterlagen zu finden.«
»Da stand die Wahrscheinlichkeit gegen Euch.«
»Ihr habt recht.« Philipp seufzte. »Könntet Ihr mir wenigstens die Unterlagen über die wenigen Pilgerfahrer zeigen, denen Ihr Geld geliehen habt?«
»Es waren nur zwei, wenn ich mich recht erinnere. Ich glaube nicht, daß ich Euch die Dokumente von Leuten zeigen will, die Euch nichts angehen. Sagt mir den Namen des Mannes, dem Ihr helfen wollt. Ich kann mich entsinnen, wer damals bei mir war.«
Philipp sagte Radolfs Namen. Benjamin ben Petachya schüttelte sofort den Kopf. »Wie ich Euch sagte.«
»Wieso wart Ihr Eurer Sache so sicher?« fragte Philipp und versuchte, die Gereiztheit in seinen Worten zu unterdrücken. Daß es ihm nicht gelang, sah er daran, wie die Augen des Geldverleihers kühl wurden.
»Weil die beiden Männer, denen ich damals Geld lieh, aufrechte Edelmänner waren, die heute bestimmt keine Hilfe dabei brauchten, ihre Dokumente zusammenzufinden. Beide haben mir mein Geld mit den korrekten Zinsen zurückbezahlt, sobald sie wieder zu Hause waren.«
Philipp starrte ihn an. Zögernd nannte er den Namen seines Herrn. Die Augen des Geldverleihers leuchteten auf. »Raimund von Siebeneich. Das war einer davon!« rief er. »Woher kennt Ihr seinen Namen?«
»Er ist mein Herr.«
Ben Petachya schnaubte überrascht. »Er ist aber nicht der Mann, für den Ihr auf der Suche nach den Dokumenten seid.«
»Nein«, sagte Philipp und erklärte die Zusammenhänge aufs neue. Als er am Ende angekommen war, schüttelte der Geldverleiher den Kopf.
»Entschuldigt, daß ich so wenig hilfsbereit war«, erklärte er. »Ich kannte Euch nicht. Aber der Name Eures Herrn hat bei mir einen guten Klang.«
»Ihr wart entgegenkommender als all Eure Genossen«, versicherte Philipp und spürte den vertrauten Stich, daß er selbst keinen Namen besaß, der ihm Legitimation war. Es war bei derartigen Gelegenheiten, daß ihm seine Herkunft deutlich bewußt wurde: ein Findelkind, ein ungewolltes Balg, dem seine Eltern nicht einmal einen Namen geben wollten. »Ich werde Euch beim Kaiser empfehlen, wenn ich ihn das nächste Mal sehe«, sagte er gezwungen lächelnd.
Er wandte sich zum Gehen, und auch Aude drehte sich um und faßte ihrem Pferd in die Mähne. »Wartet!« rief der Geldverleiher. Philipp blieb stehen. »Vielleicht kann ich Euch doch helfen.« »Wie?«
Benjamin ben Petachya blickte sich um, als wollte er sichergehen, daß niemand ihn belauschte. »Vielleicht kann ich in den Schriften der anderen Zunftgenossen nachsehen.« Philipp trat einen schnellen Schritt auf den Geldverleiher zu. Fast hätte er ihn an den Armen gepackt. »Was sagt Ihr da?« stieß er hervor.
»Wir Aschkenasim sind ein Volk, das seine Schriften liebt«, erläuterte der Geldverleiher mit einem traurigen Blick. »Aus unserer Heimat vertrieben und über die gesamte Welt verstreut, haben wir nur unsere Bücher, um unsere Traditionen zu bewahren. Wir wissen um die Macht, die Vergangenheit zu bewahren, welche die Dokumente besitzen, und deshalb bewundern wir sie. Ihr Christen wißt es auch, aber Ihr fürchtet Euch davor, weil die Schriften Dinge von gestern aufzeigen könnten, die Euren Führern heute nicht mehr genehm sind, und deshalb hegt Ihr keine Liebe für die Schriften. Eure eigenen Dokumente schließt ihr weg und versiegelt sie, als hättet Ihr Angst, der Inhalt könnte herauskommen und Euch bei Euren vielen Erfindungen ertappen, die Ihr ersinnt, nur um Euch nicht mehr danach richten zu müssen, was Ihr niedergeschrieben habt – oder legt sie wie Reliquien auf den Altar und betet sie von der Ferne an, ohne daß Ihr versteht, was darin geschrieben steht. Die Schriften der anderen Völker werden hingegen zerstört, um ihnen ihre eigene Vergangenheit zu nehmen.« Er sah Philipps betretene Miene und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
»Ich wollte Euch nicht angreifen«, erklärte er. »Wartet einen Augenblick auf mich; ich werde nachsehen, ob ich etwas über Euren Mann finde.«
»Habt Ihr die ganzen Dokumente des Judenviertels gesammelt?« fragte Philipp unwillkürlich.
Benjamin sah ihn einen Moment lang starr an, ohne etwas zu antworten.
»Wir Juden haben Respekt vor dem Geschriebenen«, sagte er dann. »Respekt vor dem Herrn, der aus uns das Volk des Buches gemacht hat. Auch Ihr seid ein Volk des Buches, aber Ihr seid dabei, Eure Vergangenheit zu vergessen. Wir tun dies nicht; und weil unsere Vergangenheit auch die Eure ist, weil wir, ob wir es wollten oder nicht, unsere Wege gemeinsam zurückgelegt haben, können wir Euch vielleicht Eure eigene Vergangenheit zurückgeben, und dann kann der Haß aufhören, der Euch immer wieder gegen uns wendet.«
Der Geldverleiher machte eine resignierte Geste. »Wir haben viel gemeinsam, und doch behandelt Ihr uns wie eine Krankheit. Wir dürfen nicht die Dienste Eurer Hebammen und Ammen in Anspruch nehmen, und Ihr dürft nicht zu unseren Ärzten gehen, selbst wenn wir die einzigen sind, die helfen könnten. Wenn ein Christ eine Jüdin heiratet und zu unserem Glauben übertritt, wird er am Pfahl verbrannt. Wenn Euer Papst ins Horn gegen die Muselmanen stößt, fallt Ihr zuerst über die jüdische Bevölkerung in Euren eigenen Städten her. Und in den letzten Jahren häufen sich die Schandtaten, wohin man blickt. In Baden hat man erst vor kurzem ein Massaker unter der jüdischen Bevölkerung verübt unter dem Vorwand, sie hätten einen Mord begangen. In Belitz hat man vor zwei Jahren sämtliche jüdischen Bewohner bei lebendigem Leibe verbrannt, weil sie angeblich Eure Hostie geschändet hätten. Im Süden des Frankenreichs wurden die Juden in den Städten zusammengetrieben und alle, die sich nicht taufen lassen wollten, mit den Pferden zusammengeritten und zertrampelt.«
»Der Papst hat diese Gemetzel verurteilt«, verteidigte sich Philipp.
