»Ms. Audrey, natürlich«, sagte Natesa. »Keiner sonst könnte sich das leisten.« Sie hielt inne, den Kopf leicht zur Seite geneigt. »Tatsächlich bin ich sogar überrascht, dass sie es sich leisten kann.«

»Ein Test des Vertrauens«, sagte er sanft und beendete seine Mahlzeit mit echtem Bedauern. »Sie muss wissen, ob wir zusammenarbeiten können – was auch ich gerne wüsste. Darüber hinaus glaube ich, dass ihre Schmuggelgeschäfte durchaus profitabel sind.« Er hob die Schultern. »Also haben wir heute sicher Fortschritte gemacht.« Er schob den Teller von sich und griff zum Wein.

»Ich habe darüber hinaus einige Verbesserungen im vorderen Wohnzimmer festgestellt«, sagte er, eine Wendung, die in der Liaden-Hochsprache völlig angemessen wäre, sich auf Terranisch jedoch etwas seltsam anhörte, fast wie eine Anklage.

Nichtsdestotrotz schien Natesa das darin enthaltene Lob verstanden zu haben, da sie Liaden sprach. Sie neigte höflich ihren Kopf und murmelte, dass sie das Personal über sein Kompliment informieren werde.

»Wie sieht es mit der Sicherheit des Hauses aus?«, fragte Cheever dann.

Natesa wandte sich ihm zu. »Es ist wie das Essen, deutlich verbessert. Wir sind nicht undurchdringlich, klar, aber es sollte schwierig sein. Wenn die morgige Arbeit gut verläuft, sind wir ein ernsthaftes Hindernis.«

»Das ist gut. Was ist mit den Deckenkanälen? Ich kann heute Nacht aushelfen, wenn es Bedarf gibt.«

»Danke, jede Hilfe ist willkommen. Es gibt zudem ein … Gerät … im Keller, von dem ich gerne hätte, dass Sie …«

Die Tür des Speisezimmers öffnete sich gerade genug, um eine dünne Person hineinzulassen, die in die auf den Straßen übliche Kleidung gehüllt war: schlecht sitzende Hosen und ein Hemd, mit einem zweiten Hemd über dem ersten als Jacke. Dieses spezielle Exemplar trug auch noch eine formlose Kappe, heruntergezogen bis zu den Ohren. Er kam zwei Schritte in den Raum hinein, mit einem kaum sichtbaren Schatten hinter seinen Fersen, die Augen weit auseinanderstehend in einem spitz zulaufenden, braunen Gesicht.

Pat Rin neigte den Kopf zur Seite und betrachtete die Erscheinung. Er war jung – bloß ein Junge, bestimmt einige Jahre jünger noch als Quin – und präsentierte sich mit der Vorsicht, die man von einem kleineren und schwächeren »Extra« erwarten mochte, jenen, die in Gruppen an den Straßenecken herumhingen und für so viel manuelle Arbeit zur Verfügung standen, wie sich ergeben würde.

»Guten Abend«, sagte er sanft zu den weit aufgerissenen und ängstlichen Augen. »Ich bin der Boss.«

Der Junge nickte heftig und griff abrupt in seine Tasche. Pat Rin fühlte seine eigene Anspannung und zwang sich zu entspannen, was sich als weise herausstellte. Aus der Tasche kam eine Knolle. Der Junge hielt sie hoch und bewegte sie an seine Brust.

»Was zum …«, begann Cheever, aber Pat Rin hob die Hand, betrachtete die großen Augen, die ihn ansahen, sein Gesicht mit großer Intensität fokussierten.

»Wartet«, sagte er. »Ich denke, dies ist Jonni, der die Gärten auf dem Dach betreibt.«

Der Junge nickte so heftig, dass seine Kappe vom Kopf fiel und auf dem Boden zwischen seinen Stiefeln landete. Er machte keine Anstalten, sie aufzuheben.

»Darüber hinaus denke ich«, fuhr Pat Rin fort, »dass Jonni taub ist.«

Der Junge nickte erneut und sein wildes schwarzes Haar, jetzt aus seiner Gefangenschaft befreit, flatterte ihm ins Gesicht.

»Taub?« Cheever blinzelte. »Aber man kann heute doch Implantate …« Er unterbrach sich mit einem scharfen Seufzer. »Richtig. Surebleak.«

»In der Tat.« Pat Rin schaute düster drein. Da war etwas, was er einmal aufgeschnappt hatte – vielleicht von Val Con? Er hatte gehört, dass Taube auf Welten mit niedrigem technischen Standard eine Zeichensprache entwickelten, die sich unter sich benutzten und die, obgleich durchaus unterschiedlich je nach kulturellem Hintergrund, sich an Alt-Trade orientierte, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf den eher konkreten Dingen und weniger den philosophischen.

Vorsichtig bewegte er seine Hand in der Geste der rituellen Begrüßung.

Jonni neigte den Kopf, seine Augen plötzlich auf Pat Rins Händen, weniger auf dem Gesicht. Seine eigene Hand – die, die nicht die Knolle hielt – erhob sich, die Fingerspitzen berührten seine Lippen und dann bewegte er sie wieder nach unten, Handfläche nach vorne, und hielt auf der Höhe der Brust inne. Nicht das Zeichen, das er benutzt hatte, zumindest nicht ganz. Er wiederholte die veränderte Version des Jungen und verdiente sich damit ein erneutes enthusiastisches Nicken.

»So.« Er seufzte und bewegte seine Hand erneut, zeigte erst auf Cheever, dann auf Natesa. Er sagte ihre Namen, deutlich, und hielt Jonni sein Gesicht entgegen, sodass dieser von den Lippen zu lesen vermochte. Dann zeichnete er mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft, das Zeichen für »Schutz«.

Jonni runzelte kurz die Stirn, dann grinste er plötzlich. Er steckte die Knolle wieder in die Tasche und benutzte beide Hände, um Pistolen darzustellen.

Von Kultur zu Kultur unterschiedlich, in der Tat, dachte Pat Rin und versuchte das Zeichen für »Dienst«. Aber erwies sich als jenseits der Fähigkeit Jonnis, zu übersetzen, und nach einigen nachdenklichen Augenblicken gab er es mit einem übertriebenen Achselzucken auf.

»Wie dem auch sei«, sagte Pat Rin deutlich und langsam. »Warum bist du zu mir gekommen?«

Er verstand die Frage offensichtlich, denn es folgte ein wahrer Sturm von Zeichen, von denen Pat Rin eines verstand, das mit Wachstum zu tun hatte – oder damit, etwas anzupflanzen. Die ihm unbekannten Zeichen waren wahrscheinlich technische Ausdrücke, erfunden, um spezifische Pflanzen zu beschreiben.

Pat Rin hob eine Hand, die Handfläche nach vorne gestreckt. Jonnis Hände wurden still und sanken hinunter.

»Morgen früh«, sagte er. »Wir werden zum Garten gehen und du wirst mir alles zeigen. Ist das früh genug?«

Jonni nickte.

»Gut. Morgen früh um …« Er zählte die Zeit mit seinen Fingern ab und hörte Natesa hinter ihm seufzen.

Einmal mehr nickte Jonni, dann produzierte er seine Version eines Abschiedsgrußes – eine bloße Umkehrung des »Hallo!« –, griff mit einem Schwung nach seiner Kappe und verschwand durch die Tür, ehe Pat Rin die Höflichkeit erwidern konnte.

»Morgen früh um zwei Stunden nach Sonnenaufgang?«, fragte Natesa resigniert.

»Es wäre gut, wenn wir uns darum kümmern könnten, ehe wir zum Laden aufbrechen«, sagte er ernsthaft zu ihr. »Und morgen müssen wir früh aufstehen, da wir den Sünderteppich zu Ms. Audreys Haus bringen müssen.« Er neigte seinen Kopf. »Sie müssen mich nicht begleiten. Er sieht kaum fähig aus – oder willens – mich vom Dach zu stoßen.«

»Das ist wahr. Andererseits könnte er Freunde haben, die dazu sehr wohl in der Lage sind und die verzweifelte Absicht haben.« Sie erhob sich und schaute Cheever bedeutungsvoll an. »Mr. McFarland, wenn wir uns um die Kabelkanäle kümmern wollen, dann ist jetzt die Zeit.«

»Ja, das ist wohl so.« Er sah Pat Rin düster an. »Gwince hat jetzt die Sicherheitsschicht. Versuchen Sie, sie nicht allzu sehr zu erschrecken, okay?«

Pat Rin verbeugte sich steif. »Ich werde mein Bestes tun, Mr. McFarland. Innerhalb des Möglichen.«

Der große Terraner schüttelte bloß den Kopf und folgte Natesa aus dem Zimmer.

Gerade wollte er ihnen folgen, da hielt Pat Rin inne, der Blick angezogen von …

Die Katze saß aufrecht hinter einem der zusätzlichen Plastikstühle, der Schwanz ordentlich um die Pfoten gelegt, die Ohren nach vorne gerichtet, die Augen schimmerten wie geschmolzenes Gold.

»Nun«, sagte Pat Rin und ging graziös auf ein Knie hinunter und streckte einen Finger zum Gruß aus.

Die Katze überlegte entspannt ihre Optionen und in exakt dem Moment, als Pat Rin dachte, dass es Zeit wäre, die Hand zurückzuziehen, streckte sie sich auf ihre Pfoten, wanderte hinter dem Stuhl hervor und berührte den angebotenen Finger mit einer blütenförmigen, rosa Nase.

Es war, wie Pat Rin feststellte, genau die Katze, die Natesa an jenem Morgen im Vorratsraum erschreckt hatte: braun, mit mehreren ungleichen schwarzen Streifen an beiden Seiten sowie das Rückgrat entlang. Der Schwanz war etwas flauschig, wie auch der Rest der Katze, und ebenfalls braun und schwarz gestreift. Es war sicher keine besonders hübsche Katze, eher ein wilder Kämpfer, wie man an den Ohren sehen konnte, und Pat Rin weinte beinahe vor Freude, als er sie betrachtete.

»Nun«, sagte er erneut. »Ich bezweifle nicht, dass du gekommen bist, um dich bei mir zu bedanken, dass ich dich vor Natesas Fähigkeiten beschützt habe.«

Die Katze blinzelte, wanderte nach vorne und strich mit Macht an Pat Rins Knie entlang.

Sanft, jederzeit bereit, seine Hand vor ausgefahrenen Krallen zurückzuziehen, streichelte er den braun-schwarzen Rücken. Der Schwanz ging hoch, die Katze drückte ihren Rücken in das erneute Streicheln hinein, und dann war ein schabendes Geräusch zu hören, als würde jemand eine Klinge an einen Schleifstein halten.

Pat Rin lächelte, streichelte die Katze erneut und erhob sich widerwillig.

Die Katze sah ihn mit gelben, schmelzenden Augen an.

»Die Pflicht ruft und ihre Stimme ist streng«, sagte Pat Rin ihr. »Ich muss ins Büro. Du kannst mich begleiten, wenn du willst, oder zu deinen eigenen Pflichten im Vorratsraum zurückkehren.«

Als er dies gesagt hatte, verließ er das Esszimmer, gabelte Gwince von der anderen Seite der Tür auf und ging die Treppe zum Büro hoch, wo Natesa ihn einige Stunden später vorfand. Sie hatte die Angelegenheit mit den Kabelkanälen ebenso gelöst wie die eines gewissen Gegenstandes im Keller.

Er lag vornüber auf seinem Tisch, der Kopf ruhte auf einem offenen Buch, der Stift war aus seinen entspannten Fingern gefallen, eine hässliche schwarz-braune Katze lag zusammengerollt auf dem Boden vor seinen Knien, die Augen geschlitzt und gelb. Natesa holte scharf Luft, ihr Herz schmerzte, dann sah sie, wie sich seine Augenbrauen im Traum zusammenzogen, und sie seufzte. Leise wie eine Attentäterin bewegte sie sich nach vorne.

Er hatte geschrieben – schwarze Tinte auf dem gräulichen Papier seines sogenannten Logbuches. Sie schaute auf die linke Seite, erwartete verschlüsselte Worte zu finden oder eine geheimnisvolle Sprache voller Symbole und Nuancen.

Er hatte beschlossen, in Trade zu schreiben, sehr einfach, und die sanften Linien des Geschriebenen verlockten sie zu lesen, was sie eigentlich nicht lesen sollte.

Surebleak, Tag 308, Standardjahr 1392

Mein Name ist Pat Rin yos’Phelium Clan Korval. Ich schreibe in Trade, da ich nicht weiß, wer dies lesen wird oder woher der Leser kommt oder wer mir nachfolgen wird. Ich werde mit einer Beschreibung der Umstände beginnen, die meinem Aufenthalt auf dieser Welt unmittelbar vorausgegangen sind. Ich werde die Balance beschreiben, die einzufordern ist, und die Gründe dafür, dass sie wiederhergestellt werden muss. Ich werde so gut wie möglich aufschreiben, was auch in anderen Logbüchern und Tagebüchern steht und meine Taten und Notwendigkeiten erhellt.

Lasst uns beginnen.

Auf dem Planeten Teriste hat mir ein Bote der Abteilung für Innere Angelegenheiten im Jahre 1392, am Tag 286, die Mitteilung überbracht, dass meine gesamte Verwandtschaft getötet worden sei, ermordet von Agenten dieser Abteilung.

Ich werde nunmehr die Namen meiner Verwandten benennen, auf dass man sie nicht vergesse, und ich werde Ihnen berichten, wer auch immer und wann auch immer Sie sein mögen, dass nur ich, Pat Rin, der Letzte von allen, übrig geblieben bin, um für Ausgleich zu sorgen …    

Tag 50,
Standardjahr 1393,
Dutiful Passage,
Orbit um Lytaxin

 

•  •  •  •  •  

Lina hatte sich einverstanden erklärt, mit ihm in der Bibliothek einen Tee zu trinken, sobald seine Pilotenschicht beendet war. Die Notwendigkeit, erst das Schnurrhaar aus seinem Quartier zu holen, sorgte für einige Momente Verspätung, und er traf sie, wie sie bereits vor ihm am Tisch Platz genommen hatte, auf dem ein dampfender Teekessel und zwei Teetassen bereitstanden.

