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Ich sah aus dem Fenster, während Kruschinsky Kofler das Abendbrot servierte.
Es gab in eigenem Olivenöl geröstete Dosensardinen, Weißbrot, hartgekochte Eier und Tomaten.
Die Mauer war nicht mehr als dreißig Meter entfernt. Wenn ich das Nachtglas nahm, das neben dem L.D.A. stand, konnte ich in der Dunkelheit – von den hellen Bogenlampen strahlte immer einiges Licht herauf – das Gesicht des Mannes auf dem Wachturm sehen: ein deutsches Gesicht.
Er hätte damit ebenso gut auf dieser Seite der Mauer Versicherungspolicen verkaufen oder die Straße fegen können.
Das einzige, was mich daran immer wieder verblüffte, war die Leere, die es ausstrahlte. Acht Stunden lang Leere!
Über acht Stunden eine nahezu unbewegte Mimik – dieses Phänomen, das den Südländer am Nordländer so maßlos überrascht, wenn es ihm zum ersten Mal bewusst wird, dass sein Gesicht eine weitgehend unbewegte Masse ist. Kein Ausdruck des Erstaunens oder auch nur des Befremdens, der dem Mann auf dem Wachturm abverlangt wurde, wenn er hinuntersah in das gleißende Licht des Todesstreifens mit seinem Stacheldraht, den spanischen Reitern, den Betonhindernissen, die selbst jetzt noch, so viele Jahre nach dem vorgeblich geplanten Einmarsch des Westens in den Ostsektor, nach Süden ausgerichtet waren, als würde der Feind jeden Augenblick seinen NATO-Helm über die Mauer schieben …
Diese Grenze ist ein Eckpfeiler der Entspannung, stand auf einem weit entfernten Transparent am oberen Drittel einer Backsteinmauer, hinter der ein Betrieb für die Verarbeitung von Natursteinen lag.
Daneben ragte ein graues Gemäuer auf – ein Flachdach mit Turm und zwei Reihen schmaler Fensterchen wie Schießscharten – dessen Zweck ich nie hatte erfahren können. Es war ein verfallener Bau mit staubigen Scheiben, aber keine von ihnen zerworfen, wie das bei alten Häusern im Westen zu sein pflegt.
Hinter einem der Fenster hatte ich einmal eine Gestalt mit einem Fernglas herüberblicken sehen. Auch der Mann auf dem Wachturm sah manchmal zu uns herüber. Aber an der Art seiner Bewegungen – wie sein Fernglas über die Häuser des Westsektors streifte – erkannte ich, dass es reine Routine war.
Der Posten auf dem Wachturm wurde um Mitternacht abgelöst, zur selben Zeit, wenn die letzten Tagesbesucher aus dem Westsektor den Übergang Heinrich-Heine-Straße passierten. Selten sah man jemanden verspätet dort eintreffen, auch Familien mit Kindern bemühten sich, pünktlich zur vorgeschriebenen Zeit die Grenzstelle zu passieren – eine nun schon fast eingeborene Furcht vor der Macht und Willkür der Grenzpolizei.
Dabei waren es ganz verständige Burschen! Durch die Scheiben der Grenzbaracken konnte ich manchmal beobachten, wieder eine dem anderen den konfiszierten Westkaffee wegtrank oder wie sie in Magazinen blätterten, die auch bei uns bis vor wenigen Jahren noch unter dem Ladentisch gehandelt worden waren.
Nur wenig rechts vom Grenzübergang, ein paar hundert Meter neben dem unbebauten Feld, lag das Haus an der Roßstraße, in dem sich das Gegenstück zu unserem L.D.A. befand.
Anfangs war es mir unvorstellbar erschienen, dass die Anlage mit direktem Sichtkontakt arbeitete. Aber gewöhnlicher Funkverkehr ließ sich Orten, dieses System nicht. F. hatte sich die Mühe gemacht, mir auseinanderzusetzen, dass der Lichtstrahl nur ein vierhundert- oder sechshundertstel Millimeter dick war und seine Dauer jenseits der schnellsten Kameraverschlüsse lag (die genauen Daten sind mir entfallen, ich bin technisch nicht besonders versiert) und damit für das menschliche Auge ebenso wie für technische Geräte unsichtbar blieb.