»Er kann die Toten nicht wieder lebendig machen. Aber ich will Euch recht geben, es finden sich immer wieder welche unter Euch, die den Idealen gemäß handeln, auf welche Ihr Euren Glauben gründet, und den Verfolgten helfen. Die Schikanen jedoch zeigen sich nicht nur im Großen; auch im Kleinen nehmt Ihr uns die Luft zum Atmen, wo immer Ihr könnt. Wir werden enteignet, wenn wir zuviel besitzen, vertrieben, wenn wir nichts mehr besitzen, und straflos umgebracht, wenn wir auf der Flucht sind. Und seit einigen Jahren verbrennt Ihr auch unsere Bücher. Früher habt ihr uns wenigstens noch unsere Schriften gelassen.« Ben Petachya erhob seine Stimme. »Wir sind ein Volk ohne Heimat, und unsere Bücher und Dokumente sind alles, was wir haben, um unsere Identität zu bewahren und unsere Erinnerungen lebendig zu halten. Ihr stützt Euren Glauben selbst auf ein Buch und haltet nicht ein, unser Schrifttum zu zerstören.«
Der Geldverleiher schwieg und starrte Philipp an, als würde er von ihm eine Antwort erwarten. Philipp versuchte, seinem Blick nicht auszuweichen. Endlich drehte sich Benjamin ben Petachya um und murmelte: »Wartet hier.« Er schloß die Tür und schob hörbar einen Riegel vor.
»Warum komme ich mir jetzt vor wie der Prügelknabe der Christenheit?« brummte Philipp.
»Er hat Vertrauen zu Euch gefaßt, aber trotzdem läßt er Euch vor der Tür stehen wie einen Hausierer«, sagte Aude nach einer Weile trocken. Philipp wandte sich ab und trat gegen den unebenen Boden.
»Er hat kein Vertrauen gefaßt«, sagte er ungehalten. »Er hält mich nur für weniger verbrecherisch als den Rest der Christenheit, weil er meinen Herrn als ehrlich kennengelernt hat. Zu einer Einladung, seine Sammlung an Schrifttum zu begutachten, reicht das noch lange nicht.« Er kniff die Augen zusammen und musterte die bröckelnde Fassade, die sich ihm sanft entgegenneigte. »Wahrscheinlich ist es sowieso gesünder, draußen zu bleiben.«
»Es hat mir gefallen, als er das mit unserer Vergangenheit erwähnte, die sein Volk uns wiedergeben könne. Es war poetisch.«
»Es war hirnrissig, sonst nichts. Glaubt Ihr vielleicht, die armen Schweine haben eine Chance, wenn sich ein Fürst in den Kopf setzt, sie auszuräuchern? Jedermann wird sich sofort über die Papiere der Juden hermachen. Es könnte ja was über ihn selbst und seine Geldgeschäfte mit ihnen drinstehen.«
»Ihr seid garstig, wenn Ihr so redet.«
»Die Welt ist garstig, nicht ich.«
»Du lieber Himmel«, rief Aude. »Was ist Euch denn plötzlich über die Leber gelaufen?«
»Nichts«, sagte er. »Hoffe ich wenigstens. Ich hätte es gar nicht gerne, wenn etwas da drin umherlaufen würde. Am Ende fällt es noch in meine Galle und ersäuft darin.« Er grinste unfreundlich.
Aude verzog das Gesicht, ohne zu lachen. Sie warf ihm einen nachdenklichen Blick zu, bevor sie sich abwandte. Philipp schwieg verdrießlich. Das Schweigen breitete sich aus, bis es wie ein zäher Lufthauch zwischen ihnen hing. Aude flocht an ein paar Strähnen in der Mähne ihres Pferdes, und Philipp marschierte mit kleinen Schritten vor der geschlossenen Tür des Geldverleihers auf und ab.
»Vermutlich hat er die Unterlagen so gut versteckt, daß er sie selbst nicht mehr findet«, knurrte er schließlich.
»Ich hoffe nur, Ihr stoßt hier auf die Informationen, die Ihr sucht«, erwiderte Aude. »Ich habe auch noch etwas in der Stadt zu erledigen.«
»Sobald er mir die Abschriften von Radolfs Unterlagen bringt, stehe ich Euch zur Verfügung«, sagte Philipp.
Aude nickte.
Schließlich scharrte der Riegel hinter der Tür wieder, und Benjamin ben Petachya bückte sich unter dem Türsturz hindurch. Er hielt eine Rolle in der Hand. Die Rolle war mit einem Lederriemen zusammengebunden und an einem Ende mit bräunlichem Staub bedeckt, als sei sie in einem Tongefäß untergebracht gewesen. Er sah dem Geldverleiher ins Gesicht, und dieser schüttelte den Kopf.
»Euer Mann ist nicht dabei«, sagte er.
Philipp stieß den Atem aus. »Das gibt es nicht«, sagte er ungläubig.
»Seht her.« Ben Petachya knüpfte das Band auf und entrollte das Pergament. Es war umfangreich und eng beschrieben. Zu Philipps Erstaunen waren die Schriftzeichen leserlich; er hatte bereits die eleganten, aber unleserlichen Buchstaben der hebräischen Schrift erwartet. »Hier sind alle Namen aller Männer zusammengefaßt, die seit dem Aufruf zur letzten Pilgerfahrt bis zum Friedensschluß des Kaisers mit dem Sultan hier in der Stadt Geld geliehen haben. Wer auf die Fahrt ging, hat hinter seinem Namen ein kleines Schwert – wie dieser Name hier.«
»Ich hielt es für ein Kreuz«, sagte Philipp unwillkürlich.
»Wenn man es nicht genau zeichnet, wird aus dem Kreuz ein Schwert«, erklärte ben Petachya und blickte Philipp scharf an. »Erkennt Ihr die Ironie, die Euren Glauben begleitet?«
»Ich erkenne, daß es nicht allzu viele Pilgerfahrer waren, die bei Euch Geld geliehen haben.«
»Das ist richtig. Es sind auch nicht besonders viele Herren aus der Umgebung dem Aufruf gefolgt. Seht Ihr? Hier ist der Name Eures Herrn.«
Philipp nickte und folgte den Namenskolonnen mit den Augen. Wer immer die Liste geschrieben hatte, hatte über eine klare, gleichmäßige Handschrift verfügt. Es war einfach, die Namen zu überfliegen.