»Ich grüße dich, Schiffskamerad«, sagte sie lächelnd, eine Formel, die zu einem Scherz über all die Jahre geworden war. Trotz der Sorgen, die er mit sich von der Schicht gebracht hatte, fühlte Ren Zel, wie sich seine Mundwinkel unwillkürlich nach oben bewegten.

»Schiffskameradin«, erwiderte er und setzte sich auf den gegenüberliegenden Stuhl. Er inhalierte den Duft des Tees. »Ah.« Sein Lächeln wurde breiter. »Soll ich eingießen?«

»Wenn es dir recht ist. Ich fühle mich zu dieser Stunde bemerkenswert faul.«

Lina der Faulheit zu bezichtigen war eine völlige Unmöglichkeit. Ren Zel füllte eine Tasse und reichte sie ihr hinüber. Sie umschloss sie mit ihren Händen und hob sie an, um das Aroma zu prüfen. Ren Zel goss sich selbst ein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, genoss gleichermaßen den feuchten Dampf und nahm dann einen winzigen Schluck, reizte seine Geschmacksknospen mit der komplexen Note des Getränks.

»So«, sagte Linda schließlich und stellte die Tasse zur Seite. »Wie kann ich dir helfen, Schiffskamerad? Wieder einer dieser Träume?«

»In der Tat«, murmelte Ren Zel, stellte ebenfalls seine Tasse ab und griff in seine Tasche, um den Probenbehälter hervorzuholen. »Und als ich erwachte, fand ich, dass der Traum etwas hervorgebracht hat – dies.« Er legte den Behälter vor ihr ab und lehnte sich betont zurück.

»Ich … verstehe.« Sie ergriff den Behälter und hielt ihn ins Licht. »Ein besonders schönes Exemplar. In einem Traum gefunden, ja?«

»Im Nachgang des Traumes«, sagte Ren Zel langsam. »Ich erwachte – oder träumte, dass ich erwachte – und fühlte das Gewicht einer Katze auf meiner Brust. Ich hob meine Hand, um sie zu streicheln – und da wurde mir plötzlich bewusst, dass eine Katze … nicht möglich war, sodass ich wahrhaft erwachte.« Er winkte in Richtung des Behälters. »Und dann fand ich das Schnurrhaar auf der Decke.«

»Ich verstehe«, sagte Lina erneut, die Augen auf das Schnurrhaar gerichtet. »Und gab es vor dem Katzentraum einen anderen?«

»Zwei«, erwiderte er sofort. »Erst einmal der Traum von der Schlacht. Ich erwachte davon und las, ehe ich wieder einnickte. Dann war da ein anderer Traum. Darin kam ein … Schiffskamerad zu mir mit exakt dem gleichen Traum, von den Flöhen und der Lösung, die wir nutzten, um uns zu retten. Ich besänftigte sie, so gut es ging, und schickte sie zur Ruhe. Und dann …«

Lisa hob eine Hand. »Hast du sie erkannt?«

Ren Zel überlegte, dann schüttelte er auf terranische Art den Kopf. »Es war nur so, dass sie die ganze Erinnerung daran in sich hatte und so verzweifelt wirkte, mit Angst um Schiff und Crew …« Er hob die Schultern. »Na ja, letztlich war es nur ein Traum.«

»Nur das.« Lina berührte das Siegel des Behälters. »Darf ich?«

»Sicher.«

Und dann hielt sie das Schnurrhaar in Händen, lehnte sich im Sitz zurück, hielt es zwischen den Handflächen und schloss ihre Augen.

Momentan nicht beachtet, ergriff Ren Zel erneut seine Teetasse und nippte, befahl sich selbst, geduldig zu sein.

»Ich kenne diese Katze …«, murmelte Lina mit etwas schleifender Stimme, als würde sie im Schlaf sprechen. Ren Zel erstarrte mit der Tasse auf halbem Weg zu seinen Lippen, um ja nicht die Trance der Heilerin zu stören.

»Ich kenne diese Katze …«, murmelte Lina, die Stimme etwas schleppend, als ob sie im Schlaf sprechen würde. »Es ist …« Ihr Gesicht veränderte sich, wirkte angespannt, die Augenlider flackerten und öffneten sich. »Soweit ich weiß, hat diese Katze die Passage nie betreten.«

Damit ergriff sie den Behälter, legte das Schnurrhaar wieder hinein, verschloss ihn und lehnte sich vor, um ihn auf den Tisch zu stellen.

Ren Zel setzte die Tasse ab und schaute von ihrem vorsichtigen Gesicht mit den verschleierten Augen zu dem verschlossenen Rätsel.

»Es schien«, so sagte er schließlich und mit größter Bedachtsamkeit, »dass die Trance mehr Informationen über die Katze hervorgebracht hat, oder?«

»Hat sie das?« Lina ergriff wieder ihre Tasse und trank.

Und welche Informationen das auch sein mochten, Ren Zel dea’Judan würde ihrer nicht teilhaftig werden. Er biss auf seine Lippe, starrte auf den Behälter, konzentrierte sich auf seinen Atem. Er hatte Lina für einen seiner Freunde gehalten …

»Du hältst mich für grausam«, sagt sie. »Freund, vergib mir.«

Er sah auf, sah Mitleid in ihren Augen und hob eine Hand. »Warum dann …?«

Sie bewegte sich und stellte ihre Tasse ab. »Sag mir, hat sich jenes Ereignis wiederholt, von dem Shan mir erzählt hat, das geschah, als er dich auf Casiaport gefunden hat?«

Er blinzelte und kaufte sich einen Moment, indem er seine Tasse hinstellte.

»Natürlich nicht. Warum sollte es?«

Sie bewegte eine Hand und glättete die Wogen zwischen ihnen. »Vergib mir, ich wollte dich nicht beleidigen. Es ist nur so, dass Shan mir sagte, du seist in Trance gewesen und hättest geweissagt …«

»Ich war verwundet«, sagte er schärfer als beabsichtigt. »Ich habe phantasiert.«

Sie hielt für einen Moment inne, dann neigte sie ihren Kopf. »Wie du sagst, Pilot.«

Ren Zel zuckte zusammen. »Lina …«

»Ah nein …« Sie beugte sich nach vorne und legte ihre Hand über die seine, die neben dem blöden Probenbehälter ruhte. »Friede … Friede. Mein Freund, du musst verstehen, dass es … schwierig für mich ist, bei dir den richtigen Pfad zu erkennen. Auf diesem Schiff haben wir drei Heiler von beachtlicher Kraft – eine volle Dramliza! – und du kannst von keinem von uns berührt werden, bist so gut abgeschirmt, dass wir nicht einmal deine Albträume bekämpfen können.« Sanft tätschelte sie seine Hand und zog die ihre dann zurück.

»Bei dir müssen wir blind fliegen, unserer Ausbildung vertrauen und auf deine ehrliche Absicht bauen, dass du eine sanfte und sichere Landung wünschst.« Sie seufzte und griff erneut nach der Teetasse, um einen Schluck zu nehmen. Ren Zel tat es ihr gleich, seltsamerweise ganz außer Atem.

»Also«, meinte Lina dann. »Ich werde dir sagen, dass meine Trance zusätzliche Informationen produziert hat. Nicht so viel, wie ich erhofft habe. Dennoch mehr, als ich dir geben möchte. Meine Ausbildung – und meine ehrliche Achtung vor dir – sagen mir, dass es eine gute Idee wäre, wenn du ohne Einflüsse und Einschätzungen von außen weitermachst. Die Katze mag dich niemals mehr heimsuchen – oder noch sehr oft, zu einer Zeit, die sie für richtig hält. Katzen sind nun einmal so.«

»So sind sie.« Er hob den Behälter und steckte ihn in die Tasche, erhob sich und machte eine Verbeugung aus Respekt vor einer Meisterin. »Meinen Dank, Heilerin!«

Sie lächelte schmerzlich und neigte ihren Kopf. »Pilot. Einen guten Start.«

»Sichere Landung«, erwiderte er, womit der Gruß ausgetauscht worden war, mit dem sich Piloten eine gute Reise wünschten.

Er ging langsam zurück in seine Unterkunft und fragte sich, welche Reise Lina wohl für ihn im Sinn gehabt haben mochte.

    

 

Tag 309,
Standardjahr 1392,
Blair Road,
Surebleak

 

•  •  •  •  •  

Natesa hatte möglicherweise recht gehabt, als sie gegen die Festlegung dieser morgendlichen Stunde für das Treffen protestiert hatte, dachte Pat Rin. Er folgte Jonni auf einer Tour durch den Dachgarten. Die Luft war frisch und die sanfte Brise ließ ihn erzittern und weckte Sehnsucht nach dem warmen Klima, in das er geboren worden war.

Nun, er würde schon bald eine Tasse Tee bekommen und in der Zwischenzeit war dies eine gute Gelegenheit, um die Zeichen für diverse Gemüsearten kennenzulernen.

Es schien, dass es Jonnis Absicht für diese Besichtigung war, Pat Rins Ratschläge bezüglich der anzupflanzenden Gewächse einzuholen. Das war rein theoretisch eine sehr schwierige, wenn nicht unmögliche Sache, denn die Beete lagen den Winter über abgedeckt unter großen Planen. Doch Jonni bewies ungeahnte Fähigkeiten.

Er zeigte Natesa seine leeren Hände mit weit gespreizten Fingern, dann öffnete er einen Werkzeugkasten aus Plastik und holte ein sorgfältig in Öltuch gewickeltes Objekt hervor. Einige Augenblicke später hielt Pat Rin ein gebundenes Papierbuch mit dem Titel »Wie man Nahrung auf engem Raum anpflanzt« in Händen und versuchte gleichzeitig, die Beschreibungen zu den Pflanzenabbildungen zu lesen, auf die Jonni zeigte, wie auch auf die Zeichensprache des Jungen zu achten.

Am Ende waren die Planungen dann doch nur anstrengend. Sie hinterließen bei Pat Rin das Gefühl, dass er persönlich jede Pflanze, die jemals angepflanzt worden war, in Händen gehalten habe.

»Das ist gut«, sagte er Jonni und schloss das Buch. »Mit entsprechender Sorge werden wir genug anbauen, um durch den nächsten Winter zu kommen. Ich verlasse mich auf dich, dass du gut für uns sorgst.«

Der Junge lächelte und nickte und griff nervös nach dem Buch, das in Pat Rins Arm lag.

»Ein Moment.« Er hob eine Hand und der Junge hielt inne, das Lächeln war verschwunden und die Augen blickten ängstlich.

Pat Rin seufzte. »Nur eine Frage, Kind. Kannst du lesen?«

Die Nase kräuselte sich und die rechte Hand wackelte in einem Zeichen, das absolut verständlich war: Es geht so.

»Ah.« Er sah Natesa an. »Ich denke, es wäre zu viel erwartet, die Existenz einer Schule auf diesem Territorium anzunehmen, nicht wahr?«, fragte er, obgleich er die Antwort bereits kannte.

Aber sie überraschte ihn. »Gwince sagte mir, dass sie in Ms. Audreys Haus lesen gelernt habe. Ich glaube nicht, dass sie dort jemals als reizende Schönheit angestellt gewesen ist, also scheint es so zu sein, als würde Ms. Audrey so etwas wie eine Schule unterhalten.« Ihr Mund verzog sich zu einem schwachen Lächeln. »Das hängt natürlich von der Definition ab.«

»Nun, da ich Ms. Audrey heute treffen werde, werde ich sie fragen.« Er hielt das Buch nach vorne. Jonni ergriff es mit erkennbarer Erleichterung und verstaute es sofort im Werkzeugkasten, nachdem er es sorgfältig wieder wasserdicht eingewickelt hatte.

Ein scharfer Wind fuhr über das Dach. Pat Rin keuchte, erzitterte erneut und wandte sich in Richtung der recht angsteinflößenden metallenen Treppe, die vom Dachboden zum Garten führte.

»Komm«, sagte er zu Natesa. »In der Küche wartet Tee auf uns.«

  

»Wunderschön!«, atmete Audrey einige Stunden später und betrachtete gefesselt den Sünderteppich.

Er sah gut aus, dachte Pat Rin, der neben ihr die Betrachtung teilte. Er hatte sich angestrengt, den angeheuerten Trägern zu verdeutlichen, dass es beim Tragen und Hinlegen in der Tat von Bedeutung sei, wie der Teppich im Raum ausgerichtet wird, dass die Ecken gerade gerichtet sein müssen, und dass es keine Falten geben dürfe. Es hatte weitaus länger als erwartet gedauert, bis die Tat vollbracht worden war. Aber das Resultat war jede Mühe wert.

»Ich habe alles genau geplant«, sagte Audrey mit ehrlicher Freude. »Ganz spezielles Angebot, nur für den … Genießer, Sie verstehen.«

»Ich hoffe, dass es Ihnen Profit bringt«, murmelte er höflich und sie kicherte.

»Oh, das wird es. Dieser Teppich wird sehr gut für mein Geschäft sein.« Sie wandte sich ihm lächelnd zu. »Danke. Nun, lassen Sie uns in mein Büro gehen und ich gebe Ihnen Kaution und die erste Rate.«

»Ich frage mich, ob Sie mir noch anderweitig helfen können«, murmelte er, als sie durch die Gänge und Räume wanderten, in denen jetzt weitaus weniger los war als gestern. Audrey warf ihm einen schnellen Blick aus ihren blauen Augen zu.

»Nun, ich kann es versuchen«, sagte sie mit angemessener Vorsicht. »Worum geht es?«

»Da ist ein Kind in meinem Haus, das lernen muss. Er kann lesen, aber nur schlecht. Ich hätte gerne, dass sich diese Fähigkeit verbessert.«

Beide Augenbrauen Audreys schossen nach oben. »Wenn er überhaupt lesen kann, geht es ihm besser als den meisten der Straßenbewohner!«

»Stimmt. Wie dem auch sei, er trägt die Bürde der Taubheit, und es ist daher doppelt wichtig, dass er gut schreiben und lesen lernt.« Er neigte nachdenklich den Kopf. »Es wäre auch gut, wenn er ein wenig Mathematik erlernen könnte.«

Sie schnaubte, ein halbes Lachen. »Was denken Sie, was das hier ist? Ein Kindergarten? Wer ist es?«

»Sein Name ist Jonni. Er arbeitet als Gärtner für mich.«

Sie hielt inne, mitten auf dem Gang, und wandte sich um, um ihn anzustarren. Notgedrungen blieb auch Pat Rin stehen und wunderte sich.

