Christopher Moore

Flossen weg

scanned 2005/V1.0

corrected by bw

Seit Jahren versucht der Meeresbiologe Nate Quinn zu ergründen, warum Buckelwale singen. Endlich scheint er kurz vor der Auflösung des Rätsels zu stehen, als plötzlich seltsame Dinge geschehen. Eine riesige Schwanzflosse taucht aus dem Meer auf mit der deutlichen Aufschrift: Flossen weg! Und derselbe Wal versucht mehrmals über das Telefon bei Nate ein Pastrami-Sandwich zu bestellen. Nate glaubt seinen Verstand zu verlieren, bis er der Bitte nachkommt und in die wundersame Welt der Wale hinabtaucht …

ISBN: 3-442-54208-1

Original: Fluke – Or, I Know Why the Winged Whales Sings (2003) Deutsch von Jörn Ingwersen

Verlag: Manhattan

Erscheinungsjahr: 1. Auflage 2005

Umschlaggestaltung: Design Team München

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

Buch

Der Meeresbiologe Nate Quinn ist verliebt – in die majestätischen Buckelwale, die seit Millionen von Jahren das Meer mit ihren geheimnisvollen Gesängen bevölkern. Doch warum, um alles in der Welt, singen Buckelwale? Dieser Frage geht Nate Quinn seit Jahren zusammen mit seinem Team nach, doch ihrem Geheimnis ist er noch keinen Schritt näher gekommen. Eines Tages aber, als Nate wieder einmal mitten im Meer auf seinem Boot den Beobachtungsposten bezieht, traut er seinen Augen nicht: Nur wenige Schwimmzüge von ihm entfernt, taucht die riesige Schwanzflosse eines Buckelwals auf – und auf dieser Flosse ist groß und deutlich lesbar geschrieben: Flossen weg!

Nate glaubt zunächst, einen Sonnenstich erlitten zu haben, aber als derselbe Buckelwal bei ihm ein Pastrami-Sandwich bestellt, scheint er gar den Verstand verloren zu haben. Erst als Nate der Bitte tatsächlich nachkommen möchte, ist die Auflösung des Rätsels, warum Wale singen, in greifbarer Nähe – zumindest für ihn, denn der Wal führt ihn an den wohl entlegensten Ort der Welt: 623 Fuß unter dem Meeresspiegel, irgendwo vor der Küste Chiles, liegt die verborgene Unterwasserstadt Gooville …

Autor

Der ehemalige Journalist Christopher Moore arbeitete als Dachdecker, Kellner, Fotograf und Versicherungsvertreter, bevor er anfing, Romane zu schreiben. Er wird von der Kritik zu Recht immer wieder mit Douglas Adams und Terry Pratchett verglichen. Seine Romane haben in Amerika längst Kultstatus, und auch im deutschsprachigen Raum wächst die Fangemeinde beständig. Christopher Moore liebt – nach eigenen Angaben: den Ozean, Elefanten-Polo, Käsecracker, Acid Jazz und das Kraulen von Fischottern. Er mag aber weder Salmonellen noch Autoverkehr und erst recht nicht gemeine Menschen. Christopher Moore lebt in Cambria, Kalifornien.

Für Jim Darling, Flip Nicklin und Meagan Jones: außergewöhnliche Menschen, die außergewöhnliche Arbeit leisten ERSTER TEIL

DAS LIED

Ein Meer ohne seine namenlosen Ungeheuer wäre wie ein Schlaf ohne Träume.

John Steinbeck

Die Wissenschaft ist nichts weiter

als ein Regelsystem, das uns daran hindern soll, einander zu belügen.

Ken Norris

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Groß und schlüpfrig. Nächste Frage?

Amy nannte den Wal »Pummelchen«.

Er war sechzehn Meter lang, breiter als ein Stadtbus und wog vierzig Tonnen. Ein wohlplatzierter Schlag seiner mächtigen Schwanzflosse könnte das Fiberglasboot mühelos zersplittern, und an die Besatzung würden nur noch rote Pfützen in den Fluten vor Hawaii erinnern. Amy beugte sich über die Reling und ließ das Hydrophon zum Wal hinunter. »Guten Morgen, Pummelchen« sagte sie.

Nathan Quinn schüttelte den Kopf. Er musste aufpassen, dass ihm bei Amys zuckersüßem Getue nicht übel wurde, während er verstohlen einen Blick auf ihren Hintern warf und sich dabei ein wenig schäbig fühlte. Wissenschaft konnte eine komplexe Angelegenheit sein. Nate war Wissenschaftler. Amy war ebenfalls Wissenschaftlerin, aber in Khaki-Shorts sah sie einfach umwer-fend aus, rein wissenschaftlich betrachtet.

Unter ihnen sang der Wal, und das Boot vibrierte bei jedem Ton. Vorn am Bug fing die Reling an zu summen, und Nate spürte, wie die tieferen Töne in seinem Brustkorb widerhallten.

Der Wal war bei einem Teil des Liedes angekommen, den man

»die grünen Melodien« nannte, eine lange Tonfolge, die sich anhörte, als kurvte ein Krankenwagen durch Wackelpudding.

Ein weniger geübter Zuhörer hätte vielleicht angenommen, der Wal sagte »Hallo« und freute sich des Lebens, wollte alle Welt wissen lassen, dass es ihn gab und er gut drauf war, aber Nate war ein erfahrener Zuhörer, vielleicht der erfahrenste von allen, und für seine geübten Ohren klang es, als sagte der Wal … tja, im Grunde hatte er keine Ahnung, was der Wal eigentlich sagte.

Deshalb dümpelten sie ja hier draußen vor Maui in einem kleinen Motorboot herum und würgten um sieben Uhr morgens 6

ihr Frühstück herunter: Niemand wusste, wieso die Buckelwale sangen. Seit fünfundzwanzig Jahren belauschte, beobachtete, fotografierte Nate die Tiere und piekste sie mit Stöcken, aber er hatte immer noch keine Ahnung, wieso sie eigentlich sangen.

»Er ist bei seinen ›Ribbits‹«, sagte Amy, als sie den Teil des Walgesangs erkannte, der normalerweise kam, kurz bevor das Tier auftauchte. »Ribbit« war der wissenschaftliche Begriff für dieses Geräusch, denn genau so hörte es sich an – wie ein Quaken. Wissenschaft konnte manchmal ganz einfach sein.

Nate spähte über die Reling und sah den Wal, der etwa fünfzehn Meter unter ihnen kopfüber im Wasser hing. Fluke und Brustflossen waren weiß, ein leuchtend blaues V im dunkelblau-en Wasser. Das große Tier lag still, als schwebte es durchs All, wie der letzte Wächter einer ausgestorbenen Rasse Weltraumrei-sender, nur gab es Laute von sich, die eher zu einem daumen-großen Baumfrosch als zu einer archaischen Superrasse gepasst hätten. Nate lächelte. Er mochte die »Ribbits«. Der Wal schlug einmal kurz mit seinem Schwanz und war für Nate nicht mehr zu sehen.

»Er kommt rauf«, sagte Nate.

Amy nahm ihre Kopfhörer ab und griff sich die vollautomatische Nikon mit dem 300 mm-Objektiv. Eilig zog Nate das Hydrophon hoch und rollte das nasse Tau am Boden vor seinen Füßen auf. Er wandte sich dem Kontrollpult zu und ließ den Motor an.

Dann warteten sie.

Hinter sich hörten sie einen Wal ausblasen. Beide fuhren herum und sahen eine Säule aus Wasserdampf in der Luft hängen, aber sie war weit entfernt, gut dreihundert Meter hinter ihnen, zu weit, als dass es ihr Wal sein konnte. Das war das Problem mit diesen Gewässern zwischen Maui und Lanai. Es gab dort so viele Wale, dass es oft nicht einfach war, den einen, 7

den man beobachtete, von den hunderten anderer zu unterschei-den. Die Menge der Tiere war Segen und Fluch zugleich.

»Ist das da unser Bursche?«, fragte Amy. Alle Sänger waren männlich. Zumindest soweit sie wussten. Die DNS-Tests hatten es ergeben.

»Glaub ich nicht.«

Weiter links blies noch einer aus, erheblich näher. Nate konnte die weiße Fluke, die beiden Schaufeln seiner Schwanzflosse, unter Wasser sehen, selbst auf hundert Meter Entfernung. Amy startete ihre Stoppuhr. Nate schob den Gashebel nach vorn, und schon waren sie unterwegs. Amy drückte ein Knie gegen die Konsole, um sich abzustützen, und hielt die Kamera auf den Wal gerichtet, während das Boot durch die Wellen pflügte. Drei-

, viermal würde er ausblasen, dann seine Fluke zeigen und abtauchen. Amy musste bereit sein, wenn der Wal tauchte, um ein gutes Bild von seiner Schwanzflosse zu bekommen, damit er identifiziert und katalogisiert werden konnte. Als sie bis auf dreißig Meter herangekommen waren, nahm Nate Gas weg und hielt das Boot in Position. Noch einmal blies der Wal, und sie waren so nah dran, dass sie etwas von dem Sprühnebel abbeka-men. Er stank nicht nach Fisch und Mundgeruch wie die Wale, mit denen man es in Alaska zu tun hatte. Buckelwale fraßen nichts, wenn sie vor Hawaii waren.

Der Wal zeigte seine Fluke, und Amy schoss zwei Bilder mit der Nikon.

»Braver Junge«, sagte Amy zu dem Wal. Sie drückte ihre Stoppuhr.

Nate stellte den Motor ah, und das Boot schaukelte in der sanften Dünung. Er warf das Hydrophon über Bord, dann drückte er den Aufnahmeknopf am Rekorder, der mit einem elastischen Band am Pult befestigt war. Amy legte die Kamera auf den Sitz vor dem Pult, dann nahm sie ihr Notizbuch aus der wasserdichten Tasche.

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»Er ist bei genau sechzehn Minuten«, sagte Amy, checkte die Tauchzeit, hielt sie in ihrem Notizbuch fest und schrieb Zeit und Bildziffern auf den Film, den sie eben verschossen hatte. Nate las ihr die laufende Nummer vom Rekorder vor, dann Längen-und Breitengrad vom tragbaren GPS-Gerät. Amy legte die Aufzeichnungen weg, und sie lauschten. Diesmal waren sie nicht direkt über dem Wal, konnten ihn aber aus den Lautsprechern des Rekorders singen hören. Nate setzte seine Kopfhörer auf und lehnte sich zurück.

So war das mit der Feldforschung. Augenblicke frenetischer Aktivität, gefolgt von endlosen Phasen des Wartens. (Nates erste Ex-Frau hatte einmal angemerkt, das sei in ihrem Sexualleben auch nicht anders gewesen, aber da waren sie schon nicht mehr zusammen, und sie hatte ihm nur eins auswischen wollen.) Im Grunde war es mit dem Warten vor Maui nicht so schlimm …

zehn, fünfzehn Minuten am Stück. Als er im Nordatlantik über Glattwale geforscht hatte, musste Nate manchmal wochenlang warten, bis er einen Nordkaper fand, den er beobachten konnte.

Normalerweise nutzte er die Tauchzeit, um darüber nachzudenken, ob er sich nicht besser einen richtigen Job hätte suchen sollen, einen, bei dem man auch Geld verdiente und die Wo-chenenden frei hatte, oder wenigstens irgendwas, bei dem die Ergebnisse seiner Arbeit greifbarer waren, wie etwa beim Versenken von Walfangschiffen – als Pirat und Retter.

Heute gab sich Nate alle Mühe, Amy nicht dabei zu beobachten, wie sie sich mit Sonnencreme einrieb. Amy war eine Schneeflocke im Land der Sonnenbräune. Die meisten Walforscher verbrachten viel Zeit unter freiem Himmel, auf dem Wasser – größtenteils ein unerschrockener Haufen, der gern an der frischen Luft war, Leute, die ihre von Wind und Sonne gegerbten Gesichter wie Kriegsveteranen stolz zur Schau trugen.

Es gab nur wenige ohne diesen semipermanenten Waschbären-Look um die Augen und sonnengebleichtes Haar oder so eine schuppige, kahle Stelle am Hinterkopf. Amy dagegen hatte 9

milchweiße Haut und glattes, kurzes, schwarzes Haar, so dunkel, dass manche Strähnen in der Sonne Hawaiis blau leuchteten. Sie trug kastanienbraunen Lippenstift, was in dieser Umgebung so atemberaubend unpassend wirkte, dass es schon fast komisch war. Sie sah aus wie die Königin der pazifischen Gruftis, was tatsächlich auch einer der Gründe war, weshalb ihre Anwesenheit Nate derart verwirrte. (Er sagte sich: Ein wohlgeformter Hintern – selbst halb nackt – war nur ein wohlgeformter Hintern, aber hängte man einen wohlgeformten Hintern an eine blitzgescheite Frau und fügte einen Hauch Unbeholfenheit hinzu, schon hatte man … na ja, Probleme.)

Nate sah nicht hin, als sie den Sonnenschutzfaktor 50 auf ihren Beinen verrieb, auf Knöcheln und Füßen. Er sah nicht hin, als sie sich auszog – bis auf ihr Bikinioberteil – und Sonnencreme über Brust und Schultern verteilte. (Die Tropensonne kann einen sogar versengen, obwohl man Kleider trägt.) Vor allem aber achtete Nate nicht darauf, wie sie seine Hand nahm, Sonnencreme hineinspritzte, sich dann umdrehte und ihm bedeutete, dass er sie auf ihrem Rücken verteilen sollte, was er auch tat –

wobei er sie nicht näher beachtete. Professionelle Zurückhal-tung. Er war bei der Arbeit. Er war Wissenschaftler. Er lauschte dem Lied des Megaptera novaeangliae ( »Großer Flügel von Neuengland« hatte ein Wissenschaftler diesen Wal getauft und damit eindeutig bewiesen, dass Wissenschaftler zu viel trinken), und er war keineswegs verzaubert von ihrem bezaubernden Hintern, da er in der Vergangenheit schon vergleichbare Daten gesammelt und ausgewertet hatte. Nates Analyse zufolge verwandelten sich bezaubernde Hintern in 66,666 Prozent aller Fälle in Ehefrauen, und Ehefrauen verwandelten sich in exakt 100 Prozent aller Fälle in Ex-Ehefrauen – plus/minus fünf Prozent, was auf den nachehelichen Sex zurückzuführen war.

»Soll ich’s dir machen?«, fragte Amy und streckte die Hand aus, mit der sie am meisten Erfahrung im Verreiben von Sonnencreme hatte.

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Geh gar nicht erst darauf ein, dachte Nate, nicht mal im Scherz. Eine falsche Antwort auf so einen Satz, und schon konnte man seine Stellung an der Universität verlieren, wenn man denn eine hätte, was bei Nate nicht der Fall war, aber trotzdem … Daran dachte man nicht einmal.

»Nein, danke, dieses Hemd hat extra einen eingewebten UV-Schutz«, sagte er und stellte sich vor, wie es wäre, wenn Amy es ihm machte.

Misstrauisch musterte Amy sein ausgewaschenes T-Shirt mit der Aufschrift WE LIKE WHALES CONFERENCE ’89 und

verteilte den Rest Sonnencreme an ihrem Bein. »Ach was«, sagte sie.

»Weißt du, ich wünschte wirklich, ich könnte rausfinden, wieso die Burschen singen«, sagte Nate, nachdem der Kolibri seiner Gedanken sämtliche Blumen im Garten gekostet hatte und wieder bei diesem Plastikgänseblümchen angekommen war, das einfach keinen Nektar geben wollte.

»Echt wahr?«, erwiderte Amy todernst und dennoch lächelnd.

»Aber wenn du es rausgefunden hast, was machen wir dann morgen?«

»Herumprahlen«, antwortete Nate grinsend.

»Ich würde den ganzen Tag lang tippen, Ergebnisse analysieren, Fotos vergleichen, Tonaufnahmen archivieren …«

»Uns ein paar Donuts holen«, fügte Nate hilfreich hinzu.

Amy fuhr fort, zählte die Liste an den Fingern ab: »… leere Tonbänder besorgen, die Autos und Boote waschen, rüber zum Fotolabor laufen –«

»Nicht so eilig«, unterbrach Nate.

»Wie? Du willst mir die Freude vorenthalten, rüber zum Fotolabor zu laufen, während du dich im wissenschaftlichen Ruhm sonnst?«

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»Nein, du darfst zum Labor laufen, aber Clay hat jemanden eingestellt, der die Autos und Boote wäscht.«

Eine zarte Hand wanderte zu ihrer Stirn, als wäre sie einer Ohnmacht nah, die Südstaatenschönheit, von Schwermut umfangen. »Wenn ich falle und über Bord gehe, lass mich nicht ertrinken.«

»Weißt du, Amy«, sagte er, während er die Armbrust auspack-te, »ich weiß nicht, wie ihr es in Boston gehalten habt, aber in der Verhaltensforschung wird von Assistenten eigentlich nur erwartet, dass sie sich über erniedrigende Hilfsarbeiten beklagen. So war es, als ich dabei war, so ist es seit Jahrhunderten, immer schon. Selbst Darwin hatte jemanden auf der Beagle, der ihm die toten Vögel archiviert und die Karteikarten sortiert hat.«

»Hatte er nicht. Darüber habe ich nie was gelesen.«

»Natürlich nicht. Niemand schreibt über Forschungsassistenten.« Wieder grinste Nate, feierte seinen kleinen Sieg. Er merkte, dass er seinen Pflichten dieser Assistentin gegenüber nicht ausreichend nachkam. Clay, sein Partner, hatte sie vor gut zwei Wochen eingestellt, und mittlerweile hätte Nate sie eigentlich terrorisieren müssen. Stattdessen hatte sie ihn im Griff wie einen Sklaven bei Starbucks.

»Zehn Minuten«, sagte Amy mit einem Blick auf den Timer ihrer Uhr. »Willst du auf ihn schießen?«

»Es sei denn, du möchtest.« Nate legte den Pfeil in die Armbrust. Er stopfte den Anorak, in den sie die Armbrust

»einwickelten«, unter die Konsole. Es war politisch höchst unkorrekt, im Hafen von Lahaina eine Waffe bei sich zu führen, um damit auf Wale zu schießen, und deshalb versteckten sie die Armbrust im Anorak und taten, als hinge die Jacke auf einem Bügel.

Amy schüttelte heftig den Kopf. »Ich fahre das Boot.«

»Du solltest es ruhig lernen.«

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»Ich fahre das Boot«, wiederholte Amy.

»Niemand fährt das Boot.« Zumindest kein anderer als Nate.

Zugegeben, die Constantly Baffled war nur ein Acht-Meter-Mako-Speedboot, und an einem windstillen Tag wie heute hätte selbst ein aufgeweckter Vierjähriger damit umgehen können.

Trotzdem: Er fuhr dieses Boot. Niemand anders. Männer empfanden nun mal erhebliches Unbehagen bei dem Gedanken, dass eine Frau Gewalt über ein Speedboot oder gar eine Fern-sehfernbedienung haben mochte.

»Er kommt rauf«, sagte Nate. Sie hatten jetzt eine Aufnahme des gesamten, sechzehnminütigen Liedes. Er stoppte den Rekorder und zog das Hydrophon herauf, dann ließ er die Maschine an.

»Da«, sagte Amy und deutete auf die weißen Flossen und die Fluke, die sich unter Wasser bewegten. Der Wal blies nur zwanzig Meter vor ihrem Bug aus. Nate gab Vollgas. Amy wurde glatt von den Füßen gerissen und klammerte sich gerade noch rechtzeitig an die Reling neben der Ruderkonsole, als das Boot einen Satz nach vorn machte. Nate blieb rechts neben dem Wal, kaum zehn Meter abseits, als das Tier zum zweiten Mal auftauchte. Er hielt das Ruder mit der Hüfte, hob die Armbrust an und schoss. Der Bolzen prallte von dem gummiartigen Rücken ab. Wie eine bleistiftgroße Plätzchenform trennte die hohle Spitze Haut und Fettgewebe heraus, bis das breite Plastikende ein weiteres Eindringen verhinderte.

Der Wal hob seinen Schwanz aus dem Wasser und schlug ihn in die Luft, gab ein Geräusch von sich, als knackte ein mächtiges Gelenk, als er die massigen Schwanzmuskeln anspannte.

»Er ist genervt«, sagte Nate. »Nehmen wir eine Messung vor.«

»Jetzt?«, fragte Amy. Normalerweise warteten sie den nächsten Tauchzyklus ab. Offensichtlich fürchtete Nate, der Wal könnte weiterziehen, obwohl sie erst die Hautprobe genommen 13

hatten. Sie konnten ihn verlieren, bevor eine Größenmessung vorgenommen war.

»Jetzt. Ich schieße, du bedienst den Entfernungsmesser.«

Nate nahm das Gas zurück, damit er die Schwanzflosse auch wirklich ganz in den Sucher bekam, wenn der Wal abtauchte.

Amy schnappte sich den lasergesteuerten Entfernungsmesser, der aussah wie ein Fernglas für Zyklopen. Indem sie genau ermittelten, wie weit der Schwanz entfernt war, und diesen Wert mit der Schwanzgröße auf dem Bild verglichen, konnten sie die Grüße des Tieres relativ genau berechnen. Nate hatte einen Algorithmus gefunden, mit dem sie die Länge eines Wales mit 98%iger Genauigkeit ausrechnen konnten. Noch vor wenigen Jahren hatten sie im Flugzeug sitzen müssen, wenn sie wissen wollten, wie lang ein Tier war.

»Fertig«, sagte Amy.

Der Wal blies aus und wölbte seinen Rücken zu einem hohen Buckel auf, als er sich zum Tauchen bereitmachte (deshalb nannte man sie »Buckelwale« ). Amy richtete den Entfernungsmesser auf den Walrücken. Nate hielt das Teleobjektiv auf dieselbe Stelle, und die kleinen Motoren zur Autofokussierung summten leise, glichen die Bewegungen des Bootes aus.

Der Wal zeigte seine Fluke, hob den Schwanz hoch in die Luft, und dort sah man – statt der markanten, schwarzweißen Zeichnung, nach der Buckelwale identifiziert wurden – in dreißig Zentimeter hohen schwarzen Buchstaben die Worte FLOSSEN WEG!

Nate drückte den Auslöser. Vor Schreck fiel er rückwärts in den Kapitänssitz und riss dabei den Gasgriff nach hinten. Die Nikon sank auf seinen Schoß.

»Ich glaub’s nicht!«, rief Nate. »Hast du das gesehen?«

»Was gesehen? Ich hab hier dreiundsiebzig Fuß«, sagte Amy, während sie den Entfernungsmesser abnahm. »Von da, wo du bist, wahrscheinlich sechsundsiebzig. Was waren deine Bildzif-14

fern?« Sie griff nach dem Notizbuch, als sie sich zu Nate umdrehte. »Bist du okay?«

»Alles klar. Bild Nummer sechsundzwanzig, aber ich hab ihn verpasst«, log er. Sein Hirn blätterte in einem gewaltigen Stapel Karteikarten, durchforstete eine Million Artikel, die er gelesen hatte, suchte eine Erklärung für das, was er eben gesehen hatte.

Es konnte unmöglich wahr sein. Der Film würde es beweisen.

»Dir ist keine ungewöhnliche Zeichnung aufgefallen, als du das Foto gemacht hast?«

»Nein, dir?«

»Nein, vergiss es.«

»Ganz ruhig, Nate. Wir kriegen ihn, wenn er wieder hochkommt«, sagte Amy.

»Kehren wir um.«

»Willst du denn keine Längenmessung vornehmen?« Um die Daten zu komplettieren, brauchten sie ein Erkennungsfoto, eine Tonaufnahme von mindestens einem vollständigen Liedzyklus, eine Hautprobe zur Ermittlung von DNS und Toxinen – und eine Längenmessung.

»Kehren wir lieber nach Lahaina zurück«, sagte Nate und starrte die Kamera auf seinem Schoß an. »Du fährst.«

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Maui No Ka Oi (Maui ist der Beste)

Am Anfang war der alte Schwindler Maui, der im Kanu saß, seine Leine auswarf und die Inseln vom Grund des Meeres angelte. Er sah sich an, was er da heraufgezogen hatte. Mitten in der Kette sah er eine Insel, die aus zwei großen Vulkanen bestand, wie die warmen, schiefen Brüste des Meeres. Zwischen diesen beiden lag ein tiefes Tal, das in Mauis Augen wie ein weiblicher Busen aussah, was ihm gut gefiel. Und so gab Maui der Insel mit den beiden Möpsen seinen Namen, und ihr Spitzname wurde »Buseninsel«, was so blieb, bis ein paar Missionare auftauchten und sie in »Insel des Tales« umtauften (denn im Aufspüren und Vernichten von Frohsinn sind Missionare unge-schlagen). Dann landete er mit seinem Kanu an einem stillen, schmalen Strand an der Westküste seiner neuen Insel und sagte sich: »Ich könnte ein paar Cocktails und ’ne kleine Nummer vertragen. Ich lauf nach Lahaina und besorg mir was.«

Nun, die Zeit verging, und ein paar Walfänger kamen auf die Insel, brachten Stahlwerkzeuge, Syphilis und andere Wunder-dinge aus dem Westen mit, und bevor noch jemand wusste, was los war, dachten auch die Walfänger, sie hätten nichts gegen ein paar Cocktails und eine kleine Nummer einzuwenden. Statt nun also wieder ums Horn zurück nach Nantucket zu segeln, um ein paar Gläschen Grog und die Röcke der erstbesten Hester, Millicent oder Prudence zu lüpfen (so schnell, dass die gute Frau dachte, sie sei in einen Schornstein gefallen und auf einer Zucchini gelandet), fuhren sie nach Lahaina ein, angelockt vom trunkenen Sexzauber des alten Maui. Sie waren nicht wegen der Wale nach Maui gekommen. Sie kamen, um zu feiern.

