• Kapitel 4

 

Hamster saß auf einer Bank. Er hockte eingekeilt zwischen einem kahlgeschorenen Neonazi mit langem Bart und einem breitschultrigen Indigenen. Dass er sich in dieser Gesellschaft besonders wohl fühlte, wäre zu viel gesagt, aber er fühlte sich zumindest nicht ganz so beschissen wie die Tage zuvor. Aus irgendeinem Grund wurden ihm seit diesem Morgen gewisse Privilegien zugebilligt. Nach dem Frühstück hatte ein Wärter ihm eine Liste gegeben, von der er sich einen Gegenstand hatte aussuchen dürfen. Er hatte sich für einen Musikplayer entschieden. Zwei Stunden lang hatte er die gespeicherten Dateien durchforstet und tatsächlich das eine oder andere gefunden, das seinem Geschmack entsprach. Vor dem Mittagessen hatte er sich gemeinsam mit einigen Mithäftlingen unter Aufsicht rasieren dürfen und nach dem Essen war ihm eine Tasse Sojakaffee in die Zelle gestellt worden. Versonnen starrte er auf den Bildschirm. Hamster hatte nicht einmal gewusst, dass es einen Fernseh- und Aufenthaltsraum gab. Ein wenig störten ihn die Geräusche des Tischtennisspiels, das hinter ihm stattfand, aber das war natürlich Gejammer auf höchstem Niveau, bedachte man die wesentlich existenzielleren Nöte, welche er die Tage, Wochen und Monate zuvor hatte ertragen müssen.

„Köh-hö-hö“, grunzte der indianisch-stämmige Mann neben ihm kehlig. Auf dem Flachbildschirm wurden Bilder verschiedener Aktionen der Öko- und Tierrechtsaktivisten The Green Fist gezeigt. Affen und andere Spezies, die an Gleitschirmen befestigt über eine abendliche Skyline segelten, waren zu sehen, danach ein Zoo, aus dem Elefanten, Löwen, Giraffen und andere Tiere flohen, die Hamster nicht beim Namen kannte. Zuletzt folgte eine Art Gefecht auf dem Meer. Ein großes mit Harpunen ausgestattetes Schiff kam nicht zum Abschuss einer Walschule, da ein kleineres Schiff mit der Aufschrift Whale-Hunter-Hunter immer wieder vor die Beute preschte, dass die Gischt nur so spritzte und das größere Schiff seinen Kurs korrigieren musste. Ein Schnitt und dann sah man, dass es den Waljägern offenbar zu dumm wurde, sie schossen zwei der Harpunen ab, eine streifte das Deck des Aktivistenschiffs. Vermutlich hatten diese genau auf so etwas gewartet, am Heck der Whale-Hunter-Hunter öffnete sich eine Luke, in der sogleich das Rohr eines Geschützes erschien. Das Gegenfeuer zerfetzte den Bug des Waljägers, der daraufhin in Seenot geriet und zurückfiel. Auf dem Deck des Tierschützerschiffes tauchten jubelnde Männer und Frauen auf, die triumphierend ihre Hände gen Himmel reckten. Das Bild verblasste und eine nüchterne Frauenstimme kommentierte die gezeigten Bilder. Sie sprach von einem blinden, gefährlichen Aktionismus auf der Schwelle zum Terrorismus, der sich durch romantisch verzerrte Darstellungen die Unterstützung der Bevölkerung erschleichen wolle. Taktisch nicht ungeschickt eingefädelt, wurde ein Korrespondent hinzugeschaltet, der betonte, für ihn sei die Schwelle zum Terrorismus bereits überschritten worden. Der etwas verkniffene Herr mit dem plüschigen Mikro vor dem Mund deutete hinter sich auf ein Haus, in dem, wie er sagte, die Witwe eines Security-Mannes wohne, der bei einer Schießerei ums Leben gekommen sei. Zur Bestätigung seiner Aussage wurde ein Bild eingeblendet. Es musste von einer Innenkamera eines Labors stammen. Ein Team von Sicherheitsmännern hatte Deckung gesucht, ein Aktivist huschte durchs Bild. Dann barst eine Scheibe, Glassplitter flogen umher und einer der Männer ging blutend zu Boden. „Mehr als diesen Ausschnitt wollen wir Ihnen nicht zumuten“, sagte die Stimme der Nachrichtensprecherin, sie klang dabei immer noch neutral, eigentlich aber hatte sie nun die Position des Berichterstatters eingenommen, der düster hinzufügte: „Liebe Zuschauer, Sie sehen, wir haben es hier nicht mit jungen Leuten aus der Mitte der Gesellschaft zu tun, die die Welt zum Besseren verändern wollen, sondern mit radikalen Anarchisten, denen jedes Mittel recht ist, ihre menschenfeindlichen Ziele durchzusetzen.“