»Ein Junge von … dreizehn, vierzehn … mit einem spitzen Gesicht und dem Kopf voller schwarzer Haare, die einen verlocken, einfach mal nach einem Kamm und Schere zu greifen?«

Eine angemessene Beschreibung. Pat Rin nickte. »Scheint genau mein Junge zu sein.«

Vielleicht hatte sie ihm zugehört, vielleicht auch nicht. Sie sprach jedenfalls weiter, als hätte sie es nicht getan. »Und taub. Verdammt, es muss dasselbe Kind sein!«

»Habe ich das richtig verstanden«, sagte Pat Rin, nachdem sie einige Momente lang nichts mehr hinzugefügt hatte, »dass Ihnen der Junge bekannt ist?«

»Bekannt …« Sie sah ihn an, das Gesicht grimmig. »Der Junge hat hier gelebt, wir haben ihm beigebracht, was er über das Lesen weiß, und er war auch ganz gut mit Zahlen. Nicht, dass er sich viel um beides bemüht hätte – aber er entwickelte eine Leidenschaft für Pflanzen, und so lernte er, was nötig war, um diesem Ruf zu folgen. Dann – es ist sicher zwei Jahre her … nun, die Details sind nicht so interessant. Kurz gesagt: ein Kunde kam eines Nachts her, zugetankt wie ein Raumschiff mit etwas, das ihm nicht guttat, und als sich der Rauch verzog, war er tot, wie er es verdient hatte. Und ebenso zwei meiner Leute, was sie nicht verdient hatten.« Sie seufzte. »Eine davon war natürlich Jonnis Mutter. Das Kind kam von irgendwoher reinspaziert, sah hin, schrie – das erste Mal, das ich je ein Geräusch von ihm gehört hatte! Dann wandte er sich ab und rannte durch die Eingangstür. Einige der Jungs sind hinter ihm her, aber sie haben ihn in der Dunkelheit verloren. Und wir dachten, er würde zurückkommen, wenn er sich beruhigt hatte.« Sie seufzte. »Ist nicht passiert.«

Eine bittere Geschichte, und wenn der Junge nicht zu dem Ort zurückkehren wollte, an dem seine Mutter ermordet worden war, wer war Pat Rin yos’Phelium, dass er ihn einen Feigling nennen würde? Dennoch musste er lesen und schreiben lernen, wenn er erfolgreich erwachsen werden wollte. Er sah zu Audrey hoch.

»Ich werde mit ihm reden«, sagte er und sah, wie sich ihre Augenbrauen sanft hoben, wahrscheinlich aus Amüsement. »Wenn er nicht hierher kommen möchte, um zu lernen, kann der Unterricht möglicherweise zu ihm kommen.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Natürlich nur, wenn Sie bereit sind, für den Unterricht dieses Kindes zu sorgen, gegen angemessene Bezahlung.«

Sie winkte ab, eine formlose, nichtssagende Geste. »Oh sicher – ich habe ein schwangeres Mädchen, die derzeit Bücher verschlingt wie ein brennendes Haus. Sie wird für die Arbeit dankbar sein, genauso wie für das Geld. Ich weiß nicht, wie sie in Mathematik ist, aber da wäre Villy, die das tun könnte, wenn es sein muss. Geduldig wie Glas und gut mit Kindern.«

»Dann haben wir grundsätzlich eine Übereinkunft getroffen«, sagte Pat Rin mit einem lächerlichen Gefühl der Erleichterung. »Das ist gut. Ich werde heute Abend mit Jonni sprechen und schauen, ob ich ihn überzeugen kann, morgen hierher zu kommen. Wenn nicht, werde ich eine Nachricht schicken und Sie bitten, die Lehrerin zu schicken.«

»Passt«, sagte sie und grinste plötzlich ihr breites, ansteckendes Grinsen. »Da haben wir es wieder: Sie wetten auf die geringste Wahrscheinlichkeit! Lassen Sie mich bezahlen, ehe Sie entscheiden, dass es zu kalt sei, und wir auf den Straßen Heizungen installieren müssen.«

  

Es war zur Mitte des Vormittags, als er und Cheever McFarland in den Laden zurückkehrten, um eine gebeugte und tattrige Person am vorderen Fenster vorzufinden, die Hände und Nase gegen das Glas gepresst.

So gefesselt war sie, dass Cheever McFarland sich dreimal räuspern musste, ehe sie sich bewegte und blinzelnd aufschaute, ohne Angst im Blick.

»Ich bin Ajay Naylor, Boss. Gwince meinte, dass Sie mit mir reden wollen.«

Cheever schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht der Boss«, sagte er und zeigte. »Er ist der Boss.«

Sie schaute die Linie seines Fingers entlang und dann sah man auf ihrem Gesicht den Ausdruck, den Pat Rin mittlerweile nur zu gut kannte – simples Erstaunen gemischt mit Unglauben.

Er neigte den Kopf. »In der Tat, ich bin der Boss. Danke, dass Sie etwas Zeit gefunden haben, um zu mir zu kommen. Kommen Sie doch herein, damit wir uns in Ruhe unterhalten können.«

Der Unglauben erhöhte sich um einen Faktor sechs. Sie wandte sich wieder Cheever zu.

»Im Ernst? Er ist der Boss? Der Moran ausgeschaltet hat, zusammen mit dem ganzen Komitee für Öffentlichkeitsarbeit, wie Gwince es mir erzählt hat.«

»Im Ernst«, versicherte Cheever ihr. »Er ist der Boss. Ich bin einer seiner Gehilfen.«

Sie schüttelte ihren Kopf. »Verdammt.« Ihr Blick wanderte zurück zum Fenster. »Schöne Sachen haben Sie da, Boss.«

»Danke. Wollen Sie sich die Stücke genauer ansehen? Als Teppichmacherin sind Sie vielleicht interessiert.«

Sie grinste daraufhin und zeigte ihr zahnloses Zahnfleisch. »Ich bin interessiert, das stimmt wohl. Aber man kann meine eigenen Teppiche kaum in den gleichen Raum wie diese legen.«

»Ah, aber genau das habe ich vor«, sagte Pat Rin und begann, die Tür aufzuschließen. »Wenn wir beide zu einer Übereinkunft kommen können.«

  

Gwince öffnete die Tür mit einem Grinsen und einem Nicken.

»Abend, Boss, Mr. McFarland. Natesa lässt ausrichten, dass die Arbeit vorangeht, Boss. Der Koch fragt, wann Sie zu Abend essen wollen.«

»Wir wollen binnen einer Stunde essen«, erwiderte Pat Rin. »Bitten Sie Jonni, in drei Stunden in mein Büro zu kommen.«

»Ja, Sir, wird erledigt.«

»Danke, Gwince.« Er bewegte sich den Gang entlang und hielt inne, um zu Cheever hochzublicken, der grinste.

»Verstanden. In einer Stunde.« Er spazierte pfeifend davon. Pat Rin ging etwas langsamer weiter.

Das Geschäft mit Ajay Naylor war zur allseitigen Zufriedenheit abgeschlossen worden. Sie war nicht dagegen, ihm einige Teppiche auf Kommission zu überlassen, obgleich sie weitaus weniger zuversichtlich war – noch weniger als Audrey – bezüglich der Aussicht, sie jenseits des Planeten zu verkaufen. Die Straße war das Problem, wie er es verstand. Bis hin zu Ajays Zeit als junger Frau war die Hafenstraße neutrales Gebiet gewesen und die freie Passage garantiert. Das hatte nicht notwendigerweise eine sichere Reise bedeutet, aber Konvois hatten regelmäßig Waren zum sicheren Verkauf zum Raumhafen gebracht und das meiste, wenn nicht alles, war auch durchgekommen.

Ajay war sich nicht sicher, was genau sich verändert hatte. Gerüchte sagten, dass einige der Bosse größerer Gebiete in Streit geraten waren, was zur Schließung der Straße geführt hatte. Sie war den Banditen überlassen worden. Ein anderes Gerücht meinte, der Raumhafen selbst sei geschlossen worden, dass keine Schiffe mehr landeten. Aber dieses Gerüchte, so hatte Ajay trocken hinzugefügt, waren wohl eher Phantastereien – wie er zweifellos besser wusste als sie selbst.

Ajay war gegangen und dann war Al eingetroffen, der Besitzer des Eisenwarenladens und unmittelbarer Nachbar. Er hatte sich etwas mit ihnen unterhalten, die Teppiche bewundert, ohne das geringste Interesse daran zu zeigen, sie auch zu verstehen, und dann die Sprache darauf gebracht, was denn die von Pat Rin beabsichtigte Versicherungsstruktur sei.

Als er darüber informiert wurde, dass weitere Versicherungsprämien bis auf Weiteres suspendiert seien, hatte Al weniger erfreut dreingeblickt, als man normalerweise hätte annehmen können. Er hatte nachdenklich an seinem spitzen Kinn gezogen.

»Sie müssen eine Idee haben, wie Sie Geld verdienen können«, sagte er. »Ist nicht böse gemeint, Boss.«

»Keine Sorge«, versicherte Pat Rin ihm. »Meine Idee, Geld zu verdienen, ist sehr einfach – ich beabsichtigte, Teppiche zu verkaufen. Gegen Geld.«

»Ja, okay«, hatte der Mann geantwortet. »Sie sollten aber auch preiswertere Sachen anbieten – ich sage nicht billig, nur eben etwas, das sich die Leute eher leisten können – na ja, so für jemanden wie mich. Diese Sachen hier sind hübsch, aber auch teuer. Aber das ist nur der Laden. Sie sind der Boss – sie müssen irgendwie an Bares kommen.«

»Wofür genau soll ich eine Bezahlung verlangen?«, hatte Pat Rin etwas erzürnt gefragt. »Repariert der Boss die Löcher in den Straßen? Finanziert er Krankenhäuser oder Schulen?«

»Nun, nein. Zuletzt nicht mehr. Audrey hat gerettet, was von Vindals Klinik und Bibliothek übrig geblieben war, ehe Moran sie in Flammen steckte. Wenn man eins aufs Maul bekommt oder sich was bricht – oder so was –, geht man in Audreys Haus, sie kümmern sich dann. Sie können nicht viel machen, wenn man ernsthaft krank wird, aber sie sind ganz gut bei den üblichen Sachen. Wenn man lesen lernen möchte, geht man auch zu Audrey. Jemand dort wird es einem beibringen.«

»Es scheint mir also«, kommentierte Pat Rin, »dass wenn jemand eine Versicherungsprämie oder Straßensteuer bekommen sollte, dann wohl eher Ms. Audrey, die mehr für die Bewohner dieses Gebiet tut als der Boss.«

»Nein, nein, das ist nicht fair. Also, wenn man es richtig macht – vergessen wir Moran, der war ein Schwein –, wenn man es ganz richtig macht, dann ist der Boss derjenige, der die Probleme löst. Nehmen wir mal an, ich habe ein Problem mit Tobi und wir können das nicht selbst klären. Also kommen wir zu Ihnen und sagen: Boss, wir haben dieses Problem und wir schaffen das nicht – was sollen wir machen? Und Sie werden sich die Sache dann eine Weile anschauen und uns dann sagen, was zu tun ist. Sie sollten etwas dafür bekommen, um für die anderen mitzudenken, oder? Und dann, nicht wahr, ist der Boss derjenige, der das Gebiet zusammenhält und sicherstellt, dass uns kein anderer Boss annektiert. Dafür sollten Sie auch etwas bekommen. Und wenn Sie über eine Klinik oder eine Bibliothek nachgedacht haben, um die Arbeit für Ms. Audrey leichter zu machen – dafür brauchen Sie auch Bares.« Er machte eine Pause, vielleicht ein wenig über seine eigene Eloquenz überrascht, dann fasste er es zusammen. »Wissen Sie was, Boss – dieser kleine Laden wird all diese Dinge nicht finanzieren können.«

Und wird er auch nicht, dachte Pat Rin nun und kletterte die lange und kühle Treppe zu seinem Zimmer empor.

Richtig gemacht, wie Al es beschrieben hatte, war die Position eines Bosses hier so ähnlich wie die eines Delm. Er seufzte, irritiert über sich selbst. Er hatte sich erlaubt, dass die Informationen über diese terranische Hinterwelt, brutal, rückständig und kaum regierbar, ihn blind gemacht hatten für die Tatsache, dass Menschen mit Ehre sich ganz natürlich in Clans organisierten, wenn auch nicht ganz so wie die Verwandtschaftslinien der Liaden.

Er seufzte erneut und öffnete die Tür zu seinem Raum, sah einen sich bewegenden Schatten und hörte ein Gurgeln, kurz bevor die schwarz-braune Katze sich gegen seine Beine warf, Schwanz erhoben und mit einem Schnurren, das ihn fast taub werden ließ.

Lächelnd beugte sich Pat Rin hinunter und streichelte das Tier. Unglaublicherweise wurde das Schnurren noch lauter und die Katze rieb sich in einer Ekstase des Willkommens an seinen Beinen.

»Nun gut«, sagte er mit künstlicher Ernsthaftigkeit. »Ich bin sicher, du warst den ganzen Tag damit beschäftigt, auf dem Bett zu liegen und deine Verpflichtungen dem Koch gegenüber zu vernachlässigen.«

Die Katze blubberte wieder, strich an beiden Seiten an ihm vorbei und hob dann erst die linke Vorderpfote, dann die rechte, um die Luft zu kneten.