Und so wurde aus Lahaina eine Walfängerstadt. Obwohl jedoch die Buckelwale nun seit einigen Jahren dorthin kamen, um 16

zu kalben und zu singen, und es in den Gewässern um Hawaii von geflügelten Sängern nur so wimmelte, machten die Walfänger dort keineswegs wegen der Buckelwale Station. Die waren wie ihre Furchenwal-Brüder – die stromlinienförmigen Blau-, Finn-, Sei-, Zwerg- und Brydewale – einfach zu schnell, als dass man sie mit Segelschiffen und Ruderbooten jagen konnte. Nein, die Walfänger kamen nach Lahaina, um sich auszuruhen und sich auf dem Weg in die japanischen Gewässer zu amüsieren, wo sie den großen Glattwal jagten, der wie ein dicker, tumber Baumstamm im Wasser dümpelte, so dass man einfach hinru-dern und ihm eine Harpune in den Kopf rammen konnte. Erst nach Erfindung der Dampfschiffe und der Dezimierung jener riesigen, fetttriefenden Glattwale richteten die Jäger ihre Harpu-nen auf die Buckelwale.

Den Jägern folgten die Missionare, die Zuckerfarmer, die Chinesen, Japaner, Filipinos und Portugiesen – die allesamt auf den Zuckerplantagen arbeiteten – und Mark Twain. Mark Twain fuhr wieder nach Hause. Alle anderen blieben. In der Zwischen-zeit vereinigte König Kamehameha I. die Inseln durch den geschickten Einsatz von Feuerwaffen gegen Holzspeere und machte Lahaina zur Hauptstadt von Hawaii. Kurze Zeit darauf fuhr Amy am Steuer eines Acht-Meter-Mako-Speedboots in den Hafen von Lahaina ein, mit einem großen, fassungslos dreinbli-ckenden Doktor der Biologie auf dem Bugsitz.

Das Funkgerät piepste. Amy nahm es und drückte den Sprechknopf. »Ich höre, Clay.«

»Stimmt irgendwas nicht?« Offenbar stand Clay Demodocus am Hafen und sah sie kommen. Es war noch nicht mal acht Uhr morgens. Wahrscheinlich machte er gerade sein Boot bereit, um rauszufahren.

»Ich weiß nicht genau. Nate will Feierabend machen. Ich frag ihn, wieso.« Zu Nate sagte sie: »Clay will wissen, wieso.«

»Anomale Daten«, erwiderte Nate.

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»Anomale Daten«, wiederholte Amy ins Funkgerät.

Es folgte eine Pause. Dann sagte Clay: »Oh, okay … schon verstanden.«

Der Hafen von Lahaina ist nicht sehr groß. Nur etwa hundert Boote finden innerhalb der Hafenmauern Platz, und dabei handelt es sich bei den meisten um geräumige Vergnügungs-jachten oder Katamarane, fünfundzwanzig Meter lange Boote voll sonnencremetriefender Touristen, die auf dem Wasser alles Mögliche treiben, von Schlemmerfahrten übers Sportangeln und Schnorcheln am halb versunkenen Krater von Molokini bis hin zum »Whale Watching«. Jet Ski, Parasailing und Wasserski waren von Dezember bis April verboten, solange sich die Buckelwale in diesen Gewässern befanden, und daher waren viele der kleineren Boote, mit denen normalerweise unbescholtene Mee-resbewohner im Namen der Freizeit terrorisiert wurden, während der Saison an Walforscher vermietet. An einem ganz normalen Wintermorgen konnte man unten im Hafen von Lahaina keine Kokosnuss werfen, ohne damit einen Doktor der Cetologie zu treffen (und man hatte gute Chancen, mit einem Querschläger zwei Magister zu streifen, die an ihrer Dissertation arbeiteten).

Clay Demodocus war mit einem Doktor und einem Marineoffizier in eine Partie Forschungslügenpoker verstrickt, als Amy das Mako rückwärts in den Liegeplatz manövrierte, den sie sich mit drei Beibooten von Segeljachten teilten, die draußen vor dem Hafen lagen, einem Elf-Meter-Motorsegler und dem anderen Boot der Maui Whale Research Foundation (Clays Boot), der Always Confused, einem nagelneuen Sieben-Meter-Grady White-Fisherman mit Mittelkonsole. (Liegeplätze waren in Lahaina schwer zu bekommen, und die Umstände zwangen die Maui Whale Research Foundation – Nate und Clay – in dieser Saison, tagtäglich ein nautisches Kuddelmuddel mit sechs weiteren Booten aufzuführen. Was tut man nicht alles, nur um mit einem Stock Wale pieksen zu können?)

»Schade«, sagte Clay, als ihm Amy die Heckleine zuwarf.

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»Was für ein schöner, windstiller Tag.«

»Wir haben alles, bis auf die Längenmessung von dem einen Sänger«, erwiderte Amy.

Der Wissenschaftler und der Marineoffizier auf dem Anleger hinter Clay nickten, als verstünden sie nur zu gut. Clifford Hyland, ein grauhaariger Walforscher aus Iowa, stand neben dem jungen Captain L. J. Tarwater in frisch gebügelter schneeweißer Uniform, der aufpasste, dass Hyland das Geld der Navy auch angemessen verwendete. Hyland wirkte immer etwas verlegen und mied den Blickkontakt mit Amy und Nate. Ohne Geld ging es nicht, und Forscher nahmen, was sie kriegen konnten, aber Navy-Geld, also … es stank.

»Morgen, Amy«, sagte Tarwater und strahlte sie mit seinem makellosen, schneeweißen Lächeln an. Er war schlank, dunkel-haarig und wirkte beklemmend tüchtig. Neben ihm sahen Clay und die anderen Wissenschaftler aus, als hätte man sie mit einem Sack voll Lavaasche in den Trockner gesteckt.

»Guten Morgen, Captain. Morgen, Cliff.«

»Hi, Amy«, sagte Cliff Hyland. »Hi, Nate.«

Nathan Quinn schüttelte seine Benommenheit ab wie ein Golden Retriever, der seinen Namen irgendwie im Zusammenhang mit Futter gehört hatte. »Was? Wie? Oh, hi, Cliff. Was?«

Hyland und Quinn gehörten einer Gruppe von dreizehn Wissenschaftlern an, die zum ersten Mal in den Siebzigern nach Lahaina gekommen war ( »Die Killer-Elite« nannte Clay sie noch heute, nachdem sie sich alle zu Autoritäten auf ihrem Gebiet entwickelt hatten). Ursprünglich wollten sie gar keine Gruppe sein, merkten jedoch schon bald, dass sie nur auf der Insel bleiben konnten, wenn sie ihre finanziellen Mittel zusammenlegten und auch gemeinsam wohnten. Jahrelang lebten dreizehn Perso-nen – manchmal sogar mehr, wenn sie sich Assistenten, Frauen oder Freundinnen leisten konnten – während der Saison gemeinsam in einem kleinen Haus, das sie in Lahaina angemietet hat-19

ten. Hyland verstand Quinns Neigung, sich in seine Forschungen zu vertiefen, bis er alles um sich herum vergaß, und so konnte es ihn auch nicht überraschen, dass der schlaksige Forscher mit seinen Gedanken woanders war.

»Anomale Daten, hm?«, fragte Cliff, da er vermutete, dass Nate deshalb in anderen Sphären schwebte.

»Äh … nichts, was ich mit Bestimmtheit sagen könnte. Ich meine, im Grunde funktioniert nur der Rekorder nicht richtig.

Irgendwas schleift. Muss vielleicht gereinigt werden.«

Und alle, einschließlich Amy, sahen Quinn einen Moment lang an, als wollten sie sagen: Was du nicht sagst, du verlogener Popel Walrotz, das ist ja wohl die müdeste Geschichte, die ich je gehört habe, wen willst du hier eigentlich verarschen?

»Schade«, sagte Clay. »So einen strahlend blauen Tag da drau-

ßen zu verpassen. Vielleicht könnt ihr mit dem anderen Rekorder wieder rausfahren, bevor Wind aufkommt.« Clay wusste, dass mit Nate irgendwas los war, aber er vertraute ihm auch, und deshalb drängte er ihn nicht. Nate würde schon damit rausrü-

cken, sobald ihm danach zumute war.

»Apropos«, sagte Hyland. »Ich glaube, wir sollten langsam mal los.« Er schlenderte den Anleger zu seinem Boot hinunter.

Tarwater starrte Nate gerade so lange an, dass seine Abscheu deutlich wurde, dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte Hyland hinterher.

Als sie weg waren, sagte Amy: »Tarwater ist ein ekliger Typ.«

»Der ist schon in Ordnung. Er macht einfach seine Arbeit«, erwiderte Clay. »Was war mit dem Rekorder?«

»Der Rekorder ist okay«, sagte Nate.

»Was war denn los? Es ist doch ein perfekter Tag.« Clay fasste gern das Offensichtliche in Worte, sofern es denn positiv war.

Es war sonnig, still, kein Lüftchen regte sich, und die Unterwas-20

sersicht betrug fast siebzig Meter. Es war tatsächlich ein perfekter Tag für die Walforschung.

Nate begann, Clay die wasserdichten Kisten mit der Ausrüstung rüberzureichen. »Ich weiß nicht. Könnte sein, dass ich da draußen was gesehen habe, Clay. Ich muss drüber nachdenken und die Bilder sehen. Ich geb meinen Film im Labor ab, dann lauf ich rüber nach Papa Lani und schreib ein paar Berichte, bis der Film entwickelt ist.«

Clay zuckte, wenn auch nur kurz. Es war Amys Aufgabe, Filme abzugeben und Berichte zu schreiben. »Okay. Wie steht’s mit dir, Kleine?«, sagte Clay zu Amy. »Mein neuer Helfershelfer scheint nicht aufzutauchen, und ich brauch jemanden oben, wenn ich unten bin.«

Amy sah Nate an, als wollte sie so was wie seine Erlaubnis, aber als er einfach weiter Kisten entlud, ohne zu reagieren, zuckte sie mit den Schultern. »Klar, gerne.«

Plötzlich wurde Clay ganz unsicher und scharrte mit seinen Flip-Flops, so dass er einen Moment eher wie ein Fünfjähriger aussah, nicht wie ein Fünfzigjähriger mit fassförmigem Oberkörper. »Wenn ich dich ›Kleine‹ genannt habe, wollte ich dich damit keineswegs erniedrigen oder so was in der Art. Das weißt du, oder?«

»Ich weiß«, antwortete Amy.

»Und ich wollte damit auch keine Bemerkung hinsichtlich deiner Kompetenz machen.«

»Ich verstehe, Clay.«

Clay räusperte sich unnötigerweise. »Okay«, sagte er.

»Okay«, sagte Amy. Sie schnappte sich zwei wasserdichte Kisten mit Ausrüstung, stieg auf den Anleger und schleppte das Zeug zum Parkplatz hinüber, damit es in Nates Pick-up verladen werden konnte. Über die Schulter hinweg rief sie: »Ihr zwei Jungs solltet dringend mal einen wegstecken.«

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»Ich denke, das nennt man sexuelle Belästigung, nur seiten-verkehrt«, sagte Clay zu Nate.

»Vielleicht leide ich unter Halluzinationen«, sagte Nate.

»Nein, sie hat es wirklich gesagt«, betonte Clay.

Nachdem Quinn gegangen war, stieg Amy auf die Always Confused und machte die Heckleine los. Sie warf einen Blick über die Schulter zu der Dreizehn-Meter-Kabinen-Jacht, an deren Bug Captain Tarwater posierte, als machte er Werbung für ein besonders scharfes Waschmittel – »Weißer Riese Ultrasteif«

vielleicht.

»Clay, hast du schon mal gehört, dass Forscher bei der Arbeit von einem uniformierten Marineoffizier begleitet werden?«

Clay blickte auf; er checkte gerade die Batterien im GPS.

»Nur wenn der Forscher von einem Marineschiff aus arbeitet.

Ich bin mal auf einem Zerstörer mitgefahren, um vor Ort die Folgen hochexplosiver Sprengstoffe auf die Seelöwenpopulation der Falklandinseln zu studieren. Sie wollten sehen, was passiert, wenn man eine Fünftausend-Kilo-Bombe in der Nähe einer solchen Kolonie zündet. Dafür war ein Offizier in Uniform verantwortlich.«

Amy warf die Leine auf den Anleger und wandte sich zu Clay um. »Und was ist passiert?«

»Na ja, sie sind in die Luft gegangen. Ich meine, das war eine Menge Sprengstoff.«

» Das haben sie dich für National Science filmen lassen?«

»Nur Fotos«, sagte Clay. »Ich glaube, sie haben nicht damit gerechnet, dass so was ablaufen würde. Ich hab ein paar tolle Aufnahmen von regnenden Seehunden.« Clay ließ die Maschine an.

22

»Igitt.« Amy band die Fender los und zog sie ins Boot. »Aber hier hast du bisher noch keinen Uniformierten gesehen? Bis jetzt, meine ich?«

»Noch nie«, antwortete Clay. Er drückte den Gashebel herunter. Es tat einen dumpfen Schlag, und das Boot fuhr langsam an.

Amy stieß sie mit einem gepolsterten Bootshaken von den umliegenden Booten ab. »Was glaubst du, was die hier machen?«

»Ich war gerade dabei, sie auszufragen, als ihr beiden reingekommen seid. Sie hatten eine ziemlich große Kiste verladen. Ich habe sie gefragt, was es war, und Tarwater wollte nicht so recht damit rausrücken. Cliff sagte, es sei irgendwas Akustisches.«

»Richtmikrofone?«, fragte Amy. Manchmal zogen Forscher eine ganze Reihe von Hydrophonen hinter sich her, mit denen man – im Gegensatz zu einem einzelnen Hydrophon – die Richtung bestimmen konnte, aus welcher die Laute kamen.

»Könnte sein«, sagte Clay. »Nur dass sie keine Winsch auf ihrem Boot haben.«

»Einen Flunsch? Was willst du damit sagen, Clay?« Amy spielte die Gekränkte. »Dass ich einen Flunsch ziehe?«

Clay lächelte sie an. »Ich bin alt und habe eine Freundin, und von daher bin ich gegen solche Anspielungen immun. Bitte unterlass deine sinnlosen Versuche, mich in Verlegenheit zu bringen.«

»Fahren wir ihnen nach.«

»Sie arbeiten auf der Leeseite von Lanai. Ich möchte mit der Confused nicht aufs offene Meer fahren.«

»Also hast du versucht, rauszufinden, was sie vorhaben?«

»Ich habe danach gefischt, aber nichts gefangen. Cliff sagt kein Wort, solange Tarwater neben ihm steht.«

»Also, fahren wir ihnen hinterher.«

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»Wir könnten heute eine Menge schaffen. Schließlich ist bestes Wetter, und wer weiß, ob wir in dieser Saison ein Dutzend windstiller Tage zusammenbekommen. Wir können es uns nicht leisten, einen vollen Tag zu verlieren, Amy. Wobei mir einfällt: Was ist eigentlich los mit Nate? Sieht ihm gar nicht ähnlich, einen Arbeitstag ausfallen zu lassen.«

»Du weißt doch, dass er ’ne Schraube locker hat«, sagte Amy, als sei die Antwort nahe liegend. »Er denkt einfach zu viel über Wale nach.«

»Ach ja, stimmt. Hatte ich ganz vergessen.« Als sie aus dem Hafen fuhren, winkte Clay ein paar Forschern drüben am Tankanleger zu, die sich gerade einen Kaffee holten. Zwanzig Universitäten und ein Dutzend Stiftungen waren in dieser Gruppe vertreten. Clay hatte es höchstpersönlich in die Hand genommen, aus den Wissenschaftlern, die von Lahaina aus arbeiteten, ein soziales Gefüge zu formen. Er kannte sie alle, und er konnte nichts dagegen tun: Er mochte Menschen, die mit Walen arbeiteten, und es freute ihn, wenn sie sich gut verstanden.

Er hatte wöchentliche Treffen und Präsentationen von For-schungsarbeiten im Gebäude der Walschutzstation in Kihei organisiert, bei denen sämtliche Wissenschaftler zusammenkamen, miteinander redeten, Informationen austauschten und versuchten, den anderen nützliche Daten aus dem Kreuz zu leiern, um sich die mühevolle Feldforschung zu ersparen.

Auch Amy winkte der Gruppe, während sie in einer der orangefarbenen, wasserdichten Kisten herumwühlte. »Komm schon, Clay, folgen wir Tarwater und sehen nach, was er im Schilde führt.« Sie holte ein riesiges Fernglas aus der Kiste und zeigte es Clay. »Wir könnten es uns aus einiger Entfernung ansehen.«

»Vielleicht solltest du lieber vorn am Bug nach Walen Ausschau halten, Amy.«

»Wale? Die sind groß und schlüpfrig. Muss man sonst noch was wissen?«

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»Ihr Wissenschaftler erstaunt mich doch immer wieder«, sagte Clay. »Komm, halt mal das Steuer. Ich hol mir einen Stift. Das muss ich mir aufschreiben.«

»Los, fahren wir Tarwater hinterher!«

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3

Ein Stückchen Natodraht um den

Himmel

Das Tor zum Gelände von Papa Lani stand offen, als Nate näher kam. Nicht gut. Clay achtete gewissenhaft darauf, dass sie das Tor jedes Mal mit dem großen Vorhängeschloss verriegelten, sobald sie das Gelände verließen.

Papa Lani war eine Ansammlung von Holzhäusern auf zwei Morgen Land nordöstlich von Lahaina, umgeben von einem halben Dutzend Zuckerrohrfelder, die eine reiche Frau Maui Whale gespendet hatte. Clay und Nate nannten sie nur liebevoll die »Komische Alte«. Das Anwesen bestand aus sechs kleinen Bungalows, die früher als Unterkunft für Plantagenarbeiter gedient hatten, aber vor seit langer Zeit zu Wohnungen, Labor und Büro für Clay, Nate und sämtliche Assistenten, Forscher oder Filmcrews umgebaut worden waren, die während der Saison bei ihnen arbeiteten. Dieses Gelände zu bekommen, war für Maui Whale ein Geschenk Gottes gewesen, angesichts der Kosten für Unterkunft und Einlagerung in Lahaina. Clay hatte es »Papa Lani« getauft (Hawaiianisch für »Himmel« ) zu Ehren ihrer Glückssträhne, aber irgendwer hatte das Tor zum Himmel offen stehen lassen, und soweit Nate sehen konnte, war die Engels-kacke schon am Dampfen.

Noch bevor er aus seinem Truck stieg, sah Nate einen rampo-nierten, grünen BMW auf dem Gelände stehen. Vor dem Gebäu-de, das sie als Büro benutzten, lagen Akten verteilt. Er sammelte einiges davon auf, während er über die sandige Auffahrt und die Stufen in den kleinen Bungalow hinaufhastete. Drinnen herrschte Chaos: Schubladen waren aus Aktenschränken gerissen worden, Kassettenregale umgekippt, die Bänder wie Luftschlangen 26

im Raum verteilt, Computer umgeworfen, die Gehäuse an der Seite aufgebrochen, so dass Drähte heraushingen. Nate stand mitten im Chaos, wusste nicht recht, was er tun oder wohin er schauen sollte. Er fühlte sich geschändet. Fast hätte er sich übergeben. Selbst wenn nichts fehlte, war doch sein Lebenswerk im Wind verweht.

»Oh … Jah, steh bei mir!«, hörte er eine Stimme hinter sich.

»Wenn das kein ekelhaft abscheulich Schweinerei ist, Mann!

Aber echt jetzt!«

Nate fuhr herum und ging in Kampfstellung – ungeachtet des Umstands, dass er von asiatischer Kampfkunst keine Ahnung hatte – und quiekte wie ein kleines Mädchen. Die Silhouette einer schlangenhaarigen Gorgone war in der Tür zu sehen, und Nate hätte gleich noch einmal aufgeschrien, wäre die Gestalt nicht ins Licht getreten, so dass ein magerer, halb nackter Teen-ager mit Surfershorts und Flip-Flops sichtbar wurde, mit einem mächtigen Gewirr aus blonden Dreadlocks und etwa sechshundert Nasenringen.

»Cool bleiben, Bruder, cool bleiben ist halbe Miete«, nuschel-te der Junge. Gras und Steeldrums sprachen aus seiner Stimme, Spott und Jugend und zwei fette Joints, die ihn vom Rest der Wirklichkeit trennten.

Augenblicklich schwenkte Nate von Furcht zu Fassungslosigkeit um. »Was redest du für ’n Scheiß?«

»Relax, Bruder. Kona kommt, um dir zu helfen.«

Nate überlegte, ob er sich vielleicht besser fühlen würde, wenn er den Bengel würgte – nicht die volle Würgung, nur so ein kleines Frustrationswürgen, um etwas von dem Schock über das zerstörte Labor abzureagieren –, aber stattdessen fragte er:

»Wer bist du? Was machst du hier?«

»Kona«, sagte der Junge. »Diese Boss mit Name Clay hat mich am Tag vor heute für die Boote angeheuert.«

27

»Du bist der Junge, den Clay für die Boote eingestellt hat?«

»Scheiße, Mann, hab ich das nicht eben gesagt? Was bist du, Bruder? Ninja?«

Der Junge nickte, dass die Dreads um seine Schultern wippten, und Nate wollte ihn schon wieder anschreien, als er merkte, dass er noch immer in seiner Pseudopose dastand und vermutlich wie ein kompletter Schwachkopf aussah.

Er richtete sich auf, zuckte mit den Schultern, dann tat er, als strecke er sich, und rollte großspurig mit dem Kopf, wie er es bei Boxern gesehen hatte, als hätte er eben einen besonders gefährlichen Gegner auf die Bretter geschickt. »Du wurdest vor einer Stunde unten am Anleger erwartet.«

»Supergeile Wellen heute früh im Norden, ging nicht anders.«

Der Junge zuckte mit den Schultern. Was sollte man da machen?

Supergeile Wellen. Da konnte er nicht anders.

Nate blinzelte den Surfer an, der eine Mischung aus Rasta, Pidgin, Surfersprache und … na ja, Schwachsinn redete. »Hör auf zu quatschen, sonst bist du auf der Stelle gefeuert.«

»Clay sagt, du bist große Wal-Kahuna, hey?«

»Yeah«, sagte Nate. »Ich bin hier der Wal-Kahuna. Und du bist gefeuert.«

»Echt jetzt, Mann?«, sagte der Junge. Dann zuckte er mit den Schultern, drehte sich um und schlurfte zur Tür. »Jah liebt dich, Alter. Halt dein Ohren steif«, murmelte er noch über die Schulter.

»Warte«, sagte Nate.

Der Junge fuhr herum, und die Dreads umrahmten sein Gesicht wie ein pelziger Oktopus, der im Begriff stand, einen Krebs zu fressen. Er spuckte eine Dreadlock aus und wollte etwas sagen.

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Quinn hob einen Finger, um ihm zu zeigen, dass er schweigen sollte. »Kein Wort Pidgin, Hawaiianisch oder Rasta – oder du fliegst.«

»Okay.« Der Junge wartete.

Quinn nahm Haltung an und betrachtete die Schweinerei, dann den Jungen. »Da draußen fliegen überall Papiere rum. Sie hängen in den Zäunen, in den Büschen. Wäre schön, wenn du sie einsammeln und so ordentlich wie möglich stapeln könntest.

Würdest du das tun?«

Der Junge nickte.

»Ausgezeichnet. Ich bin Nathan Quinn.« Nate hielt ihm die Hand hin.

Der Junge kam herüber und drückte seine Hand mit kräftigem Griff. Fast wäre der Wissenschaftler zurückgewichen, aber stattdessen erwiderte er den Druck und versuchte zu lächeln.

»Pelekekona«, sagte der Junge. »Nenn mich Kona.«

»Willkommen an Bord, Kona.«

Dann sah sich der Junge um, und es schien, als würde er einiges von seiner Kraft einbüßen, nachdem er seinen Namen preisgegeben hatte, als wäre er plötzlich ganz schwach, trotz seiner Muskeln an Brust und Bauch. »Wer war das?«

»Keine Ahnung.« Nate hob eine Kassette auf, deren Band herausgerissen und zu einem Vogelnest aus braunem Plastik zusammengeknüllt war. »Geh und sammel unsere Unterlagen ein. Ich ruf die Polizei. Oder ist das ein Problem?«

Kona schüttelte den Kopf. »Wieso sollte es?«

»Nur so. Hol die Papiere. Weggeworfen wird nur, wenn ich es sage, klar?«

»Klar wie Muschelsuppe, Bruder«, erwiderte Kona und grinste Nate an, während er sich auf den Weg in den Sonnenschein machte. Draußen drehte er sich um und rief: »Hey, Kahuna Quinn.«

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»Was?«

»Wie kommt es, dass die Buckel singen?«

»Was glaubst du?«, fragte Nate, und aus seiner Frage sprach Hoffnung. Obwohl der Kleine jung, etwas nervig und vermutlich bekifft war, hoffte der Wissenschaftler aufrichtig, dass Kona – unbelastet von allzu viel Wissen – eine Antwort darauf wüsste. Es war ihm egal, wie oder woher diese Antwort kam (und sie würde immer noch bewiesen werden müssen). Er wollte es einfach wissen – was ihn von den Durchschnittsforschern, den Möchtegerns, den falschen Fuffzigern und Egotrippern auf dem Gebiet unterschied. Nate wollte es einfach wissen.