»Seid Ihr sicher, daß diese Liste lückenlos ist?«
»Ja.«
»Haltet Ihr es für möglich, daß Radolf sich in einer anderen Stadt Geld geliehen hat?«
»Die nächste größere Judengemeinde ist in Aachen. Ein weiter Weg, besonders wenn er unnötig ist. Er hätte auch hier ein Darlehen erhalten.«
»Vielleicht nicht. Zumindest einer von Euren Genossen hätte an einen Pilgerfahrer niemals Geld verliehen, wie er mir selbst sagte. Möglicherweise fiel es Radolf schwer, einen Kredit zu bekommen.«
Benjamin ben Petachya lächelte Philipp mitleidig an.
»Er brauchte nur einen anderen Grund anzugeben, das war alles.«
Philipp sah ihm überrascht ins Gesicht. »Wenn er das getan hätte, wäre ihm der Zinserlaß des Papstes nicht zugute gekommen. Das wäre eine dumme Idee gewesen.«
»Erstens«, sagte der Geldverleiher, »kann er zu den ehrlichen Christen gehört haben, die auf jeden Fall vorhatten, ihre Zinsen zu bezahlen. Zweitens hätte er im Fall einer Zahlungsunfähigkeit nur vor einem Eurer Gerichte anzugeben brauchen, daß er zur Erlangung des Kredits falsche Angaben machen mußte, um von den betrügerischen Juden ein paar Münzen zu bekommen, und man hätte ihm den Zinserlaß noch nachträglich anerkannt.« Er bleckte die Zähne. »Nicht, daß ich so etwas nicht schon erlebt hätte.«
Philipp griff mit neu erwachter Hoffnung nach dem Pergament.
»Hier stehen alle Darlehensaufnahmen verzeichnet, egal aus welchem Grund?« fragte er nochmals.
»Von allen Zunftgenossen, die nicht mehr in der Stadt tätig sind. Ihr braucht Euch nicht die Mühe zu machen, ein zweites Mal darüber zu lesen. Der Name von Radolf Vacillarius steht nirgends auf der Liste.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Philipp fassungslos.
»Weiter kann ich Euch nicht helfen. Ich würde nun gerne wieder an meine Geschäfte zurückkehren.«
»Ich danke Euch für Eure Hilfe«, murmelte Philipp.
»Was wollt Ihr jetzt tun?« fragte Aude, als sie die enge Gasse verließen, in der das Geräusch von Benjamin ben Petachyas zuschlagender Tür noch widerzuhallen schien.
»Wir besuchen Yohai ben David ein zweites Mal.«
Aude sah ihn erstaunt an. »Er hat Euch doch gesagt, daß er den Namen nicht kennt.«
»Ich habe ihn das Falsche gefragt«, murmelte Philipp. »Radolf ist bei keinem der Geldverleiher bekannt als jemand, der sich für die Teilnahme am Pilgerzug ein Darlehen aufgenommen hätte. Was bedeutet das?«
»Daß er kein Geld geliehen hat; oder daß die Unterlagen der Geldverleiher beklagenswert unvollständig sind.«
»Nein. Habt Ihr nicht gehört, was der Geldverleiher über die verschiedenen Möglichkeiten gesagt hat, ein Darlehen aufzunehmen? Es bedeutet ganz einfach, daß er einen falschen Grund für die Kreditaufnahme angegeben hat! Soweit ich weiß, hat Radolf nicht allzulange vor dem Beginn der Vorbereitungen zur Pilgerfahrt geheiratet. Ich denke, er hat das Darlehen als Hochzeitsdarlehen aufgenommen. Ihr habt ja gehört, daß zwei von den drei Geldverleihern, die wir befragt haben, nicht daran interessiert waren, an Pilgerfahrer Geld zu leihen – sie hatten keine Lust, wieder ihre Zinsen zu verlieren, so wie die verschiedenen Male davor. Und genau das ist schließlich ja passiert. Vermutlich war Radolf schlau genug, dies in Betracht zu ziehen und den Grund seiner Kreditaufnahme einfach umzuwidmen. Natürlich«, Philipp hämmerte sich mit der Faust gegen die Stirn. »Darauf hätte ich schon viel eher kommen können.«
»Vielleicht hat er auch einfach nur genug Geld besessen und mußte keines aufnehmen?« schlug Aude vor, Philipp schüttelte den Kopf.
»Wenn Ihr sein Gut gesehen hättet, würdet ihr das nicht sagen. Er hat nicht einmal Torwächter, die auf seinen Besitz aufpassen.«
»Es kann doch sein, daß es ihm früher besser ging.«
»Besser als meinem Herrn, der nicht als armer Mann ins Heilige Land fuhr und dennoch ein Darlehen aufnehmen mußte? Wenn das der Fall wäre, hätte Radolf heute nicht so viele Schwierigkeiten. Nein, ich bin sicher, daß er noch nie zu den Wohlhabenden gezählt hat. Selbst der Kardinal hat das erwähnt, als er mir den Auftrag erteilte.«
»Aber der Geldverleiher konnte sich an den Namen nicht erinnern.«
»Weil die einzigen Dokumente, die er zur Sicherheit vorlegen konnte, die Mitgiftdokumente seiner Frau waren. Wenn sich der Verleiher einen Namen gemerkt hat, dann ihren.«
»Es sollte mich schon sehr wundern, wenn der Name einer Frau einem Mann so viel bedeutet, daß er ihn sich über Jahre hinweg einprägt.«
Philipp sah Aude überrascht an, aber ihre Miene war unleserlich.
»Ihr meint wegen der Einstellung der Juden zu Frauen?«
»Darin haben die Juden mit den Christen etwas gemeinsam.«
»Könnten wir das vielleicht zu einer anderen Zeit erörtern?« stöhnte Philipp.
»Na gut; dann gebe ich Euch etwas anderes zum Nachdenken. Woher nehmt Ihr die Sicherheit, daß Herr Vacillarius sich bei Yohai ben David Geld geliehen hat?«
»Weil die Kunden der anderen Geldverleiher, bei denen er das Darlehen noch hätte aufnehmen können, auf ben Petachyas Liste verzeichnet sind; und dort war Radolf nirgends zu finden.«
»Er könnte ja auch bei dem etwas verwirrten Mann gewesen sein, den wir als zweites aufsuchten.«
»Das könnte natürlich auch sein«, knurrte Philipp mißvergnügt. »In diesem Fall sind die Dokumente besser aufbewahrt als unter der Matratze des Papstes – und ungleich schwerer in die Hand zu bekommen.«
»Ich hoffe, Ihr kommt jetzt endlich zum Ziel. Ich muß Euch nicht ein zweites Mal daran erinnern, daß ich auch noch eine Verpflichtung habe.«
»Wenn wir bei Yohai ben David kein Glück haben, komme ich morgen wieder vorbei und versuche mein Glück bei Jehuda Meir allein«, versprach Philipp.