»Sobald man an den technischen Innereien der Anlage herumschraubt, um an ihr Konstruktionsprinzip zu gelangen«, hatte er warnend erklärt, »explodiert das Ding. Und nicht bloß mit Silvesterknall, das können Sie mir glauben. Der Explosionsmechanismus ist mindestens so neu wie das Übertragungsprinzip.«
In all den Monaten hatte ich nie jemanden in dem Dachfenster gegenüber entdecken können.
Der Mann drüben sollte ein ehemaliger Dorfschullehrer sein. Sie hatten die gleiche Doppelscheibe mit der künstlich eingespiegelten Wohnzimmergardine installiert. Abends wurde das Bild einer Wohnzimmerlampe hinzuprojiziert; ihr beigefarbener geblümter Schirm – mit Fransen und Messingstange darunter – verbreitete anheimelndes Licht.
Kruschinsky kam mit einem Tablett auf Koflers Zimmer. »Schreibt an seinem Buch«, murmelte er schräg über die Schulter. »Das Westfernsehen sei genauso schlecht wie ihres drüben. Wissen Sie, was er verlangt hat – ernsthaft?«
Ich schüttelte den Kopf
»Laurel & Hardy-Filme! Er will sie sich über die Video-Anlage ansehen. Ich dachte zuerst, er mache Scherze. Darauf sagte er ziemlich ungehalten: Dick und Doof, falls Ihnen das eher ein Begriff ist – ein Kerl mit seiner Bildung!«
»Besorgen Sie ihm zwei oder drei Kassetten«, nickte ich. »Morgen früh. Er soll seinen Spaß haben.«
Kruschinsky ging an den Datenaustauscher, an dem zwei flackernde rote Leuchtdioden anzeigten, dass er in Betrieb war, setzte das Tablett ab und zog den Papierstreifen aus dem Drucker.
»Lesen Sie das«, meinte er. »Ich glaube, es ist chiffriert.«
Ich sah auf das Blatt. Der Text lautete:
Roter Kakadu nach West-Berlin entflogen. Ankunft Dienstag oder Mittwoch. Schnabelfarbe weiß.
Er musterte mich misstrauisch. »Können Sie was damit anfangen?«
Es wurmte ihn sichtlich, dass er als Nachrichtenexperte keinen Zugang zum Kode besaß. Außerdem hatte er Schwierigkeiten mit seiner Freundin, weil man ihn wegen der Aktion für unbestimmte Zeit aus dem Verkehr ziehen würde.
Ich nickte. »Kakadu bedeutet Messias, und Schnabelfarbe weiß heißt, dass wir nichts Näheres über ihn wissen.«
Er schwieg und blickte mich fragend an.
»Also der Messias kommt nach West-Berlin?«, fragte er missmutig. Wollen Sie mich verschaukeln?« Er schlug mit der flachen Hand auf den L.A.D. »Handelt es sich um Kofler?«, erkundigte er sich dann.
»Höchstwahrscheinlich. Wir wissen es nicht. Es ist unsere Aufgabe, das herauszufinden.«
»Na schön. Und warum der Kode? Sie können die Laserschrift ohnehin nicht entschlüsseln.«
»Offenbar geht es gegen ihre Berufsgewohnheit, etwas gemeinverständlich auszudrücken«, erklärte ich und wandte mich ab, um ihn nicht merken zu lassen, dass mich seine Hartnäckigkeit amüsierte.
Auch mit dem Nachtglas war drüben im Dachfenster der Roßstraße kein Lichtschein auszumachen. Der Widerschein der Bogenlampen unten im Todesstreifen warf schwache Lichtkringel in die Optik. Es gibt keinen Antireflexbelag, der etwas taugt … dachte ich.
Doch gerade die Reflexe waren das Problem. Beinahe alles in der Welt hat irgend etwas mit Reflexen zu schaffen.
Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.
Die ganze Welt ist möglicherweise nur – am Anfang war das Wort – ein Reflex der Worte Gottes, die er, dann wohl in einem unbedachten Moment, ausgesprochen haben muss.