Hamster sah den Neonazi von der Seite grinsen. Belustigte ihn die Sache, oder geilte er sich lediglich an der üppigen Oberweite der Sprecherin auf, die nun wieder das Wort übernahm und zu einem anderen Thema überleitete? Schwer zu sagen, dachte Hamster und schaute ebenfalls wieder auf den Bildschirm. Statt der Frau zuzuhören, blickte er auf den kleinen Kasten am rechten unteren Bildrand. Auch der Sender, der zuvor gelaufen war, hatte permanent solch einen Kasten eingeblendet. 42.365 km² war darin zu lesen.

„Was bedeutet diese Zahl?“, fragte Hamster ohne sich an einen bestimmten seiner beiden Sitznachbarn zu wenden.

„Wachstum der Zonen“, erwiderte der Indigene in tiefem, akzentuiertem Bass.

„Denkt man ers' ma', is' nich' so viel, global und so“, bemerkte der Nazi, „ is' aber ungefähr immerhin doppelt so groß wie ganz scheiß GY.“

Das war durchaus erschreckend, fand Hamster, doppelt so viel Fläche wie die Megametropole Greater York war verschlungen worden, und im Gegensatz zu den meisten, wusste er von was. Dazu kam, dass es in den Zonen immer noch Nacht war, wie er bei einer Einstellung zuvor gesehen hatte. Gigantische schwarze Ungeheuer, welche langsam aber sicher die Welt auffraßen … Hamster rieb sich den steifen rechten Arm und wollte seine Aufmerksamkeit ebenfalls wieder auf den Busen der Sprecherin richten, als ein Mann vor den Bildschirm trat und direkt in der Sichtlinie stehenblieb.

„Ey, schieb ab, du Mongo!“, bellte der Nazi.

Der Kerl, ein mittelgroßer Weißer mit Kurzhaarschnitt und Koteletten rührte sich nicht.

„Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?“, fragte der indianisch stämmige Mann ruhiger, aber nicht weniger bedrohlich.

„Hab' ja keine Watte in den Ohren, Häuptling“, gab der Typ mit den Koteletten unbekümmert zurück. Einen Moment lang versperrte er weiter die Sicht – wollte offenbar beweisen, dass er einer von den ganz Harten war – dann sah er Hamster tief in die Augen und trat beiseite. Kannte er diesen schrägen Vogel, der sich nun in eine Ecke hockte und eines der mit Ketten an der Wand befestigten Tablets in die Hand nahm? Hamster überlegte angestrengt, konnte sich jedoch beim besten Willen nicht erinnern, diesem Mann schon einmal begegnet zu sein. Er schielte noch ein paarmal hinüber, bis die Zeit im Aufenthaltsraum vorüber war und alle zurück in ihre Zellen gebracht wurden.