Pat Rin lachte sanft und erhob sich. »Schmeichler. Nun, wenn es erlaubt ist, würde ich mich gerne für das Abendessen umziehen.«

  

Das Abendessen war an diesem Abend einfacher – ein Kuchenstück mit Marmelade, gefolgt von einer Kasserolle, die aus den reichhaltigen Vorräten an Dosenfisch etwas machte. Trotz der niedrigen Herkunft war die Mahlzeit sehr angenehm.

Das Gespräch wurde größtenteils zwischen seinen Eidgebundenen geführt, meist über die arkane Kunst der Sicherheitsmaßnahmen. Pat Rin hörte aufmerksam zu, überrascht über jene Vorkehrungen, die sie schlicht als vernünftig bezeichneten. Er wunderte sich über die Protokolle und Geräte, die installiert worden waren, alles nur zu dem einen Zweck, sein Leben zu schützen.

Er schob seinen Teller zur Seite und nippte still an seinem Tee. Es kam zu einer Pause im Gespräch über Schutz und Verteidigung, Offensiven und Angriffe. Natesa wandte sich ihm zu, die Augen dunkel und leuchtend, ihr Gesicht subtil in seinen Nuancen und Schattierungen.

»Hat Ms. Audrey für Jonni einen Platz in ihrer Schule?«, fragte sie offenbar interessiert.

»Seltsamerweise ja, aber sie bezweifelt, dass er zu ihr kommen wird. Er hat dort gelebt, bis seine Mutter gestorben ist, woraufhin er fortgerannt ist. Wir sind so verblieben, dass ich mit ihm sprechen werde, und wenn er nicht zu ihr gehen will, wird sie uns einen Lehrer schicken.«

»Das ist also geregelt«, meinte sie zustimmend.

»Gut genug«, sagte er und zögerte, sein Gespräch mit Al zu erwähnen. Aber nein. Es gab etwas, dass er selbst gründlich zu untersuchen gedachte. Sein Melant’i musste sorgfältig abgewogen werden, ehe er die Meinung der Sektorrichterin der Juntava erfragte.

Also. »Wir haben einen Vertrag mit Ajay Naylor, ihre Teppiche in Kommission zu verkaufen. Sie zweifelt ebenfalls am Raumhafen, obgleich sie mir erzählt hat, dass die Hafenstraße zu ihrer Zeit offen und neutral gewesen sei.«

»So war es, bis einige gleichzeitig eintretende Tragödien die Regeln geändert haben«, sagte Natesa. »Zuerst war da ein Gebietskrieg zwischen zwei benachbarten Bossen, der nicht so endete, wie man es erwartet hatte – indem einer das Gebiet des anderen annektierte, sondern durch Unterteilung der beiden Gebiete in viele kleinere. Davon ging Chaos aus, das sich vielleicht irgendwann gelegt hätte, wenn es nicht zu einer epidemischen Viruserkrankung gekommen wäre. Es gab einen Impfstoff am Raumhafen – Surebleak gehörte damals auch noch zum Gesundheitsnetz – und er sollte vom Raumhafenpersonal geliefert werden. Aber es gab zu wenig Leute und anstatt das Raumhafenpersonal zu schicken – angemessen bewaffnet und in einem gepanzerten Fahrzeug –, wurden einige der Einheimischen entsandt, die man im Hafen angestellt hatte, zusammen mit einer Liste der Gebiete und der Menge an Impfstoff, die bei jedem Boss zu hinterlassen sei.«

Pat Rin setzte seine Tasse ab. »Sie wurden überfallen?«

»Ah, nein. Aber das auch nur deswegen, weil sie die gesamte Ladung an den Boss direkt neben dem Raumhafen verkauften und verschwanden.« Sie zuckte mit den Schultern, eloquent wie ein Liaden. »Vielleicht waren sie clever genug, etwas von dem Impfstoff für sich zu behalten. Man möchte fast hoffen, dass ihnen dieses Detail entgangen ist. Es war eine schreckliche Seuche, wie man liest, und Tausende starben, da sie nicht das Geld hatten, um die Medikamente zu bezahlen.«

Er schloss seine Augen.

Götter. Was für eine Welt produzierte solche Menschen? Und doch … Al und Audrey, Gwince, Jonni, Ajay, Villy …

»Meister?«

Er öffnete seine Augen, sah ernsthafte Sorge um sich in ihrem Gesicht.

»Ich frage mich«, sagte er und wechselte brutal das Thema, »welche Möglichkeiten wir in Bezug auf Kommunikationseinrichtungen haben? Ich habe unter den Besitztümern des ehemaligen Boss Moran kein Funkgerät entdecken können. Wie treten die Bosse untereinander in Kontakt? Darüber hinaus scheint es auch keine kleinen Funkgeräte zu geben, mit denen wir miteinander sprechen können – ich etwa zu Ihnen vom Laden aus.«

Cheever grunzte. »Ich habe versucht, diese Nuss zu knacken«, sagte er. »Ich habe von einigen Leuten im Personal herausgefunden, dass es durchaus eine hiesige Version eines Portakom gibt, aber der Handel wird von einem der Bosse weit weg von hier kontrolliert. Ich werde übermorgen mal zum Schiff gehen und es durchchecken. Auf dem Weg mache ich einen Schlenker und prüfe mal die Portakom-Quelle.« Er hielt inne. »Wo wir aber gerade davon reden: die Notfallfunkgeräte des Schiffes sollten ausreichen, damit wir drei in Kontakt bleiben. Ich werde sie mitbringen, wenn Sie es wollen.«

»Ja, tun Sie das«, murmelte Pat Rin. Er trank den Tee aus, stellte die Tasse ab und schaute hoch. Natesas Blick kreuzte den seinen.

»Kommunizieren die Bosse untereinander?«, fragte er sie.

Ihre Augen verengten sich ein wenig. »Meine Informationen weisen darauf hin, dass die mächtigeren Bosse, die größere Gebiete kontrollieren … dass es zwischen ihnen Kommunikation gegeben hat, Handelsabsprachen, Bündnisse. Ob das immer noch so ist … Ich bezweifle es. Die Umstände scheinen sich seit dem letzten Bericht deutlich verschlechtert zu haben.«

Sie seufzte scharf und beugte sich mit einem konzentrierten Gesichtsausdruck nach vorne.

»Das Problem mit Surebleak ist, dass das Boss-System vom Kern her verfault. Es gibt keine ordentliche Machtübergabe, da Bosse oft schlicht von wilden Revolverhelden ermordet werden, die nichts als Macht im Sinn haben. Diese Typen haben keine Ahnung von Verantwortung, Verwaltung, oder gar Kompromissfähigkeit und beidseitigem Profit. Die Gebiete werden daher immer mehr, dabei immer kleiner, und das Chaos wird zur Normalität.«

»Chaos ist, was wir wollten«, sagte Cheever von seiner Seite des Tisches aus.

Natesa nickte. »Ja, Chaos hilft uns zur Zeit sehr, unsere Aufgabe zu erfüllen. Aber sie dient jenen, die hier wohnen, sicher nicht. Jenen, die irgendwie inmitten der langsamen Auflösung ihrer Welt überleben müssen. Es ist auch nicht gut fürs Geschäft.«

Juntavas Geschäft, meinte sie.

Pat Rin betrachtete sie.

»Ich dachte, die Juntavas wären eher Unterstützer des Chaos.«

»Mitnichten, Meister, mitnichten. Die Juntavas sind Verteidiger der Ordnung! Wir benötigen einige Bedingungen, um unser Geschäft abzuwickeln: sicheren und leichten Zugang, sichere und leichte Abreise, kontinuierliche Lieferungen, eine Wirtschaft. Und eine konsistente Kommandostruktur, mit der man profitable Bündnisse schließen kann. Surebleak bietet nichts von alledem. Es ist eine bittere Verschwendung – und das nicht nur für die Juntavas.«

»Aber wenn ein Boss erscheinen würde, dem es gelänge, die Gebiete zu konsolidieren und zu halten – und einen fähigen Nachfolger ausbilden würde, es ihm gleichzutun?«, fragte Pat Rin.

»Dann könnte man den Verfall vielleicht aufhalten«, sagte sie langsam. »Vielleicht. Aber erst müssen wir uns fragen, ob Surebleak solch eine Person hervorzubringen imstande ist.«

»Sicher gibt es doch auch ehrenvolle Personen in anderen Gebieten, so, wie wir hier welche vorgefunden haben?«, sagte er.

»Ganz bestimmt sogar«, stimmte sie zu. »Aber bedenken wir das derzeitige System, wenn wir es so adeln wollen. Wenn eine Person von Würde und Ehre aufsteigt, muss diese doch den Weg zur Macht nutzen, der ihr zur Verfügung steht – kaltblütiger Mord. Um alle zu vereinen – ja, nur die Mehrheit der Territorien –, muss sie mehr als einmal morden. Und wenn sie dann ihr Ziel erreicht hat, muss sie sich selbst in einen Staatsmann verwandeln, fähig zum Kompromiss, zurückhaltend darin, selbst den erbitterten Abweichler zu töten.« Sie schüttelte ihren Kopf. »Ich bin mir nicht sicher, ob eine Person allein beide Rollen ausfüllen könnte, und dennoch sind sie nicht voneinander zu trennen.«

»Und doch sind Sie sowohl Richterin wie auch Attentäterin.«

Sie lächelte. »Man nennt mich Attentäterin«, sagte sie amüsiert. »Möchten Sie wissen, warum?«

»Ja«, sagte Pat Rin ernsthaft. »Das möchte ich.«

Aber Natesa lachte nur und erhob sich leichtfüßig. »Eines Tages vielleicht.« Sie schaute zur Seite. »Mr. McFarland, wenn ich einige Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen dürfte?«

»Sicher.« Der große Mann stand auf und schaute Pat Rin an, der eine Hand hob.

»Gwince. Ich werde versuchen, sie nicht zu ängstigen. Danke, Mr. McFarland.«

»Gute Nacht, Boss.«

Allein im Speisezimmer seufzte Pat Rin, schloss seine Augen und saß für ein Dutzend Herzschläge einfach nur so da. Götter, er war müde. Er war schon so müde – und dabei gab es noch so viel, das getan werden musste.

»Der kürzeste Weg, zu einem Ende zu kommen, ist zu beginnen«, murmelte er, was Onkel Daav immer gesagt hatte.

Die Liadenwörter fühlten sich seltsam in seinem Mund an, selbst nach so wenigen Tagen, in denen er nur Terranisch gesprochen hatte. Würde er überhaupt noch in der Lage sein, Liaden zu sprechen, wenn er dereinst auf seine Heimatwelt zurückkehren würde, um Korvals Feind zu zerschlagen?

Nun gut.

Eins nach dem anderen – und das war nun der Rat von Anne Davis. »Er Thoms Terranerin«, wenn es nach seiner Mutter ging, aber niemals in Hörweite von Onkel Daav oder Cousin Er Thom.

Pat Rin erhob sich vom Tisch, sammelte Gwince an ihrem Wachposten vor der Tür auf und ging hinunter in die Küche.

Der Koch polierte einen Suppentopf, er setzte Lappen wie auch Topf ab, als Pat Rin hereinkam, und nickte höflich.

»Guten Abend, Boss. Was darf ich Ihnen bringen?«

»Jetzt nichts, danke. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich mit der Qualität Ihrer Kochkunst seit dem gestrigen Abendessen sehr zufrieden bin.«

Der Mann grinste und bewegte einen Fuß. »Das … danke, Boss. Ich versuche, den Standard oben zu halten.«

»Ich bin erfreut das zu hören«, versicherte Pat Rin ihm und wandte sich ab, um wieder zu gehen, da er seine Mission erfüllt hatte.

Als er schon zwei Schritte in Richtung der Tür gegangen war, erinnerte er sich an etwas anderes und kam noch einmal zurück.

»Die braun-schwarze Katze«, sagte er in das plötzlich ängstliche Gesicht des Kochs.

Die Angst wurde tiefer. »Ja, Sir. Sie stört sie doch nicht, oder?«

»Nicht im Geringsten. Ich möchte nur ihren Namen kennen.«

»Name?«, wiederholte der Koch, die Hände in die Schürze verschränkt. »Nun … Katze, glaube ich. Ich meine – wer gibt Katzen Namen?«

Pat Rin hielt inne, dann neigte er den Kopf. »Eine ganz persönliche Eigenart. Guten Abend.«

»Bis dann«, sagte der Koch.

Der Büro stand als Nächstes auf seiner Liste. Er ließ Gwince als Türwache zurück und ging zum Schrank, um sein Logbuch hervorzuholen.

Er hatte vielleicht drei Seiten geschrieben, als Gwince ihren Kopf zur Tür hereinsteckte. »Jonni ist hier, Boss.«

Er schaute auf. »Das ist gut. Bitte schicke ihn herein.«

Sie verschwand und einen Augenblick später trat Jonni zögerlich ein, sein spitzes Gesicht zeigte Vorsicht.

»Ich werde dich nicht fressen, okay?«, sagte Pat Rin mild und zeigte auf den gelben Plastikstuhl. »Setz dich für einen Moment hin. Ich habe einen Vorschlag für dich.«

Immer noch vorsichtig setzte sich Jonni.

»Danke. Ms. Audrey hat gesagt, dass sie bereit sei, dir beizubringen, wie man besser liest, rechnet und schreibt. Ich wünsche, dass du dieses Angebot annimmst. Verstehst du mich?«

Der Junge nickte und diesmal nicht ausreichend enthusiastisch – die Mütze verblieb auf seinem Kopf.

»Das ist gut. Nun. Ms. Audrey hat mir gesagt, dass du möglicherweise nicht in ihr Haus gehen möchtest, um den Unterricht zu absolvieren. Sollte dies so sein, dann wird sie eine Lehrerin entsenden und die wird dich hier im Haus unterrichten.« Er schaute den Jungen mit einem strengen Blick an, genauso wie er bei Quin seine väterliche Autorität ausgedrückt hatte. »Der Unterricht ist nicht verhandelbar, aber der Ort ist es. Wie ist deine Wahl?«

Der Junge hob eine Hand, bewegte die Finger – warte!

Das war nur fair, es war eine wichtige Entscheidung zwischen Ehre und Furcht. Pat Rin lehnte sich vorsichtig in seinem eigenen Stuhl zurück, bereit, eine Weile zu warten, sollte dies notwendig sein.