Die Strafe ist der Reflex des Urteils und dieses der Widerschein der bösen Tat. Und auch die Melancholie ist, wie mir scheint, nur Reflex – Reflex einer Lebensweise, die ihren Schatten auf unsere Seele wirft. Dahinter steckt meist ein schlechtes Gewissen. Nicht wenige Psychiater wären ohne diese Art von Reflex arbeitslos.
Mein Reflex war die Angst, einen Unschuldigen auszuliefern.
F. hatte mich zum »Staatsanwalt, Richter und Schöffen in einer Person« ernannt (nur den Henker ersparte er mir), deshalb brauchte ich Gewissheit, Gewissheit, dass sie schuldig waren. Mein Schlaf, meine Stimmung, meine Verdauung hingen davon ab. Deshalb beschäftigten sie mich auch dann, wenn ich gar nicht an sie zu denken schien.
Ich spürte, dass irgendwo halbbewusst oder unbewusst etwas in mir arbeitete.
Ein Narr, der glaubt, Gedanken seien immer in Worte zu fassen. Sie können grundverschieden von Sprache sein. Weder Gefühl noch Wort oder Bild (als man Einstein nach der Sprachlichkeit des Denkens fragte, lachte er nur – tatsächlich eine absurde Unterstellung). Und so summte etwas in meinem Schädel, summte sein Lied, summte wie eine Hummel oder eine Wespe, jederzeit bereit, zuzustechen. Niemand nahm es mir ab. Nicht F., sondern ich schreckte aus dem Schlaf auf – es war mein Albtraum, nicht seiner. Und es schien keine Rettung davor zu geben. Es gab keine Gewissheit.
Selbst ihr Geständnis hätte mich nicht wirklich überzeugt. Es konnte ein Traum sein …
Oder Resignation …
Oder Verrücktheit …
Oder ein Scherz …
Nicht etwa um eine biblisch verstandene Schuld ging es mir (als jemand, dessen Beruf es ist, die Wahrheit zu suchen, wird man zum unerbittlichen Agnostiker). Auch nicht um Berufsethos. Geschweige denn ums moralische Prinzip. Sondern um den bohrenden Schmerz da drinnen irgendwo. Eine Stelle, auf die sich nicht mit dem Finger zeigen lässt. Dieses Gefühl, jemanden unwiderruflich zu vernichten, verursacht mehr als bloße Übelkeit, wenn man damit geschlagen ist.
Erleichterung verschaffte ich mir nur durch Gewissheit. F. nannte es eine Manie.
»Sie sind der geeignete Mann«, sagte er leichthin. »Zwangsneurotiker und Psychopathen erfüllen zuverlässig ihre Pflicht.«
Das war wohl in seinen Augen noch geschmeichelt, ich weiß nicht, was er wirklich von mir hielt. Er hatte eine undurchsichtige Art, manches ins Lächerliche zu ziehen.
Vor allem, wenn er meine Lektüre herumliegen sah:
»Lesen Sie nicht diese gottverdammten Narren«, sagte er. »Dostojewskij, Rilke, Kafka … das sind alles Verrückte, auf die eine oder andere Weise. Kein normaler Mensch kann sich so etwas zu Gemüte führen, ohne Schaden an seiner Seele zu nehmen. Ich werde Ihnen ein festes weißes Stück Fleisch aus der Datenabteilung beschaffen, das bringt Sie wieder auf die Beine.«
Er wollte nicht, dass ich mit Freunden oder Bekannten verkehrte, deshalb verschaffte er mir diese Mädchen. Am liebsten hätte er mich in einer Mönchszelle gehalten – oder im Gefängnis, völlig isoliert von allen Außenkontakten: der Idealfall nahe am Nullpunkt des Risikos. Nach einer gewissen Frist verschwanden sie, wo sie hergekommen waren, in der Rechnungsabteilung, der Datenbank oder im inneren Abwehrdienst.