Es war merkwürdig, die Zelle erschien Hamster nun größer, als sei sie seit gestern irgendwie geräumiger geworden. Er setzte die Kopfhörer auf und durchsuchte die Markierungen, die er im Player gesetzt hatte. P.A.W.N. war jetzt genau das Richtige, um sanft zu versinken und mit offenen Augen zu träumen. Progressiver Rock begleitet von einer ätherischen Engelsstimme und eingängigen Synthieklängen. Dazu das Buch, mit dem er sich mittlerweile angefreundet hatte. Einige Passagen kannte er bereits auswendig. Noch einmal las er das Kapitel über die ewige Wiederkehr. Bisher hatte ihm diese Vorstellung Angst eingejagt, da sein Dasein als Häftling von New Alcatraz ja genau das gewesen war, eine tagtägliche Wiederholung des immer Gleichen, heute schreckte es ihn nicht. Überhaupt entspannte er das erste Mal, seit er hier einsaß. Das Buch, die Musik der Band, die ihn an seine Jugend erinnerte … Er schöpfte Hoffnung. Wäre da nicht der eine Dorn am Rande seines Bewusstseins gewesen, er hätte sich tatsächlich zufrieden gefühlt. Aber was, stichelte der Dorn, wenn das alles, die ganzen neuen Privilegien, nur einem Zweck dienten? Nämlich dem, ihm vor Augen zu führen, wie das Leben in dieser Anstalt sein konnte, wenn er kooperierte? Wie sehr würde es schmerzen, in welche Verzweiflung würde er zurückfallen, wenn sie ihm die Ablenkungen wieder entzogen? Was war wohl mit den anderen im Aufenthaltsraum? Wogen ihre Vergehen weniger schwer, oder arbeiteten sie mit der Anstaltsleitung zusammen? Hamster beschloss, darauf zu achten, wo der Nazi und der Indigene bei den Essen saßen. Falls sie gemieden wurden, wäre das ein deutliches Indiz.

Die letzten Klänge des Songs The Gift of Awareness verklangen gerade, als die Zelle aufgeschlossen wurde und der Hamster bereits bekannte Arzt in Begleitung zweier Wärter eintrat. Selbst der wieselgesichtige Doktor im weißen Kittel hatte heute ein Lächeln für ihn parat. Kein besonders herzliches, aber immerhin. Ganz ohne Apparaturen – vermutlich waren Geräte in der Anstalt nur in Ausnahmefällen gestattet – untersuchte er ihn. Befahl ihm aufzustehen, tief ein- und auszuatmen, sich vornüber zu beugen und die Arme auszustrecken. Als der rechte Arm nicht so recht mitspielen wollte, nahm der Arzt diesen genauer in Augenschein. Während er ihn abtastete, nuschelte er: „Vermutlich nur eine Epicondylitis humeri radialis, vielleicht aber auch eine durch Kontusion hervorgerufene Sepsis … Heben Sie ihn noch einmal an, so hoch Sie können.“

Hamster gehorchte, brach die Bewegung jedoch ab, als der Schmerz zu groß wurde.

Am Ende bestrich der Arzt Schulter und Ellbogen mit einer streng riechenden Salbe und versprach in zwei Tagen wiederzukommen, um sich anzuschauen, wie sich das entwickelte. „Auf jeden Fall rate ich Ihnen, den Arm zu schonen, keine größeren Belastungen und vermeiden Sie unbedingt weitere … Einwirkungen.“

Hamster nickte, obwohl es ja nicht so war, dass er sich selbst verprügelt hätte. Er sah zu den beiden Wärtern auf, der eine sah weg, der andere, Nick, hielt seinem Blick stand. Ein flüchtiger Ausdruck huschte über seine Miene. Schuldbewusstsein? War denn die ganze Welt über Nacht auf den Kopf gestellt worden?

Die Tage vergingen und Hamster gewöhnte sich an die neuen Abläufe. Der Aufenthaltsraum war ein sonderbares Phänomen. Mitglieder der unterschiedlichsten Gangs kamen dort zusammen, dennoch wurde Hamster nicht ein einziges Mal Zeuge eines Streits. Seine Vermutung bestätigte sich; Bei den Hauptmahlzeiten nahmen jene Männer, die er im Aufenthaltsraum antraf, Randpositionen ein. Sie wurden nicht direkt ausgegrenzt, saßen aber niemals direkt neben den Anführern der Banden.

Hamster durfte eine zusätzliche Anwendung frei wählen. Er entschied sich gegen Hurling, Zugang zum Fitnessraum, den Chinesisch-Sprachkurs und noch einige weitere Angebote und für den Yogakurs. Wie vermutlich auch für die schweren Jungs, die sich mit ihm verrenkten, war für Hamster ausschlaggebend gewesen, dass der Kurs von einer Frau, und einer attraktiven noch dazu, geleitet wurde, insgeheim jedoch lockte ebenfalls die Aussicht, irgendwann zum Yogalehrer aufzusteigen. So lächerlich er sich dabei fühlte, wenn er sich bei dem Gedanken ertappte, das war vielleicht eine echte Perspektive. Ein erster Ansatz, sein Leben noch einmal ganz neu zu überdenken.