Es war unnötig. Jonni saß einige Momente mit geneigtem Kopf da, musterte möglicherweise das Loch im rechten Knie seiner Hose, dann sah er mit leuchtenden Augen auf. Er machte ein Zeichen, das sowohl angemessen wie auch anzüglich war.

»Du wirst zu Ms. Audrey gehen?«, fragte Pat Rin, um sicher zu sein.

Jonni nickte und brachte diesmal seine Mütze in die Gefahr, herunterzufallen.

Pat Rin lächelte. »Ich bin erfreut. Sei im Flur am Ausgang, wenn ich morgen früh aufbreche, und dann kannst du mich bis zu Ms. Audreys Haus begleiten.«

Der Junge grinste und nickte erneut.

»Gut. Ist sonst noch etwas?«

Der Junge schüttelte den Kopf, ohne das Grinsen einzustellen.

»Dann ist unser Gespräch beendet. Gute Nacht.« Er machte das Zeichen, von dem er wusste, dass es den Abschiedsgruß darstellte.

Der Junge erhob sich, zögerte und – verbeugte sich. Es war kein erkennbarer Modus, aber dafür mit Grazie und guter Absicht – und völlig überraschend.

Ehe Pat Rin sich räuspern konnte, war Jonni wie ein Geist durch die Tür verschwunden.

Noch ein Sieg des heutigen Tages, dachte er, ergriff seinen Stift und konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Aufzeichnungen.

Das war gut.

  

Er rannte die kalten und verwinkelten Gänge entlang, die Waffe in der Hand. Diejenigen, die ihn verfolgten, trugen gleichfalls Waffen – wie er zu seinem Nachteil hatte feststellen müssen –, und es waren viel mehr, als seine Patronen jemals würden erledigen können. Er konnte dies nicht alleine erledigen. Er benötigte Hilfe. Er benötigte seine Familie.

Der Gang zackte hin und her, rechts, links, rechts, und warf ihn in einem kleinen, grauen Raum heraus, in dem ein einzelner Mann in seinem Stuhl saß, die Beine ausgestreckt, in der Hand ein Glas Wein. Pat Rins Herz sprang und er rannte nach vorne.

»Val Con! Cousin, du musst mir helfen!« Er streckte eine Hand aus, berührte die Schulter seines Cousins – und sprang zurück, einen unterdrückten Schrei in der Kehle.

Der Mann im Stuhl war ein Skelett, grinste tot in seine Augen.

Keuchend erwachte Pat Rin. Langsam orientierte er sich wieder und kontrollierte seinen angestrengten Atem. Er bewegte sich etwas in den verknoteten Decken und sein Knie traf etwas Solides.

Vorsichtig reichte er nach unten, berührte warmes Fell und die beginnende Vibration eines Schnurrens – es war die namenlose braun-schwarze Katze.

Lächelnd legte er den Kopf auf das flache Kissen, die Hand immer noch auf der Katze.

Den Rest der Nacht verbrachte er traumlos.

    

 

Tag 310,
Standardjahr 1392,
Blair Road,
Surebleak

 

•  •  •  •  •  

Die Katze folgte ihm vom Schlafzimmer in die Küche, setzte sich zu seinen Knien, während er Brot, Käse und Tee frühstückte, und trottete mit hoch erhobenem Schwanz an seiner Seite den Gang bis zum Vestibül hinunter.

Es war ein seltsam enges Vestibül. Neben Cheever McFarland, der den engen Raum auch ohne fremde Hilfe zu füllen imstande war, war Jonni da und die schlanke Subtilität namens Natesa.

»Guten Morgen«, sagte Pat Rin zu seinen Eidgebundenen und machte dem Jungen gegenüber gleichzeitig das entsprechende Zeichen.

»Morgen, Boss.«

»Guten Tag, Meister.«

Der Junge erwiderte sein Zeichen, hielt inne und machte ein weiteres, diesmal aber nicht zu Pat Rin, sondern zu …

Der Katze.

»Guten Morgen, Boss Silk«, murmelte er lesend – und erweckte Jonnis Aufmerksamkeit mit einem fragenden Winken.

»Der Name der Katze ist Silk?«, fragte er, imitierte das sanfte, fließende Zeichen.

Der Junge nickte, grinste und warf einige Zeichen mit seinen Fingern hin.

»Ah. Hat sie das gemacht? Ich hatte gedacht, sie sei eine Katze voller Zurückhaltung.«

»Was sagt er?«, fragte Natesa sanft.

Pat Rin schüttelte sich. »Es ging darum, dass diese Katze – diese Silk – die Vernunft hatte, den verstorbenen Boss Moran vor nicht allzu langer Zeit sehr gründlich zu zerkratzen, und das zur großen Freude eines barbarischen und blutdurstigen Kindes.« Er neigte seinen Kopf. »Vergeben Sie mir die Frage, aber ich sehe, dass Sie uns heute zu begleiten wünschen?«

»Ich habe heute auf den Straßen zu tun, und daher dachte ich mir, dass ich Sie und Mr. McFarland – sowie ein blutdurstiges Kind – begleite, bis sich unsere Wege trennen.«

Sie neigte graziös ihren Kopf, eine Andeutung ihrer bevorzugten Verbeugung, die der Schülerin vor dem Meister.

»Vielleicht störe ich aber auch.«

»Oder auch nicht«, sagte er trocken. »Ich habe nur gefragt.«

»Kommt die Katze mit, Boss?«, fragte Cheever gelassen von seiner angelehnten Position an der Tür.

»Ich denke, dass ihre Pflichten sie hier im Hause binden werden«, erwiderte Pat Rin und blickte streng auf das aufmerksame Tier hinab. Silk blinzelte mit den Augen aus geschmolzenem Gold, dann wandte sie sich ab und eilte die Treppe hinunter in Richtung Küche.

»Also los«, sagte Pat Rin. »Mr. McFarland, öffnen Sie die Tür, wenn Sie so gut wären.« Er machte eine Handbewegung, als er noch sprach, wies Jonni auf die sich öffnende Tür hin, und sie verließen das Haus als veritable Armee: Cheever, dann Pat Rin, der Junge an seiner Seite, und Natesa, leise und würdevoll, etwas weiter hinten und nach rechts versetzt.

Er hörte die Kugel an seinem Ohr vorbei singen und Natesa rief im gleichen Moment: »Runter!« Er fiel zu Boden, Waffe in der Hand, das Ziel vor Augen.

Es war danach nicht mehr als eine Zielübung – schweres Spiel, und als die Ziele zu erscheinen aufhörten, blinzelte er desorientiert und mit einem lauten Summen in den Ohren.

»Unten bleiben«, zischte Natesa irgendwo hinter ihm. »Nicht bewegen. Wir warten auf Mr. McFarlands Zeichen.«

Es war das Wort »Zeichen«, das ihn wieder in die Realität der Straße zurückbrachte, auf deren halb gefrorenem Matsch er lag, auf den toten Mann starrend, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite an einer Mauer zusammengesackt lag, sein Blut erschreckend hell auf dem abgenutzten Bürgersteig.

»Wo …«, begann er, aber Natesas Stimme erhob sich, lauter diesmal.

»Wir haben das Zeichen. Ich werde zuerst aufstehen. Langsam bis zwölf zählen. Wenn ich kein Feuer auf mich ziehe, dann werden Sie aufstehen, aber halten Sie die Waffe bereit.«

Er spürte ihre Bewegung und zählte langsam bis zwölf. Stille lag auf der Straße. Pat Rin erhob sich mit vorgehaltener Waffe.

Jenseits der Straße öffnete sich eine Tür etwas abseits des toten Mannes und eine Frau schaute hinaus, zog sich dann hastig wieder zurück und die Tür schlug heftig zu.

Weitere Bewegung. Cheever McFarland kam aus einem schmalen Spalt, in den er eigentlich gar nicht hätte passen dürfen, und winkte.

»Alles in Ordnung!«, rief er und kam ihnen entgegen.

Erleichtert drehte sich Pat Rin, schaute auf den Boden neben ihm, aber da war nichts außer Matsch.

»Meister?«

»Das Kind!«, sagte er, erinnerte sich an den Gesang der Kugel und Natesas Ruf – beides hatte Jonni nicht hören können. Obgleich, sicher, wenn er sah, dass sich alle zu Boden warfen, würde er doch …

»Das Kind«, sagte er erneut in Natesas schwarze, schwarze Augen. »Wo ist das Kind?«

Ihr Blick wanderte über seine Schulter. Er drehte sich und erblickte den zerfetzten Haufen Kleidung auf dem Boden, gar nicht so weit entfernt.

»Götter.«

Er kniete sich neben den stillen, kleinen Körper und drehte den Jungen in seine Arme. Kein Atem, kein Herzschlag, kein weites, erfreutes Lächeln. Götter, Götter … nein!

»Meister?«

»Wer tat dies?« Die Hochsprache fühlte sich wie Eis in seinem Mund an.

»Meister, Mr. McFarland hat Jim Snyder unter den Toten gefunden«, sagte sie sanft. »Er glaubt, dass die anderen aus dem Gebiet von Boss Deacon kommen.«

Pat Rin kniete, hielt das tote Kind in seinen Armen, und wenn er vor seinen Eidgebundenen weinte, dann ohne Scham, nur noch erfüllt von dieser großen, erschreckenden Kälte.

»Dies endet, und es endet jetzt. Keiner der Meinen wird mehr in den Straßen niedergeschossen werden.«

Er hob sein Gesicht zu Natesa und sah, wie sich ihre Augen weiteten.

»Holen Sie Audrey«, sagte er. Er hörte, wie seine Stimme brach – und es war ihm egal. »Ich möchte den Namen meines Feindes kennen. Er wird für dies bezahlen. Voll und ganz.«

  

Natesa zögerte vor dem Zugang zum Garten. Eine ungewöhnliche Schüchternheit verwurzelte ihre Füße auf der obersten Treppenstufe. In der Mitte des Daches sah sie ihn, seine Umrisse zeichneten sich vor dem kalten Licht der Nacht von Surebleak ab. Er saß auf einem umwucherten Teil des Gartens, die Schultern gebeugt, die Katze an seiner Seite. Keiner schien den Wind zu bemerken, der aus dem Norden blies und zur nächtlichen Kälte beitrug.

Der Tod des Kindes – sie erinnerte sich an sein Gesicht, das er ihr gezeigt hatte, schlammverschmiert und tränenerfüllt, kalt mit einem Willen, der bloße Rache um mehrere Qualitäten überstieg, und wie sie gezittert hatte, beileibe nicht bloß als Reaktion auf die Kälte.

»Inas, warum bist du hier?« Seine Stimme war sanft und höflich. Er wandte seinen Kopf nicht ab. Und wer wusste, was es bedeutete, dass er sie bei ihrem richtigen Namen ansprach?

Natesa nahm ihren Mut zusammen, hob ihre Füße und betrat den Garten.

»Es ist kalt«, sagte sie im gleichen Tonfall. »Ich bin hier, um Ihnen eine Decke zu bringen.«

»Ah.«

Sanft bewegte sie sich durch die Schatten der brachliegenden Beete und stand dann vor ihm, die Decke über einen Arm gelegt.

Er sah zu ihr hoch, das Gesicht eine goldene Maske im Sternenlicht.

»Danke«, sagte er, machte aber keine Anstalten, die Decke entgegenzunehmen. Neben ihm streckte sich die Katze und setzte sich auf, den Schwanz um die Pfoten gewunden.

Natesa seufzte leicht. »Ms. Audrey bat mich mitzuteilen, dass ihr Haus Ihnen offen steht.«

Die goldene Maske zeigte keinerlei Gefühlsregung. »Ich bin Ms. Audrey dankbar, aber mir ist nicht nach Abwechslung.«

Der Wind blies bitter genug, um sie zu beuteln, obgleich sie darauf geachtet hatte, eine Jacke anzuziehen. Derart nahe, konnte sie erkennen, dass er zitterte, obgleich sie bezweifelte, dass er dies selbst bemerkte.

»Pat Rin.« Sicher durfte sie es wagen, seinen Namen zu verwenden, wenn er damit angefangen hatte. »Pat Rin, Ihnen ist kalt. Die Nacht ist nicht mild. Bitte nehmen Sie die Decke, wenn ich Sie schon nicht dazu überreden kann, wieder hineinzukommen.« Sie biss auf ihre Lippe. »Sie dienen nichts und niemandem, wenn Sie erkranken.«

»Nur zu wahr«, sagte er höflich, machte aber immer noch keine Anstalten, die Decke zu nehmen.

Sie wunderte sich selbst über ihre ungewöhnliche Zurückhaltung, machte einen Schritt nach vorne und legte die Decke um seine Schultern. Die Katze Silk, die aufgereckt an seiner Seite saß, blinzelte zustimmend mit ihren goldenen Augen.

Etwas bewegte sich in seinem Gesicht. Er seufzte und hob die Hand, an der Korvals Ring glitzerte, um den Stoff der Decke zu berühren und sie enger an sich zu ziehen.

»Danke«, sagte er erneut. Es schien, dass die Worte diesmal etwas mehr als nur ein Ritual waren. »Ich bin für Ihre Fürsorge dankbar.«

»Jederzeit wieder.« Sie zögerte, unsicher, was sie nun anzubieten hatte, gleichzeitig unwillig, ihn hier alleine mit der Katze und seinen Toten in der eiskalten Nacht zurückzulassen.