Sie verließen die Gasse, in der Benjamin ben Petachyas heruntergekommenes Haus lag, und wandten sich zum Gemeindezentrum neben der Synagoge. Die Menge der eilig in die gleiche Richtung hastenden Menschen überraschte Philipp. Er zügelte sein Pferd und blickte sich zu Aude um. Ein paar Männer liefen an ihnen vorbei, ihre spitzkegeligen Hüte in den Händen, und warfen ihnen sowohl zornige als auch ängstliche Blicke zu.
»Es stimmt etwas nicht«, sagte Aude. Sie wies mit dem Kopf auf eine Gruppe junger Männer, die sich in einiger Entfernung zu ihnen aufgestellt hatten und mit den Fingern auf sie zeigten. Philipp wandte sich ihnen zu und sah überrascht, wie zwei von ihnen die Fäuste gegen sie erhoben. Er hörte undeutlich einen aufgebrachten Ruf.
»Was haben sie auf einmal?« fragte Aude. Philipp verfluchte sich dafür, daß er sich von der Höflichkeit, in die das anfängliche Mißtrauen der Juden umgeschlagen war, hatte in Sicherheit wiegen lassen. Es gab Berichte von Christen, die allein in ein Judenviertel geraten und dort erschlagen worden waren. Es gab Zeugenaussagen, wonach die Juden für ihre Rituale Christenblut brauchten. Zumindest zwei der drei Geldverleiher waren freundlich gewesen, aber das konnte auch Täuschung gewesen sein.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er rauh. Er beobachtete die jungen Männer, die erregt miteinander debattierten und ihnen immer wieder finstere Blicke zuwarfen. Bis jetzt waren sie noch nicht näher gekommen. Die Menge der Vorüberhastenden wurde spärlicher. Sie verschwanden alle in der Portalsgasse, in die auch Aude und Philipp reiten mußten, wenn sie zum östlichen Ausgang des Judenviertels beim Rathausplatz wollten. Die Juden wußten dies; sie mochten sich hinter der Ecke zusammenrotten und darauf warten, daß die jungen Kerle ihnen die beiden Christen in die Arme trieben. Philipp biß die Zähne zusammen. Yohai ben Davids Stube lag in der Portalsgasse, aber es schien, als sei die Zeit für Auskünfte im Moment vorüber.
»Wir verschieben unseren Höflichkeitsbesuch besser auf einen anderen Termin«, sagte er. »Reiten wir los.«
Er trieb sein Pferd an, und Aude folgte ihm. Philipp betrachtete die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen und ihre verschlossene Miene und wußte, daß sie sich Sorgen machte; er wußte auch, daß sie nicht deswegen schreien oder vor Furcht zur Salzsäule erstarren würde. Wenn sie zum Tor hinaus würden flüchten müssen, würde sie wahrscheinlich entschlossener als er jeden in Grund und Boden reiten, der sie aufzuhalten versuchte. Ihr Anblick minderte seine eigene Unruhe beträchtlich.
Die Stimmen der jungen Männer in ihrem Rücken erhoben sich. Es gelang Philipp noch immer nicht, ihre Worte zu verstehen, aber es war ihm klar, daß sie ihnen gefolgt waren. Ihre Pferde schritten langsam weiter. Er fragte sich, ob er sich umdrehen sollte; er wußte nicht, ob sie den Abstand zwischen sich und ihnen nicht etwa verkleinert hatten.
»Sie folgen uns«, raunte Aude. »Inzwischen sind es doppelt so viele wie vorher.«
»Wahrscheinlich wollen sie uns nur zum Abendessen einladen«, erwiderte er.
»Und wir sollen dabei als Hauptgericht herhalten«, sagte Aude und sprach damit seine eigenen Gedanken aus. Er blickte ihr überrascht ins Gesicht und lächelte unwillkürlich. Sie lächelte dünn zurück.
Etwas flog an Philipp vorbei und prallte von der Mauer des nächststehenden Hauses ab. Ein weiterer Stein fiel seinem Pferd klappernd vor die Hufe. Es zuckte zurück und wieherte. Philipp riß erschrocken an den Zügeln; das Pferd fuhr herum und stellte sich einen Augenblick lang auf die Hinterhand. Philipp kämpfte um seinen Halt auf dem Pferderücken.
Die jungen Männer wichen gemeinsam zurück. Sie hatten sich ihnen bis auf wenige Dutzend Schritte genähert. Ein paar von ihnen wogen weitere Wurfgeschosse in den Händen.
Philipps Gaul sank zur Erde zurück und machte einen Satz auf die Männer zu, bevor Philipp die Zügel wieder anziehen konnte. Diejenigen, die noch Steine in den Händen gehalten hatten, schleuderten diese von sich und liefen davon; in Sekundenschnelle schlossen sich ihnen die restlichen an. Sie bogen in die nächste Gasse ein. Philipp hörte sie davonlaufen.
»Nichts wie weg von hier«, keuchte er und wandte sein Pferd wieder um. Aude nickte. Sie schnalzte mit den Zügeln, und ihr Pferd setzte sich mit einem schnellen Trab in Bewegung. Philipp überholte sie. Sie bogen in die Portalsgasse ein, ohne zu wissen, was sie erwartete. Philipp fürchtete einen entsetzten Augenblick lang, daß Seile quer über die Gasse hochschnellen und sie beide von ihren Pferden fegen würden; er verkrampfte sich und war bereit, sich jeden Moment tief über den Hals seines Reittiers zu beugen. Die Pferde rannten um die Ecke.
Eine Menschenansammlung befand sich am jenseitigen Ende der Portalsgasse und bewegte sich erregt durcheinander. Die gesamte Breite der Gasse wurde von ihnen versperrt. Sie blickten alle zu einem Hauseingang hin und gaben keinerlei Geräusch von sich. Niemand wandte sich zu ihnen um. Philipp bemerkte, daß Aude ihr Pferd gezügelt hatte, und brachte auch seines zum Stehen. Die Szene auf dem Marktplatz vor wenigen Tagen erstand in seiner Erinnerung. Er musterte die Menge halb erleichtert, halb bestürzt. In der plötzlichen Stille vernahm er das Krachen und Klirren, das aus der Richtung kam, in der sich die Menschentraube befand. Unwillkürlich ließ er die Zügel locker, und sein Pferd machte einen Schritt nach vorn. »Wartet«, sagte Aude atemlos. »Was geht da vorne vor sich?«
Die Menge weiter vorn teilte sich an einer Stelle und ließ drei Männer durch, die einheitlich gekleidet waren und Helme trugen. Augenblicke später erkannte Philipp die quergehaltenen Spieße. Die drei Männer bildeten ein Dreieck, in dessen Zentrum, gefangen durch die Spieße, Yohai ben David nach vorn stolperte. In der Düsternis des späten Nachmittagslichts, das in die Gasse fiel, leuchtete sein gelber Judenhut wie ein Ausruf der Panik. Seine Hände waren vor dem Leib zusammengelegt und gefesselt. Er versuchte sich zum Eingang seines Hauses umzudrehen, aus dem noch immer Geräusche der Verwüstung drangen. Einer der Männer stieß ihn vorwärts. »Eine Verhaftung«, stieß Philipp hervor. »Sie verhaften den Geldverleiher.«
Er trieb sein Pferd vorwärts, bis die Büttel aufsahen und ihm und Aude entgegenblickten. Ihre Griffe an den Spießen wechselten. Philipp hob vorsichtig eine Hand zum Zeichen, daß sie in friedlicher Absicht kamen. Die Bewaffneten tauschten Blicke untereinander aus.