Die ebenfalls hinzugekommene Gruppentherapie war hingegen ein schlechter Scherz. Von den Neuzugängen abgesehen, spielten alle das Spiel des glupschäugigen Psychologen mit. Nicht weil einer der Teilnehmer daran glaubte, dass ihm das geforderte Frei-von-der-Seele-Reden etwas brächte, sondern weil sie alle auf weitere Haftbegünstigungen und ein makelloses Führungszeugnis hofften. Natürlich erschienen hier nur jene Häftlinge, bei denen aus Sicht der Anstaltsleitung nicht ohnehin Hopfen und Malz verloren war. Die Harten und Unbeugsamen hätten dem Psychologen die Glubschaugen rausgerissen, wenn er sie nur angesprochen hätte. Für Hamster war es keine leichte Erkenntnis, nicht zu diesen zu gehören. Er war nicht hart und unbeugsam, wie er immer von sich selbst gedacht hatte, er war vielmehr sensibel, gut darin, sich durchzumogeln, sich anzupassen. Er redete niemandem nach dem Mund, gewöhnte sich jedoch an zu schweigen, wenn die Klugheit es ihm gebot.

Auch war er gezwungen, seine sexuelle Ausrichtung neu zu überdenken. Hamster hatte sich von der Pubertät an für bisexuell gehalten, aber selbst das frommste Lamm in der Gruppentherapie erschien ihm grobschlächtig und ihm wurde schlecht bei der Vorstellung, mit einem dieser Kerle intim zu werden. Er sehnte sich nach Sanftheit, glatter Haut, weichen Zügen, zuweilen sogar nach Sanja, dieser elenden Schlange, die ihm all das eingebrockt hatte. Am Anfang hatte er häufiger an sie gedacht, jetzt nur noch selten. Er schämte sich, dass er so blauäugig auf sie hereingefallen war. Irgendwie hatte er ja geahnt, dass sie ein Geheimnis hegte. Hätte sie nicht ein heimliches Doppelleben als Stripperin, Pornodarstellerin oder seinetwegen auch als UV-Nutte führen können? Hatten es unbedingt die verdammten Blauen Engel sein müssen? Aber das war nun nicht mehr zu ändern und ganz allmählich keimte der Gedanke in Hamster, dass es so übel hier gar nicht war. Man konnte es aushalten, vor allem während der Yogastunden reifte dieses Gefühl heran. Wahrscheinlich dachte jeder der Teilnehmer, dass Miss Shelly ihm besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. Manche stellten sich auch absichtlich dämlich an, um von der gelenkigen Schönheit mit den langen Beinen korrigiert zu werden – stets nur verbal, ohne jegliche Berührung, versteht sich. Hamsters Strategie war eine andere, wann immer er nicht las oder Musik hörte, übte er die verschiedenen Stellungen und eleganten Bewegungsabläufe in seiner Zelle. Schnell machte er Fortschritte und er war sich ziemlich sicher, dass Miss Shelly ihn deshalb tatsächlich besonders mochte. Ein glänzendes Beispiel aufrichtiger Bemühung zur Besserung, das war er, bis zum 24. Oktober 2054.

Schon am Geräusch, mit dem die Zellentür aufgerissen wurde, merkte Hamster, dass an diesem Morgen etwas anders war.

„Treten Sie an die Markierung, Nummer 569!“, schnauzte ihn eine Stimme an und Hamster wusste sofort, wer es war, noch ehe er ihn und seinen Kollegen sah. Ausgerechnet Robby, der schlimmste von allen Wärtern.