»Ich glaube, vielleicht wollen sie Babylon niedersingen.«

»Du wirst mir erklären müssen, was das bedeutet.«

»Kümmern wir uns um das Sauerei hier, dann zünden wir uns eine kleine Joint an und denken nach, Bruder.«

Fünf Stunden später kam Clay wortreich zur Tür herein. »Wir haben heute ein paar unglaubliche Bilder gemacht, Nate. Das beste Kuh/Kalb-Zeug, das ich je geschossen habe.« Clay war so aufgedreht, dass er fast hüpfte.

»Okay«, sagte Nate mit zombiegleichem Mangel an Begeisterung. Er saß vor seinem zusammengeflickten Computer an einem der Schreibtische. Das Büro war größtenteils wiederher-gestellt, aber das offene Gehäuse des Computers, dessen Drähte sich zu einer Diaspora fehlender Laufwerke auffächerten, kündete von entlaufenen Daten. »Hier waren Einbrecher. Sie haben das Büro verwüstet.«

Clay wollte sich die Laune nicht verderben lassen. Er hatte ein tolles Video dabei. Als er die Ventilatoren und Drähte sah, kam ihm plötzlich in den Sinn, dass möglicherweise jemand seine Video-Konsole verwüstet haben könnte. Er fuhr herum und erblickte seinen 42-Zoll-Flachbildschirm an der Wand. Ein 30

langer Sprung ging quer durchs Glas. »Oh«, sagte er. »Oh, nein.«

Lächelnd kam Amy herein. »Nate, du glaubst nicht, was –«

Sie blieb stehen, sah, dass Clay seinen kaputten Monitor anstarrte, sah Einzelteile von Computern auf Nates Schreibtisch, Akten, die nicht standen, wo sie stehen sollten. »Oh«, sagte sie.

»Hier waren Einbrecher«, sagte Clay verzweifelt.

Sie legte Clay die Hand auf die Schulter. »Heute? Am helllich-ten Tag?«

Nate drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Sie haben auch unsere Zimmer durchsucht. Die Polizei war schon da.« Er sah, dass Clay seinen Monitor anstarrte. »Ach, und der ist auch hinüber. Tut mir Leid, Clay.«

»Ihr Jungs seid doch versichert, oder?«, sagte Amy.

Unverwandt starrte Clay seinen geborstenen Monitor an.

»Dr. Quinn, haben Sie die Versicherung bezahlt?« Clay nannte Nate nur »Doktor«, wenn er ihn offiziell daran erinnern wollte, wie professionell sie eigentlich arbeiten sollten.

»Letzte Woche. Ging mit der Bootsversicherung raus.«

»Na, dann wird doch alles wieder gut«, sagte Amy, stieß Clay an, drückte seine Schulter, boxte gegen seinen Arm, kniff ihm in den Hintern. »Heute Abend können wir einen neuen Monitor bestellen, du Mondkalb«, zwitscherte sie wie das Glücksvögel-chen aus einer finsteren Gruft.

»Hey!« Clay grinste. »Yeah, alles wird wieder gut.« Lächelnd wandte er sich Nate zu. »Noch was kaputt? Fehlt irgendwas?«

Nate deutete auf den Papierkorb, aus dem ein Haufen zerknäulter Tonbänder hervorquoll. »Das war zusammen mit den Akten über das ganze Gelände verteilt. Die meisten Bänder sind unbrauchbar … die letzten zwei Jahre.«

Plötzlich war Amy gar nicht mehr so fröhlich und machte einen entsprechend besorgten Eindruck. »Was ist mit den 31

Digitalaufnahmen?« Mit dem Ellbogen stieß sie den grinsenden Clay an, und er schloss sich ihrem Trübsinn an. Beide runzelten die Stirn. (Nate hielt sämtliche Tonaufnahmen auf Analogband fest und überspielte sie dann zur Analyse auf den Computer.

Theoretisch sollte es von allem eine digitale Kopie geben.)

»Die Festplatten sind gelöscht. Ich kann überhaupt nichts runterziehen.« Nate holte tief Luft, seufzte, dann rotierte er auf seinem Stuhl und schlug mit der Stirn auf die Schreibtischplatte, mit einem Knall, der den ganzen Bungalow erschütterte.

Amy und Clay zuckten zusammen. Da lagen reichlich Schrauben auf dem Tisch. Clay sagte: »Na, so schlimm kann es nicht gewesen sein, Nate. Du hast ja schnell wieder aufgeräumt.«

»Der Junge, den du eingestellt hast, hat mir geholfen.« Nate sprach mit dem Tisch, drückte seine Nase auf die Platte, genau dort, wo er aufgeschlagen war.

»Kona? Wo ist er?«

»Ich hab ihn zum Labor geschickt. Da war ein Film, den ich so schnell wie möglich sehen wollte.«

»Ich wusste, dass er uns an seinem ersten Tag nicht sitzen lässt.«

»Clay, ich muss mit dir reden. Amy, würdest du uns bitte einen Moment entschuldigen?«

»Klar«, sagte Amy. »Ich seh mal nach, ob in meiner Hütte was fehlt.« Sie marschierte hinaus.

Clay fragte: »Willst du da so sitzen bleiben? Soll ich am Boden knien, wenn ich dir ins Gesicht sehen möchte?«

»Könntest du den Erste-Hilfe-Kasten holen, bevor wir reden?«

»Hast du Schrauben in der Stirn?«

»Vier oder fünf vielleicht.«

»Die sind aber nicht besonders groß, nur so klitzekleine Dinger.«

32

»Clay … immer versuchst du, mich aufzuheitern.«

»So bin ich nun mal«, sagte Clay.

33

4

Die Walmänner von Maui

Clay war jemand, der alles und jeden mochte – Menschen, Tiere, Autos, Boote. Er besaß ein fast übernatürliches Talent, die Liebenswürdigkeit in allem und jedem aufzuspüren. Wenn er durch die Straßen von Lahaina lief, hieß er sonnenverbrannte Touristenpärchen im Aloha-Partnerlook willkommen (in den Augen der meisten Einheimischen nur menschlicher Bodensatz) und begrüßte im nächsten Moment einen Trupp einheimischer Brüder auf dem Parkplatz des ABC Store mit einem lässigen Rückhand-Shaka (Daumen und kleiner Finger ausgestreckt, die drei mittleren umgeknickt, immer mit dem Handrücken, wenn man Einheimischer ist), ohne böse Blicke oder Pidgin-Flüche zu ernten wie die meisten Bleichgesichter. Die Menschen konnten spüren, dass Clay sie mochte, genauso wie die Tiere, was vermutlich der Grund war, wieso Clay überhaupt noch lebte. Fünfundzwanzig Jahre hatte er mit Jägern und Riesen im Wasser verbracht, und nur einmal war er in den Strudel der Schwanzflosse eines Nordkapers geraten, der ihn (wie im Comic) in die langsam laufende Schraube eines Schlauchboots gespült hatte. (Oh, zweimal wäre er fast ertrunken und hatte eine Unterkühlung davongetragen, aber das lag nicht an den Tieren. Es war die See, und die tötete einen, ob man sie nun leiden konnte oder nicht …

was allerdings bei Clay der Fall war.) Das zu tun, was er tat, und seine grenzenlose Verbundenheit mit allem machten Clay Demodocus zu einem glücklichen Menschen, aber er war auch klug genug, mit seiner Glückseligkeit nicht hausieren zu gehen. Tiere mochten sich die Grinserei vielleicht gefallen lassen, aber Menschen drehen einem dafür irgendwann den Hals um.

»Wie macht sich der Neue?«, fragte Clay, um vom Jod abzulenken, das er auf Nates Stirn tupfte, während er gleichzeitig 34

ausrechnete, wie lange der Discountladen in Seattle brauchen würde, um einen neuen Monitor nach Maui zu schicken. Clay liebte Apparate aller Art.

»Er ist kriminell«, sagte Nate.

»Er wird schon zurechtkommen. Er ist ein Wassermensch.«

Für Clay sagte das alles. Entweder man war ein Wassermensch oder nicht. Wenn nicht … na, dann war man eher nutzlos, oder?

»Er war eine Stunde zu spät dran … und dann noch am falschen Ort.«

»Er ist Einheimischer. Er wird uns mit der Walbullerei helfen.«

»Er ist kein Einheimischer. Er ist blond, Clay. Er ist weißer als du, verdammt.«

»Es wird schon gehen. Bei Amy hatte ich auch Recht, oder?«, sagte Clay. Er mochte den Jungen, diesen Kona, trotz des Einstellungsgespräches, das folgendermaßen gelaufen war: Clay saß mit seinem 42-Zoll-Monitor im Rücken da. Seine weltberühmten Fotografien von Walen und Flossenfüßern liefen hinter ihm als Diashow. Da er ein Einstellungsgespräch führte, hatte er seine absolut besten Flip-Flops aus dem ABC Store an den Füßen. Kona stand mitten im Büro, mit Sonnenbrille, Sackhose und – da er sich um einen Job bewarb – einem roten Batikhemd.

»In deiner Bewerbung stand, dass du Pelke … äh, Pelekekona Ke …« Kapitulierend hob Clay die Hände.

»Ich heiße Pelekekona Keohokalole – vom Stamm der Krieger

– Löwe von Zion, Bruder.«

»Darf ich dich Pele nennen?«

»Kona«, sagte Kona.

»In deinem Führerschein steht aber, dass du Preston Applebaum heißt und aus New Jersey kommst.«

35

»Ich bin hundertprozent Hawaii. Kona ist beste Bootshelfer auf ganze Insel, yeah. Ich bin bestimmt die Nummer-Eins-Hel-ferhelfer, um sich um alles und jeden von weiße Forscherboss zu kümmern, damit er eingeborene Brüder unterdrücken und unser Land und beste Wahines klauen kann. Nieder mit den Besat-zern! Aber erst wenn dieser Bruder seine Miete zahlen kann.

Klaro?«

Clay grinste den blonden Jungen an. »Du bist echt am Ende, oder?«

Kona legte seine Rastanummer und die Coolness ab. »Hören Sie, ich bin hier geboren, als meine Eltern auf Urlaub waren. Ich bin wirklich Hawaiianer, irgendwie, und ich brauch diesen Job ganz dringend. Ich muss aus meiner Wohnung raus, wenn ich nicht diese Woche ein bisschen Geld verdiene. Ich kann nicht noch mal am Strand von Paia pennen. Letztes Mal ist mir mein ganzes Zeug geklaut worden.«

»Hier steht, du hast zuletzt als ›Forensischer Kalligraph‹

gearbeitet. Was ist das? Handschriftenanalyse?«

»Äh, nein. Eigentlich hatte ich mich selbständig gemacht, um Abschiedsbriefe von Selbstmördern zu verfassen.« Keine Spur von Pidgin mehr in seiner Sprache, nicht der leiseste Hauch von Reggae. »Ist nicht so gut gelaufen. Auf Hawaii will sich keiner umbringen. Ich glaube, wenn ich es zu Hause in New Jersey angefangen hätte, oder vielleicht in Portland, wäre es bestimmt gegangen. Sie wissen ja, wie es mit guten Geschäften ist: Der Standort ist entscheidend.«

»Ich dachte, das gilt nur für Immobilien.« Clay spürte allen Ernstes den leisen Stich einer verpassten Chance, denn wenn er auch ein abenteuerliches Leben führte und genau das tat, was er tun wollte, und obwohl er sich oft wie der unintelligenteste Mensch weit und breit fühlte (da er sich mit Wissenschaftlern umgab), merkte er jetzt, während er mit Kona sprach, dass er sein Potenzial als selbstbetrügerischer Dickkopf nie ganz ausge-36

schöpft hatte. Aaaahh … welch schmerzliches Bedauern! Clay mochte diesen Jungen.

»Sehen Sie, ich bin ein Wassermensch«, sagte Kona. »Ich kenn mich mit Booten aus, mit Ebbe und Flut, mit den Wellen.

Ich liebe das Meer.«

»Hast du Angst davor?«, fragte Clay.

»Absolut.«

»Gut. Wir treffen uns morgen früh um halb neun auf dem Anleger.«

Mittlerweile kratzte Nate an den kreuz und quer verlaufenden Pflastern an seiner Stirn herum, während Clay in der anderen Ecke des Zimmers unter dem Tisch die wasserdichten Kisten mit der Kameraausrüstung durchwühlte. Der Einbruch und der darauf folgende Wirbelwind an Aktivitäten hatten ihn ganz von dem abgelenkt, was ihm am Morgen über den Weg gelaufen war. Langsam sank eine schwarze Wolke aus Selbstzweifeln auf ihn nieder, und er fragte sich, ob er das, was er gesehen hatte, Clay überhaupt erzählen sollte. In der Welt der Verhaltensforschung existierte nur, was auch veröffentlicht war. Egal, wie viel man wusste … real wurde es erst, wenn es in einer wissenschaftlichen Zeitschrift geschrieben stand. Im Alltag dagegen war eine Veröffentlichung sekundär. Wenn er Clay erzählte, was er gesehen hatte, würde es urplötzlich real werden, und er war gar nicht sicher, ob er das wirklich wollte – genau wie die Sache mit Amy oder die schmerzliche Erkenntnis, dass seine jahrelan-gen Forschungen verloren waren.

»Wieso musstest du eigentlich Amy rausschicken?«, fragte Clay.

»Clay, ich sehe nichts, was nicht auch wirklich zu sehen ist, okay? Ich meine, in der ganzen Zeit, die wir jetzt zusammen arbeiten, habe ich nie irgendwas behauptet, bevor ich nicht die 37

entsprechenden Daten hatte, um es auch beweisen zu können, stimmt’s?«

Clay blickte von seiner Inventarliste auf und sah die bestürzte Miene seines Freundes. »Hör mal, Nate, wenn dir der Junge solche Sorgen bereitet, können wir uns auch einen anderen suchen …«

»Es geht nicht um den Jungen.« Nate schien abzuwägen, was er sagen sollte, doch dann sprudelte es auf einmal aus ihm heraus. »Clay, ich glaube, auf der Schwanzflosse von diesem Sänger heute Morgen standen zwei Worte geschrieben.«

»Eine Narbenzeichnung, die nach Buchstaben aussah? So was hab ich auch schon gesehen. Ich hab ein Bild von einem Delphin mit Bissspuren an der Seite, die aussehen wie zap. «

»Nein, es war was anderes. Keine Narben. Da stand ›Flossen weg!‹.«

»Mh-hm«, machte Clay und gab sich alle Mühe, dass es nicht so klang, als würde er denken, sein Freund habe nicht mehr alle Nadeln an der Tanne. »Na ja … dieser Einbruch, Nate, der hat uns alle irgendwie erschüttert.«

»Das war vorher. Ach, ich weiß auch nicht. Ich glaube, es müsste auf dem Film zu sehen sein. Deshalb bin ich ja reingekommen, um ihn gleich ins Labor zu bringen, aber da habe ich dann die Schweinerei hier entdeckt. Also habe ich den Jungen mit meinem Truck rüber zum Labor geschickt, obwohl ich ziemlich sicher bin, dass er ein Krimineller ist. Warten wir, bis er mit dem Film zurückkommt, okay?« Nate drehte sich um und starrte auf den Schreibtisch voller Drähte und Teile, als hätte er sich in seinen Überlegungen verstrickt.

Clay nickte. Ganze Tage hatte er mit dem schlaksigen Wissenschaftler auf dem selben Acht-Meter-Boot verbracht, und sie hatten nicht mehr zueinander gesagt als »Sandwich?« und

»Danke.«

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Wenn Nate bereit wäre, ihm mehr zu erzählen, würde er es tun. Bis dahin wollte er ihn nicht bedrängen. Man treibt einen Denker nicht an, und man spricht auch nicht mit ihm, wenn er gerade denkt. Das wäre einfach rücksichtslos.

»Was denkst du?«, fragte Clay. Okay, er konnte manchmal rücksichtslos sein. Sein großer Monitor war nicht mehr zu reparieren, und er war selbst traumatisiert.

»Ich denke, wir werden bei vielen dieser Studien wieder ganz von vorn anfangen müssen. Sämtliche Ton- und Bildaufnahmen sind unbrauchbar, aber soweit ich sehen kann, fehlt nichts. Wer sollte so etwas tun, Clay?«

»Kids«, sagte Clay, während er ein Nikon-Objektiv auf ange-richteten Schaden hin untersuchte. »Von meinen Sachen fehlt nichts, und vom Monitor mal abgesehen scheint alles in Ordnung zu sein.«

»Ach so. Deine Sachen.«

»Ja, meine Sachen.«

»Deine Sachen sind mehrere hunderttausend Dollar wert, Clay. Wieso sollten Kids das Zeug nicht mitnehmen? Alle Welt weiß, dass eine Nikon-Ausrüstung teuer ist, und jeder auf dieser Insel hat schon mal davon gehört, dass Unterwassergehäuse viel Geld kosten. Wer also sollte unsere Bänder und Disketten zerstören und alles andere stehen lassen?«

Clay ließ das Objektiv sinken und stand auf. »Falsche Frage.«

»Wieso ist das die falsche Frage?«

»Die Frage ist, wer sich für unsere Forschungen interessiert, abgesehen von uns selbst, der Komischen Alten und ungefähr einem Dutzend Biologen und Walfreaks auf der ganzen Welt.

Sieh es ein, Nate: Niemand interessiert sich für singende Wale.

Es gibt kein Motiv. Die Frage ist: Wen interessiert es?«

Nate sank auf seinem Sessel in sich zusammen. Clay hatte Recht. Es interessierte tatsächlich niemanden. Die Menschen 39

kümmerten sich lediglich um die Anzahl der Wale, so dass im Grunde nur die Inspektoren – die Walzähler – Daten sammelten.

Warum? Wenn man wusste, wie viele Wale es noch gab, wusste man auch, wie viele man töten durfte oder nicht. Solche Zahlen liebten und verstanden die Menschen. Sie glaubten, sie könnten damit etwas beweisen und auch etwas Geld verdienen. Verhaltensforschung … nun, Verhaltensforschung war doch Kinder-kram, mit dem man höchstens Viertklässler begeistern konnte.

»Wir waren nah dran, Clay«, sagte Nate. »Irgendwas im Gesang haben wir noch nicht begriffen. Aber ohne die Bänder

…«

Clay zuckte mit den Schultern. »Kennt man ein Lied, kennt man alle.« Was auch stimmte. Die Wale sangen ausnahmslos das gleiche Lied. Zwar mochte es sich von einer Saison zur nächsten ändern oder sogar im Laufe der Saison weiterentwi-ckeln, aber – egal wie viele Buckelwale dort sein mochten – alle sangen das gleiche Lied. Niemand konnte sich erklären, wieso.

»Wir besorgen uns neue Aufnahmen.«

»Ich hatte die Spektrogramme schon gereinigt, gefiltert und analysiert. Es war alles auf den Festplatten.«

»Wir machen es noch mal neu, Nate. Wir haben Zeit. Niemand wartet auf uns. Interessiert doch sowieso keinen.«

»Das musst du nicht immer wieder sagen.«

»Es nervt mich aber langsam«, sagte Clay. »Kümmert doch kein Schwein, ob du rausfindest, was es mit dem Gesang der Buckelwale auf sich hat.«

Ein Flip-Flop kam ins Zimmer geflogen, gefolgt vom Rastafa-risingsang des heimkehrenden Kona. »Irie, Clay, meine feuchte Freund! Ich bring dir Film und Kraut für diese Abend, auf dass wir preisen Jah und sein unendlich Gnade. Peace, Mann.«

Kona stand da, mit einem Umschlag voller Negative und Kon-taktabzüge in der einen Hand. Mit der anderen hielt er eine 40

Filmdose hoch über seinen Kopf. Er sah hinauf, als enthielte sie das Elixier des Lebens.

»Hast du einen Schimmer, was er gesagt hat?«, fragte Nate.

Zielstrebig durchquerte er den Raum und riss Kona die Negative aus der Hand.

»Ich glaube, es ist aus Jabberwocky« , antwortete Clay. »Hat er von dir Geld für die Filmentwicklung bekommen? Du darfst ihm kein Bargeld geben.«

»Und hier einsam Dopedose mit heiliges Kraut«, sagte Kona.

»Ich such mein Papers, und wir nehmen den Schiff nach Hause

… nach Zion, Mann.«

»Du kannst ihm doch kein Geld und eine leere Filmdose geben, Nate. Er sieht es als seine religiöse Pflicht, sie aufzufüllen.«

Nate hatte den Kontaktbogen aus dem Umschlag genommen und sah ihn sich mit einer Lupe an. Zweimal suchte er den Bogen ab, zählte die Bilder, checkte die Ziffern am Rand. Bild Nummer sechsundzwanzig war nicht da. Er hielt den Bogen mit den Negativen ins Licht, suchte zweimal die Bilder und dreimal die Ziffern am Rand ab, dann legte er den Bogen weg und checkte die früheren Fotos, die Amy von der Schwanzflosse des Wales gemacht hatte. Schließlich ging er zu Kona und packte ihn bei den Schultern. »Wo ist Bild Nummer sechsundzwanzig, verdammt? Was hast du damit gemacht?«

»So hab ich den Film gekriegt, Mann. Ich hab nichts gemacht.«

»Er ist ein Krimineller, Clay«, sagte Nate. Dann nahm er das Telefon und rief im Labor an.

Man konnte ihm nur sagen, dass der Film normal entwickelt worden war und vorn im Kasten gelegen hatte. Eine Maschine schnitt die Negative auseinander, bevor sie in die Hüllen kamen

– vielleicht war das Bild dabei verloren gegangen. Für seine 41

Unannehmlichkeiten wollten sie Nate gern einen neuen Film zukommen lassen.

Zwei Stunden später saß Nate am Schreibtisch, hielt einen Stift in der Hand und sah sich ein Blatt Papier an. Sah es sich nur an.

Es war dunkel, abgesehen von der Schreibtischlampe, die gerade so weit reichte, dass es in den Ecken, in denen das Unbekannte lauerte, finster blieb. Es gab ein Nachtschränkchen, den Schreibtisch und ein schmales Bett mit einer Truhe am Ende und einer Decke als Kissen oben drauf. Nathan Quinn war ein großer Mann, und seine Füße ragten übers Bett hinaus. Er hatte festgestellt, wenn er die Truhe wegschob, träumte er, dass er im blauen Meer versank. Für gewöhnlich wachte er dann stöhnend auf. Die Truhe war voller Bücher, Zeitschriften und Decken, aber nichts davon hatte er bisher angerührt, seit das Zeug vor neun Jahren hergeschafft worden war. Früher hatte ein Tausend-füßler von der Größe eines Pontiac hinten in der rechten Ecke der Truhe gelebt, aber mittlerweile war er ausgezogen, als er einsehen musste, dass er sich nie auf seine hundert Hinterbeine stellen, wie eine genervte Katze fauchen und einem nackten Fuß den Todesbiss versetzen würde. Es gab einen kleinen Fernseher, einen Radiowecker, eine schmale Küchenzeile mit zwei Koch-platten und einer Mikrowelle, zwei volle Bücherregale unter dem Fenster mit Blick auf das Gelände und einen vergilbten Druck mit zwei von Gaugins Tahiti-Mädchen zwischen den Fenstern über dem Bett. Früher, bevor die Plantagen automati-siert worden waren, hatten wahrscheinlich zehn Leute in diesem Raum geschlafen. An der Uni in Santa Cruz hatte Nathan Quinn ein Zimmer gehabt, das ungefähr genauso groß gewesen war. So was nannte sich dann Fortschritt.

Das Blatt Papier auf Nates Schreibtisch war leer, die Flasche Myer’s Dark Rum halbleer. Tür und Fenster standen offen, und Nate konnte hören, wie der warme Wind die Blätter der beiden großen Kokospalmen draußen rascheln ließ. Es klopfte an der 42

Tür. Nate blickte auf und sah Amys Silhouette in der Tür. Sie trat ins Licht.

»Nathan, darf ich reinkommen?« Sie trug ein Kleid aus T-Shirt-Stoff, das ihr gerade bis zum Oberschenkel reichte.

Nate legte seine Hand auf das Blatt Papier, peinlich berührt, weil es noch leer war. »Ich wollte mir nur einen Plan ausdenken, um …« Sein Blick wanderte zu der Flasche und dann wieder zu Amy. »Möchtest du was trinken?« Er nahm die Flasche, sah sich nach einem Glas um, dann hielt er ihr die Flasche einfach hin.