Ich wusste nie genau, was er ihnen erzählte. Irgendwie brachte er sie dazu, sich für Staat und Vaterland zu opfern. Er musste ein großer Geschichtenerzähler sein. Sie hatten mich schon für alles mögliche gehalten: einen russischen Überläufer, den Botschafter der DDR in Venezuela, einen vom KGB gejagten Trotzkisten – und einmal musste er mich als schwulen Denunzianten ausgegeben haben, dem man es mit gleicher Münze heimzahlen wollte: durch ein Bild mit einer Frau im Bett an seinen Geliebten.
Dabei hatte ich immer das Gefühl, F. habe mir gegenüber ein schlechtes Gewissen; als sei er dafür verantwortlich, dass Valessa sich mit einem türkischen Botschaftsangestellten nach Izmir abgesetzt hatte (ich war nur ein knappes Vierteljahr mit ihr verheiratet gewesen). Vielleicht wollte er mir auch über die Schmach der Entlassung hinweghelfen. Vielleicht war es eine Art väterlicher Fürsorge. Obwohl ich F. das kaum zutraute. Allerdings erschien mir diese Sorte Staatsdiener im Kern nicht immer so schlecht, wie behauptet wurde.
Natürlich gibt es auch bei ihnen das Gefühl, es besser machen zu können oder zu sollen, und das Wissen um die absehbaren Folgen ihrer Arbeit bereitet ihnen Unbehagen. Denn wie viel lässt sich voraussehen und wie viel erfahren wir schon über die Tragweite unserer Handlungen?
»Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«, war der Leitspruch aus Kants Ethik, den Kofler seinem ins Englische übersetzten Werk vorangestellt hatte.
Ich nahm an, dass es sich um das übliche Flickwerk am sozialistischen System handelte. Eine kleinere Verbesserung hier, eine Korrektur dort. Gerade so viel Änderungen, dass es der herrschenden Lehre zuwider lief, im Westen aber als »Dritter Weg« durchgehen konnte und eine Menge Junger Leute auf die Straße bringen würde. Sie schienen ihr Spiel sehr geschickt zu spielen – und ich fragte mich, was dran war an F.s Behauptung, dass der Osten seine Weltherrschaftsansprüche niemals aufgeben würde. Und dass alle Kooperationsbereitschaft und Entspannungspolitik darüber nicht hinwegtäuschen durfte.
Plötzlich fiel drüben im Grenzstreifen das Licht aus … die Bogenlampen erloschen, sie flackerten noch einmal kurz auf, dann waren sie ebenso dunkel wie die Wachturmfenster.
Ich sah ungläubig auf die Mauer und die Zäune hinter den spanischen Reitern, die sich nur noch schemenhaft abzeichneten. Aus der Dunkelheit kam Motorengeräusch. Wir hatten eine von Wolken verhangene Mondsichel. Im Wachturm wurde die Notbeleuchtung eingeschaltet. Durch die Fenster sah ich den Schein von Taschenlampen umherhuschen. Was für eine Gelegenheit! dachte ich. Wie viele wären jetzt durch die Dunkelheit gehastet, wenn sie davon gewusst hätten? … mit einigen notdürftig zusammengerafften Habseligkeiten, Hochhauswohnungen zu billiger Miete, Eisenhüttenkombinate und volkseigene Betriebe hinter sich lassend – ebenso das russische Wassereis auf dem Alexanderplatz, den Kaffee-Ersatz der HO-Läden und die Zeitungen, die nur druckten, was erlaubt war. – Oder war das eine Illusion? Hatte der Westen seine Anziehungskraft längst eingebüßt?
»Geht denen drüben die Energie aus?«, erkundigte sich Kruschinsky, der neben mir aufgetaucht war.
»Stromausfall …«
»Nicht möglich«, stellte er überrascht fest.
»Das ist kein Vorrecht des Kapitalismus«, sagte ich.
»Klettert da nicht einer über die spanischen Reiter?«, fragte er und trat näher an die Doppelglasscheibe.
Ich sah durch das Nachtglas. »Ein streunender Hund.«
»Was ist denn passiert?«, fragte Kofler hinter uns.