Die Hände an der Wand, fragte er, was sie von ihm wollten. Ein Fehler, er hatte die Halt-die-Fresse-Regel vergessen. Einer der beiden Männer schlug ihm von hinten auf den Arm, natürlich auf den rechten, der immer noch am auskurieren war. Eine Welle des Schmerzes durchflutete Hamster und machte ihn benommen. Er biss die Zähne zusammen und rührte sich nicht, um den Brutalos keinen Vorwand zu liefern, ihn weiter zu traktieren. Trotzdem wurden ihm die Hände grob auf den Rücken gedreht. Handschellen schnappten um seine Gelenke zu und wieder einmal wurde ihm ein Sack über den Kopf gestülpt. Blind stolperte er aus der Zelle, dann spürte er das kühle Gitter unter seinen nackten Fußsohlen. Natürlich führten ihn die beiden Männer nicht zum Frühstück, sondern schlugen einen Weg ein, den er zu vergessen versucht hatte. Es ging Treppen hinunter und Korridore entlang, in denen die Schritte der beiden Wärter nachhallten. Einmal stürzte er, schonungslos wurde er an den Haaren wieder auf die Beine gezogen. Schließlich hörte er, wie eine Tür aufgeschlossen wurde. Etwas Hartes traf ihn in den Rücken, erneut fiel Hamster zu Boden, aber diesmal ließen sie ihn liegen. Die Tür fiel ins Schloss und er war allein. Sein Atem ging schnell und stoßweise, Schmerz und Dunkelheit ließen ihn einen Augenblick lang vergessen, wo er war und was er hier zu suchen hatte. Dann fiel es ihm wieder ein und Panik überfiel ihn. Er befand sich in einem Verhörraum. Sie würden ihm Fragen stellen und diesmal, das wusste er, würden sie ihn nicht so glimpflich davonkommen lassen, wenn er das Angebot zurückwies – sofern man ihm überhaupt eines unterbreiten würde. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Er war schon Zeuge von Folterung geworden. Die Bilder, wie sie damals hilflos dem wahnsinnigen Erzbischof ausgeliefert waren, stiegen in ihm auf. Sein Atem ging so schnell und unkontrolliert, dass er befürchtete zu ersticken. Vielleicht wäre es das Beste, dachte er. Aber an Hyperventilation starb man nicht so einfach. Langsam ebbte die Panik ab.

Wie lange lag er schon auf dem Boden? Höchstens 15 Minuten sagte sein Verstand, der allmählich zurückkehrte. Er drehte sich auf die Seite, zog die Knie an die Brust, rollte sich darauf und richtete den Oberkörper auf. Leicht schwankend hockte er nun auf den Knien und besann sich auf die Zwerchfellatmung, die Miss Shelly ihn gelehrt hatte. Das Pochen hinter seinen Schläfen wurde schwächer, er hatte sich beinahe wieder im Griff. Die Tür schwang auf und eilige Schritte näherten sich. Jemand riss ihn auf die Beine und drückte ihn auf einen Stuhl nieder. Der Sack wurde ihm vom Kopf gezogen und grelles Licht ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Es war nicht die Agentin vom letzten Mal, sondern zwei Männer in maßgeschneiderten Anzügen. Als sich Hamsters Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, fiel ihm auf, dass die Deckenlampe gar nicht so hell war, im Gegenteil, sie verströmte ein eher schummriges Licht. Ein leerer Tisch vor ihm, zwei Stühle ihm gegenüber, auf welche die beiden Männer sich nun niederließen. Die Ähnlichkeit der beiden war frappierend, konservative Kurzhaarschnitte, lange, spitze Nasen, stechende, eisgraue Augen und schmallippige Münder – herzlose, grausame Mienen. Sie warteten, bis er sich der Situation vollkommen bewusst war und sie länger anblickte.

„Mister Macaulay“, hob der eine gedehnt an, „wie Sie sicher schon vermutet haben, sind wir hier, um Ihnen einige Fragen zu stellen.“

„Lassen Sie uns gleich von Beginn an so ehrlich wie möglich miteinander sein“, fuhr der andere fort. „Jede Lüge Ihrerseits kostet uns Zeit und wenn man uns unsere Zeit stiehlt, stimmt uns das ärgerlich.“

„Sie wollen doch nicht, dass wir ärgerlich werden?“, fragte wieder der eine, seine Stimme war einen Tick höher als die des anderen.

„Nein“, brachte Hamster mit trockener Kehle hervor.

„Das ist sehr vernünftig von Ihnen“, sagte der eine Agent.

„Sehr vernünftig“, echote der andere.

Hamsters Hände schliefen ein, die Handschellen waren zu eng. Aber da dies seine geringste Sorge war, ignorierte er das unangenehme Gefühl.