Amy schüttelte den Kopf. »Bist du okay?«

»Ich habe mit diesen Forschungen begonnen, als ich in deinem Alter war. Ich weiß nicht, ob ich die Kraft habe, noch mal von vorn anzufangen.«

»Es war viel Arbeit. Es tut mir so Leid.«

»Wieso? Du hast doch nichts getan. Ich war nah dran, Amy.

Irgendwas habe ich übersehen, aber ich war ganz nah dran.«

»Es ist noch immer da. Wir haben die Notizen aus den letzten beiden Jahren. Ich werde dir dabei helfen, so viel wie möglich davon wieder zusammenzusetzen.«

»Das weiß ich, aber Clay hat Recht. Es interessiert kein Schwein. Ich hätte in die Biochemie gehen sollen – oder Öko-krieger werden oder irgendwas.«

»Mich interessiert es.«

Nate sah ihre Füße an, um ihr nicht in die Augen sehen zu müssen. »Das weiß ich. Aber ohne die Tonaufnahmen … na ja

… dann …« Er zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck aus der Flasche. »Ich sollte nicht trinken«, sagte er, jetzt ganz der Professor, der Doktor, der Oberforscher. »Ich sollte so was nicht tun … nichts im Leben darf die Walforschung behindern.«

»Okay«, sagte Amy. »Ich wollte nur mal sehen, ob du okay bist.«

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»Ja, ich bin okay.«

»Wir fangen gleich morgen früh damit an, alles wieder zu-sammenzusuchen. Schlaf gut, Nate.« Rückwärts ging sie zur Tür hinaus »Nacht, Amy.« Nate fiel auf, dass sie unter ihrem T-Shirt nackt war, und fühlte sich deswegen ein wenig schmierig. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem leeren Blatt Papier zu, und bevor er sich erklären konnte, wieso, schrieb er FLOSSEN WEG in großen Blockbuchstaben und unterstrich die Worte so fest, dass die Seite einen Riss bekam.

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5

Hey, Kleiner, Wozu das Riesenhirn?

Am nächsten Morgen standen die Vier in einer Reihe vor dem alten Pioneer Hotel und blickten auf die Schaumkronen jenseits des Hafens von Lahaina. Der Wind peitschte die Palmen, und drüben bei der Hafenmauer versuchten sich zwei kleine Mädchen im Wellensurfen. Ihre Gesichter waren vom Wind ganz aufgeblasen, und ihre Locken wehten wie bei Hundert-MeterLäufern.

»Vielleicht lässt der Wind noch nach«, sagte Amy. Sie stand neben Kona und dachte: Die Muskeln von diesem Typen sind so stramm, dass man Visitenkarten drunter stecken könnte, ohne dass sie runterfallen würden. Und – mein Gott – ist er braun gebrannt! Da, wo Amy herkam, war niemand braun gebrannt.

Sie lebte noch nicht sehr lange auf Hawaii und konnte daher nicht wissen, dass Sonnenbräune nur zum Prahlen gut war.

»Soll die nächsten drei Tage so bleiben«, sagte Nate. Er gab sich enttäuscht, war aber im Grunde erleichtert, dass sie heute früh nicht rausfahren würden. Er hatte einen schlimmen Kater, und hinter der Sonnenbrille waren seine Augen blutrot. Die Selbstverachtung hatte eingesetzt, und er dachte: Mein Lebenswerk ist einen Dreck wert, und wenn wir heute rausfahren würden und ich nicht den ganzen Morgen über die Reling rei-hern müsste, würde ich mich eigentlich am liebsten ertränken.

Lieber noch hätte er über Wale nachgedacht, denn daran dachte er normalerweise. Dann fiel ihm auf, dass Amy heimlich Blicke auf Konas nackte Brust warf, was seine Laune nicht besserte.

»Yeah, Mann. Kona könnte Kraut anzünden und für seine neue Forscherfreunde alle Wogen glätten. Lasst uns den Boot nehmen, wohin uns Wind auch wehen mag«, sagte Kona. Er 45

dachte: Ich hob keinen blassen Schimmer, was ich da rede, aber am allerliebsten wäre ich draußen bei den Walen.

»Frühstück im Longee’s, und danach sehen wir mal, wie es aussieht«, sagte Clay. Er dachte: Wir frühstücken im Longee’s, und danach sehen wir, wie es aussieht.

Keiner rührte sich von der Stelle. Sie standen nur da und starrten aufs Meer hinaus. Hin und wieder blies ein Wal, und wie ein verschrecktes Gespenst wehte der Dunst übers Wasser.

»Ich geb einen aus«, sagte Clay.

Und dann marschierten sie alle die Front Street hinauf zu Longee’s Restaurant, einem einstöckigen, grauweißen Holzbau im Neuengland-Stil, mit großen, offenen Fenstern, die einen Blick auf die Front Street boten, über einen Steindamm hinweg und hinaus auf den Au’au-Kanal. Um nicht halb nackt in einem Restaurant zu sitzen, zog sich Kona den zerfetzten Nautica-Anorak über, den er um seine Hüften geknotet hatte.

»Segelst du viel?«, fragte Amy mit Blick auf das Nautica-Logo. Sie hatte die Bemerkung als Spitze, als Revanche gedacht, weil Kona bei ihrer ersten Begegnung gesagt hatte: »Und wer wohl mag dieses Sahneschnittchen sein?« In dem Moment hatte Amy nur ihren Namen genannt, rückblickend aber gemerkt, dass sie vermutlich hätte gekränkt sein sollen, weil man sie nicht nur als »Sahne«, sondern auch als »Schnitte« bezeich-net hatte – das war doch erniedrigend, oder?

»Haifischköder, mein Sahneschnittchen«, antwortete Kona, womit er meinte, dass der Anorak von einem Touristen stammte.

Die Surfergemeinde in Paia am North Shore, der Kona noch bis vor kurzem angehört hatte, sicherte ihre Existenz einzig und allein durch kleinere Diebstähle, meist indem sie Mietwagen die Scheiben einwarf.

Als der Wirt sie durch den vollen Gastraum zu einem Tisch am Fenster führte, beugte sich Clay über Amys Schulter und flüsterte: »Ein Schnittchen ist was Gutes.«

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»Das weiß ich selbst«, flüsterte Amy zurück. »Wie eine Gur-ke, ja?«

»Vorsicht«, sagte Clay, als Amy einen Khaki-gewandeten Ausbund an kahlköpfigem Ehrgeiz anrempelte, besser bekannt als Jon Thomas Fuller. Er war Hauptgeschäftsführer der Hawaii Whale Inc., einer gemeinnützigen Gesellschaft mit Vermögens-werten von mehreren zehn Millionen Dollar, die sich als Forschungsprojekt tarnte. Fuller hatte seinen Stuhl ein Stück zurückgeschoben, um Amy abzufangen.

»Jon Thomas!« Clay lächelte, blickte hinter der verunsicherten Amy hervor und wollte Fuller die Hand geben. Fuller ignorierte Clay und hielt Amy an der Taille fest, damit sie nicht stürzte.

»Hey, hey, immer langsam«, sagte Fuller. »Wenn du mich kennen lernen möchtest, musst du es nur sagen.«

Amy nahm seine Hände und legte sie vor ihm auf den Tisch, dann trat sie einen Schritt zurück. »Hi, ich bin Amy Earhart.«

»Ich weiß genau, wer du bist«, sagte Fuller, der inzwischen stand. Er war kaum größer als Amy, braun gebrannt und gerten-schlank, mit einer Hakennase und Geheimratsecken. »Ich weiß nur nicht, wieso du nicht zu mir gekommen bist, wenn du einen Job suchst.«

Mittlerweile grübelte Nate schon wieder über Walgesänge, hatte sich hingesetzt, die Speisekarte aufgeklappt, Kaffee bestellt und überhaupt nicht mitbekommen, dass er ganz allein am Tisch saß. Er blickte auf und merkte, dass Jon Thomas Fuller seine Assistentin bei den Hüften hielt. Also legte er seine Speisekarte weg und machte sich auf den Weg hinüber.

»Nun, zum Teil –«, Amy lächelte die drei jungen Frauen an Fullers Tisch an, »weil ich noch einen Hauch von Selbstachtung besitze«, sie verneigte sich, »und zum Teil, weil Sie eine Laus und ein Schlawiner sind.«

Fullers strahlendes Lächeln sank an den Rändern ein wenig ein. Die Frauen an seinem Tisch, die allesamt khakifarbene Sa-47

fari-Kleidung trugen, die dem Discovery-Channel-Ideal dessen entsprach, wie eine Wissenschaftlerin auszusehen hatte, wandten sich demonstrativ ab, wischten sich die Münder, nippten an ihren Wassergläsern herum, überhörten geflissentlich, dass ihr Boss verbal von einer Forschungs-Elfe eins hinter die Löffel bekam.

»Nate«, sagte Fuller, als er merkte, dass sich Nate der Gruppe angeschlossen hatte. »Ich habe gehört, dass bei euch eingebrochen wurde. Ich hoffe, es ist nichts Wichtiges abhanden gekommen.«

»Geht schon. Ein paar Aufnahmen sind weg«, erwiderte Nate.

»Ach, na dann. Gibt ’ne Menge Gauner auf der Insel.« Fuller sah Kona an.

Der Surfer grinste. »Scheiße, Mann, gleich werd ich rot.«

Fuller grinste. »Wie geht’s dir, Kona?«

»Alles cool, Bruder. Bwana Fuller schlecht drauf, oder was?«

Von den anderen Tischen sahen die Gäste herüber. Fuller nickte, dann schaute er wieder Quinn an. »Können wir euch irgendwie helfen, Nate? Die meisten unserer Aufnahmen kann man in den Läden kaufen, falls es euch was nützt. Ihr Jungs kriegt natürlich Kollegenrabatt. Wir sitzen doch alle im selben Boot.«

»Danke«, sagte Nate, während Fuller sich schon wieder setzte, ihm den Rücken zuwandte und sein Frühstück fortsetzte. Sie waren entlassen. Die Frauen am Tisch sahen aus, als wäre es ihnen peinlich.

»Frühstück?«, sagte Clay. Er trieb seine kleine Herde an ihren Tisch.

Sie bestellten und tranken ihren Kaffee schweigend, starrten allesamt aufs Meer hinaus, mieden jeden Blickkontakt, bis Fuller und seine Entourage draußen waren.

Nate wandte sich zu Amy um. »Ein Schlawiner? Lebst du in einem James Cagney-Film, oder was?«

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»Wer ist der Typ?«, fragte Amy. Sie brach – brutaler als nötig

– eine Ecke von ihrem Toast.

»Was ist ein Schlawiner?«, fragte Kona.

»Eine Art Würstchen, oder?«, sagte Clay.

Nate sah Kona an. »Woher kennst du Fuller?« Nate hob den Zeigefinger und warf dem Jungen einen warnenden Blick zu, ein deutliches Zeichen, dass er weder Rasta noch Pidgin noch sonst irgendwelchen Unsinn von ihm hören wollte.

»Ich hab drüben in Kaanapali seine Jet Ski vermietet.« Nate sah Clay an, als wollte er sagen: Wusstest du das?

»Wer ist der Typ?«, fragte Amy.

»Er ist der Chef von Hawaii Whale«, antwortete Clay. »Kommerz – als Wissenschaft getarnt. Sie nutzen ihre Genehmigung, um mit drei großen Touristen-Booten möglichst nah an die Wale heranzukommen.«

»Der Typ ist Wissenschaftler?«

»Er ist Doktor der Biologie, aber ich würde ihn nicht als Wissenschaftler bezeichnen. Diese Frauen, die er da bei sich hat, sind seine Naturfreundinnen. Ich schätze, heute war es selbst ihm zu windig, um rauszufahren. Er besitzt Läden auf der ganzen Insel – verkauft Waldung, angeblich für einen guten Zweck. Hawaii Whale war die einzige Forschungsgruppe, die sich gegen das Verbot von Jet Ski während der Walsaison ausgesprochen hat.«

»Weil Fuller Geld ins Jet Ski-Geschäft investiert hatte«, fügte Nate hinzu.

»Sechs Dollar die Stunde hab ich verdient«, sagte Kona.

»Nate war entscheidend dafür verantwortlich, dass die Jet Ski-Gleitsegler verboten wurden«, sagte Clay. »Fuller mag uns nicht.«

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»Es könnte sein, dass ihm die Schutzbehörde bald seine Genehmigung entzieht«, erklärte Nate. »Was die an Wissenschaft betreiben, ist üble Wissenschaft.«

»Und das macht er dir zum Vorwurf?«, fragte Amy.

»Ich … wir haben den Großteil der Forschungen zur Ge-räuschbelastung in diesen Gewässern durchgeführt. Die Behörde hat uns etwas Geld gegeben, damit wir untersuchen, ob der Hochfrequenzlärm von Jet Ski und Parasail-Booten Einfluss auf das Verhalten der Wale nimmt. Wir kamen zu dem Schluss, dass genau das der Fall ist. Fuller war nicht begeistert. Es hat ihn Geld gekostet.«

»Er will einen Delfinpark bauen, oben an der La Perouse Bay«, sagte Kona.

»Was?«, sagte Nate.

»Wie?«, sagte Clay.

»Ein Schwimmbad mit Delfinen drin?«, sagte Amy.

»Ja, Mann. Die karren Leute aus Ohio ran und setzen sie für zweihundert Dollar zu den Tümmlern ins Becken.«

»Wusstet ihr denn nichts davon?« Amy sah Clay an. Er schien immer alles zu wissen, was in der Welt der Wale los war.

»Das höre ich zum ersten Mal. Aber ohne eingehende Untersuchungen wird man es ihm doch bestimmt nicht erlauben …«

Er sah Nate an. »Oder?«

»Wenn er seine Forschungsgenehmigung verliert, haben wir nichts zu befürchten«, sagte Nate. »Es wird eine Überprüfung geben.«

»Und du sitzt in der Prüfungskommission?«, fragte Amy.

»Nates Name wäre eine Hilfe«, sagte Clay. »Man wird ihn sicher fragen.«

»Dich nicht?«, fragte Kona.

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»Ich bin hier nur der Fotograf.« Clay blickte zu den Schaumkronen auf dem Kanal hinaus. »Sieht nicht danach aus, als könnten wir heute rausfahren. Esst auf, dann gehen wir deine Miete bezahlen.«

Nate sah Clay fragend an.

»Man kann ihm kein Geld in die Hand geben«, sagte Clay.

»Er raucht es nur auf. Ich werde seine Miete begleichen.«

»Is’ wahr.« Kona nickte.

»Du arbeitest doch nicht mehr für Fuller, oder, Kona?«, fragte Nate.

»Nate!«, mahnte Amy.

»Na ja, er war da, als ich ins Büro kam und jemand alles auf den Kopf gestellt hatte.«

»Lass ihn in Frieden«, erwiderte Amy. »Er ist viel zu niedlich, um böse zu sein.«

»Stimmt genau«, sagte Kona. »Schwester Schnittchen sagt die Wahrheit. Ich bin voll niedlich.«

Clay legte einen Stapel Scheine auf den Tisch. »Übrigens, Nate … am Dienstag hast du einen Vortrag in der Schutzstation.

Sind noch vier Tage. Du und Amy, ihr könntet die Auszeit nutzen, um euch was einfallen zu lassen.«

Nate fühlte sich, als hätte man ihn geohrfeigt. »Vier Tage? Wir haben doch keine Unterlagen mehr. Alles war auf diesen Festplatten.«

»Wie gesagt: Vielleicht wollt ihr die Auszeit nutzen.«

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6

Walmädchen

Als Biologe neigte Nate dazu, Analogien im Verhalten von Mensch und Tier zu suchen – möglicherweise etwas öfter, als für ihn gut war. Wenn er beispielsweise über die Anziehungs-kraft nachdachte, die Amy auf ihn ausübte, fragte er sich, weshalb das Ganze so komplex sein musste. Wieso das menschliche Paarungsritual dermaßen viele Finessen beinhaltete. Warum können wir nicht wie der Gemeine Tintenfisch sein? Das Männchen rudert einfach zum Weibchen, reicht ihr eine ordentliche Ladung Spermien rüber, die sie sich in aller Ruhe unter ihren Umhang klemmt, und schon schwimmen sie getrennter Wege.

Ihre Pflicht der Spezies gegenüber ist getan. Einfach, elegant, keine Tücken zwischen den Zeilen …

Nate hielt Amy den Pappbecher hin. »Ich hab dir einen Kaffee mitgebracht.«

»Danke, mir kommt der Kaffee schon aus den Ohren wieder raus«, erwiderte Amy.

Nate stellte ihren Becher auf den Nachbarschreibtisch und setzte sich vor den Computer. Amy kauerte auf einem Hocker links von ihm und ging die gebundenen Forschungsberichte der vergangenen vier Jahre durch. »Meinst du, daraus ließe sich ein Vortrag zusammenbasteln?«

Nate rieb an seinen Schläfen herum. Trotz einer Hand voll Aspirin und sechs Bechern Kaffee pochte es in seinem Kopf.

»Ein Vortrag? Worüber?«

»Na, worüber wolltest du denn sprechen, bevor das Büro verwüstet wurde? Vielleicht können wir es mit Hilfe der Forschungsberichte aus der Erinnerung rekonstruieren.«

»Ich hab kein so gutes Gedächtnis.«

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»Doch, hast du wohl. Du brauchst nur ein paar Eselsbrücken aus diesen Berichten hier.«

Offen und hoffnungsfroh wie ein Kind sah sie ihn an. Sie wartete, dass etwas von ihm kam, nur ein Wort, das sie auf die Suche schickte. Das Problem war nur, dass das, was er eigentlich wissen wollte, nicht auf dem Gebiet der biologischen Feldforschung zu finden war. Er brauchte ganz andere Antworten. Er machte sich Gedanken darüber, dass Fuller von dem Einbruch gewusst hatte. Und zwar erstaunlich früh. Außerdem machte er sich Gedanken darüber, dass jemand ihn scheinbar unglaublich verachtete. Nate war in British Columbia geboren und aufgewachsen, und Kanadier ließen sich nicht gern beleidigen. Es gehörte zum Nationalcharakter. »Sei höflich«, lautete das ungeschriebene, unausgesprochene Gesetz, das fest in der Psyche des gesamten Landes verankert war. (Natürlich gab es –

wie bei jedem Gesetz – Ausnahmen: Teile von Quebec, wo man die Geisteshaltung der Franzosen pflegte, »abweisend bis zum Streit, mit anschließender Kapitulation«; und Eishockey, bei dem Kanadier ungestraft andere Menschen schubsen, schlagen, boxen, rempeln, rammen und prügeln dürfen, einzig unterbrochen von Gotteslästerungen, Beschimpfungen, Sodomie-Vorwürfen, und das normalerweise – wie der Zufall es will – auf Französisch.) Nate war kein Frankokanadier und auch kein gro-

ßer Hockeyspieler, so dass die Vorstellung, jemanden dermaßen gegen sich aufgebracht zu haben, dass dieser Mensch bereit war, seine gesamte Forschungsarbeit zu vernichten … nun, sie beschämte ihn.

»Amy«, sagte er, als er – nur Sekunden später, wie er hoffte –

wieder im Zimmer gelandet war, »habe ich bei unserer Arbeit etwas übersehen? Ist mir bei den Daten was entgangen?«

Amy nahm auf ihrem Hocker die Pose von Rodins Der Denker ein, das Kinn auf ihre Hand gestützt, die Stirn in ernste, nach-denkliche Falten gelegt. »Nun, Dr. Quinn, darauf könnte ich Ihnen eine Antwort geben, wenn Sie mir diese Daten mitgeteilt 53

hätten, aber da ich nur weiß, was ich eigenhändig gesammelt oder analysiert habe, muss ich – wissenschaftlich formuliert –

sagen: Keine Ahnung.«

»Danke«, sagte Nate und musste unwillkürlich lächeln.

»Du hast nur gesagt, da gäbe es etwas, dessen Entschlüsselung kurz bevorstünde. Im Gesang der Wale, meine ich. Was war das?«

»Na, wenn ich es wüsste, hätte ich es ja entschlüsselt, oder?«

»Du hast doch eine Vermutung. Du musst eine Theorie haben.

Sag mir, was es ist, und dann wenden wir die Daten auf deine Theorie an. Ich bin bereit, die Arbeit zu übernehmen, die Daten zu rekonstruieren, aber du musst mir schon vertrauen.«

»Keiner Theorie hat ein Abgleich mit Daten je genützt, Amy.

Daten töten Theorien. Einer Theorie geht es am allerbesten, wenn sie nackt vor einem liegt, rein, ungetrübt von Fakten.

Belassen wir es lieber dabei.«

»Dann hast du also eigentlich gar keine Theorie?«

»Genauso ist es.«

»Du verlogener Fischkopf.«

»Ich könnte dich feuern. Selbst wenn Clay dich eingestellt hat, bin ich bei diesem Unternehmen noch nicht vollkommen überflüssig. Ich habe hier das Sagen, mehr oder weniger. Ich könnte dich feuern. Wovon willst du dann leben?«

»Ich verdiene hier ja gar kein Geld.«

»Siehst du? Wieder ein makelloses Konzept … von Fakten ruiniert.«

»Dann feuer mich eben.« Amy gab nicht mehr den Denker. Sie sah jetzt eher aus wie ein böser, dunkler Elf.

»Ich glaube, sie kommunizieren«, sagte Nate.

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»Selbstverständlich kommunizieren sie, du Dummbart. Meinst du, sie singen, weil sie sich am Klang ihrer eigenen Stimme ergötzen?«

»Es steckt mehr als das dahinter.«

»Dann erzähl es mir!«

»Wer nennt denn jemanden Dummbart? Was zum Teufel ist ein Dummbart?«

»Ein Dummerjan mit Doktortitel. Wechsel nicht das Thema.«

»Ist doch egal. Ohne die akustischen Daten kann ich dir nicht mal zeigen, was ich vermute. Außerdem fürchte ich, dass meine kognitiven Kräfte bald versagen.«

»Will sagen?«

Will sagen, dass ich langsam seltsame Dinge sehe, dachte er.

Will sagen, dass ich dich, ungeachtet des Umstands, dass du da stehst und mich anschreist, am liebsten packen und küssen würde, dachte er. Mann, bin ich im Arsch, dachte er. »Will sagen, dass ich leicht verkatert bin. Tut mir Leid. Sehen wir mal nach, was wir aus den Notizen zusammenbasteln können.«

Amy glitt vom Hocker und sammelte die Forschungsberichte ein.

»Wo willst du hin?«, fragte Nate. Hatte er sie irgendwie gekränkt?

»Uns bleiben vier Tage, um einen Vortrag zusammenzustellen.

Ich geh rüber in meine Hütte und leg los.«

»Wie? Worüber?«

»Vielleicht › Buckelwale: Unsere feuchten, wundersamen Freunde aus der Tiefe …‹«

»Es werden eine ganze Menge Forscher da sein. Biologen …«

Nate legte eine kurze Pause ein.

»› … und wieso wir sie mit Stöcken pieksen sollten. «

»Schon besser«, sagte Nate.

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»Das kriegen wir hin«, sagte sie und ging hinaus.

Aus irgendeinem Grunde war er voller Hoffnung. Erregt sogar.

Wenn auch nur eine Sekunde lang, Dann, nachdem sie zur Tür hinausgegangen war, riss ihn eine Woge der Melancholie mit sich, und zum dreißigsten Mal an diesem Tag bereute er, nicht Apotheker geworden zu sein oder Charter-Kapitän oder irgendwas, das einem das Gefühl gab, lebendiger zu sein … Pirat etwa.

Die Komische Alte wohnte auf einem Vulkan und glaubte, die Wale sprächen mit ihr. Gegen Mittag rief sie an, und Nate wusste schon, dass sie es war, bevor er den Hörer abgenommen hatte. Er wusste es, weil sie immer anrief, wenn es zu windig war, um rauszufahren.

»Nathan, wieso seid ihr nicht draußen auf dem Kanal?«, sagte die Komische Alte.

»Hallo, Elizabeth, wie geht es dir heute?«

»Bleib beim Thema! Sie haben mir gesagt, dass sie mit dir sprechen wollen. Heute. Wieso bist du nicht draußen?«

»Du weißt, wieso ich nicht draußen bin, Elizabeth. Es ist zu stürmisch. Du siehst die Schaumkronen genauso gut wie ich.«

Vom Hang des Haleakala beobachtete die Komische Alte das Treiben auf dem Kanal mit einem Himmels-Teleskop und einem Fernglas, das aussah wie eine Stereo-Bazooka auf einem Präzisionsstativ, verankert in tonnenschwerem Beton.

»Sie sind verärgert, weil du nicht draußen bist. Deshalb ruf ich an.«

»Und ich freue mich, dass du anrufst, Elizabeth, aber ich hab gerade alle Hände voll zu tun.«

Nate hoffte, dass er nicht zu harsch klang. Die Komische Alte meinte es gut. Und in gewisser Weise waren sie abhängig von der Gnade ihrer Großzügigkeit, denn wenn sie das Papa-Lani-Gelände auch »gespendet« haben mochte, hatte sie es ihnen 56

doch nicht direkt überschrieben. Sie befanden sich sozusagen in einem Zustand permanenter Pacht. Elizabeth Robinson war allerdings wirklich sehr großzügig und warmherzig, wenn sie auch komplett durchgeknallt sein mochte.

»Nathan, ich bin doch nicht durchgeknallt«, sagte sie.