»Sie werden sicher wissen wollen«, sagte er überraschend, »dass ich mich dazu entschieden habe, die Rollen auszufüllen, von denen Sie sagten, dass ein einzelnes Individuum sie nicht in sich vereinen könne.«

Sie runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Ich werde die Gebiete vereinen«, sagte er und hörte sich dabei gar nicht verrückt an. »Wir werden Gesetze und Verträge haben. Wir werden freien und einfachen Verkehr auf den Straßen haben, selbst bis zum Raumhafen. Wir werden uns wieder an das Gesundheitsnetz anschließen. Es wird Schulen geben, Bibliotheken und Krankenhäuser. Kinder und Erwachsene werden all dies ohne Angst um ihr Leben nutzen können. Ich werde dies verwirklichen.«

»Pat Rin …«

»Wir werden beginnen damit, indem wir das Gebiet von Boss Deacon annektieren.«

Natesa schüttelte den Kopf, zerrissen zwischen Ungeduld und Mitleid. »Pat Rin, Boss Deacon wird gut beschützt. Außerdem liegt sein Gebiet in der entgegengesetzten Richtung unseres Ziels.«

»Sie haben nicht zugehört«, sagte er wie zu einem unaufmerksamen Kind. »Ich werde die Gebiete vereinen. Daher werden wir als Erstes jenen nehmen, der es gewagt hat, einen der Meinen zu töten. Es soll eine Lektion werden und uns die Aufmerksamkeit aller anderen sichern, mit denen wir zu tun haben werden.«

»Und wenn wir das getan haben«, erwiderte sie mit Schärfe, »werden sich noch mehr Attentäter in Ihre Nähe begeben, bis einer von ihnen Erfolg hat.«

»Inas, wir können es schaffen – aber nicht ohne Blutvergießen, nein. Und wir werden wahrscheinlich einige weitere Attentäter unterhalten, ehe wir damit fertig sind. Aber es ist möglich. Ich sehe es. Ich weiß, wie wir vorgehen werden.«

Mitleid siegte über Ungeduld. Sein Verstand war unter der Last der Trauer zusammengebrochen. Wäre sie jemand anderes gewesen als die Sektorrichterin, hätte sie sich möglicherweise vor seine Knie geworfen und die rücksichtslosen Götter angefleht, so, wie man es um einen Toten auf ihrer fernen, unbekannten Geburtswelt tat.

Stattdessen streckte sie eine Hand aus und berührte seine Schulter sanft und kameradschaftlich.

»Es ist gut, dass Sie einen Plan haben. Mr. McFarland wartet unten an der Treppe. Wir sollten zu ihm gehen und alles Weitere bei Käse und Tee besprechen.«

Sie hatte nicht erwartet, ihn so schnell überreden zu können, aber er erhob sich sogleich, ließ die Decke von seiner Schulter gleiten und legte sie achtsam über seinen Arm.

»Lassen Sie uns das tun«, sagte er, immer noch in der leisen, alles andere als verrückten Stimme. »Silk – wir steigen hinab.« Er neigte den Kopf, die Höflichkeit in Person. »Inas, nach Ihnen.«

    

 

Tag 50,
Standardjahr 1393,
Lytaxin,
Erobs Clanhaus und Gärten

 

•  •  •  •  •  

Obgleich er sich nicht sonderlich beeilte, erreichte Shan das Haus früher, als er es sich gewünscht hätte, und legte seine Handfläche auf den Rufsensor. Dabei unterdrückte er ein Seufzen.

Ein Klingelton ertönte, nur schwach zu vernehmen von der anderen Seite der Tür. Die letzte Note war noch nicht ganz aus dem Ohr entschwunden, da wurde die Tür aufgeworfen und in der Öffnung zeigte sich eine Liadenfrau von außergewöhnlicher Schönheit, mit goldenem Haar über den steifen Schultern und violette Augen in einem dermaßen rigide ruhigen Gesicht, dass es wie eine Skulptur wirkte, die mit großer Sorgfalt aus purem, blassem Gold geformt worden war anstatt aus lebendem Fleisch.

Shans wache Heilersinne spürten den erwarteten Ärger, verbunden zu gleichen Teilen mit Angst und Erleichterung – eine gefährliche Kombination, die nicht geeignet war, um eine ruhige Diskussion unter Geschwistern zu ermöglichen.

Nun, es gab keine andere Möglichkeit, als einfach anzufangen, dachte er sich und verbeugte sich zur liebevollen Geste eines älteren Bruders.

»Guten Abend, Schwester«, sagte er in der Niederen Sprache, die Novas bevorzugte Sprache war, mehr als Terranisch, das er lieber benutzte. »Wie schön, dich hier zu finden! Ich hoffe, dass du eine angenehme Reise hattest?«

Nova verzog den Mund. »Eine angenehme Reise«, wiederholte sie so tonlos, dass darin kein Sprachmodus erkennbar war. Sie holte Luft und machte einen Schritt nach hinten, bewegte ihre Hand in einem Willkommensgruß. »So trete doch ein, Bruder.«

Mit Entschlossenheit trat er ein und wanderte den Raum entlang zum Weintisch. Er ergriff ein Glas und goss sich etwas von Erobs akzeptablem roten Tafelwein ein, was eigentlich sehr unhöflich von ihm war. Der Code erwartete von ihm, dass er wartete, bis ihm jemand eine Erfrischung anbot, aber auf der anderen Seite sagte der Code auch, dass informelles Verhalten unter Geschwistern akzeptabel war. In jedem Falle bot er Nova damit die Gelegenheit, etwas irritiert zu sein, was wiederum die giftige Mischung ihrer Emotionen etwas entschärfen könnte.

»Wein, Schwester?«, fragte er über seine Schulter hinweg. »Erobs Roter ist durchaus annehmbar. Der Canary ist ein wenig süß und der Jade war mir etwas moderig neulich – aber vielleicht war es auch nur eine schlechte Flasche.«

»Den Roten gerne, sehr freundlich«, sagte Nova ruhig neben ihm. Shan seufzte unmerklich. Gut, er hatte den Ansturm von Novas Temperament öfter überstanden, als er zählen konnte, er würde es ohne Zweifel auch jetzt überleben. Er goss ein zweites Glas Rotwein ein und überreichte es seiner Schwester, die ihren Kopf neigte und einen kleinen Schluck nahm.

Shan nippte an seinem Wein und zählte langsam Richtung zwölf.

Er war bei neun angekommen, als Nova ihr Glas abrupt auf den Tisch stellte und ihre Blicke sich trafen.

»Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mich über Neuigkeiten mit Priscilla Mendoza auszutauschen«, sagte sie in beiläufigem Ton. »Sie sagte mir, dass unser Bruder und Miri Robertson nun in wahrer Lebenspartnerschaft verbunden sind.«

»Oh, es ist eine magische Beziehung, ohne Zweifel«, sagte Shan mit vorgespielt guter Laune. »Ich kann die Verbindung klar sehen – jeder Heiler kann das, der riskiert, dass sein Blick für Stunden geblendet wird.«

»Ich verstehe.« Sie machte eine Pause, die Anspannung war in ihrer Haltung deutlich erkennbar. Dennoch war ihre Stimme ruhig und stetig, als sie sprach.

»Priscilla nennt sich jetzt Captain der Dutiful Passage und erlaubte mir zu erfahren, dass sie nunmehr yos’Galan beigetreten ist als Lebenspartnerin des Thodelms.«

Shan grinste. »Niemals zuvor habe ich Priscillas Mut höher eingeschätzt!«

Nova seufzte. »Noch eine wahre Lebenspartnerschaft, Bruder? Es könnte Missfallen erregen, wenn man glauben könnte, dass du die Anweisungen des Ersten Sprechers aus schierer Willkür ignorierst.«

»Schiere Willkür?« Er hob die Augenbrauen. »Sind wir Korval oder sind wir es nicht? Wir handeln niemals aus schierer Willkür! Dein Studium der Aufzeichnungen wird dich dies sicher gelehrt haben!«

»Shan.«

Er seufzte und rieb die Nasenspitze. »Ich kann es nicht beurteilen. Der einzige Maßstab, den ich habe, ist das, was ich zwischen Val Con und Miri sehe – und das, was ich zwischen unseren Eltern erfahren habe. Ich – wir – sind etwas – anders. Wodurch wir uns unterscheiden, kann ich nicht sagen.« Noch ein Seufzen, diesmal schärfer. »Ich muss Priscilla sehen.« Und das, so dachte er, war eine Untertreibung würdig eines Val Con.

»Sie hat ein ähnliches Bedürfnis geäußert«. Nova ergriff erneut ihr Glas und trank den Wein, als wäre er ein nicht sonderlich geschmackvolles Wasser. »Also finde ich meine beiden Brüder mit Lebenspartnern verbunden, ohne jede Rücksprache mit dem Ersten Sprecher und ohne Rücksicht auf den Code. Wir sollten eine Welle auslösen und aus Spontanverbindungen eine Mode machen.«

Sie trank das Glas leer und stellte es auf den Tisch zurück.

»Die anderen Neuigkeiten Priscillas betreffen die Gesundheit Val Cons«, sagte sie ruhig, so ruhig, während die Flammen ihrer Abneigung und ihrer Wut plötzlich hochflackerten und ihn fast verbrannten. »Ich habe erfahren, dass er schwer verwundet worden ist, so eben dem Tode entronnen, und dass er nach dieser Katastrophe möglicherweise nie mehr wird fliegen können.«

Oh, dachte Shan. Oh, verdammt.

»Die Medtechniker haben unterschiedliche Ansichten geäußert«, sagte er vorsichtig. »Einige denken, dass Val Con anfangs kaum mehr als vollständig behindert sein wird, aber dass er, mit der Zeit, gesunden wird, sogar wieder wird laufen können. Das ist die extreme Sichtweise.« Er machte eine Pause.

Novas Gesicht war blasser geworden, doch sie bedeutete ihm fortzufahren.

»Die weniger extreme Sichtweise ist, dass Val Con weitgehend gesund werden wird, mit allen Fähigkeiten außer den bemerkenswert schnellen Reaktionszeiten, die für einen Meisterpiloten wichtig sind, von einem Scoutpiloten einmal ganz zu schweigen. Sie meinen auch, dass seine Gesundheit für einige Jahre angeschlagen bleiben wird, wenn nicht gar für den Rest seines Lebens.«

Nova war nun bleich bis auf die Lippen, aber sie schaute ihm, ohne zu wanken, weiter ins Gesicht und nach einem Augenblick forderte sie ihn erneut auf, weiterzusprechen.

»Die Optimistischsten«, sagte er dann, ohne zu erwähnen, dass die Gruppe der Vertreter dieser nur aus ihm selbst bestand, von zwei derzeit tief in Erobs Atrium schlafenden Clutch-Turtles und Miri Robertson Tiazan einmal abgesehen, »glauben daran, dass unser Bruder vollständig geheilt erwachen wird.«

Nova blinzelte.

»Wie können die Fachmeinungen derart weit voneinander abweichen?«, fragte sie. »Die erste und zweite sind durchaus konsistent, was den Effekt angeht, und unterscheiden sich nur im Grad der Auswirkung. Aber, dass er vollständig geheilt erwachen wird? Wie …?«

Shan nippte am Wein und kaufte sich dadurch Zeit. Nova würde das Risiko, dass sie mit Val Cons Leben eingegangen waren, noch um einiges weniger mögen als die Medtechniker. Und doch fühlte er ihre Angst um Val Con fast so stark wie die seine, und er konnte ihr die Hoffnung nicht nehmen.

»Du musst verstehen, dass es gewisse … Variablen gibt«, sagte er langsam. »Hat dir Priscilla etwas über die Art von Val Cons Verletzungen gesagt?«

Nova blinzelte. »Sie sagte nur, er sei schwer verletzt worden. Ich habe die üblichen Verletzungen eines Piloten angenommen.«

»Diese gab es«, gab Shan zu. »Beschleunigungsverletzungen, gebrochene Knochen durch das Herumwirbeln in einem Cockpit, das für jemanden gebaut worden war, der zweimal so groß war – und das in jede Richtung …« Er seufzte und rieb sich die Stirn. Verdammt, da entwickelte sich ein veritabler Kopfschmerz. »Du musst verstehen, dass es keine Schiffe gab, und so war es die Aufgabe Val Cons, meiner Person und eines anderen Piloten, sie von den Yxtrang zu nehmen. Während er sein Schiff akquirierte, wurde Val Con von einer mit Nervengift präparierten Yxtrang-Kugel gestreift. Ein Volltreffer hätte ihn mehr oder weniger sofort getötet, wie ich gehört habe. Der Effekt der kleineren Dosis über einen längeren Zeitraum ist nicht besonders gut erforscht. Es gibt da auch Variationen in der Behandlungsweise.« Er sah sie an und fragte sich, ob sie schwankte oder sein Blick sich trübte. »Schwester?«

»Du … und Val Con … Ihr habt den Yxtrang Schiffe gestohlen?«, wiederholte sie mit zittriger Stimme.

»Na ja, sie hatten eine Menge, weißt du«, erwiderte er entschuldigend. »Es war notwendig, einen Luftangriff zu starten, also …«

»Ihr hättet getötet werden können!«, unterbrach Nova.

Shan nippte am Wein. »Es war Krieg«, sagte er und bemühte sich um Geduld. »Ich wäre sicher getötet worden, hätte ich mich im Haus mit den Alten und den Kindern verborgen. Und wenn du meinst, ich wäre in der Lage gewesen, Val Con von notwendigen Maßnahmen dadurch abzuhalten, indem ich an seine Vernunft appelliere, dann überschätzt du meine Überzeugungskraft gewaltig.«

Sie starrte ihn einen Herzschlag lang an, dann senkte sie ihren Kopf.

Der Punkt ging an ihn. »So ist es. Nun … Variationen in der Behandlungsweise?«

Jetzt kam es. Er trank den Wein aus und stellte das Glas ab.

»Nach eingehender Beratung mit den Clutch-Turtles Edger und Sheather kam Val Cons Lebenspartnerin zu der Überzeugung, dass es eine effektivere Heilungsmethode gäbe – eine Clutch-Heilung. Ich bot mich selbst als Testperson an und es stellte sich heraus, dass die Heilung bemerkenswert effektiv ist. Miri entschied dann als Val Cons Lebenspartnerin und im Namen von Korval, dass er und sie sich dieser Heilung unterziehen würden. Edger und ich beschäftigten uns einige Stunden mit Val Con und haben ihn sanft schlafend aus der Behandlung entlassen. Sein Zustand hat sich deutlich gegenüber dem verbessert, den wir vorgefunden haben, als wir ihn aus dem Autodoc genommen haben …«

»Aus dem Autodoc genommen?«, fragte Nova. Shan seufzte. Nun, er hatte gewusst, dass ihr dieser Teil nicht gefallen würde.