„Dann wollen wir beginnen. Kommen wir zur ersten Frage, der Frage vor allen weiteren Fragen. Werden Sie uns alles, was wir von Ihnen wissen wollen, wahrheitsgemäß und ohne jedes Hinhalten beantworten?“

Hamster überlegte, dann nahm er all seinen Mut zusammen. „Nein.“ Ungläubig blickte ihn der eine an, der Ausdruck des anderen blieb ungerührt. Sie verlangten, dass er seine Freunde, seine Familie verriet, das würde er nicht tun, niemals. Die beiden verstanden sich auf ihr Handwerk, daran zweifelte Hamster nicht, daher hatte er die Wahrheit gesagt. Sie wären ihm bald auf die Schliche gekommen und wer weiß, was dann passiert wäre. Es war besser, gleich klare Fronten zu schaffen.

„Nein …?“, wiederholte der eine, als würde er dem Geschmack des Wortes auf der Zunge nachschmecken.

„Ihr Entscheidung“, sagte der andere. Die beiden standen wie auf Kommando gemeinsam auf und kamen um den Tisch herum.

„Was?!“, stammelte Hamster, als ihm der Kopf nach hinten und der Mund aufgerissen wurde. Ein winziges Fläschchen gefüllt mit blauer Flüssigkeit erschien zwischen Daumen und Zeigefinger des einen Agenten. Er leerte es in Hamsters Mund.

„Runterschlucken!“

Der Befehl war überflüssig, denn Hamster hatte gar keine andere Wahl, wenn er nicht ersticken wollte. Kurz dachte er erneut, dass Ersticken keine schlechte Option wäre, aber sein Körper verriet ihn. Unwillentlich schluckte er den bitteren Saft hinunter und sofort rebellierte sein Magen. Er wollte würgen, aber die starken Hände der beiden Mistkerle hielten ihn in Position und nach einer Minute hatten seine Eingeweide das Gift aufgenommen. Die Agenten ließen von ihm ab und setzten sich wieder auf ihre Stühle. Der Rechte sah auf sein Kom-Gerät am Handgelenk. „5 Minuten“, sagte er.

„Was ist das für ein Zeug?“, fragte Hamster. Seine Haut begann zu prickeln, er bemerkte, dass er schläfrig wurde. Sie antworteten nicht, aber Hamster konnte es sich auch selbst denken. Ein Wahrheitsserum. Irgendwie musste er seine Sinne zusammenhalten. Er versuchte, sich auf eine Scharte an der Tischkante zu konzentrieren, verlor sie jedoch aus den Augen und schon im nächsten Moment hatte er vergessen, auf was er sich hatte konzentrieren wollen. Bleib bei dir, denke logisch! Für wen arbeiteten die beiden wohl? – ISNA wahrscheinlich. Hatte er den Gedanken nicht gerade schon einmal gedacht? Déjà-vu reihte sich an Déjà-vu.

Er hatte gar nicht mitbekommen, wie es angefangen hatte, auf einmal befand er sich mitten in einem verwirrenden Kreuzverhör.

„Wer zählt alles zu Ihrem Team?“

„Wer führt es an?“

„Für wen habt ihr gearbeitet?“

„Wie lange operiert ihr schon in Greater York?“

„Wiederholen Sie die Namen!“

„Wo verstecken sich die anderen?“

Dem eigenen Empfinden nach war seine Zunge so schwer, dass er kaum sprechen konnte, gleichzeitig jedoch sah er sich selbst, wie durch eine Kamera, die über dem Tisch schwebte und diese zeichnete auf, wie er in einem fort vor sich hin schwatzte. Mit Schrecken hörte Hamster seinem eigenen Gerede zu. „Die dunkle Königin is' gar nich' tot, sie lebt und erfreut sich bester Gesundheit. Sie wartet auf eine Gelegenheit, Rache zu nehmen … Erzbischof Saul hat gebrannt wie eine Fackel … Sheddi, Sheddu, Shedda … Mili, Mila, Milo … der versorgt uns mit allem, was wir brauchen …“ Hamster kicherte. Hieran war überhaupt nichts lustig, aber er konnte nicht aufhören. Gefangen im eigenen Geist, fremdgesteuert von einer hinterhältigen Droge, ein fürchterliches Gefühl.