Oh, doch, das bist du, dachte er. »Das weiß ich«, sagte er.

»Aber ich muss heute wirklich einiges fertig kriegen.«

»Woran arbeitest du?«, fragte Elizabeth. Nate konnte hören, dass sie mit einem Bleistift auf ihrem Schreibtisch herumfuhr-werkte. Sie machte sich Notizen, wenn sie sich unterhielten. Er wusste nicht, was sie mit den Notizen anstellte, aber es störte ihn.

»Ich muss in vier Tagen einen Vortrag halten – in der Schutzstation.« Warum, warum nur hatte er es ihr erzählt? Warum?

Jetzt würde sie in ihrem uralten Mercedes, der aussah, als hätte er einer Nazigröße gehört, den Berg heruntergeklappert kommen, im Publikum sitzen und endlos Fragen stellen, von denen sie genau wusste, dass er sie nicht beantworten konnte.

»Sollte kein Problem sein. Wie oft hast du das schon gemacht?

Zwanzig Mal?«

»Ja, Elizabeth, aber gestern ist bei uns eingebrochen worden.

Meine gesamten Notizen, die Bänder, die Analysen … alles weg.«

Einen Moment lang war es still in der Leitung. Nate konnte die Komische Alte atmen hören. Schließlich: »Das tut mir wirklich Leid, Nathan. Sind alle soweit okay?«

»Ja, es ist passiert, als wir draußen bei der Arbeit waren.«

»Kann ich irgendwas tun? Ich meine, ich kann euch nicht viel geben, aber wenn –«

»Nein, es wird schon gehen. Ich hab nur viel Arbeit, mit der ich wieder ganz von vorn anfangen muss.« Früher mochte die Komische Alte mal steinreich gewesen sein, und sie wäre es 57

sicher auch wieder, wenn sie den Grund und Boden verkaufte, auf dem Papa Lani stand, aber Nate glaubte nicht, dass sie nach der letzten Baisse am Markt viel Geld entbehren konnte. Und selbst wenn sie es konnte, wäre das Problem mit Bargeld nicht zu lösen.

»Nun, dann geh du nur wieder an die Arbeit. Aber versuch, morgen rauszufahren. Da draußen ist ein großer Bulle, der möchte, dass du ihm ein scharfes Pastrami-Sandwich auf dunklem Brot mitbringst.«

Nate grinste und schnaubte fast ins Telefon. »Elizabeth, du weißt doch, dass sie hier in unseren Breiten nichts fressen.«

»Ich geb die Nachricht nur weiter, Nathan. Und lach mich nicht aus. Es ist ein riesiger Bulle, der anscheinend gerade aus Alaska kommt … ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wieso er Hunger haben sollte. Er ist groß wie ein Haus. Jedenfalls … mit Schweizer Käse und scharfem, englischem Senf, das war unmissverständlich. Er hat eine ungewöhnliche Zeichnung an der Fluke. Ich konnte sie von hier aus nicht erkennen, aber er sagt, du würdest ihn wiedererkennen.«

Nate merkte, wie sein Gesicht vor Schreck ganz taub wurde.

»Elizabeth –«

»Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst, Nathan. Grüß mir Clay. Aloha.«

Nathan Quinn ließ den Hörer aus der Hand gleiten, dann stolperte er wie ein Zombie aus dem Büro in seine Hütte, wo er den Entschluss fasste, ein kleines Nickerchen zu machen und liegen zu bleiben, bis er aufwachen würde und die Welt nicht mehr so entnervend undurchschaubar wäre.

Am Rande eines Traums, in dem er vergnügt eine Zwanzig-Meter-Jacht die Second Street in Seattle entlangsteuerte und dabei langsamere Fahrzeuge beiseite spülte, während Amy im silbernen Bikini und ungewohnt sonnengebräunt am Bug stand und den Menschen zuwinkte, die an den Fenstern ihrer Büros im 58

ersten Stock die Freiheit und Macht des Mighty Quinn bestaun-ten – am Rande eines Traums, der nicht schöner hätte sein können, platzte Clay herein.

»Kona zieht in Hütte Sechs ein.«

»Wirf ein paar Leinen ins Wasser, Amy«, sagte Nate, den Morpheus’ Arme immer noch umschlungen hielten. »Wir

kommen gleich zum Pike’s Place Market, und da gibt’s Fisch.«

Clay wartete, lächelte nicht wirklich, aber auch nicht unwirklich, während sich Nate aufsetzte und den Schlaf aus seinen Augen rieb. »Du fährst mit einem Boot auf der Straße?«, sagte Clay nickend. Alle Skipper hatten diesen Traum.

»Seattle«, erklärte Nate. »Das Zodiac wohnt in Hütte Sechs.«

»Wir haben unser Schlauchboot seit zehn Jahren nicht mehr benutzt. Es verliert Luft.« Clay trat in den Schrank, der als Raumteiler zwischen Wohn- und Schlafbereich und Küche diente. Er nahm einen Stapel Bettwäsche und dann ein paar Handtücher.

»Du würdest nicht glauben, wie sie diesen Jungen untergebracht hatten, Nate. Es war so eine Blechbaracke draußen beim Flughafen. Zwanzig, dreißig Leute in kleinen Ställen mit Feld-betten. Die haben nicht mal genug Platz, sich umzudrehen, ohne mit den Ellbogen irgendwo anzustoßen. Die elektrischen Leitun-gen waren ganz normale Verlängerungskabel, die oben über den Ställen entlangliefen. Für sechshundert Dollar im Monat.«

Nate zuckte mit den Schultern. »Und? Wir haben in den ersten paar Jahren auch so gelebt. So macht man das. Es könnte sein, dass wir die Hütte Nummer Sechs noch brauchen. Als Lager oder so.«

»Nein«, sagte Clay. »Diese Blechbaracke war eine Sauna und außerdem brandgefährdet. Da wird er nicht wohnen. Er ist einer von uns.«

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»Aber Clay, er ist doch erst seit gestern hier. Außerdem ist er wahrscheinlich kriminell.«

»Er ist einer von uns«, wiederholte Clay, und das war ’s dann.

In Fragen der Loyalität hatte Clay sehr konkrete Vorstellungen.

Wenn Clay beschlossen hatte, dass Kona einer von ihnen war, dann war er einer von ihnen.

»Okay«, sagte Nate und fühlte sich, als sollte die Medusa bei ihnen einziehen. »Die Komische Alte hat angerufen.«

»Wie geht’s ihr?«

»Noch immer durchgeknallt.«

»Und du?«

»Auf bestem Wege.«

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7

Schützt Mich! Schützt Mich! Rief der

Buckelwal.

Wenn Besucher zum ersten Mal in die »Hawaiian Islands Humpback Whale«-Schutzstation kommen – fünf babyblaue Holzhäuser, abgesetzt in Kobaltblau, direkt an der gewaltigen Maalaea Bay, mit Blick auf die Ruinen eines alten Salzwasser-Fischteiches –, ist die erste Reaktion meist: »Hey, das ist ja keine besonders tolle Schutzstation. Da kriegt man ja vielleicht gerade mal drei Wale unter, wenn’s hochkommt.« Bald allerdings merken sie dann, dass es sich bei diesen Gebäuden nur um Büros und ein Besucherzentrum handelt. Das eigentliche Schutzgebiet umfasst die Kanäle, die von Molokai zur großen Insel Hawaii führen, die Gewässer zwischen Maui, Lanai und Kahoolawe und dazu die Nordküsten von Oahu und Kauai, wo es reichlich Platz für einen ganzen Haufen Wale gibt, was auch der Grund sein dürfte, wieso man sie dort hält.

Etwa hundert Leute standen draußen vor dem Vortragssaal herum, als Nate und Amy mit dem Pick-up auf den Parkplatz einbogen.

»Scheint gut besucht zu sein, oder?«, sagte Amy. Sie war erst einmal bei einem der wöchentlichen Vorträge in der Schutzstation gewesen, und den hatte Gilbert Box gehalten, ein mürrischer Biologe, der mit Unterstützung der Internationalen Walfangkommission forschte und Grafiken und Zahlen herunter-ratterte, bis die zehn Anwesenden am liebsten eigenhändig einen Wal geschlachtet hätten, nur um ihm das Maul zu stopfen.

»Guter Durchschnitt. Verhaltensforschung zieht immer mehr als bloße Statistik. Wir sind eben sexy«, sagte Nate grinsend.

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Amy schnaubte. »Oh ja, ihr Jungs seid die Mae Wests unter den Freaks.«

»Wir sind Action-Freaks«, erwiderte Nate. »Abenteuer-Freaks.

Romantik-Freaks.«

»Freaks«, sagte Amy.

Nate sah den klapperdürren Gilbert Box ein wenig abseits der Menge stehen, mit einem Strohhut, dessen Krempe so breit war, dass sie im Zweifel noch drei weiteren Leuten Schatten bot.

Dazu trug er eine gigantische Sonnenbrille, wie man sie zum Schweißen oder als Schutz vor einem Atomblitz aufsetzte. Sein ausgemergeltes Gesicht war weiß vom Zinkoxid, das er als Sonnenschutz verwendete, wenn er nicht im Wasser war. Er trug ein langärmliges Khakihemd mit entsprechender Hose und stützte sich auf einen weißen Sonnenschirm, ohne den er niemals vor die Tür ging. Es war eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang, eine warme Brise wehte von der Maalaea Bay heran, und Gilbert Box sah aus wie Gevatter Tod auf einem Verdauungsspazier-gang – vor einer arbeitsamen Nacht, in der er Millionen glücklichen Gewinnern Herzinfarkte und Tumore bringen würde.

Nate hatte Box den Spitznamen »Graf Zahl« verpasst, nach dem Sesamstraßen-Vampir mit dem besessenen Drang, alles zu zählen. (Nate war für die Sesamstraße schon zu alt gewesen, hatte sie aber noch in der zehnten Klasse gesehen, wenn er seinen kleinen Bruder Sam hütete.) Die Leute waren der Ansicht, »Graf Zahl« sei ein ausgesprochen passender Name für einen Walzähler mit einer Aversion gegen Wasser und Sonnenlicht, und so hatte sich der Name sogar außerhalb von Nates und Clays unmittelbarem Dunstkreis durchgesetzt.

Panik krabbelte an Nates Rückgrat hinauf. »Sie werden merken, dass wir nur so tun als ob. Der Graf wird uns den Vortrag um die Ohren hauen, sobald ich irgendwas sage, was wir nicht mit Daten untermauern können.«

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»Woher soll er es wissen? Vor einer Woche hattest du die Daten ja noch. Außerdem: wieso wir? Ich bediene hier nur den Projektor.«

»Vielen Dank auch.«

»Da drüben ist Tarwater«, sagte Amy. »Wer sind diese Frauen, mit denen er da redet?«

»Wahrscheinlich irgendwelche Walliebhaberinnen«, sagte Na-te und tat, als wären seine gesamten geistigen Kapazitäten damit ausgelastet, den Pick-up in eine Parklücke zu quetschen, in der vier Autos Platz gefunden hätten. Die Frauen, mit denen sich Tarwater unterhielt, waren Dr.

Margaret Painborne und

Dr. Elizabeth »Libby« Quinn. Sie arbeiteten mit zwei ausgesprochen maskulin wirkenden, jungen Frauen zusammen und studierten das Kuh/Kalb-Verhalten und Soziale Lautgebung. Sie leisteten gute Arbeit, dachte Nate, selbst wenn ihm das Thema zu geschlechtsspezifisch war. Margaret war Ende vierzig, klein und rund, mit langem, grauem Haar, das sie permanent zu einem Zopf gebunden trug. Libby war fast zehn Jahre jünger, schlank und langbeinig, mit blondem, leicht ergrautem, kurzem Haar, und sie war – vor nicht allzu langer Zeit – Nates dritte Frau gewesen. Eine zweite, gänzlich anders geartete Woge der Beklommenheit spülte über Quinn hinweg. Es war das erste Mal, dass er Libby begegnete, seit Amy im Team war.

»Die sehen nicht wie Walliebhaberinnen aus«, sagte Amy.

»Eher wie Wissenschaftlerinnen.«

»Wieso das?«

»Die sehen aus wie Action-Freaks.« Amy schnaubte erneut und kletterte aus dem Truck.

»Das ist nicht sehr professionell«, sagte Nate, »dieses Schnauben, du dauernd drauf hast.« Aber Amy war schon auf dem Weg zum Vortragssaal, mit einem Rundmagazin voller Dias unter dem Arm.

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Nate zählte über dreißig Forscher in der Menge, als er näher kam. Und das waren nur diejenigen, die er persönlich kannte.

Die ganze Saison über kamen neue Leute vom Festland herüber

– Doktoranden, Film-Crews, Reporter, Leute von der Fischerei-behörde, Förderer –, und alle bemühten sich um die wenigen Forschungsgenehmigungen, die für das Schutzgebiet erteilt wurden.

Aus unerfindlichem Grund steuerte Amy zielstrebig auf Cliff Hyland und Tarwater, den Marine-Wachhund, zu, der seine Uniform abgelegt und gegen Dockers und ein Tommy Bahama-T-Shirt eingetauscht hatte. Allerdings wirkte er noch immer fehl am Platz, weil auch diese Kleidung messerscharf gebügelt war.

Seine Schuhe hatte er mit Spucke poliert, und er stand da, als hätte man ihm eine kalte Eisenstange ans Rückgrat geschnallt.

»Hey, Amy«, sagte Cliff. »Tut mir Leid, das mit dem Einbruch. Schlimm?«

»Wird schon wieder«, erwiderte Amy.

Nate schlenderte hinter Amy heran. »Hey, Cliff. Captain.« Er nickte beiden zu.

»Tut mir Leid, das mit dem Einbruch, Nate«, sagte Cliff noch einmal. »Ich hoffe, euch ist nichts Wichtiges abhanden gekommen.«

»Wir sind im Arsch«, sagte Nate.

Und Tarwater lächelte – zum ersten Mal überhaupt, wie Nate glaubte.

»Wir kommen schon zurecht.« Amy grinste und schwenkte ihr Dia-Magazin wie einen Talisman mit Zauberkräften.

»Ich überleg schon, ob ich mir einen Job bei Starbucks suchen soll«, sagte Nate.

»Hey, Cliff, woran arbeiten Sie eigentlich gerade?«, fragte Amy, nachdem sie irgendwie nah genug an Cliff Hyland heran-64

gerückt war, dass sie ihn mit großen, mädchenhaft blauen Augen und diesem Ausdruck eines faszinierten Kindes ansehen konnte.

Nate zuckte zusammen. Das war nicht … also, so was tat man einfach nicht. Man fragte nicht, jedenfalls nicht so unverblümt.

»Nur so Sachen für die Navy«, sagte Cliff und wollte offensichtlich von Amy abrücken, wusste aber, wenn er es täte, würde er wohl sein Gesicht verlieren.

Nate sah, wie Amy das männliche Ego seines nicht mehr ganz jungen Freundes in Angriff nahm, indem sie einfach einen Schritt näher trat. Auch Tarwater reagierte, schien genervt zu sein, dass sich Amy nur um Cliff kümmerte. Oder vielleicht war er auch nur genervt von Amy, weil sie nervig war. Manchmal musste sich Nate daran erinnern, nicht wie ein Biologe zu denken.

»Wissen Sie, Cliff«, sagte Amy, »neulich habe ich mal einen Blick auf die Karte geworfen, und Sie sollten sich festhalten, denn es könnte Sie schockieren, aber in Iowa gibt es gar keine Küste. Ich meine, stört das nicht irgendwie beim Studium von Meeressäugern?«

»Stimmt … wenn man es so sieht«, sagte Cliff. »Wo waren Sie vor zehn Jahren, als ich den Posten angenommen habe?«

»Grundschule«, antwortete Amy. »Was ist das für eine große Kiste in Ihrem Boot? Sonaranlage? Infraschall? Machen Sie wieder so eine LFA-Studie?«

Tarwater räusperte sich.

»Amy«, unterbrach Nate das Geplänkel, »wir sollten da drinnen lieber aufbauen.«

»Stimmt«, sagte Amy. »War nett, mit Ihnen zu plaudern.«

Sie ging. Nate grinste … aber nur eine Sekunde. »Tut mir Leid. Du weißt ja, wie es ist.«

»Yeah.« Cliff Hyland lächelte. »Wir haben dieses Jahr zwei Examenskandidaten bei uns.«

65

»Aber wir haben unsere Handlanger zu Hause gelassen, damit sie Daten auswerten«, fügte Tarwater hinzu.

Nate und Cliff sahen sich an wie zwei alte Löwen mit abge-brochenen Zähnen, denen der Stolz schon lange abhanden gekommen war – müde, aber überzeugt davon, dass sie, wenn sie sich zusammentäten, das jüngere Männchen bei lebendigem Leib zerfleischen könnten. Cliff zuckte fast unmerklich mit den Schultern, und diese kleine Geste sagte: Tut mir Leid, Nate. Ich weiß, er ist ein Arschloch, aber was soll ich machen? Er gibt das Geld.

»Ich geh lieber rein«, sagte Nate und klopfte auf die Notizen in seiner Hemdtasche. Er kam noch an ein paar Bekannten vorbei, sagte im Vorübergehen »Hallo!« und platzte dann gleich hinter der Tür in einen kleinen Albtraum: Amy war in ein Gespräch mit seiner Ex-Frau Libby und deren Partnerin Margaret verstrickt.

Es war folgendermaßen gewesen: Sie hatten sich vor zehn Jahren kennen gelernt, im Sommer in Alaska, eine abgelegene Hütte auf Baranof Island an der Chatham Strait, wo man Wissenschaftlern Zugang zu ein paar festen Schlauchbooten und so viel Dosenbohnen, Räucherlachs und russischem Wodka gewährte, wie sie konsumieren konnten. Nate hatte damit begonnen, das Ernährungsverhalten seiner geliebten Buckelwale zu beobachten und Laute aufzunehmen, die ihm helfen sollten, dieses Lied zu interpretieren, das sie sangen, wenn sie vor Hawaii waren. Libby machte Biopsien zur Population der ein-heimischen (fischfressenden) Killerwale, um zu beweisen, dass die vielen verschiedenen Familien im Grunde demselben Clan angehörten und in Wahrheit blutsverwandt waren. Zwei Jahre zuvor hatte er sich von seiner zweiten Frau scheiden lassen.

Libby war dreißig und hatte noch zwei Monate bis zum Abschluss ihrer Dissertation in Cetologie. Entsprechend hatte sie seit der Highschool im Grunde nur Zeit für ihre Forschungen gehabt – neben gelegentlichen Affären mit Skippern, älteren 66

Forschern, Examenskandidaten, Fischern und hin und wieder einem Fotografen oder Dokumentarfilmer. Sie wechselte ihre Partner nicht besonders häufig, aber man segelte durch ein Meer von Männern, wenn man Wale erforschte, und sofern man sein Leben nicht einsam und allein verbringen wollte, lief man hin und wieder in einen gemütlichen, wenn auch etwas verlotterten Hafen ein. Die Rastlosigkeit der Arbeit vertrieb manch eine Frau aus dieser Forschung. Andererseits gab sich Nate alle Mühe, die männliche Seite der Balance zu sichern, indem er eine Walfor-scherin heiratete, da nur jemand, der genauso besessen, rastlos und eindimensional war, in der Lage wäre, diese Qualitäten in seinem Partner würdigen zu können. Diese Argumentation kündete natürlich von einem Sieg der Romantik über die Vernunft, der Ironie über den klaren Geist und der reinen Dummheit über den gesunden Menschenverstand. Mit einer Wissenschaftlerin verheiratet zu sein, hatte Nate lediglich die Frage erspart, woran er gerade dachte, wenn er sich im Bett postkoital an sein Weib schmiegte. Sie wusste, was er dachte, weil sie beide an das Gleiche dachten: Wale.

Sie waren beide schlank und blond und wettergegerbt, und eines Abends, als sie Ausrüstung an Land schleppten, zog Libby den Reißverschluss an ihrem Rettungsanzug auf und knotete die Ärmel um ihre Taille, um sich freier bewegen zu können. Nate sagte: »Das steht dir richtig gut.«

Niemand, absolut niemand, sieht in einem Rettungsanzug gut aus (es sei denn, man steht auf orange phosphoreszierende Marshmallow-Männchen), aber Libby machte sich nicht mal die Mühe, die Augen zu verdrehen. »In meiner Hütte gibt es Wodka und eine Dusche«, sagte sie.

»Ich hab auch eine Dusche in meiner Hütte«, erwiderte Nate.

Libby schüttelte nur den Kopf und stapfte den Pfad hinauf.

Über die Schulter hinweg rief sie: »In fünf Minuten steht unter meiner Dusche eine nackte Frau. Unter deiner auch?«

67

»Oh«, sagte Nate.

Noch immer waren sie beide schlank, nur nicht mehr blond.

Nate war komplett ergraut und Libby auf dem besten Weg dorthin. Sie lächelte, als sie ihn kommen sah. »Wir haben von eurem Einbruch gehört, Nate. Ich wollte dich anrufen.«

»Schon okay«, sagte er. »Da kann man nicht viel machen.«

»Meinst du«, sagte Amy. Sie wippte auf den Fußballen, als würde sie jeden Augenblick explodieren oder durch den Saal tigern.

»Ich glaube, das hier könnte den Verlust möglicherweise lindern«, erklärte Libby. Sie holte den Rucksack von ihrer Schulter, langte hinein und holte eine Hand voll CDs in Papp-hüllen hervor. »Wetten, die hattest du schon vergessen? Du hast sie uns letztes Jahr geliehen, damit wir uns die soziale Kommunikation im Hintergrund rauskopieren können.«

»Es sind sämtliche Aufnahmen von Walgesängen aus den letzten zehn Jahren«, sagte Amy. »Ist das nicht toll?«

Nate fühlte sich, als müsste er gleich in Ohnmacht fallen. Erst ging die Arbeit der letzten zehn Jahre verloren, und kaum hatte er sich mit dem Verlust abgefunden, da bekam er alles zurück.

Er legte eine Hand auf Libbys Schulter, um sich abzustützen.

»Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich dachte, du hättest sie mir längst zurückgegeben.«

»Wir haben Kopien angefertigt.« Margaret trat näher an Quinn heran und stellte so einen Fuß zwischen ihn und seine Ex-Frau.

»Du hast gesagt, es sei okay. Wir haben sie nur benutzt, um sie mit unseren eigenen Aufnahmen abzugleichen.«

»Ist auch okay«, erwiderte Nate. Fast hätte er ihr auf die Schulter geklopft, aber als er sich in ihre Richtung bewegte, zuckte sie zurück, und er ließ die Hand sinken. »Danke, Margaret.«

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Margaret hatte sich mittlerweile zwischen Nate und Libby geschoben, machte sich selbst zur Barrikade (ein Verhalten, das sie offenbar aus ihren Kuh/Kalb-Studien übernommen hatte, denn eine Buckelwalmutter machte es nicht anders, wenn sich ihrem Kalb Boote oder verliebte Bullen näherten).

Amy riss Libby den Stapel CDs aus der Hand. »Die sollte ich mir schnell mal ansehen. Vielleicht finde ich ein paar passende Aufnahmen, mit denen wir die Dias untermalen können, wenn ich mich beeile.«

»Ich komme mit«, sagte Margaret, wobei sie Amy musterte.

»Meine Schrift lässt zu wünschen übrig. Möglich, dass du die Katalognummern nicht entziffern kannst.«

Und schon waren sie auf dem Weg zum Projektor, während Nate bei Libby stehen blieb und sich fragte, was genau hier eigentlich vor sich ging.

»Sie hat wirklich einen bemerkenswerten Hintern, Nate«, sagte Libby, während sie Amy hinterhersah.

»Jep«, sagte Nate, um diesem Gespräch zu entgehen. »Sie ist auch ziemlich aufgeweckt.«

Irgendwann in der letzten Woche hatte eine leise Stimme in seinem Kopf gefragt: Kann es noch viel schräger werden? Und nun hatte er innerhalb von zwei Minuten diverse Zustände durchlitten: Angst, Verlegenheit, Angst, Erleichterung, Dankbarkeit, und jetzt lechzte er gemeinsam mit seiner Ex-Frau irgendwelchen Bräuten hinterher. O ja, kleine Stimme, schräger kann es immer werden.

»Mir scheint, Margaret ist auf Rekrutierungsmission«, sagte Libby. »Ich hoffe, sie hat vorher unser Budget gecheckt.«

»Amy arbeitet unentgeltlich«, erklärte Nate.

Libby stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte: »Ich glaube, eben wurde der erste Schritt zu einem echten Mädchen-team getan.« Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

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»Mach die Bande heute Abend nieder, Nate.« Und schon lief sie Amy und Margaret nach.

Clay und Kona trafen ein, als Libby gerade gegangen war, und ärgerlicherweise starrte Kona Libby hinterher.

»Irie, Boss Nate. Wer ist das knackige Tantchen, das da eben an dir rumgenuckelt hat?« (Wie so viele echte Hawaiianer nannte Kona jede Frau aus einer älteren Generation »Tantchen«, selbst wenn er scharf auf sie war.)

»Du hast ihn mitgebracht«, sagte Nate zu Clay, ohne sich nach ihm umzudrehen.