Vor dem Eingang zu ben Davids Haus lag der bunte Tisch. Jemand hatte ihn umgeworfen; die Platte war geborsten, und eines der Beine stak schief in seiner Halterung. Ebenfalls auf dem Boden lagen die kläglichen Faustpfänder, die ben David ausgestellt hatte. Drei weitere Büttel waren damit beschäftigt, Bücher und Rollen, die ihnen aus dem offenen Eingang entgegengeworfen wurden, in einen Sack zu stecken. Ein zweiter Sack, bereits gefüllt und oben zugebunden, stand an der Hausmauer. Der Junge lehnte neben ihm, kalkweiß im Gesicht und sein Buch noch immer mit beiden Armen umklammernd. Die Menge sah den Bemühungen der Büttel mit finsterer Stummheit zu.
Ein behelmter Kopf streckte sich zur Türöffnung heraus und sagte: »Das ist alles.« Einer der drei Büttel vor dem Haus blickte auf. Er trug statt des Spießes ein kurzes Schwert an der Seite.
»Zerschlagt alle Tonkrüge, die ihr finden könnt. Manchmal verstecken sie darin ihre Pergamente.« »Rutger«, murmelte Philipp erstaunt, ohne daß ihn jemand gehört hätte.
Der Kopf zog sich zurück, und erneut war dumpfes Klirren und das Zerbrechen von Gegenständen zu hören. Das Jammern einer Frau ertönte dazwischen, auf die niemand zu achten schien. Zuletzt traten zwei Büttel aus der Tür. Einer davon bearbeitete fluchend sein Wams.
»Es war nichts in den Tonkrügen außer Öl«, sagte der andere der Männer. Er wies grinsend mit dem Daumen auf seinen Gesellen. »Und eingelegtem Fisch, der bestialisch stinkt.«
Der Anführer der Büttel nickte. »Gehen wir«, sagte er. Sein Blick fiel auf den Jungen, der ihn mit weit aufgerissenen Augen ansah. »Und vergeßt das Buch des Burschen nicht.« Einer der Büttel trat auf den Jungen zu und faßte das Buch. Der Junge ließ es scheinbar geschehen. Als der Büttel daran zu ziehen begann, löste er jedoch seinen Griff nicht. Ohne seinen entsetzten Blick von den Augen des Anführers zu wenden, umklammerte er den Band mit aller Kraft, die die Angst ihm zur Verfügung stellte.
Der Büttel fluchte. »Laß los!« schrie er laut.
Der Blick des Jungen irrte ab und suchte den von Yohai ben David.
Rutger wandte sich zu dem Geldverleiher um.
»Sag ihm, er soll das Buch loslassen«, knurrte er. Ben David reagierte nicht. Sein Gesicht war nicht weniger bleich als das des Jungen. Er blinzelte, ohne eine Antwort zu geben.
Rutger machte eine Handbewegung, und der Büttel, der nach dem Buch gegriffen hatte, trat zurück. Er hob seinen Spieß vom Boden auf und drehte ihn so, daß sein unteres Ende nach vorne sah. Er holte aus, um mit dem Eisenfuß zuzustoßen.
»Nein!« brüllte Philipp.
Die Büttel wirbelten herum; die Menge seufzte laut. Selbst Aude auf ihrem Pferd zuckte zusammen und starrte Philipp erschrocken an.
»Philipp«, rief der Anführer der Büttel. »Was mischst du dich ein? Was hast du hier zu suchen?« Er lachte plötzlich. »Hat dein Sängerfreund dir so viel gestohlen, daß du dir jetzt Geld leihen mußt?« Mit einer Handbewegung brachte er den Büttel dazu, seinen Spieß wieder zu senken. Philipp sprang vom Pferd. Rutger nahm den Helm ab; sein junges, verschmitztes Gesicht mit kurzgeschorenen blonden Haaren kam darunter zum Vorschein. Er lächelte Philipp mit freundlichem Spott an.
»Geschäfte für meinen Herrn«, sagte Philipp atemlos. »Was tust du hier, Rutger? Du bist doch für die Herbergen und die Badestuben in der Stadt zuständig.«
»Das ist richtig; in einer Herberge sah und hörte ein Zeuge, wie jener hier«, er deutete auf den Geldverleiher, »verbotenerweise eine heilige Monstranz erwarb. Er benachrichtigte den Wirt, dieser benachrichtigte die Verwaltung Seiner Exzellenz des Bischofs, und ich wurde in die Herberge und danach hierher gesandt, um mich um den Fall zu kümmern.« Er nickte Philipp zu und wandte sich wieder an seinen Untergebenen. »Was ist nun?« rief er ungeduldig. »Gibt er das Buch her oder nicht?«
»Das ist mein Buch«, sagte Philipp rasch.
Rutger sah ihn ungläubig an.
»Mein Buch. Besser gesagt, es gehört meinem Herrn. Er hat es vor kurzem erstanden und mich hierher geschickt, um seinen Wert bestimmen zu lassen. Ich hatte das Buch ben David zur Schätzung überlassen und wollte eben wiederkommen, um seine Antwort abzuholen.« Philipp lächelte den Anführer der Büttel an und spürte, wie sich in seinen Handflächen der Schweiß sammelte. »Ich denke, das Buch ist sehr wertvoll, deshalb will er es nicht hergeben. Mein Herr ist sicherlich sehr darauf bedacht, es unbeschädigt wiederzubekommen.«
»Da hast du aber Glück gehabt, mein Junge. Wir haben den Auftrag, sämtliches Schrifttum dieses Schurken mitzunehmen und auf weitere unehrliche Geschäfte zu überprüfen, bevor wir es verbrennen.« Rutger stieß Philipp mit kameradschaftlichem Spott vor den Bauch. »Ich will nicht daran schuld sein, daß dir noch mal etwas abhanden kommt, was deinem Herrn gehört.« Er deutete auf den Jungen. »Nun hol’s dir schon, damit ich endlich weitermachen kann.«
Philipp stakte auf tauben Beinen zu dem Jungen hinüber. Er hoffte, daß die kurze Unterhaltung mit Rutger durch die Angst gedrungen war, die in den verzerrten Zügen des Jungen zu lesen war.