Plötzlich kam ihm eine Idee. Er konnte sie allein deshalb fassen, weil er lange genug mit Drogen experimentiert hatte. „Ich erzähl doch nur Unsinn!“ Es klang hoffentlich wie eine Aussage, obgleich es ein Befehl an ihn selbst war. Er konnte den Redefluss nicht bremsen, aber es war ihm durchaus möglich, einiges hinzuzufügen. Und so machte er es. Er plapperte in einem fort Geheimnisse aus, streute jedoch allerhand Unsinn ein. Er sprach von Milo und Mister Gemmell, erwähnte zusätzlich aber einige andere Namen. Es gelang ihm nicht, zu sagen, dass Orca tot war, aber er erklärte auch Adolf Hitler, von dem er einmal gelesen hatte, für putzmunter. Er konnte nicht direkt lügen und das tat er auch nicht. Der Trick war, die Ebene zu wechseln. Für den Nazi, der so oft im Aufenthaltsraum neben ihm gesessen hatte, war dieser Faschistenguru Hitler noch präsent, also gewissermaßen am Leben. Die Namen, die er in einem Atemzug mit ihren tatsächlichen Kontakten erwähnte, waren nicht gänzlich frei erfunden, er erwähnte vielmehr alte Bekannte, zum Beispiel die Dealer, die seine Mutter mit UV versorgt hatten, berichtete von deren Auftritten und ließ dabei einfach nur die richtige zeitliche Zuordnung aus. Dieses Spiel, sich auf zwei Ebenen gleichzeitig zu bewegen, war höchst anstrengend. Schweiß troff ihm in Bächen von der Stirn und sein Herzschlag beschleunigte sich auf eine Frequenz, dass ihm immer öfter schwarz vor Augen wurde.

„War es die richtige Dosis für ihn?“

„Eigentlich schon.“

Hamster nahm die Stimmen aus weiter Ferne wahr. Er wusste, er musste nur noch kurz durchhalten, dann würde er zusammenbrechen und wenn er Glück hatte, würde sein Herz aufhören zu schlagen.

„Sollen wir abbrechen?“

„Wenn nicht, verlieren wir ihn.“

„Und?“

Ein Seufzer. „Stimmen wir uns mit der Leitung ab. Vielleicht greifen ja die bewährten Mittel.“

Eine Nadel stach in Hamsters Hals, die Augen fielen ihm zu.

„Elender kleiner Scheißer“, war das Letzte, was er hörte, dann zerfaserte sein Bewusstsein in tausend Einzelteile, die wie Sandkörner von einem Windstoß hinfort geweht wurden.

 

Dunkelheit. Hat man ihm wieder einen Sack über den Kopf gestülpt? Aber nein, die Dunkelheit ist nicht komplett, Konturen, Umrisse schälen sich heraus. Ein runder Schacht mit einem Radius, der einen Schritt in jede Richtung erlaubt. Die Handschellen waren ihm abgenommen worden, er reibt sich die tauben Gelenke. Er blickt nach oben. Weit über ihm dreht sich etwas, eine Art großer Ventilator, der das karge Licht regelmäßig bricht und Schatten an die Wände wirft. Seinen Schatten, denn außer ihm gibt es hier nichts. Er tastet den Boden ab, er ist rau, klamm und fällt zur Mitte hin leicht ab. Dort befindet sich ein Gitter, handgroß und fest in den Beton eingelassen. Er untersucht die Wände. Sie sind glitschig, Wasser tropft an ihnen herab. Wahrscheinlich befindet er sich in einer Art Luftbefeuchtungssystem. Etwa auf Brusthöhe findet er eine Ritze, er fährt ihr mit dem Finger nach. Vermutlich eine nach außen öffnende Tür, genau, auf diesem Weg muss er hineingekommen sein. Er hat nichts bei sich, trägt lediglich seinen Häftlingsanzug. Er friert an den nackten Füßen. Sein rechter Arm hängt schlapp herab, er fühlt sich leblos an, als gehöre er gar nicht zu ihm, als hätte ihn jemand nur an seine Schulter angeklebt. Hamster setzt sich, lehnt den Rücken an die Wand, spürt die Nässe den Stoff durchdringen. Jetzt also Isolationshaft. Er ist noch immer müde, wahrscheinlich eine Nachwirkung des Serums, das ihm die beiden Agenten verabreicht haben. Er schließt die Augen.