»Du hast es gewagt, das Leben von Korval selbst zu gefährden? Obwohl die Medtechniker – ja, du selbst! – eingeräumt haben, dass die Langzeitwirkungen des Gifts unbekannt sind, dass …«

»Nadelmae Korval hat das entschieden«, unterbrach Shan etwas lauter, als er es vorgehabt hatte, »für sich, für ihren Lebenspartner und für Korval als Ganzes.«

»Nadelmae Korval«, spuckte Nova, »ist eine auf Terra aufgewachsene Söldnerin, die nichts vom Clan und dem Code weiß …«

»Nein, das ist sie nicht.«

Nova starrte ihn an. »Erkläre das.«

Er rieb sich die Stirn. Götter, war er müde. Schnell löste er eine Heilroutine aus, die ihm Energie spenden sollte. Die dadurch ausgelöste Energie war nur ein fernes Zittern von Nervosität, aber sie würde genügen. Für eine Weile.

»Miri und Val Con sind eine wahre Lebenspartnerschaft eingegangen – du erinnerst dich? Ich wette Cantra gegen Katzen, dass sie sich so gut im Code auskennt wie … na ja, wie Val Con. Und ich wette darüber hinaus, dass man herausfinden wird, dass sie wie ein Scout fliegen kann. Sie wusste sehr genau, was ihre Entscheidung hätte bedeuten können, und sie hat es nicht leichtfertig entschieden.«

Es gab eine lange Stille, während der Angst, Wut, Hoffnung und Fassungslosigkeit hinter Novas Augen miteinander rangen. Schließlich seufzte sie.

»Ich werde unseren Bruder besuchen.«

Shan schüttelte den Kopf. »Das wäre nicht klug. Wir haben ihn schlafen lassen, in einem Zustand … so etwas wie einer Trance. Er wird von selbst aufwachen, wenn er bereit ist.«

»Ich werde ihn besuchen«, wiederholte sie mit kaum erkennbarer Wildheit. »Wenn er in Trance liegt, wird er mich nicht bemerken und mir wird es etwas leichter ums Herz werden.«

Ihre Augen glühten. »Mir wird doch das Verwandtschaftsrecht zustehen, oder?«

Natürlich stand es ihr zu, dachte Shan, und um ehrlich zu sein, würde es auch seine Sorge erleichtern, wenn sich herausstellte, dass Val Con immer noch in süßem Schlummer ruhte. Geheilt und fern aller Gefahr.

»Nun gut«, sagte er. »Nur ein Blick, und dann muss ich mich selbst hinlegen.«

Nova neigte ihren Kopf und wandte sich der Tür zu.

  

»Lady yos’Phelium?« Die Medtechnikerin sprang auf die Füße. Sie sah etwas weiß um die Augen aus, was Miri ihr absolut nicht vorwarf, und schaffte es ganz gut – nachdem ihr anfänglich der Mund offen stand –, nicht auf ihre Patienten zu starren. Miri senkte den Kopf und bemühte sich um den Anschein völliger Normalität.

»Diese hier, meine Eidgebundenen«, sagte sie im Hochliaden-Modus des Arbeitgebers, der zum Arbeitnehmer sprach, was der Wahrheit durchaus nahekam, da sie offenbar die Gene von Erob in sich trug, »bedürfen der Verbesserung. Sie haben lange nicht genug zu essen bekommen und müssen daher aufgepäppelt werden. Die Tattoos müssen entfernt werden. Die Medtechniker der Söldner haben ein entsprechendes Löschprogramm. Bitte kontaktiert sie im Namen von Captain Miri Robertson und bittet um Übertragung.«

Die Technikerin schluckte hart und brachte eine einigermaßen ordentliche Verbeugung zustande.

»Es soll geschehen.« Sie sah auf, erblickte Nelirikk, dann Hazenthull, dann Diglon, dann hinunter auf Shadia und wieder zu Miri. »Vergebt mir, aber diese hier beherrscht die Sprache der … der Subjekte nicht. Es könnte sich daraus eine unangenehme Situation ergeben, Mylady.«

»Ich verstehe«, versicherte Miri ihr und bewegte eine Hand, sodass sowohl Nelirikk wie auch Shadia von der Technikerin beachtet wurden. »Scout-Lieutenant Shadia Ne’Zame und mein Gehilfe, Lieutenant Nelirikk Erkunder, werden hierbleiben und Sie auf jede mögliche Art unterstützen.«

Die Technikerin sah erleichtert aus, als sie dies hörte, was eher zeigte, wie wenig Erfahrung sie mit Scouts hatte. Sie verbeugte sich erneut und bewegte sich zu dem ersten Autodoc in der Krankenstation.

»Wenn der … ältere Soldat … bitte vortreten würde?«

Nelirikk übersetzte dies in einen Befehl und Schütze Diglon machte einen zackigen Schritt nach vorne.

Miri wechselte mit Shadia einen Blick.

Diese grinste und hob die Daumen. »Wir haben hier alles unter Kontrolle, Captain Rotkopf.«

»Warum fühle ich mich trotzdem nicht besser?«, fragte Miri rhetorisch und verließ den Raum, um Emrith Tiazan zu finden, damit diese erfuhr, was in ihrem medizinischen Zentrum so vor sich ging.

  

Miri war ins Medcenter gegangen, um sich um die Bedürfnisse der neuesten Rekruten von yos’Phelium zu kümmern, was Val Con alleine mit seinem Vater zurückließ.

Als er ein Junge war, hatte er oft von diesem Zusammentreffen geträumt. Sein Vater würde ankommen, ohne Vorankündigung, und ihn in seine starken Arme nehmen. Sein Vater würde eines Tages an seinem Bett sitzen, als er aufwachte. Man würde ihn von seinen Studien rufen, um in das Büro von Onkel Er Thom zu kommen, und sein Vater würde dort auf ihn warten …

Kinderträume, die mit den jetzigen Augenblick nichts zu tun hatten, in dem er, erwachsen und in Lebenspartnerschaft, in einem Garten fern der Heimat stand. Und dies in der Gegenwart eines Fremden, der ihn schwach anlächelte und sagte: »So …«

Vom Äußeren her, dachte Val Con, war der Vater das Gegenteil seines Pflegevaters. Die Holos von Daavs Aussehen in dessen Jugend hatten ihn nicht ganz auf den älteren Scout vorbereitet, der dort in der Abenddämmerung des Gartens stand, ganz ruhig und geduldig. Die Holos hatten einen Mann in der Blüte seiner Jahre gezeigt, dünn und mit scharfen Kanten, das reichhaltige schwarze Haar zu einem Schwanz gebunden, die schwarzen Augen, wie sie mutig aus dem Bild herausblickten.

Dieser Mann hier war etwas zu dick, um noch als schlank bezeichnet zu werden, sein Haar eher grau als braun, kurz geschnitten, wie es die Terraner taten. Sein Gesicht, das selbst zu seiner Jugend niemals schön gewesen war, hatte jetzt einen gewissen reifen Charme, überraschenderweise vergleichbar mit Onkel Er Thom. Die schwarzen Augen beobachteten alles mit der Direktheit des Scouts.

Und, so dachte Val Con plötzlich, er hat diese Pause bewusst herbeigeführt, damit ich Zeit habe, ihn zu betrachten. Er grinste beinahe aus Freude über den ältesten aller Scouttricks.

Daav hob eine Augenbraue. »Du hast sicher einige direkte Fragen an mich, nicht wahr?«

»Die direkteste, die mir einfällt, ist: Was hast du all die Jahre getan?« Während ich auf dich gewartet habe, ebenso wie Onkel Er Thom …

Daavs Augenbrauen hoben sich leicht. »Ich habe doch sicher alles in die Tagebücher eingetragen? Ja, ich bin mir sicher, dass ich es tat. Ich erinnere mich an deine Gegenwart während des Eintrags – es gibt einen Fleck auf der Seite, an der du mit dem Stift gekämpft hast.«

Und die anderen Flecken, dachte Val Con, der die Seite gut kannte, stammen von meinen Tränen.

»Wie dem auch sei«, erklärte Daav, »da der Inhalt des Eintrages dir offenbar entfallen ist – ich hatte damit zu tun, den Tod meiner Lebenspartnerin auszugleichen.«

»Aber«, hörte Val Con sich sagen, wenn auch ohne große Überraschung, »deine Lebenspartnerin ist nicht tot.«

Daav schien ebenfalls keine Überraschung angesichts dieser Antwort zu empfinden. Er hob nur eine Hand, der alte, silberne Puzzlering leuchtete auf wie ein um seinen Finger gewundener Blitz.

»Es hat eine Weile gedauert, bis mir dies klar wurde«, sagte er. »Unser Arrangement hatte … Mängel. Und, vergib mir, ich hatte gesehen, wie sie starb. Es war weitaus vernünftiger anzunehmen, dass ich aus Trauer verrückt geworden war, als dass ich tatsächlich ihre Stimme vernommen hatte.« Er senkte seine Hand.

»Wie dem auch sei, da der Attentäter – oder eher jener, der den Attentäter beauftragt hatte – so sehr danach strebte, dass ich auf Terra nach meinem Bösewicht suchen sollte, konnte ich kaum weniger tun, als ihm zu Diensten zu sein.«

»Möglicherweise aber nicht ganz so, wie er sich das gedacht hatte«, murmelte Val Con.

»Nun, was wäre dir recht gewesen? Aelliana hätte es niemals gewünscht, dass wir in ihrem Namen einen Krieg beginnen – selbst, wenn es absolut sicher gewesen wäre, dass Terra ihren Tod angeordnet hätte. Was Terra nicht getan hat. Der Code sagt recht deutlich, dass im Falle der Lebensbalance die Wünsche des Ausgleichenden weniger wichtig sind als die Wünsche, die man ehrenhalber den Toten anrechnen sollte.« Er hob seine Schultern in einem weiteren terranischen Achselzucken.

»Meine Lady würde sagen, dass Terra angegriffen habe, weil es Angst hatte, und dass Angst aus Unwissenheit entstehe. Also habe ich Terranern kulturelle Genetik gelehrt.«

»Ah«, sagte Val Con sanft.

»Ah, in der Tat«, gab sein Vater zurück. Er neigte den Kopf. »Dein Lady-Captain spricht Yxtrang-Truppensprache wie ein Scout – oder vielmehr spricht sie es wie der Scout.«

»Ich muss wirklich Nelirikk meinen persönlichen Namen beibringen«, sagte Val Con nachdenklich. Er bewegte seine Schultern, aber es war kein Achselzucken. »Ich gebe zu, dass die Truppensprache vorher nicht zu Miris Sprachkenntnissen gehört hatte – bis zu den jüngsten Ereignissen.«

»Ah ja! Der heroische Flug mit gestohlenen Yxtrang-Jagdflugzeugen gegen einen überwältigenden Feind, währenddessen du lebensgefährlich verletzt worden bist. Seid bitte nicht allzu verschämt, Sir – die Geschichten Eurer Taten eilen Euch voraus! Commander Carmody bewundert dich sehr und es scheint, dass er dich für völlig verrückt hält.«

Val Con lachte.

»Ja, nun.« Daav machte ein paar Schritte zur Seite und streckte sich vorsichtig – wie ein Mann, so dachte Val Con, der sich darüber Sorgen machte, dass seine Rückenmuskeln protestieren könnten.

»Erzähl mir, wenn es dir recht ist, wer ist dieser mächtige Feind, mit dem Captain Robertson meine armen Yxtrang so betört hat?«, fragte Daav, nachdem er sich genügend gestreckt hatte.

Val Con hob eine Augenbraue. »Ich dachte, es wären yos’Pheliums Yxtrang?«

»Man empfindet doch eine gewisse Zuneigung zu ihnen«, meinte Daav ernsthaft. »Sie sind gute Kinder.«

»Das erleichtert mich«, erwiderte Val. »Was den Feind betrifft …« Er machte eine Pause und neigte den Kopf zur Seite. Er sah, wie sein Vater sich versteifte und den Kopf drehte. Das Tor am Ende des Gartens schwang auf und dann entließen die Schatten Clonak ter’Meulen.

»Etwas mehr als eine halbe Stunde«, sagte er und glitt mit liebevollen Fingerspitzen über seinen Schnurrbart. »Guten Morgen, Schatten.«

»Guten Morgen, Clonak«, erwiderte Val Con und betrachtete den plumpen Scout. Etwas bewegte sich am Rande seiner Wahrnehmung, als ob die Stücke eines sehr, sehr alten Puzzles endlich und unvermeidlich ihren Platz fanden.

»Clonak«, sagte er erneut und hasste bereits, was er sah, wusste, dass es wahr sein musste. »Mein Vater wünscht zu wissen, welchen Namen Korvals großer Feind trägt, der seinen Bruder und dessen Lebensgefährtin ermordet hat. Du kannst es ihm sagen, nicht wahr?«

Der ältere Scout neigte den Kopf. »Das habe ich bereits, aber ich habe nichts dagegen, es erneut zu tun: Die Abteilung für Innere Angelegenheiten. Du erinnerst dich daran, nicht wahr, Daav? Ich bin mir aber nicht sicher, ob Er Thom auf ihr Konto gehört, denn soweit ich weiß, starb er am Schmerz über den Tod seiner Lebenspartnerin.«

»Was nicht passiert wäre, wenn Anne noch leben würde«, erklärte Daav ruhig.

»Wahr …«

Val Con machte einen Schritt nach vorne und zog die Blicke beider Männer auf sich.

»Ihr habt sie mit mir gefüttert«, sagte er und seine Stimme war möglicherweise nicht ganz ruhig dabei. »Die Scouts haben mich an die Abteilung übergeben!«

Clonak starrte ihn an, als habe er den Verstand verloren. »Nun, natürlich haben wir das gemacht, Schatten! Was sonst stünde uns zur Verfügung, um sie zu bekämpfen, als ein erstklassiger, reinblütiger yos’Phelium Scout Commander? Konzentrierte Zufallsaktion. Würden wir eine solche Waffe verschwenden? Hättest du das getan? Ich glaube nicht. Abgesehen davon …« Er kreuzte die Arme über seiner Brust. »Es ist die Pflicht des Captains, die Passagiere zu beschützen. Er Thom wird nicht versäumt haben, dir das zu erklären.«

»Als dein Verwandter bitte ich dich darum, ihn nicht zu töten«, sagte Daav in die Stille, die darauf folgte. »Ich gestattete es, ihn zwölfmal einen Idioten zu nennen. Aber er ist auch mein ältester Freund, und ich achte ihn.«

Val Con schloss seine Augen, lief den Regenbogen entlang, seufzte und öffnete die Augen wieder.