»Gib mir das Buch, damit es nicht zu Schaden kommt«, sagte er eindringlich und faßte ebenso wie der Büttel danach. Der Junge ließ es sich widerstandslos abnehmen. Es war nicht zu erkennen, ob er Philipps Finte verstanden hatte oder ob seine Kraft einfach erlahmt war. Philipp trat einen Schritt zurück und sah, daß der Junge zu weinen begann. Er preßte die Kiefer aufeinander. Als er sich umdrehte, begegnete er dem Blick des Geldverleihers. Dessen Augen, zwei runde, stumpfe Kreise in seinem bleichen Gesicht, ruhten starr auf Philipp. Philipp nickte ihm unmerklich zu. Ben David nickte nach einem kurzen Zögern ebenso unmerklich zurück.
Mittlerweile war ein Büttel mit einem christlich gekleideten Mann auf Rutger zugetreten. Der Mann straffte sich.
»Zeigt mir den Juden, der die Monstranz gekauft hat«, sagte Rutger. Der Mann hob eine Hand und zeigte ohne zu zögern mit dem Finger auf Yohai ben David.
»Dies ist er.«
Ben David schüttelte heftig den Kopf. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die Bewegung wieder unter Kontrolle bringen konnte. Seine Brust hob sich unter einem angestrengten Atemzug. »Vielleicht würdet Ihr ihn endlich anfassen, damit alles seine Rechtmäßigkeit hat«, sagte Rutger beißend.
Der Zeuge schritt auf den Geldverleiher zu, beugte sich über einen der quergehaltenen Spieße und faßte ihn am Oberarm.
»Das ist der Mann, der die Monstranz erstanden hat«, sagte er hastig. Er blickte dem Geldverleiher nicht in die Augen; er zog seine Hand schnell fort und trat wieder zurück.
»Dieser Mensch lügt«, krächzte Yohai ben David.
Rutger nahm einen ledernen Beutel entgegen und nestelte ihn auf. Er nahm eine goldglänzende Monstranz heraus. »Hör zu, Jude«, sagte er kalt, »das hier haben meine Männer bei der Durchsuchung deines Hauses gefunden. Leugne also nicht. Oder willst du mir vielleicht erzählen, daß wir es dir dort hineingelegt haben?«
Der Geldverleiher schloß die Augen und mahlte mit den Kiefern. Als er die Augen wieder öffnete, hatte Zorn den Schrecken daraus vertrieben.
»Offensichtlich verhält es sich so, da ich diesen Kelch jetzt zum erstenmal sehe«, erklärte er.
»Natürlich«, brummte Rutger und verstaute die Monstranz vorsichtig wieder in ihrem Beutel. »In Wahrheit geschehen gar keine Verbrechen außer denen, die wir verüben und die wir dann den anderen Leuten in die Schuhe schieben.« Er grinste und befahl seinen Männern mit einer Geste, sich zu sammeln. Dann wandte er sich zu den Umstehenden und rief laut: »Das Haus des Geldverleihers Yohai ben David ist hiermit beschlagnahmt und darf von keiner Person im Judenviertel betreten werden. Die Personen, die sich noch darin befinden, haben es bis zum Anbruch der Dunkelheit zu verlassen.«
Aus der Menge der Zuschauer protestierte niemand. Die meisten schlugen die Augen nieder und blickten mit stummer Wut zu Boden.
»Was ist mir dir, Philipp? Begleitest du uns?« fragte Rutger. »Ich ... ich muß noch jemand anderen im Judenviertel aufsuchen«, stotterte Philipp.
Rutger warf Aude einen Blick zu, der halb anzüglich und halb amüsiert schien, als mache er sich Gedanken, ob Philipp einen weiteren Geldverleiher aufsuchen wolle und was Aude damit zu tun haben könne, dann nickte er ihr zu.
Aude, die seinen Gesichtsausdruck richtig interpretiert hatte, warf den Kopf zurück. Rutger grinste und klopfte Philipp auf die Schulter.
»Viel Glück bei deinen Geschäften.« Er brachte seinen Mund an Philipps Ohr und flüsterte: »Und laß keine Leute zu dir in die Kammer, die du nicht kennst.« Rutger lachte laut und befahl seinen Männern, Yohai ben David abzuführen. Er stülpte sich den Helm über den Kopf und setzte sich an die Spitze seines kleinen Trupps. Die Büttel stapften mit festen Tritten davon; der Geldverleiher in ihrer Mitte begleitete sie widerstandslos. Zwei von ihnen zerrten die Säcke mit den Unterlagen ben Davids hinter sich her. Philipp öffnete die Fäuste und atmete tief aus. Er sah an sich hinunter und bemerkte, daß er das Buch mit der gleichen beschützenden Geste wie der Junge an sich gedrückt hielt.
Die Zuschauer begannen sich zu zerstreuen. Einige von ihnen gingen zu dem Jungen hinüber, der mit der Wand in seinem Rücken auf dem Boden hockte. Er schniefte und wischte sich mit den Händen über die Tränenspuren in seinem Gesicht, aber er nickte zu dem, was ihm leise gesagt wurde. Aus dem Haus ertönte das ziellose Scheppern von jemandem, der versucht, resigniert Ordnung in ein hoffnungsloses Chaos zu bringen, und das unterdrückte Weinen einer Frau.
Philipp marschierte zu dem Jungen hinüber und sah auf ihn hinunter. Nach einem kurzen Augenblick setzte er sich neben ihn auf den Boden und legte ihm das Buch vor die Füße. Der Junge starrte zuerst ihn und dann den Folianten an.
»Würdest du mir erlauben, etwas darin nachzusehen?« fragte Philipp. Der Junge zuckte mit den Achseln.
Philipp nahm das Buch wieder vom Boden und schlug es auf. Aude sah ihm dabei zu, wie er mit dem Finger flink über die Seiten fuhr und die Einträge musterte. Er murmelte etwas zu dem Jungen, und dieser erwachte weit genug aus seiner Betäubung, um ebenfalls in das Buch hineinzusehen und ihm anscheinend eine Erklärung zu geben, wonach er zu suchen hatte. Philipp befeuchtete mit der beiläufigen Bewegung des Geübten seine Finger und blätterte mehrere Seiten um. Der Junge faßte zu ihm hinüber und schlug noch einige Seiten weiter, dann beugten sie beide die Köpfe über das Buch und lasen die Einträge. Die Unbefangenheit, mit der Philipp Schulter an Schulter mit dem Knaben saß, bewegte Aude, ohne daß ihr recht bewußt wurde, warum. Philipp warf dem Jungen einen Seitenblick zu und brummte eine halblaute Bemerkung; an der Art, wie er den Mund spitzte, erkannte Aude, daß er einen seiner Scherze gemacht hatte. Der Junge verzog tatsächlich die Lippen und lächelte. Philipp klappte das Buch zu und tat so, als brauche er die Schulter des Knaben als Stütze, um vom Boden aufzustehen. Der Junge richtete sich mit ihm zusammen auf. Philipp drückte ihm das Buch in die Hände.