Er kann nicht lange geschlafen haben, sein eigenes Zittern hat ihn wohl aufgeweckt. Es ist finsterer als zuvor, daraus leitet er ab, dass es Tageslicht ist, das in den Schacht fällt. Offenbar wird es gerade Abend. Er hat Durst, bildet mit der linken Hand eine Schale, hält sie an die Wand und wartet geduldig, bis sich genug angesammelt hat, um zu trinken. Er wiederholt die Prozedur, einmal, zweimal, dreimal. Wie lange würden sie ihn in diesem Loch gefangen halten? Er macht sich Sorgen um seinen Arm. Ohne ärztliche Behandlung wird er ihn verlieren. Niemals zuvor in seinem Leben hat er sich derart einsam gefühlt. Er öffnet den Mund zum Schrei, aber heraus kommt nur ein kehliges Jammern. Könnte er es schaffen, bis zu dem Ventilator hochzuklettern? Wenn er sich beidseitig mit den Füßen abstützte, … Aber nein, unmöglich. Selbst mit zwei funktionierenden Armen wäre es nicht machbar. Er sitzt fest, auf Gedeih und Verderb.

Die Stunden verstreichen, die Tage vergehen. Hamster ritzt Striche in die Wand, um nicht jegliches Zeitgefühl zu verlieren; so, wie er es in Filmen gesehen hat. Aber da er tags wie nachts in quälend unruhigen Schlaf fällt, verliert er die Übersicht und gibt es auf. Bald stinkt der Schacht widerlich nach seinem Kot und Urin. Die Kälte nistet sich in ihm ein, ein heftiges Fieber befällt ihn, sein Husten hallt hohl von den Wänden wider. Zu ihm mischt sich irrwitziges Lachen, das Lachen von jemandem, der seinen Verstand verliert, oder ist es Weinen? Eine Mischung aus beidem vermutlich. Hamster weiß, dass er bald sterben wird.

Etwas äußerst Merkwürdiges geschieht mit ihm. Je schwächer ihn Hunger und Krankheit werden lassen, je näher er dem Tod kommt, umso mehr wächst etwas in ihm heran. Etwas eisernes, beharrliches, standhaftes. Diese Isolationsfolter soll ihn brechen, was sich ereignet ist das Gegenteil, er wird heil. Seine vormals zersplitterte Existenz ordnet sich neu an, die Widersprüche seines Charakters verbinden sich zu einer Einheit, einem Gleichklang. Hunger, Kälte, Schwäche und Schmerz fechten ihn immer weniger an, der Tod ängstigt ihn nicht mehr. Er wird zu einem Freund, seinem Schatten, einer Erweiterung seines Ichs. Hamster kann kaum noch ein Glied heben, sein Geist hingegen wird messerscharf und klar wie nie zuvor. Der Geist eines Kriegers. Die Grenze zwischen Traum und Wachen besteht nicht mehr, Vernunft und Einbildungskraft sind zu einem wabernden Ganzen verschmolzen. Eine Schlange legt sich um seinen Hals. Er spürt ihre glitschige, schuppige Haut, die sich um seine Kehle zusammenzieht. Die Natter zischelt ihm zu, so nah vor seinem Gesicht, dass die gespaltene Zunge seine Nasenspitze berührt. Dann zuckt sie pfeilschnell auf sein Gesicht zu, kriecht ihm in den Mund und tief in den Hals hinein. Hamster würgt, das Biest will ihn ersticken.

Beiß zu!, ruft ihm eine ferne Stimme zu, beiß zu!

Und er tut es. Mit aller verbliebenen Kraft versenkt er seine Zähne in das zähe Fleisch. Mit unbändiger Wut schnappt er erneut zu. Wie eine Säge schiebt er den Unterkiefer von einer Seite zur anderen, bis er durch ist und die oberen Zähne knirschend auf die unteren stoßen. Er spuckt den Kopf der Schlange aus und springt triumphierend auf die Beine. Diesen Kampf hat er gewonnen! Doch die Kraft verlässt ihn sogleich wieder und Hamster sinkt in sich zusammen.