Er stand in der Tür, ein Blatt Papier und einen Stift in der Hand. Die dünne Drahtbrille hing ihm weit vorgerückt auf der Nase. »Was kann das zu bedeuten haben?«, fragte er im Näherkommen und sah durch das Fenster hinunter.
Ich zuckte die Achseln. Gelegenheit für den Kakadu, dachte ich. Einen, der von Westen nach Osten flog. Doch in dieser Beziehung war ich kein Eiferer. Das System drüben gewann beinahe menschliche Züge, wenn man seine Schwächen sah. – Kurz darauf strahlten die Bogenlampen mit unverminderter Helligkeit auf – der ganze Spuk hatte kaum drei Minuten gedauert –‚ und der streunende Hund, ein schwarzer Schäferhundbastard, floh im Zickzack aus dem Scheinwerferkegel des Wachturms …
»Na also«, sagte Kofler. »Die Technik siegt.«
Er steckte sich den Stift hinters Ohr und kehrte in sein Zimmer zurück.
Dann sah ich den grünen Kastenwagen mit der Antenne und der eigentümlichen Apparatur auf dem Dach.
Er fuhr sehr langsam in Richtung Stadtzentrum, Alexanderplatz, davon – so als lege er es darauf an, keine schlafenden Hunde zu wecken. Seine Scheiben waren undurchsichtig. Das Gefährt kam mir nicht ganz geheuer vor. Hatten sie den Strom absichtlich ausgeschaltet? Irgend etwas von Messungen schwante mir. Der L.D.A.! Sollte man F. benachrichtigen? Ich hatte noch sein verlorenes Notizbuch. Beides würde ihn womöglich interessieren. Dazu ist auch morgen noch Zeit, dachte ich. Wir waren ohne Telefonverbindung. Aus Sicherheitsgründen hatte man darauf verzichtet.
Als ich in mein Zimmer ging, nahm ich das Notizbuch aus dem Schrank. Es war in schwarze Kunststoff-Folie eingebunden. Ich legte mich damit auf das Pritschenbett in der Ecke. Vorher hatte ich nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen. Diesmal erwischte ich die erste Seite.
Über dem Kodetext aus Zahlen und Buchstaben stand in schräger Handschrift mein Name.
Wir setzten uns ohne Umstände an den Rauchtisch in seinem Zimmer. Kofler schien ausgiebig gefrühstückt zuhaben. Dem Spülgeschirr nach zu urteilen für zwei. Offenbar war er arglos und bei guter Laune.
»Sie traten dreiundsechzig aus der Partei aus. Warum, wenn ich fragen darf?«
»Nun, man ließ mir keine andere Wahl. Eine Reihe von Komplikationen, die mehr das menschliche Verhältnis betrafen – nicht das System.«
»Sie traten aus persönlichen Gründen aus?«
»Ja. Ich geriet mit einigen Leuten in Konflikt. Heute betrachte ich es als eine ziemlich überzogene Reaktion.«
»Was war der entscheidende Grund für Sie, das Ressort zu wechseln. Von der Kriminalistik zur Soziologie und Sozialpsychologie ist es kein kleiner Schritt.«
»Nein, sicher nicht. Anders als bei meinem Parteiaustritt einige Jahre zuvor bewogen mich dazu theoretische Gründe. Ich entdeckte, wie wenig die gegenwärtige Gesellschaftstheorie den Realitäten angemessen ist.«
»Sie meinen die dialektisch-materialistische, wenn ich Sie recht verstehe?«
»Es gab Widersprüche, die nicht durch Schönheitskorrekturen zu beseitigen waren. Wissen Sie – «, er dachte nach und lächelte, »das Ganze ist im Grunde nichts weiter als eine Art romantische Welt- und Gesellschaftsschau, wonach es den Menschen in ein gottloses und feindlich gesinntes Universum verschlagen hat, das er nun wie Prometheus in ewiger Anstrengung und heroischem Trotz durch Arbeit und Revolution verwandeln soll – allein durch Erkenntnis und durch die Kraft seines Willens. Dabei handelt es sich weniger um Wissenschaft, als um säkularisierte Prophetie, eine atheistische Religion. Aber die wirklichen Widersprüche liegen natürlich tiefer.«