»Er muss noch viel lernen«, erwiderte Clay. »Libby kam mir so freundlich vor.«

»Sie ist scharf auf Amy.«

»Oh, welch mieses Niedertracht, ein Mann um seine Schnittchen zu berauben, und dann noch wegen unlautere Beweg-gründe, nur um sich an ihr zu schubbern. Das Schnittchen gehört zu unserem Stamm.«

»Libby war Nates dritte Frau«, erklärte Clay, als könnte das in irgendeiner Form erhellen, wieso Libby niederträchtigerweise darauf aus war, ihr Sahneschnittchen zu entführen.

»Echt jetzt?«, sagte Kona und schüttelte verwirrt sein Medu-senhaupt. »Du hast ’ne Lesbe geheiratet?«

»Es lag an den Walpimmeln«, erklärte Clay, was nicht eben zur Erhellung beitrug.

»Ich geh mal lieber und hol meine Unterlagen«, sagte Nate.

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8

Gut gesprochen

»Biologie«, sagte der Pseudo-Hawaiianer, »der Scheiß macht uns alle zu Sexmarionetten.« Clay hatte ihm eben alles erzählt.

Die Geschichte ging folgendermaßen:

Nach fünf Ehejahren mit Nathan Quinn war Libby den Sommer über ans Beringmeer gefahren, um weibliche Nordkaper mit Satellitensendern auszustatten. Sie arbeitete bereits mit Margaret Painborne zusammen, die damals das Verhalten der Wale während ihrer Paarungszeit und der Trächtigkeit erforschte. Das Beste war, die Kühe durchgehend im Auge zu behalten. Nun kann es unglaublich schwierig sein, das Geschlecht eines Wals zu bestimmen, da die Genitalien aus hydrodynamischen Gründen allesamt von außen nicht zu sehen sind. Ohne eine Biopsie oder einen Aufenthalt im Wasser bei den Tieren (was im Beringmeer nach drei Minuten den Tod bedeutet), bleibt einem zur Ge-schlechtsbestimmung im Grunde nur, eine Kuh zu erwischen, wenn sie ihr Kalb bei sich hat, oder den Moment abzuwarten, in dem sich die Tiere paaren. Libby und Margaret hatten beschlossen, sie bei der Paarung zu markieren. Ihr Basisschiff war ein Fünfundzwanzig-Meter-Schoner, den Scripps ihnen für das Projekt ausgeliehen hatte. Zum eigentlichen Markieren benutzten sie jedoch ein wendiges Schlauchboot mit 40-PS-Motor.

Sie hatten eine Kuh entdeckt, die sich der Avancen zweier riesiger Bullen zu erwehren versuchte. Der Nordkaper ist eines der wenigen Tiere auf der Welt, das bei der Paarung eine Art Ausspülungs-Methode anwendet. Das heißt, dass sich Kühe mit mehreren Bullen paaren, aber nur derjenige, der das Sperma aller anderen Mitbewerber am gründlichsten ausspült, gibt seine Gene an die nächste Generation weiter. Entsprechend siegt oft genug der Bulle mit dem größten Gemächt, und männliche 71

Nordkaper haben das gewaltigste Gemächt der Welt, mit Hoden, die bis zu einer Tonne wiegen, und drei Meter langen Penissen, die nicht nur lang sind, sondern mit denen sie auch greifen können, so dass es ihnen möglich ist, um die Flanke einer Kuh zu langen und sich heimlich, still und leise einzuschleichen.

Libby saß am Bug des Bootes und machte sich mit einer fünf Meter langen Fiberglasstange bereit, deren Spitze (neben der Satelliteneinheit) mit einem stählernen Widerhaken ausgestattet war. Margaret steuerte den Außenborder, manövrierte sich auf eisigen Zwei-Meter-Wellen in eine Position, aus der heraus Libby den Sender anbringen konnte. Nordkaper sind nicht besonders schnell (die Walfänger haben sie allen Ernstes von Ruderbooten aus erlegt), aber sie sind groß und breit, und im Wahn der Paarungshatz bietet ein kleines Motorboot in etwa so viel Schutz vor ihren zuckenden Sechzig-Tonnen-Leibern, als würde man mit einer Rüstung aus Alufolie ins Turnier ziehen. Und die edle Libby, Action-Freak-Girl, das sie war, sah aus wie ein tapferer Ritter in phosphoreszierendem Orange, die Lanze bereit, während ihr treues Ross Evinrude sie über die Wogen trug.

Und als sich das Boot der Kuh näherte, die links und rechts von gewaltigen Bullen umzingelt war, rollte sie sich auf den Rücken, so dass ihre Genitalien gen Himmel deuteten. Dann wurde sie langsamer, und Margaret steuerte das Boot zwischen die Schwänze der beiden Bullen, damit Libby den Sender anbringen konnte. Die Kuh ließ sich unter das Boot treiben, und Margaret fuhr den Motor herunter, um das Tier nicht mit dem Propeller zu verletzen.

»Scheiße!«, schrie Libby. »Hol uns hier raus! Hol uns raus!«

Ein einziger Flukenschlag würde sie ins Wasser stoßen, wo Unterkühlung und Tod schon warteten. Libby hatte ihren Über-lebensanzug heruntergerollt, um die Harpune manövrieren zu können. Sie wäre in Sekundenschnelle abgesoffen.

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Plötzlich ragten zu beiden Seiten zwei gewaltige Penisse aus dem Wasser auf. Die Bullen suchten ihr Ziel, rückten näher an die Kuh heran, machten solche Wellen, dass die beiden Frauen auf den Boden ihres Bootes fielen. Über ihnen ragten zwei rosige Türme auf, suchten ihr Ziel, tasteten an den Rändern des Bootes herum, so dass Schleim über die Gummiwand des Bootes rann (und über die Biologinnen), stocherten herum, peitschten und missbrauchten die beiden Frauen in jeder Hinsicht. Die Kuh hatte das Schlauchboot mittlerweile direkt über ihrem Geschlecht, benutzte es als provisorisches Diaphragma. Dann begegneten sich die beiden Walpimmel direkt über dem Boot, und beide Bullen dachten offenbar, sie hätten ihr Ziel gefunden, und da sie nicht zu spät kommen wollten, spritzten sie gewaltige Ströme von klebrigem Walsperma ins Boot, über die Ausrüstung und die Forscherinnen, überspülten die Dollborde, setzten den Motor unter Sperma, bis so ziemlich alles – bis auf die Waldame – vollständig und widerlich voll gewichst war.

Nach erfüllter Mission schwammen sie davon, um sich etwas postkoitalen Krill aus den Barten zu stochern. Margaret erlitt eine Gehirnerschütterung und trug eine teilweise abgetrennte Netzhaut davon, Libby eine ausgerenkte Schulter und diverse Schürfungen und Prellungen. Das eigentliche Trauma aber ließ sich nicht mit Mullbinden, Pflastern und Betadine lindern.

Einige Wochen später war Libby wieder bei Nate, der zusammen mit Clay unten an der Chatham Strait das Ernährungsverhalten der Tiere filmte. Sie kam in seine Kabine spaziert, umarmte ihn, dann trat sie einen Schritt zurück und sagte: »Nate, ich glaube, ich möchte nicht mehr verheiratet sein.« Eigentlich aber meinte sie: »Mit Penissen bin ich endgültig fertig, Nate, und so nett du sein magst, weiß ich doch, dass du auch an so einem Ding befestigt bist. Mir steht es Oberkante Unterlippe, sozusagen. Ich mag nicht mehr.«

»Okay«, sagte Nate. Später erzählte er Clay, er hätte seit Stunden Hunger gehabt und sich die ganze Zeit vorgenommen, eine 73

Pause einzulegen und was zu essen, aber nachdem Libby aufgetaucht war, hatte er gemerkt, dass es gar kein Hunger gewesen war. Er hatte sich nur leer gefühlt, aus Einsamkeit. Und seit jenem Tag fühlte sich Nate mehr oder weniger einsam und lie-beskrank (auch wenn er sich nicht beklagte, sondern es sich nur anmerken ließ). Diesen Teil hatte Clay Kona vorenthalten.

Whiskeygetränkte Geständnisse am Lagerfeuer waren vertrauli-che Informationen. Eine Frage der Loyalität.

»Also«, sagte Nate, »da der Gesang in den meisten Fällen die Aufmerksamkeit anderer Bullen weckt, die sich dem Sänger daraufhin oft anschließen, sollte man vermuten, dass kein direkter Zusammenhang zwischen Gesang und Paarungsaktivitäten besteht, abgesehen davon, dass beides zur gleichen Zeit geschieht. Und da bisher noch niemand den Paarungsvorgang bei Buckelwalen beobachtet hat, könnte selbst diese Vermutung schlicht falsch sein. Sollte der Gesang tatsächlich den Versuch des Bullen darstellen, sein Territorium abzustecken, so scheint mir dieses Vorgehen nicht eben wirkungsvoll, da sich andere Bullen zu den Sängern gesellen, selbst solche, die Kühe und Kälber begleiten. Die Studie spricht eine Empfehlung für weitere Studien aus, um herauszufinden, ob – wie bisher angenommen – ein direkter Zusammenhang zwischen Walgesang und Paarungsaktivität besteht. Vielen Dank. Sollten Sie Fragen haben …«

Hände zuckten in die Luft. Jetzt ging es los: die Kristallkugelgu-cker, die Wal-Umarmer, die Hippies, die Jäger, die Touristen, die Förderer, die Spinner, die Forscher (Gott steh uns bei, die Forscher) und Leute, die einfach nur neugierig waren. Nate hatte nichts gegen Neugierige. Sie waren die Einzigen, die nichts im Schilde führten. Alle anderen suchten nur Bestätigung, keine Antworten. Sollte er zuerst auf die Forscher eingehen? Damit er sie hinter sich hatte? War vielleicht keine schlechte Idee.

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»Ja, Gilbert.« Er deutete auf den Grafen. Der lange Wissenschaftler hatte seine Sonnenbrille abgenommen, die Krempe an seinem Hut jedoch weit heruntergezogen, als müsste er die glühend roten Kohlen seiner Augen verbergen. Oder vielleicht bildete sich Nate das auch nur ein.

Graf Zahl sagte: »Man kann also bei so wenigen Beispielen –

Sie sprachen von fünfmaligem Vorkommen einer Interaktion zwischen Sängern und anderen – nicht ernstlich eine Schlussfolgerung hinsichtlich des Zusammenhangs mit der Fortpflanzung oder der Widerstandsfähigkeit einer Population ziehen? Richtig?«

Nate seufzte. Pissnelke, dachte er. Er wandte sich den fremden Gesichtern im Publikum zu, den Nichtprofis. »Wie Sie wissen, Dr. Box, sind Beispiele für das Verhalten von Walen gewöhnlich rar gesät. Es liegt in der Natur der Sache, dass wir aus den Daten über Wale mehr herauslesen müssen als bei anderen Tieren, die leichter zu beobachten sind. Wenige Beispiele sind auf diesem Forschungsgebiet ein akzeptiertes Handikap.«

»Damit wollen Sie also sagen«, fuhr Box fort, »dass Sie versuchen, das Verhalten eines Tieres, das kaum drei Prozent seiner Zeit an der Oberfläche verbringt, nach seinem Verhalten an eben jener Oberfläche zu beurteilen. Wäre das nicht ungefähr so, als wollte man die menschliche Zivilisation extrapolieren, indem man sich am Strand unter Wasser die Beine von Menschen ansieht? Ich sehe nicht, wie das möglich sein sollte.«

Nate sah sich im Saal um, in der Hoffnung, dass einer der anderen Verhaltensforscher einspringen, ihm helfen, ihm einen Ball zuspielen würde, aber offenbar waren die Anschläge am Schwarzen Brett, die Deckenventilatoren und die Planken am Boden von unwiderstehlichem Interesse.

»In letzter Zeit beobachten wir die Tiere immer öfter auch im Wasser. Clay Demodocus besitzt mittlerweile über sechshundert Stunden Videoaufnahmen über das Verhalten der Buckelwale 75

unter Wasser. Aber erst in jüngster Zeit wurde die Unterwasser-beobachtung durch Digitalkameras und Rebreather-Technik wirklich praktikabel. Und es bleibt noch immer das Problem des Antriebs. Kein Taucher schwimmt so schnell, dass er den Buckelwalen bei ihrer Wanderung folgen könnte. Ich denke, dass alle Forscher in diesem Raum den Wert von Beobachtungen dieser Tiere unter Wasser begreifen werden, und man muss gewiss nicht extra erwähnen, dass eine Forschung ohne Berück-sichtigung des Unterwasserverhaltens unvollständig wäre. Da sind wir sicher einer Meinung, Dr. Box.«

Überall im Saal wurde ersticktes Kichern laut. Nathan Quinn lächelte. Graf Zahl ging unter keinen Umständen ins Wasser.

Entweder hatte er schreckliche Angst davor, oder er war dagegen allergisch, aber wenn man ihn auf seinem Boot beobachtete, war nicht zu übersehen, dass er den Kontakt mit dem feuchten Nass um jeden Preis vermied. Wollte er aber auch weiterhin Gelder von der Internationalen Walfangkommission bekommen, musste er rausfahren und Wale zählen. Auf dem Wasser, niemals im Wasser. Quinn war der Ansicht, dass Box’ Arbeit schlechte Wissenschaft war und er seine Beraterdienste »dunklen Mächten« anbot. Er betrieb Studien und beschaffte Daten für den höchsten Bieter, und Nate zweifelte nicht daran, dass diese Daten im Interesse seiner Geldgeber verzerrt wurden. Mehrere Nationen in der Internationalen Walfangkommission wollten das Fangverbot für Wale aufheben, aber vorher mussten sie geprüft haben, ob sich die Population so weit erholt hatte, dass die Jagd wieder freigegeben werden konnte. Gilbert Box versorgte sie mit Zahlen. Nate wartete ab, bis der ausgemergelte Forscher nickte, dann nahm er die nächste Frage an.

»Ja, Margaret.«

»Ihre Studie scheint sich auf den Blickwinkel männlicher Tiere zu beschränken, ohne Einbeziehung der Rolle des weibli-chen Wals. Könnten Sie dazu etwas sagen?«

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Na, das kommt jetzt aber überraschend, dachte Nate. »Nun, ich denke, zum Kuh/Kalb-Verhalten wird bereits gute Arbeit geleistet, wie auch hinsichtlich der oberflächenaktiven Gruppen, was wir für paarungsverwandtes Verhalten erachten, aber da sich meine Arbeit mit den Sängern beschäftigt und es sich bei diesen Sängern, soweit wir wissen, ausschließlich um männliche Tiere handelt, neige ich dazu, mich auch mit männlichen Tieren beschäftigen zu wollen.« Okay, das sollte genügen.

»Sie können also nicht definitiv ausschließen, dass die weibli-chen Tiere das Artverhalten prägen?«

»Margaret, wie mir meine Forschungsassistentin wiederholt versichert hat, lässt sich über Buckelwale im Grunde nur eindeutig sagen, dass sie groß und schlüpfrig sind.«

Alle lachten. Quinn sah Amy an, und sie zwinkerte ihm zu, und dann, als er sich wieder Margaret zuwandte, sah er Libby neben ihr, die ihm ebenfalls zuzwinkerte. Zumindest hatte sich die Anspannung unter den Forschern gelegt, und Quinn merkte, dass Captain Tarwater und Jon Thomas Fuller samt seinem Gefolge nicht länger die Hände hoben, um Fragen zu stellen.

Vielleicht merkten sie, dass sie nichts Neues in Erfahrung bringen würden, und ganz sicher wollten sie nicht vor Publikum ihre eigenen Themen preisgeben oder abgeschmettert werden wie Gilbert Box. Nate nahm die Fragen der Nichtwissenschaftler entgegen.

»Könnte es sein, dass sie ›Hallo‹ sagen?«

»Ja.«

»Wenn sie hier nicht fressen und es nichts mit der Paarung zu tun hat, wieso singen sie dann?«

»Das ist eine gute Frage.«

»Wissen die Tiere vielleicht, dass die Aliens Kontakt zu uns aufgenommen haben, und versuchen nun, das Mutterschiff zu kontaktieren?«

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Ah, tut immer gut, mal wieder von den Spinnern zu hören, dachte Nate. »Nein, das glaube ich nicht.«

»Vielleicht benutzen sie ihr Sonar, um andere Wale zu finden.«

»Soweit wir wissen, orientieren sich Bartenwale, die ihre Nahrung durch Schichten von Barten filtern, nicht – wie Zahnwale – mit Hilfe einer Echoortung.«

»Wieso springen sie die ganze Zeit? Andere Wale springen nicht so.«

»Manche glauben, sie häuten sich oder versuchen, Parasiten abzuschütteln, aber nach jahrelanger Beobachtung bin ich der Ansicht, dass sie einfach nur gern aufs Wasser klatschen … das Gefühl auf der Haut. So wie man vielleicht gern die Füße in einem Brunnen baumeln lässt. Ich glaube, sie machen nur Blödsinn.«

»Ich habe gehört, dass jemand in Ihr Büro eingebrochen ist und Ihre gesamte Forschung vernichtet hat. Was glauben Sie, wieso sollte jemand so etwas tun?«

Nate stutzte. Die Frau, die das gefragt hatte, hielt einen Steno-block in der Hand. Maui Times, wie er vermutete. Sie war aufgestanden, um ihre Frage zu stellen, als befände sie sich auf einer Pressekonferenz und nicht bei einem ganz normalen Vortrag.

»Die Frage, die Sie sich selbst stellen sollten«, sagte Nate,

»lautet: Wer interessiert sich überhaupt für die Erforschung der Walgesänge?«

»Was glauben Sie denn, wer?«

»Ich, ein paar Leute in diesem Saal hier und vielleicht ein knappes Dutzend Forscher auf der ganzen Welt. Im Moment zumindest. Sobald wir mehr herausfinden, werden sich auch mehr Leute dafür interessieren.«

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»Sie wollen also sagen, dass jemand, der sich in diesem Saal befindet, Ihr Büro aufgebrochen und Ihre gesamte Forschung vernichtet hat?«

»Nein. Als Biologe muss man sich davor hüten, Motive zu vermuten, wo keine sind, und mehr aus dem Verhalten abzule-sen, als die Daten hergeben. Ungefähr so wie die Antwort auf die Frage, wieso sie springen. Man könnte sagen, es sei Teil eines unfassbar komplexen Kommunikationssystems, und damit könnte man auch Recht haben, aber die nahe liegende Antwort –

und vermutlich auch die korrekte – ist, dass sich die Wale einfach austoben. Ich denke, der Einbruch war nur ein wahlloser Akt von Vandalismus, der sich den Anschein gibt, ein Motiv zu haben.« Schwachsinn, dachte Quinn.

»Danke, Dr. Quinn«, sagte die Reporterin und setzte sich.

»Danke Ihnen allen, dass Sie gekommen sind«, sagte Nate.

Applaus. Nate sortierte seine Notizen, während sich einige Leute um das Podium versammelten.

»Das war Schwachsinn«, sagte Amy.

»Totaler Schwachsinn«, sagte Libby Quinn.

»Was für ’n Scheiß«, sagte Cliff Hyland.

»Gut gesprochen Rede, Doc«, sagte Kona. »Aus dir singt Marleys Geist.«

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Relativität

Lederhäutige Bardamen betrieben die Buden am Hafen, rauchten Basic 100S und sprachen mit Stimmen, die sich anhörten, als würde jemand Strohrum in heißes Fett schütten – ein Spritzer Liebenswürdigkeit auf jeden Liter Galle. Sie waren fünfund-dreißig oder fünfundsechzig, mahagonifarben, dürr und zäh vom Leben auf Booten, vom Schnaps, von Fisch und Enttäuschung.

Sie waren aus einem guten Dutzend Küstenorten hergekommen, manche in kleinen Booten vom Festland, und hatten vergessen, sich etwas Mut für die Rückreise aufzusparen. Ausgesetzt – wie auf einer einsamen Insel. Mann für Mann, Boot für Boot, Jahr für Jahr – Salz und Suff und Sonne hatten sie so ausgetrocknet, dass sie bereits Staub husteten. Wenn sie hundert Jahre durch-hielten, was einigen gelingen konnte, dann würde in einer mondlosen Nacht ein großer Geist mit einer Kapuze auf dem Kopf in den Hafen einschweben und sie zu einer fernen Felsen-insel tragen, die auf keiner Karte zu finden war und die kein Mensch mehr als einmal lebend zu Gesicht bekam. Dort würden sie den Zauber des Meeres am Leben halten, verirrte Seeleute ans Ufer locken, ihnen die Körpersäfte aus den Leibern saugen und die vertrockneten Hüllen auf den Felsen liegen lassen, für die Krebse und die schwarzen Möwen. So wurden Meerhexen geboren … aber das ist eine andere Geschichte. Heute zogen sie Clay nur damit auf, dass er zwei Mädchen den Anleger hinunter-führte.

»Es ist wie mit Außenbordern, Clay: Man braucht zwei, wenn immer einer laufen soll«, rief Margie, die einmal – nach zehn Mai-Tais – versucht hatte, dem hölzernen Kapitän einen zu blasen, der draußen vor der Tür vom Pioneer Inn stand. Debbie, die eine geheime Quelle für Kleine-Jungs-Pipi hatte, das sie den 80

Schwarzkorallentauchern bei Entzündungen in die Ohren träu-felte, sagte: »Gib der Jüngeren die erste Wache, Clay. Lass sie sich ein bisschen ausruhen.«

»Guten Morgen, die Damen«, rief Clay über die Schulter hinweg. Er grinste und lief so puterrot an, dass seine Ohren sogar an Stellen leuchteten, die gar nicht von der Sonne verbrannt waren. In seinen fünfzig Lebensjahren hatte er in allen sieben Meeren getaucht, war von Haien angegriffen worden, hatte Malaria und malaysische Piraten überlebt, war in einer Titankugel acht Kilometer tief in den Tongagraben hinunterge-taucht … und dennoch lief er rot an.

Clair – seit vier Jahren Clays Freundin –, eine vierzigjährige japanisch-hawaiianische Lehrerin, die sich bewegte, als tanzte sie den Hula zu einem Sousa-Marsch (seltsame Mischung aus hoheitsvoller Haltung und milder Brise), grüßte die Nuttessen mit einem lockeren Rückhand-Shaka und sagte grinsend:

»Mädels, sie kommt nur mit, um Wasser auf seine Spulen zu gießen, damit er mir nicht heiß läuft.«

»Oh, Mann, ihr seid immer so verdammt nautisch«, sagte Amy, die sich mit einer riesigen, wasserdichten Kiste abmühte, in der sich der Rebreather befand. Sie rutschte ihr aus der Hand, und das Ding schlug ihr ans Schienbein, bevor sie es abfangen konnte. »Autsch! Verdammt. Ja, ja, alle lieben euren Salzwas-sercharme.«

Der gackernde Chor vor den Buden erlitt einen gemeinschaftlich keuchenden Hustenanfall. Zurück zu den Katzen, den He-xenkesseln, dem Kokosöl, den heiligen Jimmy-Buffett-Songs, die man um Mitternacht betrunkenen, weißbärtigen Möchtegern-Hemingways ins Ohr säuselte, damit der rumgetränkte Mast nur noch dieses eine, letzte Mal von den Toten auferstand. Die ledernen Bardamen widmeten sich wieder ihrem Gewerbe, als Kona vorüberging.

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»Irie, Schwester Amy. Reich mir deine Bürde«, rief Kona und kam den Anleger hinuntergehetzt, um Amy den schweren Rebreather abzunehmen und sich auf die Schulter zu hieven.

Amy rieb ihren Arm. »Danke. Wo ist Nate?«

»Ist rüber zum Tankpier, holt Kaffee für den ganzen Stamm.

Ein Löwe, der Mann.«

»Ja, er ist ein Guter. Du fährst heute mit ihm. Ich muss mit Clay und Clair raus, als Sicherung.«

»Schuhe aus an Bord!«, sagte Clay zum hundertsten Mal zu Clair. Sie verdrehte die Augen und kickte ihre Flip-Flops von den Füßen, bevor sie die Always Confused betrat. Sie reichte Clay eine Hand, und er stützte sie, als würde er eine Hofdame des Königs zur Tanzfläche führen.

Kona reichte Clay den Rebreather hinunter. »Ich kann auch tauchen.«

»Du kriegst doch deine Ohren nie mehr frei. Bei den vielen Nasenringen kannst du ja deine Nase überhaupt nicht zuknei-fen.«

»Die gehen raus. Hier, schon passiert.« Er warf Amy die Ringe zu, aber sie trat schnell einen Schritt zur Seite und ließ sie ins Wasser plumpsen.

»Uups.«

»Amy ist geprüfte Taucherin, Kleiner. Tut mir Leid. Du fährst heute mit Nate.«

»Weiß er das?«

»Ja, weiß er das?«, fragte Clair.

»Er wird es bald erfahren. Sei so nett und hol die Leinen rein, Amy.«

»Ich könnte das Boot fahren.« Kona war kurz davor zu betteln.

»Niemand außer mir fährt dieses Boot«, sagte Clay.

»Ich fahre das Boot«, verbesserte ihn Clair.

82

»Du musst mit Clay schlafen, wenn du das Boot fahren willst«, sagte Amy.

»Tu einfach, was Nate dir sagt«, meinte Clay. »Du kommst schon zurecht.«

»Kann ich das Boot fahren, wenn ich mit Amy schlafe?«

»Niemand fährt dieses Boot«, sagte Clay.