»Du weißt, daß du es zu Benjamin ben Petachya bringen mußt, nicht wahr?« fragte er. Der Junge nickte zögernd und offenbar verwirrt, daß auch Philipp es wußte. Philipp hielt ihm die offene Hand hin, und der Knabe schlug nach einigen Momenten der Unsicherheit ein. Er straffte sich; daß ihm diese erwachsene Geste entgegengebracht wurde, gab ihm für ein paar kleine Augenblicke Sicherheit.
Philipp bestieg sein Pferd. Er nickte Aude zu und trieb es an. Der Junge winkte ihm zu, und er winkte zurück. Er schwieg, bis sie langsam durch die Marspforte hinausgeritten waren. Aude fühlte, wie eine Beklemmung von ihr wich, nachdem sie das Judenviertel verlassen hatten. Daß sie sich im christlichen Teil der Stadt wohler fühlte, erschien ihr plötzlich wie ein Hohn.
»Habt Ihr gefunden, was Ihr wolltet?« fragte sie.
Philipp wandte sich zu ihr um; sein Gesicht war so finster, daß sie darüber erschrak.
»Der Name von Radolfs Frau war Katharina«, sagte er. »Ich habe ein Darlehen für eine Hochzeit gefunden, bei der ihr Name als der der Braut auftaucht. Ich habe auch einen weiteren kleinen Kredit für die Tauffeierlichkeiten eines neugeborenen Mädchens gefunden, das auf den Namen Dionisia getauft wurde. Radolfs Tochter heißt Dionisia.«
»Dann seid Ihr doch am Ziel«, erwiderte Aude zögernd.
»In beiden Fällen hat Radolf nicht seinen eigenen Namen angegeben. Es ist zwar jedesmal der gleiche Name, aber er ist falsch. Gottfried von Als. Ich frage mich, warum er das getan hat.«
Während des restlichen Nachmittags begleitete Philipp Aude bei ihrer Suche nach den Spuren ihres Mannes. Sie suchten die Stadtbehörden auf, fragten auf dem Marktplatz, bei den Torwachen und im Pilgerhospiz. Aude drang selbst in das Hospital vor und suchte mit besorgtem Gesicht nach Geoffroi unter den Kranken und Verletzten. Als das Nachmittagslicht allmählich zu schwinden drohte, wußte Philipp, daß Minstrel außer zu ihm zu niemandem Kontakt aufgenommen zu haben schien. Wen immer er zu treffen in der Stadt gewünscht hatte – er hatte ihn verfehlt, oder der Mann hielt sich verborgen, oder es war von vornherein nur eine Geschichte gewesen, die Minstrel sich ausgedacht hatte. Philipp geleitete Aude zum Stift der heiligen Ursula und bat um eine Unterkunft für die Nacht für sie; ein Dienst, den sie schweigend akzeptierte. Die Kameradschaft aus ihrem gemeinsamen Besuch des Judenviertels war verschwunden. Minstrel, der Sänger, der Dieb, der Schurke, Audes Gatte, stand wieder zwischen ihnen.
Um sich im »Drachen« in die Kammer zurückzuziehen, war es noch zu früh, und sich zu Galbert in die laute, rauchige Trinkstube des »Kaiserelefanten« zu setzen, dazu hatte Philipp trotz seines hungrigen Magens keine Lust. Seine Gedanken waren seit dem Nachmittag wie verklebt. Er wollte sich mit den Erkenntnissen befassen, die die Besuche bei den Geldverleihern ihm beschert hatten; statt dessen kreisten sie immer wieder um seine Begegnung mit Minstrel. Er wollte an Dionisia denken, die dunkeläugige, zarte, rehgleiche Dionisia, deren bisheriges Schicksal so verworren, dramatisch und mitleiderregend war; an ihre Stelle schob sich jedoch immer aufs neue das entschlossene Gesicht Audes, deren Zukunft in nicht geringem Maß vom Verbleib ihres schurkischen Ehemanns abhing. Ziellos trieb er sich auf dem Marktplatz und den angrenzenden Gassen herum und fand sich plötzlich im Viertel bei der Stadtmauer und vor dem Eingang eines Frauenhauses wieder.
Er fühlte eine vage Versuchung, dort einzukehren und seine Gedanken auf einen ganz anderen Pfad zu führen, um sein Gehirn zu klären. Seine Lenden regten sich träge, und er versuchte den Zweifel von sich zu schieben, ob denn die Freude auf die gezwungene, kalte, verächtliche Lust mit einer der Hübschlerinnen überhaupt eine Freude sein konnte, als ein gewaltiges Lärmen im Inneren des Hauses anhob.
Ein Mann sprang aus dem Eingang hervor, stutzte bei Philipps Anblick, dann rannte er mit fliegender Hast in Richtung zur Vogtei hinüber. Philipp zögerte, ob er ihm hinterhersetzen sollte, aber das Kreischen der Frauen und dazwischen das Zerbrechen von Möbeln und Gläsern ließ ihn wieder herumfahren. Ein Schwung kräftig geschminkter Frauen quoll aus der offenen Tür und stolperte ein paar Schritte vorwärts.
»Helft uns«, rief eine von ihnen bei Philipps Anblick sofort. »Sie hauen alles kurz und klein.« Eine andere stieß sie grob in die Seite. »Das ist keiner von den Bütteln«, sagte sie mit verächtlich verzogenem Mund. »Otto ist doch grade erst losgelaufen, um sie zu holen.« Zu Philipp gewandt, stieß sie hervor: »Verschwinde lieber von hier, Kleiner, bevor du dir noch eine blutige Nase holst.« Ein lauter Schrei aus dem Inneren des Badehauses unterstrich ihre Worte auf dramatische Weise.
Philipp schwang sich aus dem Sattel und führte sein Pferd am Zügel ein paar Schritte vom Eingang weg, damit es keinen Schaden nahm. Das Toben im Badehaus ließ nicht wesentlich nach. Drei Männer taumelten ins Freie, nackt, hastig zusammengeraffte Kleidungsstücke vor sich haltend; offensichtlich Freier, die durch den Tumult um ihr Vergnügen gebracht worden waren. Sie sahen sich gehetzt um, prallten beim Anblick der draußen versammelten Hübschlerinnen (die ihnen verächtlich nachzischten) und dann bei Philipps Anblick erschrocken zurück und rannten mit schamhaft an ihren Unterleib gepreßten Wämsern in die nächste Gasse hinein. Ihre hellen Kehrseiten wackelten im Gleichmaß ihrer panischen Schritte. Philipp sah ihnen nach und grinste bis über beide Ohren.