»Aus alledem entnehme ich, dass Sie …«
»…an Gott glauben? Vielleicht glaube ich eher an die Kraft des Guten.«
»Welcher Art sind diese – nun, ja, sagen wir mal tieferliegenden Widersprüche?«
»Die gesellschaftliche Entwicklung ist gesetzmäßig nicht bestimmbar. Zu viele nicht auf Regeln bestimmbare Faktoren. Eine Ordnung, eine naturgesetzliche Entwicklung vom qualitativ Schlechteren zu einem höherwertigen Gesellschaftszustand ist nirgends nachweisbar. Die Parteiendiktatur ist der Totengräber der sozialistischen Gesellschaft. Und das Menschenbild des dialektischen Materialismus ist eine lächerliche Simplifikation.«
»Damit gingen Sie auf offenen Konfrontationskurs?«
»Ja, zunächst einmal beschwor man mich, da ich ein Vertreter der moralischen Aspekte des Kommunismus sei, der sich für die Befreiung der unterdrückten Klassen einsetzte:
Abweichlertum und Skeptizismus könnten auf die Dauer keine Weltanschauung der Völker sein. Sie töteten die Kultur und verhinderten jeden Fortschritt. Ich erwiderte: Die Person sei nicht allein Produkt und Funktion der Gesellschaft. Sie sagten: Darüber könne man reden. Der Marxismus habe auch seine individuellen Seiten. Als sich zwei Zirkel an meiner Universität bildeten, bot man mir eine kleine Datscha und den Posten des Bürgermeisters in einem Dorf bei Starachowitze an, von Warschau und Krakau etwa gleich weit entfernt.«
»Man wollte Sie aufs Land abschieben?«
»Sie nannten es eine ‘zuvorkommende Regelung’«, nickte Kofler, »und deuteten an, ein solches Angebot zeuge durchaus vom Wohlwollen der Partei.«
»Wie kamen Sie zur Gewerkschaftsbewegung?«
»Obwohl ich mit ihren Gedanken sympathisierte, war nicht ich es, der den ersten Schritt unternahm. Man trat an mich heran. Ich wurde einer ihrer Berater. Aber nicht für sehr lange. Eines Tages warf man mir die Scheiben ein, verwüstete meinen Garten und zündete mein Auto an. Damals begriff ich, dass ich in ihren Augen zu weit gegangen war, und ich kehrte an die Universität zurück.«
»Sie übernahmen den Lehrstuhl für Sozialpsychologie.«
»Weil ich hoffte, man könne Ideen auch auf andere, weniger augenfällige Weise unters Volk bringen.«
»Und man ließ Sie lehren?«
»Ja … anfangs ließ man mich gewähren.«
»Gut, schließen wir dieses Thema für heute ab.« Ich nahm eine Fotografie aus der Mappe, die vor mir lag. »Gestern konnte ich beobachten, dass Sie Rechtshänder sind? Sie schrieben an Ihrem Buch.«
»Stimmt«, nickte er.
»Auf diesem Foto – es zeigt Sie, wie Sie Ihre Ernennungsurkunde an der Krakauer Universität gegenzeichnen – sind Sie Linkshänder.«
Kofler nahm das Blatt und betrachtete es. Für einen Agenten, der sich durchschaut fühlen musste, hatte er sich erstaunlich gut in der Gewalt. Immerhin schützte er Verblüffung vor. Er musterte die Aufnahme wieder und wieder und schüttelte den Kopf, schließlich nahm er seine dünne Drahtbrille heraus.
»Merkwürdig«, sagte er. »Das überrascht mich in der Tat. Die Aufnahme muss aber fünf Jahre alt sein.«
Es war deutlich zu sehen, dass er mit der linken Hand unterschrieb. Das Bild war von der linken Seite aufgenommen. Seine rechte Hand war verdeckt. Es gab eine Schrift im Hintergrund, die bewies, dass die Schwarzweißaufnahme nicht, wie man hätte argwöhnen können, spiegelverkehrt vom Negativ kopiert worden war.
»Haben Sie dafür eine Erklärung?«
»Ich bin etwas … überrascht«, erklärte er und hob den Kopf.