» Ich fahre das Boot«, sagte Clair.

»Niemand schläft mit Amy«, sagte Amy.

» Ich schlafe mit Amy«, sagte Clair.

Alle stutzten und sahen Clair an.

»Wer möchte Milch?«, fragte Nate, der in diesem Moment mit einem Tablett voller Kaffeebecher auftauchte. »Zucker könnt ihr euch selbst nehmen.«

»Sag ich doch«, sagte Clair. » Sisters are doing it for them-selves. «

Und Nate hing in der Luft, mit einem Becher und einem Zuckertütchen, einem kleinem Holzlöffel zum Umrühren und verdutzter Miene.

Clair grinste. »Kleiner Scherz. Mannometer … Jungs!«

Alle atmeten auf. Kaffee wurde verteilt, die Ausrüstung verladen, Clay fuhr die Always Confused aus dem Hafen, nahm sich die Zeit, dem Grafen und seiner Mannschaft zuzuwinken, die ihr Zeug in ein Zehn-Meter-Zodiac verluden, das man normalerweise zum Parasailing benutzte. Der Graf bog seine Hutkrempe herunter und stand am Bug, präsentierte den Sonnenschirm wie ein Gewehr und sah aus wie Washingtons Skelett, das den Strom des Vergessens überquert. Die Mannschaft winkte. Gilbert Box zog ein finsteres Gesicht.

»Ich mag ihn«, sagte Clay. »Er ist berechenbar.«

83

Aber Amy und Clair hörten diese Bemerkung nicht. Sie trugen Sonnencreme auf und redeten vorn am Bug, was Mädchen eben so reden.

»Manchmal redest du wie ein Flittchen«, sagte Amy. »Ich wünschte, ich könnte auch so sein.«

Clair bohrte ihr einen langen, rot lackierten Fingernagel ins Bein. »Verkauf dich bloß nicht unter Preis, Süße.«

Der Ersatz-Hawaiianer balancierte auf der Bugreling, als hinge er meterweit über den Sieben-Meter-Mako hinaus, und winkte im Vorbeifahren der Mannschaft auf dem Zodiac. »Irie, meine Forscherfreunde! Wir forschen schon mal los!« Aber als Graf Zahl seinen Gruß ignorierte, rief er, wie auf der Insel üblich:

»Was ist los? Hab ich Schulden bei dir?«

»Ganz ruhig, Kona«, sagte Nate. »Und komm da runter.«

Kona bahnte sich einen Weg, zum Kommandostand. »Meister Stinkauge guckt dich mit’m Arsch nicht an. Was ist los? Glaubt er, du bist Agent von Babylon?«

»Er macht schlechte Wissenschaft. Wenn Leute zu mir kommen und mich nach ihm fragen, sage ich ihnen, er macht schlechte Wissenschaft.«

»Und wir machen gute Wissenschaft?«

»Wir manipulieren keine Zahlen, um den Leuten, die uns finanzieren, zu gefallen. Die Japaner zum Beispiel wollen nur Zahlen, die belegen, dass sich die Population der Buckelwale erholt hat, damit ihnen die Internationale Walfangkommission wieder gestattet, Jagd auf die Tiere zu machen. Gilbert tut alles, um ihnen diese Zahlen zu beschaffen.«

»Die Buckels töten? Nein.«

»Doch.«

»Nein. Wozu?«

»Um sie zu essen.«

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»Nein«, sagte der blonde Rastamann und schüttelte den Kopf, als sollte das Böse wieder aus seinen Ohren rieseln.

Quinn lächelte in sich hinein. Das Fangverbot war schon in Kraft gewesen, als Kona auf die Welt kam. Soweit der Junge wusste, waren Wale vor Jägern sicher. Quinn wusste es besser.

»Walfleisch zu essen, hat in Japan Tradition. Es ist ein ähnliches Ritual wie unser Thanksgiving. Aber es ist im Aussterben begriffen.«

»Dann ist ja alles gut.«

»Nein. Es gibt eine Menge alter Männer, die den Walfang als Tradition Wiederaufleben lassen wollen. Die japanische Walfangindustrie wird von der Regierung subventioniert. Es ist nicht mal ein rentables Geschäft. Sie verteilen Walfleisch an den Schulen, damit sich die Kinder an den Geschmack gewöhnen.«

»Nein. Kein Mensch isst Wal.«

»Die Internationale Walfangkommission erlaubt ihnen, fünfhundert Zwergwale pro Jahr zu töten, aber sie töten mehr. Und Biologen haben auf japanischen Märkten Walfleisch von einem halben Dutzend gefährdeter Spezies gefunden. Sie versuchen, es als Zwergwal zu deklarieren, aber die DNS lügt nicht.«

»Zwerge? Dieser Teufel mit der weißen Kriegsbemalung tötet unsere Zwerge?«

»Es gibt hier vor Hawaii keine Zwergwale.«

»Na logo nicht, wenn Graf Zahl sie tötet. Wir werden diese Schweinerei auf der Stelle niedersingen.« Kona langte tief in seinen rot-gold-grünen Bauchbeutel. Heraus kam ein erstaunlich komplexes Gebilde aus Plastik, Messing und stählernen Röhren, das Kona in Sekundenschnelle zu etwas zusammenbastelte, das für Quinn wie ein besonders kleiner, eleganter Teilchenbe-schleuniger aussah oder – wahrscheinlicher noch – ein unfassbar kompliziertes Bong.

»Fahr langsam, Bruder. Ich zünd mir einen an, im Namen der 85

Freiheit. Lasst uns Babylon niedersingen und in die Schlacht ziehen, Jah zu Ruhm und Ehre, Mann. Fahr langsam.«

»Pack das weg.«

Kona stutzte, hielt sein Einwegfeuerzeug über die Kugel.

»Willst du unser Schiff schon jetzt zurück nach Zion lenken, Bruder?«

»Nein, wir haben zu tun.« Nate bremste das Boot und stellte die Maschine ab. Sie lagen etwa eine Meile vor Lahaina.

»Babylon niedersingen?« Kona hielt das Feuerzeug in die Höhe.

»Nein. Steck das weg. Ich zeig dir, wie man das Hydrophon ins Wasser lässt.« Quinn checkte die Kassette im Rekorder am Pult.

»Unsere Zwerge retten?« Kona schwenkte das Feuerzeug in Kreisen über der Kugel.

»Hat dir Clay gezeigt, wie man ein Erkennungsfoto macht?«

Nate nahm das Hydrophon und die aufgerollte Leine aus der Kiste.

»Mit Jahs Kräutern ins Mystische entschweben?«

»Nein! Leg das Ding weg und hol die Kamera aus der Kiste vorn am Bug.«

Kona zerlegte das Bong mit einigem Surren und Klicken und steckte es zurück in seinen Bauchbeutel. »Okay, Bruder, aber wenn sie deine Zwerge aufgegessen haben, gib nicht Jah die Schuld.«

Eine Stunde später, nachdem sie gelauscht hatten und gefahren waren und wieder gelauscht hatten, fanden sie ihren Sänger.

Kona hing über dem Dollbord des Bootes und starrte den großen Bullen an, der unter ihrem Boot parkte und so ein ersticktes Quieken von sich gab, wie ein Entführungsopfer, dem man den Mund mit Gaffa-Tape verklebt hatte.

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Immer wieder blickte Kona vom Wal zu Nate hinüber, grinste, dann sah er sich wieder den Wal an und kauerte und balancierte dabei auf dem Dollbord, wie ein Wasserspeier auf der Brüstung einer Kirche. Nate schätzte, dass er vielleicht noch zwei Minuten in dieser Haltung verharren konnte, bis seine Knie endgültig einrasteten und er sein Leben hockend wie ein Frosch zubringen musste. Dennoch neidete er Kona seine Freude, die Begeisterung, diesen Tieren zum ersten Mal ganz nah zu sein. Er neidete ihm seine Kraft und Jugend. Und während er dem Lied in seinen Kopfhörern lauschte (wobei das Lied ganz offenbar einen Ausdruck des Paarungswillens darstellte und doch keinen direkten Hinweis darauf geben wollte, dass es auch wirklich so war), fühlte sich Nate plötzlich zutiefst bedeutungslos. Sexuell, intel-lektuell, finanziell, gesellschaftlich, wissenschaftlich unbedeutend – ein Sack voll entliehener Atome in Form eines Nate.

Weder Wirkung noch Sinn oder Stabilität.

Er versuchte, genauer hinzuhören, was der Wal machte, um sich in der Analyse dessen zu verlieren, was da unten vor sich ging, doch schien das den Verdacht zu unterstreichen, dass er nicht nur alt wurde, sondern möglicherweise den Verstand verlor. Es war das erste Mal, dass er seit dem »FLOSSEN WEG!«-

Zwischenfall wieder draußen war, und seitdem hatte er sich gesagt, dass es sich dabei nur um eine Art Halluzination gehandelt haben konnte. Trotzdem verkrampfte er sich jedes Mal, wenn ein Wal ihm seinen Buckel zeigte, denn er fürchtete, dass auf den Fluken eine Botschaft geschrieben stand.

»Er kommt rauf, Boss.«

Nate nickte. Der Junge lernte schnell. »Halt deine Kamera bereit, Kona. Er wird drei-, viermal Luft holen, bevor er abtaucht. Also, sei bereit!«

Abrupt endete der Gesang in den Kopfhörern. Nate zog das Hydrophon nach oben und ließ die Maschine an. Sie warteten.

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»Da drüben, Boss«, sagte Kona und deutete auf die Steuer-bordseite. Nate wendete das Boot langsam auf der Stelle und wartete.

Sie sahen in die Richtung, in die der Wal nach Konas Ansicht geschwommen war, als er plötzlich hinter ihnen auftauchte, kaum drei Meter neben dem Boot, so dass die beiden beim Ausblasen vor Schreck zusammenzuckten und die Gischt als Regenbogenwolke über sie hinwegwehte.

»Ho! Da ist der Fettsack, Boss!«

»Blitzmerker«, knurrte Nate. Er gab Gas und brachte das Boot hinter den Wal. Beim nächsten Atemzug rollte sich das Tier auf die Seite und schlug mit seiner langen Brustflosse auf die Wasseroberfläche, so dass Kona klatschnass wurde und eine fette Ladung Gischt sich über dem Pult verteilte. Wenigstens war der Junge klug genug, die Kamera zu schützen.

»Ich liebe diesen Wal!«, rief Kona, und sein Rastaslang schmolz dahin, was seinen Mittelklasse-Akzent aus New Jersey zum Vorschein brachte. »Am liebsten würde ich ihn mit nach Hause nehmen und in eine Kiste mit Gras und Steinen tun. Und ihm ein Quietsche-Entchen kaufen.«

»Mach dich für dein ID-Foto bereit«, kommandierte Nate.

»Kann ich ihn behalten, wenn wir fertig sind? Bittebittebitte!«

»Da kommt er, Kona. Stell scharf!«

Der Wal machte einen Buckel, dann zeigte er seine Fluke, und Kona schoss vier schnelle Bilder nacheinander.

»Hast du ihn?«

»Geile Bilder. Totengeil!« Kona legte die Kamera auf den Sitz vor dem Pult und warf ein Handtuch darüber.

Nate richtete das Boot auf den Flukenabdruck, eine Sieben-Meter-Linse aus glattem Wasser an der Oberfläche, hervorgerufen durch den Schwanz des Wals. Solche Linsen hielten sich manchmal bis zu zwei Minuten und dienten den Forschern als 88

Fenster, durch die sie die Wale beobachten konnten. Zu Zeiten der alten Walfänger glaubte man, Flukenabdrücke würden durch ein Öl hervorgerufen, das die Wale ausschieden. Nate stellte die Maschine ab und ließ das Boot direkt darüber gleiten. Sie hörten, wie der Walgesang von unten an die Oberfläche trieb, und spürten, wie das Boot unter ihren Füßen vibrierte.

Nate ließ das Hydrophon hinunter, drückte den Aufnahmeknopf und setzte die Kopfhörer auf. Kona hielt die Bildziffern und GPS-Koordinaten im Notizbuch fest, wie Nate es ihm gezeigt hatte. Jeder Affe ist dem Job gewachsen, dachte Nate.

Nach einer Stunde macht der Kiffer ihn schon. Der Bengel ist jünger, kräftiger und schneller als ich, und ich bin mir nicht mal sicher, ob ich schlauer bin, als wäre das nicht egal. Ich bin absolut bedeutungslos.

Aber vielleicht war es ja doch nicht egal. Vielleicht ging es nicht allein um Kraft. Kultur und Sprache versauten die normale biologische Evolution. Wozu sollte sich bei uns Menschen ein so großes Gehirn entwickelt haben, wenn es bei der Paarung nur auf Kraft und Größe ankam? Auch früher hatten Frauen ihre Partner nach der Intelligenz ausgewählt. Vielleicht hatten die frühen Schlauberger so was gesagt wie: »Da drüben hinter den Felsen sitzt ein leckeres Faultier und wartet nur darauf, erlegt zu werden. Schnappt es euch, Jungs!« Und wenn er die stärkeren, dümmeren Typen auf der Hatz nach einem imaginären Faultier über die Klippen geschickt hatte, machte er es sich mit den süßesten Cro-Magnon-Schätzchen gemütlich, um ein paar Gene zu mixen. »Ja, ja! Beiß mir in den Brauenwulst. Beiß mich!«

Nate lächelte.

Kona sah über die Reling zum Sänger hinab, dessen Schwanz sich kaum sieben Meter unter dem Boot befand (auch wenn sein Kopf dreizehn Meter weiter unten war). Er sang erst seit ein paar Minuten. Mindestens zehn Minuten würde er noch unten bleiben.

»Kona, wir brauchen eine DNS-Probe.«

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»Wie machen wir das?«

Nate nahm zwei Schwimmflossen aus dem Pult und gab sie mit einem leeren Kaffeebecher an den Surfer weiter. »Du wirst wohl eine Samenprobe besorgen müssen.«

Der Surfer schluckte. Sah den Wal an, dann den Becher. Dann blickte er wieder über die Reling zum Wal hinunter.

»Ohne Deckel?«

90

10

Sicherheit

Clay Demodocus trieb lautlos am Schwanz des Luftanhalters vorüber, nur mit dem leisen Zischen seines eigenen Atems in den Ohren. Luftanhalter wurden so genannt, weil sie bis zu vierzig Minuten kopfüber einfach so im Wasser hingen und die Luft anhielten. Ohne zu schwimmen, zu singen oder sonst irgendwas zu tun. Sie hingen einfach nur da, manchmal zu dritt oder viert, und zeigten mit den Schwänzen in alle Himmelsrich-tungen, wie ein Kompass. Als hätte jemand eine Hand voll schlafender Wale fallen gelassen und vergessen, sie wieder aufzuheben. Nur dass sie nicht schliefen. Wale schliefen nicht wirklich, soweit man wusste. Nun, der Theorie nach schliefen sie mit einer Hirnhälfte, während die andere dafür sorgte, dass sie nicht ertranken. Für einen Luftatmer stellt es ein nicht unerhebliches Problem dar, im Wasser zu schlafen, ohne zu ertrinken. (Machen Sie nur, versuchen Sie es. Wir warten.) Einzuschlafen wäre mit dem Rebreather so einfach, dachte Clay. Das Gerät war extrem leise, was auch der Grund war, wieso Clay es verwendete. Statt die Luft aus einem Tank zu holen und in Form von Blasen wieder abzugeben, schickte der Rebreather die ausgeatmete Luft des Tauchers durch einen CO2-Absorber, um das Kohlendioxid herauszufiltern, an ein paar Sensoren und einem Tank vorbei, der etwas Sauerstoff hinzufügte, damit der Taucher die Luft wieder einatmen konnte. Ohne Blasen, weshalb der Rebreather für das Studium der Wale perfekt geeignet war (und dafür, sich an feindliche Schiffe heranzuschleichen, was der Grund war, wieso die Navy so ein Gerät überhaupt entwickelt hatte.)

Buckelwale setzten Luftblasen als Kommunikationsmittel ein, besonders die Bullen, die einander mit ihren Blasenvorführun-91

gen zu imponieren versuchten. Entsprechend war es fast unmöglich, mit einer Tauchausrüstung nah an einen Wal heranzukommen, besonders an ein unbewegliches Tier wie einen Sänger oder einen Luftanhalter. Mit den Blasen blubberte der Taucher in der Walsprache, ohne den leisesten Schimmer zu haben, was er da redete. Früher hatte sich Clay mehrmals Luftanhaltern mit seiner Tauchausrüstung genähert, aber die Tiere schwammen weg, wenn er näher als zwanzig Meter herankam. Er vermutete, dass die Wale sagten: »Hey, da kommt schon wieder dieser dürre Bursche, der nur Blödsinn quasselt. Verschwinden wir lieber.«

Aber dieses Jahr hatten sie den Rebreather bekommen, und Clay schoss seine ersten vernünftigen Bilder von einem Luftanhalter. Als er neben dem Schwanz trieb, checkte er seine Instrumente, blickte auf, um nach Amy zu sehen, die da oben schnor-chelte, als Silhouette in einem Sonnenstrahl, mit einem kleinen Tank auf dem Rücken, bereit, ihm zu Hilfe zu eilen, falls etwas schief ging. Ein großer Nachteil beim Rebreather war, dass es sich dabei um ein reichlich komplexes Gerät handelte, und sollte er kaputtgehen, standen die Chancen gut, dass der Taucher diesen Umstand mit dem Leben bezahlte. (Clays Erfahrung nach konnte man sich auf dieser Welt nur auf eines verlassen: Irgendwas ging immer kaputt.)

Um ihn herum war alles klar und blau – vom Wal mal abgesehen. Auch unter ihm nur Blau. Trotz bester Sicht konnte er den Grund nicht sehen, irgendwo hundertachtzig Meter tiefer.

Als er am Schwanz vorbei war, befand er sich bei dreiunddrei-

ßig Metern. Die Navy hatte den Rebreather bei über dreihun-dertfünfzig Metern getestet (und da er theoretisch sechzehn Stunden unten bleiben konnte, wenn es sein musste, stellte auch die Dekompression kein Problem dar), aber Clay passte trotzdem lieber auf, dass er nicht zu tief tauchte. Der Rebreather war nicht darauf eingestellt, die Gase für einen solchen Tauchgang zu mischen, und von daher bestand noch immer die Gefahr eines 92

Tiefenrausches – einer Art Vergiftung, hervorgerufen durch komprimierten Stickstoff im Blut. Clay war schon öfter narkoti-siert worden, einmal beim Filmen von Belugawalen unter dem arktischen Eis. Hätte man ihn damals nicht mit einem Nylonseil aus dem Eisloch gezogen, wäre er wohl ertrunken.

Noch ein Stückchen weiter, und er würde das Geschlecht des Luftanhalters bestimmen können, etwas, das ihnen noch nicht oft gelungen war, und damals nur mit Hilfe einer Armbrust und einer DNS-Analyse. Die Frage lautete: Sind Luftanhalter allesamt männlich – wie die Sänger? Und wenn ja: Hat dieses Luft-anhalten etwas mit ihrem Gesang zu tun? Clay und Quinn hatten sich ursprünglich zusammengetan, um das Geschlecht der Sänger zu bestimmen, vor gut siebzehn Jahren, als DNS-Analysen noch sehr selten waren.

»Kannst du unter den Schwanz schwimmen?«, hatte Nate gefragt. »Und Fotos von den Genitalien machen?«

»Schweinkram«, hatte Clay gesagt. »Klar, kann ich versuchen.«

Von wenigen Gelegenheiten abgesehen, bei denen Clay die Luft so lange anhalten konnte, bis er sich unterhalb des Tieres befand, war es ihm natürlich nicht gelungen, einen Walporno zu drehen. Aber jetzt, mit dem Rebreather …

Als er unter dem Schwanz trieb, so nah, dass das Weitwinkel-objektiv nur ein Drittel der Fluke einfing, bemerkte Clay eine ungewöhnliche Zeichnung am Schwanz. Er sah von seiner Anzeige auf, als sich der Wal gerade bewegte, aber es war zu spät. Der Wal zuckte, und der massige Schwanz schlug Clay an den Kopf, was ihn augenblicklich zehn Meter abwärts drückte.

Der Stoß der Fluke ließ ihn einen dreifachen Salto rückwärts machen, bis er langsam in die Tiefe sank, bewusstlos.

Als er sah, wie der Pseudo-Hawaiianer schon das achte Mal versuchte, zum Wal hinunterzugelangen, dachte Nathan Quinn: 93

Es ist ein Initiationsritus. Ähnliches hat man mit mir auch gemacht, als ich Student war. Hat mich Dr. Ryder nicht losgeschickt, um Nahaufnahmen vom Atemloch eines Grauwals zu machen, der eine schreckliche Kopfgrippe hatte? Habe ich nicht jedes Mal, wenn der Wal auftauchte, einen basketballgroßen Klumpen Schnodder abbekommen? Und war ich nicht trotzdem dankbar für die Gelegenheit, rausgehen und echte Forschungen anstellen zu dürfen? Natürlich war ich das. Deshalb bin ich auch weder grausam noch unprofessionell, wenn ich diesen jungen Mann immer wieder runterschicke, damit er dem Wal einen runterholt.

Das Funkgerät piepste, zeigte an, dass sich die Always Confused meldete. Nate drückte den Sprechknopf am Walkie-Talkie, mit dem die beiden Boote untereinander kommunizierten. »Ich höre, Clay.«

»Nate, hier spricht Clair. Clay ist vor einer Viertelstunde runtergegangen, aber Amy ist ihm mit dem Rettungstank hinterhergetaucht. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sie sind zu tief. Ich kann sie nicht sehen. Der Wal ist weg, und ich kann die beiden nicht mehr sehen.«

»Wo bist du, Clair?«

»Draußen, etwa zwei Meilen vor der Müllkippe.«

Nate schnappte sich das Fernglas und suchte die Insel ab, fand die Müllkippe, suchte von dort aus. Er sah zwei oder drei Boote in der Gegend. Bei Vollgas sechs bis acht Minuten entfernt.

»Such weiter, Clair. Mach dich bereit, ihnen einen Sauerstofftank runterzulassen, für den Fall, dass sie dekomprimieren müssen. Ich bin da, sobald ich den Jungen aus dem Wasser habe.«

»Was macht er denn im Wasser?«

»Falsche Entscheidung meinerseits. Halt mich auf dem Laufenden, Clair. Versuch, Amys Blasen zu folgen, falls du sie 94

sehen kannst. Du solltest ihnen so nah wie möglich sein, wenn sie raufkommen.«

Nate ließ die Maschine an, als Kona eben auftauchte, den Schnorchel ausspuckte und wild nach Luft schnappte. Kona schüttelte den Kopf, um anzuzeigen, dass er seine Mission nicht erfüllt hatte.

»Zu tief, Boss.«

»Komm, komm, komm! An die Seite.« Nate winkte ihn zum Boot.

Quinn wendete, bis er neben Kona lag, dann reichte er ihm beide Hände. »Komm schon.« Kona nahm die Hände, und

Quinn zerrte den Surfer über das Dollbord. Kona sank am Boden des Bootes zusammen.

»Boss–«

»Moment, Clay hat Probleme …«

»Aber, Boss –«

Quinn gab Vollgas, riss das Boot herum und zuckte zusammen, als es kreischte wie ein Kaninchen im Mixer, weil sich das Hydrophon-Kabel um die Schraube wickelte und zu einem Bündel überteuerter, wasserdichter Lakritzstangen zerstückelt wurde.

»Scheiße!« Nate riss seine Baseballmütze vom Kopf und knallte sie ans Pult.

Das Hydrophon sank friedlich auf den Grund, berührte den Sänger im Vorübersinken am Rücken. Nate stellte die Maschine ab und schnappte sich das Funkgerät. »Clair, sind sie schon wieder oben? Ich kann nicht kommen.«

Amy fühlte sich, als hackte ihr jemand Eispickel in die Trommelfelle. Sie kniff die Nasenlöcher zu und blies hinein, um den Druck auszugleichen, während sie noch strampelte, um tiefer zu gelangen.

95

Inzwischen war sie fünfzehn Meter tief. Clay trieb dreißig Meter unter ihr. Der Druck würde sich verdreifachen, bevor sie bei ihm wäre. Es kam ihr vor, als würde sie durch dicken, blauen Honig schwimmen. Sie hatte gesehen, wie der Schwanz Clay traf und abwärts drückte, aber zum Glück war keine Blasenwol-ke aufgestiegen. Die Chancen standen gut, dass Clay den Atemregler noch im Mund hatte und atmete. Natürlich konnte das auch bedeuten, dass er tot war oder sich das Genick gebrochen hatte und gelähmt war. In jedem Fall sank er sicher nicht freiwillig langsam immer weiter dem Meeresgrund entgegen.

Amy kämpfte gegen den Druck, den Wasserwiderstand und löste auf dem Weg nach unten Rechenaufgaben. Der Rettungstank enthielt nur ein Drittel der Kapazität eines normalen Tanks.