Mit dem Eintreffen der Büttel, die von einem ungeduldig voranlaufenden Otto hergeführt wurden, scharten sich auch die ersten Nachbarn aus den angrenzenden Gassen zusammen, um etwas über das Spektakel zu erfahren. Die Büttel kamen in Truppstärke, zwölf Männer, die ohne zu zögern in das dunkle Innere des Hauses tauchten und von den Frauen kreischend angefeuert wurden. Schon nach wenigen Augenblicken verstärkte sich der Aufruhr im Inneren erheblich. Die Büttel, angestellt in einer Stadt, in der drei Viertel des Jahres Pilgersaison herrschte und in der die Anzahl der öffentlichen und heimlichen Badehäuser noch die Anzahl der Reliquienschreine übertraf, waren Kummer in jenen Stätten gewöhnt. Sie mischten sich mit erbarmungsloser Präzision in den Kampf. Es dauerte nur kurze Zeit, dann erreichte der Lärm seinen Höhepunkt, bevor er abflaute und endlich Stille zurückließ. Aus dem Inneren des Hauses war ein leises Stöhnen zu hören.
Während die Büttel die Streithähne und jene, die unschuldig in den Konflikt geraten waren, aus dem Haus schafften und draußen in die schwerer und leichter Verletzten sortierten, erfuhr die neugierig herandrängende Menge die ersten Einzelheiten. Es hatten sich, vom Wein angefeuert, plötzlich zwei Gruppen unter den Trinkenden gebildet, deren eine mit der Kürze ihres künftigen Verweilens im Fegefeuer prahlte, so oft hätten sie den Hetzpredigten gegen den Kaiser gelauscht; während die andere weder die Aussicht auf den Ablaß noch die Hetzreden selbst besonders lustig fand und für den Kaiser Front machte. Nachdem sich die beiden Lager gebildet hatten, entbrannten sie an der Frage, die auch die beiden Hauptpersonen ihrer Erörterungen ausweglos beschäftigte: Wer war wem untertan, der Kaiser dem Papst oder der Papst dem Kaiser? Die Kaiserlichen hielten dafür, daß das Beispiel von Karolus Magnus, welcher sich selbst gekrönt hatte, deutlich die Vorzugsstellung des Kaisers hervorhob. Die Päpstlichen ziehen sie ob dieser Aussage der Lüge und drohten, man werde schon noch sehen, was die Heerscharen der offiziell mit der Klärung dieser Frage betrauten Schriftgelehrten aus den Archiven hervorholen würden. Wer mit den Gewalttätigkeiten angefangen hatte, ließ sich nicht mehr zweifelsfrei klären. Die Büttel jedoch waren keine Ratsbüttel, sondern handelten im Auftrag des bischöflichen Vogtes, und es war klar zu erkennen, daß sie auf der Seite der päpstlichen Partei standen und die Schuld bei den Kaiserlichen suchten. Das Rudel herbeistürzender Bader wurde von ihnen in Richtung der verletzten Päpstlichen geleitet, während die Kaiserlichen auf ihre Hilfe warten mußten.
Plötzlich richtete sich einer von den angeschlagenen Päpstlichen auf und rief zum Lager der Kaiserlichen hinüber: »Der Ketzer kann die Wahrheit nicht ewig in seinen Archiven verborgen halten. Gott wird ihm seine finsteren Geheimnisse entreißen.«
»Kratz ab!« schimpften ein paar von den Kaiserlichen zurück, doch angesichts der massiv vor ihnen lauernden Büttel war ihr Kampfgeist gebrochen. Der Päpstliche schien es zu spüren.
»Es nützt ihm gar nichts, daß er Klöster geplündert hat und alle Schätze und Schriften in sein Teufelsreich nach Apulien verbringen ließ. Er hat auf keinen Fall alles in seine Schwefelkrallen bekommen, und was gute Mönche mit ihrem Leben in den Regalen beschützt haben, wird ihm endlich das Genick brechen.«
Die Menge lief langsam wieder auseinander; zur Abwechslung nicht geneigt, in den Streit einzugreifen. Vielleicht war es die drohende Anwesenheit der Büttel, vielleicht war es die Tatsache, daß dieser Ausbruch von Feindseligkeiten nur ein Symptom des Siedens war, unter dem das gesamte Reich sich zusammenzukauern schien wie ein Tier kurz vor dem Sprung und die Bürger sich vor dem abzusehenden Ausbruch des Tieres ängstigten und ihn auf keine Weise beschleunigen wollten. Sie hatten noch Partei ergriffen, als der Prophet den Zorn der beiden Fraktionen kurzfristig in seiner Person akkumuliert hatte; jetzt taten sie es nicht mehr. Die Zeichen wurden zu deutlich. Die Bürger kehrten in ihre Häuser, die Hübschlerinnen zu Lagern und Philipp zu seinem Pferd zurück, während ein weiteres Kontingent Büttel die Kombattanten abführte.
Philipp war nachdenklich. Der Päpstliche hatte etwas gesagt, das einen schon die ganze Zeit nagenden Gedanken wieder an die Oberfläche gebracht hatte. Gute Mönche hatten Unterlagen in ihren Regalen verborgen. Was das für den Kaiser bedeutete, kümmerte Philipp im Moment nur peripher. Was es für Radolf oder besser gesagt für Dionisia bedeuten konnte, war, was ihn interessierte. Gute Mönche hatten Unterlagen in ihren Regalen verborgen.
Er konnte sich gut an die Eigenheiten von Bruder Fredgar, dem Archivar von Sankt Peter, erinnern. Die Dokumente waren sein Augapfel gewesen, und hätte es in seinem Archiv gebrannt, er hätte eher die Bücher gerettet und seine Novizen in den Flammen umkommen lassen als umgekehrt. Was immer Radolf gegen ihn in der Hand gehabt hatte, Fredgar hätte ihm keinesfalls die originalen Dokumente überlassen, und sei ihr Inhalt von noch so marginaler Natur. Er hatte sich Abschriften gemacht und Radolf diese übereignet, was Radolf zweifellos für die Originalunterlagen gehalten haben mußte. Philipp brauchte sich nur Einsicht in sie zu verschaffen. Radolf mochte sich ärgern, wenn es ihm klar wurde, daß der Archivar ihn hereingelegt hatte, aber er würde rasch erkennen, daß ihm nun ein Vorteil daraus erwuchs.
Und was Philipps Abneigung dagegen betraf, in das Kloster zurückzukehren: Er dachte an Dionisia und daß sein Gang für sie sein würde und bildete sich ein, daß ihm danach leichter ums Herz war.