Vermutlich würde sie zwischen sechzig und siebzig Meter tief sein, bis sie Clay einholte. Damit bliebe ihr gerade genug Sauerstoff, um ihn an die Luft zu bekommen, allerdings ohne die nötige Zeit für eine Dekompression. Falls Clay also unverletzt war, setzte sie ihn der Taucherkrankheit aus. Sollte er überleben, musste er drei bis vier Tage in der Dekompressions-kammer von Honolulu verbringen.

Ach, wahrscheinlich ist das große Mondkalb sowieso längst tot, dachte sie, um sich etwas aufzuheitern.

Obwohl Clay Demodocus ein abenteuerliches Leben gehabt hatte, war er doch kein Abenteurer. Wie Nate suchte auch er nicht die Gefahr und fand auch keine Erfüllung, indem er testete, wie weit er der Natur standhalten konnte. Er suchte ruhiges Wetter, sanfte See, bequeme Unterkünfte, freundliche, loyale Menschen und Sicherheit. Einzig und allein für seine Arbeit war er bereit, diese Ziele zu gefährden. Das Letzte, was er zu gefährden bereit gewesen wäre, war seine Sicherheit. Das hatte ihn der Verlust seines Vaters, eines Helmtauchers, gelehrt.

Der alte Mann war eben bei zweihundertsiebzig Meter Tiefe am Grund angekommen, als ein betrunkener Deckhelfer mit dem Hintern gegen den Anlasser der Maschine kam, so dass die 96

Schraube den Luftschlauch seines Vaters kappte. Der Druck presste Papa Demodocus’ gesamten Körper in den Bronzehelm, bis nur noch seine bleibeschwerten Schuhe zu sehen waren, und in diesem Helm war er dann auch begraben worden. Der kleine Clay (Cleandros damals in Griechenland) war erst fünf Jahre alt gewesen, und dieser letzte Anblick seines Vaters verfolgte ihn noch Jahre später. Nie konnte er sich einen »Marvin der Marsia-ner«-Comic ansehen – diesen großen, dämlichen Helmkopf mit Monsterschuhen –, ohne dass er mit den Tränen zu kämpfen hatte.

Als Clay ins salzige Blau hinuntertrieb, sah er ein helles Licht und dunkle Umrisse, die ihn auf der anderen Seite erwarteten.

Aus dem Licht kam eine kleine, vertraute Gestalt. Das Gesicht war dunkel, aber Clay kannte die Stimme, selbst noch nach so vielen Jahren. »Willkommen, Erdenwesen«, sagte der vakuum-verpackte Grieche.

»Papa«, sagte Clay.

Clair zerrte den schweren Tank aus seinem Schacht auf der Always Confused und versuchte, den Atemregler daran zu befestigen. Sie wollte ihn an einer Leine zu Amy und Clay hinunterlassen, damit sie genügend Luft für die Dekompression bekamen. Ein Dutzend Mal hatte Clay ihr gezeigt, wie man es machte, aber sie hatte nie aufgepasst. Es war seine Aufgabe, das Technikzeug zusammenzubasteln. Sie musste davon nichts verstehen. Nie im Leben würde sie ohne ihn tauchen gehen. Sie hatte ihn einfach brabbeln lassen, Sicherheit hier, lebensbedroh-lich da, während sie ihre Aufmerksamkeit dem Verreiben ihrer Sonnencreme oder dem Flechten ihrer Zöpfe widmete, damit sie sich nicht in der Ausrüstung verhedderten. Jetzt blinzelte sie ihre Tränen weg und verfluchte sich dafür, dass sie nicht zugehört hatte. Als sie glaubte, den Atemregler endlich richtig aufge-schraubt zu haben, nahm sie den Tank und schleppte ihn an die Reling des Bootes. Schon hielt sie den Atemregler wieder in der Hand.

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»Gottverdammt!« Sie riss das Funkgerät an sich und drückte den Sprechknopf. »Nate, ich brauch deine Hilfe.«

»Hau rein, Schwester«, hörte sie. »Er paddelt gerade im Trü-

ben und repariert die Schraube.«

»Kona, weißt du, wie man einen Lungenautomaten am Tank befestigt?«

»Klar, Mann. Du musst die Kugel immer über Wasser halten, sonst wird dein Dope nass und brennt nicht richtig.«

Clair atmete tief und rang ein Schluchzen nieder. »Versuch mal, ob du Nate ranholen kannst.«

Drüben – bei der Constantly Baffled – war Nate im Wasser, mit Schnorchel und Schwimmflossen, und kämpfte mit der Last von einem halben Dutzend Schraubenschlüsseln in den Taschen seiner Shorts. Fast hatte er die Schraube vom Boot gelöst. Mit etwas Glück könnte er in ein paar Minuten den Scherstift installiert haben und unterwegs sein. Es war eigentlich kein schwieriges Unterfangen. Es war nur komplizierter geworden, als Nate feststellen musste, dass er die Schraube nicht von innen erreichen konnte. Und plötzlich war seine Luftzufuhr abge-schnitten.

Er strampelte nach oben, spuckte seinen Schnorchel aus und starrte Kona ins Gesicht. Der falsche Hawaiianer beugte sich übers Heck des Bootes, mit dem Daumen der einen Hand auf Nates Schnorchel und dem Walkie-Talkie in der anderen.

»Anruf für dich, Boss.«

Nate schnappte nach Luft und riss Kona das Gerät aus der Hand – nahm es aus dem Wasser. »Was zum Teufel machst du da? Das Ding ist nicht wasserdicht.« Er versuchte, das Gerät trocken zu schütteln und drückte den Sprechknopf. »Clair?

Kannst du mich hören?« Nichts, nicht mal Rauschen.

»Aber es ist gelb«, sagte Kona, als würde das irgendwas erklären.

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»Ich seh selbst, dass es gelb ist. Was hat Clair gesagt? Ist mit Clay alles in Ordnung?«

»Sie wollte wissen, wie man den Lungenautomaten auf den Tank kriegt. Ich hab ihr gesagt, man muss die Kugel über Wasser halten.«

»Sie hat doch kein Bong, du Blödmann. Es geht um eine Sauerstoffflasche. Hilf mir mal.«

Nate reichte ihm seine Flossen, dann hielt er sich am Heck fest und zog sich ins Boot. Am Pult stellte er den Seefunk an und rief: »Clair? Kannst du mich hören? Hier ist die Constantly Baffled. Ich rufe die Always Confused. Clair, bist du da?«

» Constantly Baffled« , ging eine harsche, offiziell klingende Männerstimme dazwischen, »hier spricht die Walschutzpolizei.

Haben Sie Ihre Genehmigungsflagge gehisst?«

»Walschutzpolizei, wir haben einen Notfall. Ein Taucher drüben bei unserem anderen Boot hat Probleme. Ich habe einen gebrochenen Scherstift und kann mich nicht rühren. Das andere Boot liegt etwa zwei Meilen vor der Müllkippe.«

» Constantly Baffled, wieso haben Sie Ihre Genehmigungsflagge nicht gehisst?«

»Weil ich das blöde Ding vergessen habe. Zwei unserer Taucher sind im Wasser, beide möglicherweise in Schwierigkeiten, und die Frau an Bord kann keinen Dekompressionstank zusam-menbauen.« Nate blickte sich um. Er konnte das Boot der Walpolizei etwa einen Kilometer westlich in Richtung Lanai ausmachen. Es lag neben einem anderen Boot. Nate sah die vertraute Gestalt des Grafen am Bug stehen, die dort aufragte wie ein Höllenfürst beim Osterpicknick. Scheißkerl!

» Constantly Baffled, bleiben Sie, wo Sie sind. Wir kommen zu Ihnen.«

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»Kommen Sie nicht zu mir! Ich kann hier sowieso nicht weg.

Fahren Sie zu dem anderen Boot. Ich wiederhole: Die haben einen Notfall und antworten nicht.«

Das Polizeiboot hob sich aus dem Wasser, getragen von der Kraft zweier 125-PS-Honda-Außenbordmotoren, und hielt geradewegs auf ihn zu.

»Scheiße!«

Nate ließ das Mikro sinken und fing an zu zittern, ein Beben, das nicht von der Temperatur herrührte (bei siebenundzwanzig Grad Celsius), sondern von der Frustration und der nackten Angst. Was war mit Clay passiert, dass Amy zu ihm runtertau-chen musste? Vielleicht hatte sie die Situation nur falsch eingeschätzt, und die ganze Aktion war gar nicht nötig. Sie hatte keine große Erfahrung im Wasser, oder zumindest glaubte er das. Aber wenn alles okay war, wieso waren sie dann nicht längst wieder aufgetaucht …?

»Kona, hat Clair gesagt, ob sie Amy und Clay sehen kann?«

»Nein, Boss, sie wollte nur das mit dem Lungenautomaten wissen.« Kona kauerte am Boden des Bootes, mit dem Kopf zwischen den Knien. »Tut mir Leid, Boss, ich dachte, wenn es gelb ist, darf es ins Wasser. Es ist mir aus der Hand gerutscht.«

Nate wollte dem Jungen sagen, dass es schon in Ordnung sei, aber er mochte nicht lügen. »Clay hat deinen Namen doch auf die Forschungsgenehmigung gesetzt, oder, Kona? Du erinnerst dich, dass du einen Zettel mit vielen Namen drauf unterschrieben hast?«

»Nein, Mann. Die Hawaii-Fünf-Nuller da drüben … kommen die etwa her?«

»Ja, Walpolizei. Und wenn Clay dich nicht auf die Genehmigung gesetzt hat, wirst du wohl mit denen nach Hause fahren.«

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Meerjungfrau und Marsmännchen

Der Tiefenmesser zeigte siebzig Meter an, als Amy endlich Clays Rebreather zu fassen bekam und sich zu ihm hinunterzog, um einen Blick in seine Tauchermaske zu werfen. Wäre da nicht das Blut gewesen, das von seiner Kopfhaut rann, was aussah, als lecke Motoröl ins Blaue, hätte es ausgesehen, als schliefe er.

Unwillkürlich musste sie lächeln. Der alte Seebär lebt. Irgendwie – vielleicht durch die jahrelange Konditionierung seiner Re-flexe – hatte Clay auf das Mundstück des Rebreathers gebissen.

Er atmete gleichmäßig. Sie hörte, dass der Apparat zischte.

Sie war nicht sicher, ob Clays Mundstück beim Aufstieg drinnen bleiben würde. Wenn es herausfiel, würde er bestimmt ertrinken, selbst wenn sie es ihm schnell wieder in den Mund schob. Im Gegensatz zur normalen Tauchausrüstung, die beängstigend leicht zu entleeren war, durfte in einen Rebreather kein Wasser gelangen, da sonst die CO2-Absorber in Mitleidenschaft gezogen wurden, was das Gerät funktionsuntüchtig machte. Und sie würde beide Hände brauchen, um nach oben zu gelangen.

Eine, um Clay festzuhalten, und eine, um die Luft seiner Ret-tungweste zu regulieren, damit sie nicht nach oben katapultiert wurden. (Amy trug weder eine Schwimmweste noch einen Neoprenanzug. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie so etwas brauchen würde.) Nachdem sie kostbare dreißig Sekunden Luft verbraucht hatte, um über das Problem nachzudenken, öffnete sie ihr Bikinioberteil und band es Clay um den Kopf, damit er sein Mundstück nicht verlor. Dann hakte sie ihre Hand unter seine Schwimmweste und begann den langsamen Aufstieg.

Bei fünfzig Metern machte sie den Fehler, aufzublicken. Die Wasseroberfläche hätte kilometerweit entfernt sein können.

Dann sah sie auf ihre Uhr und riss Clays Arm hoch, damit sie 101

den Tauchcomputer an seinem Handgelenk ablesen konnte.

Schon jetzt blinkte die LCD-Anzeige. Clay würde beim Aufstieg zweimal dekomprimieren müssen. Einmal bei fünfzehn und dann bei sieben Metern, jeweils zwischen zehn und fünfzehn Minuten. Mit seinem Rebreather hatte er genügend Luft. Amy trug keinen Tauchcomputer, aber bei einem Blick auf ihre Druckanzeige schätzte sie, dass ihr noch etwa fünf bis zehn Minuten Luft blieben. Ihr fehlte etwa eine halbe Stunde.

Das wird noch haarig werden, dachte sie.

Die Walbullen trugen hellblaue Uniformhemden mit Shorts und pilotenmäßig verspiegelte Sonnenbrillen, die aussahen, als hätte man sie den Männern ins Gesicht operiert. Beide waren über dreißig und hatten einige Zeit im Sportstudio verbracht, auch wenn der eine deutlich schwerer war und seine kurzen Ärmel aufgerollt hatte, damit sein Grapefruit-Bizeps atmen konnte. Der andere war dünn und drahtig. Sie brachten ihr Boot längsseits und warfen einen Fender aus, damit die Boote auf den Wellen nicht aneinander schrammten.

»Alles im Lack, Brüder?«, rief Kona.

»Jetzt nicht«, flüsterte Nate.

»Ich möchte Ihre Genehmigung sehen«, sagte der dickere Cop.

Nate hatte einen Plastikumschlag unter der Konsole hervorge-zogen, als die Polizisten sich näherten. Mehrmals im Jahr machten sie so etwas mit. Den Umschlag reichte er dem Mann, der das Dokument herausnahm und entfaltete.

»Ich brauche Ihre Ausweise.«

»Ach, kommen Sie …«, sagte Nate und reichte ihm seinen Führerschein. »Sie kennen mich doch. Wir haben einen Schaden an der Schraube, und auf unserem anderen Boot gibt es einen Notfall.«

»Möchten Sie, dass wir die Küstenwache rufen?«

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»Nein, ich möchte, dass Sie uns da rüberbringen.«

»Das ist nicht unsere Aufgabe, Dr. Quinn«, sagte der schmale Cop und blickte von der Genehmigung auf. »Die Küstenwache ist für Notfälle ausgerüstet. Wir nicht.«

»Haole lolo pela, er da«, sagte Kona. (Was hieß: Der ist doch nur ein dummes Weißbrot.)

»Komm mir nicht mit dem Scheiß«, sagte der dickere Cop.

»Wenn du Hawaiianisch sprechen willst, spreche ich Hawaiianisch mit dir, aber komm mir nicht mit dem Pidgin-Quatsch.

Also, wo ist dein Ausweis?«

»In meiner Bude.«

»Dr. Quinn, Ihre Leute müssen auf einem Forschungsschiff zu jedem Zeitpunkt einen Ausweis bei sich führen. Das wissen Sie.«

»Er ist neu.«

»Wie heißt du, Kleiner?«

»Pelekekona Keohokalole«, sagte Kona.

Der Cop nahm seine Sonnenbrille ab – wohl zum ersten Mal in seinem Leben, dachte Nate. Er musterte Kona.

»Du stehst nicht auf der Genehmigung.«

»Versuchen Sie es mit Preston Applebaum«, sagte Kona.

»Willst du mich etwa verarschen?«

»Das will er allerdings«, sagte Nate. »Nehmen Sie ihn einfach mit, und auf dem Weg setzen Sie mich bei unserem Boot ab.«

»Ich glaube, wir nehmen Sie beide mit und sehen uns die Genehmigung mal näher an, wenn wir im Hafen sind.«

Plötzlich, mitten im Rauschen des Seefunks, hörte man Clairs Stimme: »Nate, bist du da? Ich hab Amys Luftblasen verloren.

Ich kann sie nicht mehr sehen! Ich brauch Hilfe! Nate! Oder sonst irgendjemand!«

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Nate sah den Cop an, der seinen Partner ansah, der sich ab-wandte.

Kona sprang auf das Dollbord des Polizeiboots und beugte sich ganz nah vor das Gesicht des drahtigen Polizisten. »Können wir mit dem Macho-Machtspiel-Scheiß weitermachen, wenn wir unsere Taucher aus dem Wasser geholt haben, oder müsst ihr erst zwei Leute umbringen, um allen zu zeigen, was für dicke Pimmel ihr habt?«

Clair lief auf dem Boot herum und suchte nach Amys Luftblasen, hoffte, sie hätte sie nur übersehen, in den Wellen verloren, hoffte, sie sei noch irgendwo. Sie betrachtete den Sauerstofftank am Boden des Bootes, noch immer nicht mit dem Atemregler verbunden, dann lief sie wieder zu den Funkgeräten, drückte auf dem Seefunkgerät und dem Walkie-Talkie herum und versuchte, nicht zu schreien.

»SOS. Bitte, ich bin hier zwei Meilen vor der Müllkippe.

Unsere Taucher haben Probleme.«

Der Hafenmeister von Lahaina meldete sich, sagte, er werde jemanden schicken, und dann sagte ein Tauchboot draußen vor den Lavakathedralen von Lanai, sie müssten erst ihre Leute aus dem Wasser holen, könnten aber in einer halben Stunde dort sein. Dann meldete sich Nathan Quinn.

»Clair, hier spricht Nate. Ich bin unterwegs. Wie lange siehst du schon keine Blasen mehr?«

Clair blickte auf ihre Uhr. »Vier, fünf Minuten.«

»Kannst du die beiden sehen?«

»Nein, nichts. Amy ist weit unten. Ich hab gesehen, wie sie getaucht ist. Irgendwann war sie weg.«

»Hast du die Deko-Tanks im Wasser?«

»Nein, ich krieg die verdammten Atemregler nicht fest. Das hat Clay immer gemacht.«

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»Binde die Tanks ab, knote die Atemregler an den Tanks fest, und wirf alles über die Reling. Amy und Clay können sie dann zusammenschrauben, falls sie es so weit schaffen.«

»Wie tief? Ich hab hier drei Tanks.«

»Dreißig, zwanzig und zehn Meter. Wirf sie einfach ins Wasser, Clair. Um die genaue Tiefe machen wir uns Gedanken, wenn ich bei dir bin. Häng sie nur raus, damit die beiden sie finden können. Mach Leuchtstäbe daran fest, wenn du welche findest. Wir müssten in fünf Minuten da sein. Wir können dich schon sehen.«

Clair begann, die Plastikbänder um die Hälse der schweren Sauerstofftanks zu binden. Alle paar Sekunden suchte sie die Wellen nach Spuren von Amys Luftblasen ab, fand aber keine.

Nate hatte gesagt: »Falls sie es so weit schaffen.« Sie blinzelte die Tränen aus den Augen und konzentrierte sich auf ihre Knoten. Falls? Nun, falls Clay es schaffte, konnte er sich gleich mal nach einem sichereren Job umsehen. Ihr Mann würde nicht Hunderte von Metern tief im Meer umkommen, denn von jetzt an würde er Hochzeiten und Bar-Mizwas oder Kinder bei JC

Penney’s fotografieren – oder sonst irgendwas auf dem Trocke-nen.

Auf der anderen Seite des Kanals, vor Kahoolawe, hatte Libby Quinn den Wortwechsel zwischen Clair und Nate am Seefunk mit angehört. Ohne gefragt worden zu sein, sagte ihre Partnerin Margaret: »Wir haben keine Tauchausrüstung an Bord. So tief, wie die sind, da können wir nicht viel machen.«

»Clay ist sowieso unsterblich«, sagte Libby und versuchte, blasierter zu klingen, als ihr zumute war. »Der kommt wieder rauf und schwärmt uns vor, was für tolle Bilder er geschossen hat.«

»Ruf sie. Biete ihnen unsere Hilfe an«, sagte die ältere Frau.

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»Wenn wir unsere Instinkte als Hüterinnen verleugnen, verleugnen wir unser Frausein.«

»Ach, Blödsinn, Margaret! Ich biete ihnen unsere Hilfe an, weil alles andere eine Sauerei wäre.«

Währenddessen saß Cliff Hyland auf der Meerseite von Kahoolawe im provisorischen Labor seines Kajütkreuzers, trug Kopfhörer und las die Anzeige auf dem Oszilloskop, als eine seiner Studentinnen in die Kabine kam und ihm eine Hand auf die Schulter legte.

»Hört sich an, als hätte Nathan Quinns Gruppe Probleme«, sagte das Mädchen, eine sonnengegerbte Brünette mit einer Kriegsbemalung aus Zinkoxid auf Nase und Wangen und einem Hut von der Größe eines Mülleimerdeckels.

Hyland nahm die Kopfhörer ab. »Wer? Was? Feuer? Sinkt?

Wieso?«

»Sie haben zwei Taucher verloren. Diesen Fotografen Clay und das blasse Mädchen.«

»Wo sind sie?«

»Etwa zwei Meilen vor der Müllkippe. Sie bitten nicht um Hilfe. Ich dachte nur, Sie wollen es vielleicht wissen.«

»Das ist ein gutes Stück zu fahren. Holt die Mikrofone rein.

Wir können in einer halben Stunde dort sein.«

In diesem Moment stieg Captain Tarwater in die Kabine hinunter. »Vergessen Sie die Anweisung, Miss. Bleiben Sie bei Ihrer Mission. Wir haben heute eine Untersuchung abzuschlie-

ßen – und eine Sprengung zu dokumentieren.«

»Diese Leute sind Freunde von mir«, sagte Hyland.

»Ich habe die Lage im Blick, Dr. Hyland. Wir wurden nicht angefordert, und – offen gesagt – ich wüsste nicht, wie wir mit unserem Boot helfen könnten. Wie es scheint, haben sie zwei Taucher verloren. Das kommt vor.«

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»Wir sind hier nicht im Krieg, Tarwater. Wir verlieren Leute nicht so einfach.«

»Bleiben Sie bei Ihrem Auftrag. Jeder Rückschlag, den Quinn erleidet, kann unserer Operation nur nützlich sein.«

»Sie Schwein«, sagte Hyland.

Drüben – auf dem Kanal – stand Graf Zahl am Bug des Zodiac und beobachtete, wie das große Polizeiboot die Constantly Baffled abschleppte. Er sah seine drei Forscher an, die sich alle Mühe gaben, am Bootsheck einen geschäftigen Eindruck zu machen.

»Lassen Sie es sich eine Lehre sein! Der Schlüssel zu guter Wissenschaft besteht darin, seine Papiere in Ordnung zu halten.

Da sehen Sie, wieso ich jeden Morgen so kleinlich damit bin, ob Sie Ihre Ausweise dabeihaben.«

»Ja, für den Fall, dass irgendein anderer Forscher uns bei der Walschutzpolizei anschwärzt«, sagte eine Frau.

»Wissenschaft ist ein Wettbewerb, Miss Wextler. Falls Sie an diesem Wettbewerb nicht teilhaben wollen, dürfen Sie gern Ihr Zwischenprüfungszeugnis nehmen und seekranke Touristen beim Whale-Watching trösten. Nathan Quinn hat die Glaubwürdigkeit unserer Organisation in der Vergangenheit oft genug in Zweifel gezogen. Es ist nur fair, wenn ich deutlich mache, dass er sich nicht im Rahmen der Schutzgebietsbestimmungen bewegt.«

Die Meeresbrise trug das geflüsterte »Arschloch« der jungen Forscher fort von Gilbert Box’ Ohren, über den Kanal hinweg und spülte es ans Kliff von Molokai.

Nate nahm die schluchzende Clair in die Arme und hielt sie fest.

Als die Tauchzeit die erste halbe Stunde überschritt, spürte Nate, wie sich sein Magen vor Sorge, Angst und Übelkeit verknotete.

Nur indem er sich damit beschäftigte, dass er nach Clay und 107

Amy Ausschau hielt, konnte er verhindern, dass er sich übergeben musste. Als Amy über eine Dreiviertelstunde unten war, hatte Clair zu weinen begonnen. Clay mochte mit seinem Rebreather so lange unten bleiben können, aber mit dem winzigen Rettungstank hatte Amy unmöglich genügend Luft zum Atmen. Zwei Taucher von einem Ausflugsboot in der Nähe hatten bereits je einen vollen Tank bei der Suche verbraucht.

Das größte Problem war die Dreidimensionalität unter Wasser.

Normalerweise suchte man am Meeresgrund, allerdings nicht, wenn der Grund zweihundert Meter tief war. Bei den Strömungen im Kanal … nun, die Suche war sowieso kaum mehr als eine Geste.

Als Wissenschaftler war Nate ein Freund der Wahrheit, und so hörte er nach einer Stunde auf, Clair zu erzählen, dass alles wieder gut werden würde. Er glaubte nicht daran, und die Trauer prasselte auf ihn nieder wie ein Schwarm schwarzer Pfeile.

Hatte er früher einen Verlust oder ein Trauma erlitten, das ihm das Herz brach, hatte ein Überlebensmechanismus eingesetzt, der es ihm ermöglichte, monatelang zu funktionieren, bevor er den Schmerz tatsächlich spürte, doch diesmal kam der Schmerz sofort, ging tief und war vernichtend. Sein bester Freund war tot.

Die Frau, die er … also, er war sich nicht ganz sicher, was er für Amy empfand, aber selbst jenseits von Sexualität und ungeachtet des großen Altersunterschieds – er mochte sie einfach. Er mochte sie sehr, und schon nach wenigen Wochen hatte er sich daran gewöhnt, dass sie da war.

Einer der Taucher kam neben dem Boot hoch und spuckte seinen Atemregler aus. »Ich weiß nicht, wo ich suchen soll.

Alles scheißblau … so weit das Auge reicht.«

»Ja«, sagte Nate. »Ich weiß.«

Clay sah blaugrüne Brüste, die vor seinen Augen wippten, und war überzeugt davon, dass er ertrunken war. Er merkte, dass man ihn aufwärts zerrte, schloss die Augen und gab auf.

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