»Nun gut«, sagte er und befahl seiner Stimme, neutral, wenn nicht gar ruhig zu wirken. »Es war meine Pflicht und ich war die geeignete Person. Aber der Plan hat nicht funktioniert. Die Abteilung ist immer noch aktiv.«

»Ja, so ist es«, sagte Clonak, als ob er zu einem Dummkopf reden würde. »Aber du bist nicht länger ihre Kreatur, oder? Ich sehe, dass unsere Waffe mit dreifach verstärkter Wirkung zu uns zurückgekehrt ist: ein Captain mit einem genauen Verständnis der Gefahr, die den Passagieren droht.« Er hob eine Hand, die Handfläche nach oben. »Und kaum einen Herzschlag zu früh, da die Bedrohung sich nun manifestiert. Die Scouts sind bereit, Ihre Befehle zu befolgen, Commander.«

Val Con schüttelte den Kopf. »Amüsiert euch anderswo. Ich habe für derlei keine Geduld.«

»Nun, Schatten«, sagte der pummelige Scout ernsthaft. »Verhalte dich nicht wie ein Kätzchen. Ich habe bei Nev’Lorn Verluste hinnehmen müssen, genau wie du.«

Val Con blinzelte. »Nev’Lorn?«

»Clonak, der Junge ist immer noch krank und war lange von den Nachrichten abgeschnitten«, sagte Daav mit tiefer und ernster Stimme. »Er hat noch nicht davon gehört, dass die Abteilung für Innere Angelegenheit einen bewaffneten Angriff auf eine Scoutbasis durchgeführt und Dutzende unserer Kameraden getötet hat.«

Die Abteilung hatte Scouts offen angegriffen? Val Con blinzelte erneut. Das ergab keinen Sinn. Die Abteilung war so erfolgreich, genau weil sie in den verborgenen Seitengassen operierte, weit entfernt vom Blick ehrlicher Menschen und ohne große, offene Operationen.

»Warum?«, fragte er Clonak.

»Warum? Warum sonst, wenn nicht deinetwegen?« Er seufzte plötzlich und tief. »Shadia fand das Zeichen eines Scouts auf einem Wrack, das um eine verbotene Welt kreiste, reichte den Bericht ein, alles entsprechend den Regeln. Sie hat keine Verbindung zwischen dir und dem mysteriösen Scout hergestellt, andere von uns haben es aber getan. Die Abteilung hat den Bericht abgehört und sofort reagiert, da man dort offenbar zum gleichen Schluss gekommen war.« Er zuckte mit den Achseln. »Sie waren so verzweifelt bemüht, dich zurückzubekommen, Schatten. Oder sie waren zumindest verzweifelt genug, um zu verhindern, dass irgendwer anders deiner habhaft wird.«

»Du schätzt mich hoch ein«, sagte Val Con trocken. »Der Commander möchte mich sicher zurückhaben oder neutralisieren, ehe ich eine Gefahr für die Abteilung werde. Aber alles zu riskieren, indem man einen offenen Angriff gegen die Scouts durchführt …« Er schüttelte den Kopf. »So kalkuliert der Commander nicht.«

»Vielleicht hat er einen neuen Lehrer«, schlug Clonak vor. »Oder er meint, er sei nun stark genug, um eine zweite Phase zu eröffnen, und beginnt nun, offen zu agieren.«

Ein kalter Schauer lief Val Cons Rückgrat hinunter. Das war in der Tat nicht unwahrscheinlich. Der Plan der Abteilung forderte letztlich die eigene Ausbreitung, und es konnte durchaus sein, dass jetzt die Zeit war, dies umzusetzen, wo Korval zersplittert war und sich in ihren diversen Schlupflöchern befand. Er wollte dies gerade zu Clonak sagen, als ein sanftes Geräusch an sein Ohr drang, eine Anomalie in der Ruhe des Gartens. Er stellte ein Ohr schief, wartete auf eine Wiederholung und hob seine linke Hand mit dem Zeichen des Scouts für warten.

  

Nova drängte sie zu einem schnellen Schritt durch die ruhigen Hallen von Erobs Clanhaus. Sie bewegten sich in der Tat so schnell, als sie eine Ecke im Hauptgang umrundeten, dass sie beinahe die rothaarige Frau im Arbeitsanzug umrannten, die in die entgegengesetzte Richtung ging.

Shan sah auf, kam fast schlitternd auf dem gewachsten Holzboden zum Stillstand.

»Miri?«

Sie grinste. »Hey, Shan! Das hast du prima hingekriegt!«

Er sah sie überrascht an. Seine Heilersinne bereiteten ihm eine zweite Überraschung, als er das gesunde Schimmern ihres Musters erkannte. Nova hatte beizeiten sowohl ihr Gleichgewicht wie auch ihren starrenden Blick wiedergefunden.

»Ich bin sprachlos«, sagte er Miri. »Meine Schwester wird bestätigen, dass dies nicht oft vorkommt. Nova, dies ist Miri Robertson Tiazan, Lady yos’Phelium.«

Novas Blick zeigte ungläubiges Erstaunen. »Sie sind Miri Robertson?«

»Befürchte schon«, sagte Miri nicht ohne Mitgefühl. Sie nickte leicht. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Ich …«, begann Nova. Shan, der der Ansicht war, dass schlechte Manieren einer Katastrophe vorzuziehen waren, unterbrach sie gnadenlos.

»Wir sind unterwegs, um nach Val Con zu sehen«, sagte er zu Miris amüsierten grauen Augen. »Würdest du uns gerne begleiten?«

»Geht nicht – ich muss Tante Emrith finden und ihr gute Nachrichten überbringen. Wenn du aber nach Val Con suchst, wirst du ihn im Garten am Ende des Seitenflügels finden. Er unterhält sich mit seinem Vater.«

»Seinem Vater?« Shan blinzelte. »Miri …«

»Daav yos’Phelium ist tot«, unterbrach Nova, die in nichts übertroffen werden wollte, auch nicht in Unhöflichkeit.

»Nein, ist er nicht. Wir haben die ganze Willkommen-zurück-in-der-Familie-Sache gemacht und …« Ihre Augen verloren den Fokus und weiteten sich dann.

»Etwas stimmt nicht«, sagte sie und war verschwunden, rannte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war.

Shan war einen Herzschlag danach hinter ihr, Nova an seiner Seite.

  

»Stimmt nicht« beschrieb es nicht annähernd.

Miri rannte, den Kopf voller Gewehrfeuer und tödlicher Schatten im Garten. Daav lag am Boden, Clonak direkt neben ihm und Val Con – Val Con …

Sie schlug auf den Türsensor und tauchte durch die Öffnung, schlug auf dem Boden auf und rollte hinter die Deckung der Hecke zur Rechten. Die Waffe bereit, überblickte sie den Garten.

Drei dunkle, seltsam stille Klumpen an drei weit voneinander entfernten Stellen waren Tote. Eine einzelne Gestalt neben dem von Ornamenten überzogenen Stein in der Mitte war der Scout namens Clonak ter’Meulen, der mit schneller Wildheit über einem weiteren Körper in Lederanzug arbeitete. Am entgegengesetzten Ende des Gartens schwang das Tor offen in seinen Gelenken.

Das Herz im Hals ging sie zum beschäftigten Scout hinüber.

»Wie schlimm ist es?«, fragte sie, als die Tür hinter ihr sich öffnete. Sie drehte sich rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Shan und Nova hindurchpeitschten, Rücken an Rücken, als ob sie das Rennen ihres Lebens laufen würden.

»Nichts, was ein Autodoc nicht wieder hinbekommt«, sagte Clonak, setzte sich auf seine Fersen und seufzte in völliger Erleichterung.

»Gut. Shan hilft, ihn zum Medcenter zu schaffen.« Sie wirbelte herum und überprüfte ihre inneren Sinne nach Val Con, lokalisierte ihn in einer Entfernung von ihrem Standort, sein Muster eine Mischung aus Angst, Dickköpfigkeit und reinem, verrücktem Adrenalin.

»Die Abteilung für Innere Angelegenheiten«, sagte Clonak und sie blieb nicht, um noch mehr zu hören, denn sie rannte los, rannte wie noch nie zuvor, nicht einmal, als Klamath um sie herum zerfallen war, heraus aus dem Tor und hinter Val her.

    

 

Tag 345,
Standardjahr 1392,
Hamilton Street,
Surebleak

 

•  •  •  •  •  

»Boss Conrad ist hier, um dich zu sprechen, Penn.«

Penn – Boss Penn Kalhoon, um genau zu sein – runzelte die Stirn und starrte auf die Buchführung, an der er gerade gearbeitet hatte. Er wartete darauf, dass der Lärm in seinen Ohren nachließ.

Boss Conrad war da. Er hatte gehofft – ach egal, was er gehofft hatte; es war dafür zu spät. Die Realität bestand darin, dass der Mann, der vor weniger als einem Monat aus Morans Gebiet niedergefahren war – der Mann, den alle nur den Boss-Killer nannten –, nun in seinem Territorium war, in seinem Haus gar. Penn Kalhoon hatte plötzlich das Bedürfnis, den Arbeitstag frühzeitig zu beenden.

Thera … würde es gut gehen, sagte er zu sich selbst. Conrad griff Bosse an, Straßenjungs und Personal, die zu einem Boss-Haushalt gehörten, waren den Berichten nach so sicher wie alle anderen, solange sie vernünftig genug waren, nicht die Waffen gegen Conrad und seine Leute zu ziehen.

Deacon war die Ausnahme gewesen. Conrad sprengte sein Haus, Boss und Crew gleichermaßen. Er wiederholte dies aber kein zweites Mal, wenn er etwas in die Luft jagte oder anzündete. Sie hatten wohl schlecht gezielt, als Deacon in seinem eigenen Kellerloch verreckte.

Penns Quellen berichteten auch, dass Deacon diese spezielle Aufmerksamkeit dadurch erlangt hätte, indem er etwas selbst für die eigenen Standards sehr Dummes getan hatte. Er hatte ein Team in Conrads Gebiet geschickt, um ihn umzubringen. Das Team hatte es nicht mehr zurück in Deacons Gebiet geschafft, aber es war ihnen vorher gelungen, mächtig Mist zu bauen, bevor es sie alle erwischt hatte: Sie töteten Conrads Sohn.

Recht überlegt kam Penn zu dem Schluss, dass Conrad Deacon das angetan hatte, was zu tun war, und keinesfalls weniger als das, was Penn getan hätte, wäre sein Kind getötet worden.

Er wünschte sich nur, der Typ wäre dann nicht völlig durchgeknallt und hätte sich nicht entschieden, anschließend jeden Boss auf diesem Planeten gleich auch noch auszulöschen.

»Penn?« Das war Marj, seine Stellvertreterin, die immer noch bei der Tür stand und nicht sehr ruhig wirkte. Er seufzte, legte den Stift weg, klappte das Notizbuch zu, rückte die Brille auf seiner Nase zurecht und sah auf.

»In Ordnung«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Bringe Boss Conrad bitte hinein und sag Dani, dass wir heißen Tee haben möchten – man hört, er mag Tee.«

Marj sah etwas weiß um den Mund herum aus. »Penn, das ist der Typ, der …«

»Ja, ich weiß, wer er ist«, unterbrach er sie. »Und was ich jetzt von dir verlange – egal, was passieren wird –, ist, mit Boss Conrad zu kooperieren. Verstanden? Du redest mit ihm, erzählst, wie du meine Stellvertreterin geworden bist und dass es dir eine Freude sein wird, ihm alles zu zeigen, was er sehen möchte. Sei schlau, okay? Du hast die Berichte gesehen – der Einzige, den er will, bin ich. Er wird gut für die Straßen sein – auch die Berichte hast du gesehen. Sei schlau, Marj, versprich es.«

Sie schluckte und hatte feuchte Augen. »Ich werde schlau sein, Penn.«

»Großartig.« Er nickte. »Nun soll er hereinkommen. Es ist nicht höflich, einen Gast warten zu lassen.«

  

In allen Berichten hatte gestanden, dass Boss Conrad eher klein gewachsen war, mit braunen Augen und braunen Haaren, einem blauen Ohrring, einem glitzernden Handring und einer Leidenschaft für hübsche Kleidung. All dies traf zu, aber Penn war trotzdem nicht recht auf die schlanke und elegante Person vorbereitet, die Marj in das Büro folgte. Sein Handlanger folgte ihm ruhig und gemessen direkt hinterher.

Der Handlanger – war die Frau. Natesa. Penn fühlte, wie sich ein Knochen in seinem Magen löste. Natesa war ein Profi, er musste sich keine Gedanken über eine verkorkste Hinrichtung machen. Sie würde schnell sein und sauber. Nicht, dass die Handkanone des großen Kerls den Job nicht auch erledigen würde, aber das würde nachher eine solche Schweinerei geben, die Thera sehr mitnehmen würde.

Um einiges erleichtert, stand er hinter seinem Tisch auf, ließ sie seine Hände gut sehen, und nickte höflich.

»Guten Tag, Sir. Ich bin Penn Kalhoon.«

Dunkelbraune Augen betrachteten ihn würdevoll aus einem alterslosen, goldenen Gesicht. Die Berichte schätzten, dass er in den Dreißigern war, und das kam offenbar auch so hin. Aber er hätte auch zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahre älter sein können.

Er neigte seinen Kopf, irgendwie eher formell, mehr als nur ein übliches Begrüßungsnicken.

»Guten Tag, Penn Kalhoon. Man nennt mich Conrad. Bitte verzeihen Sie, dass ich Sie bei der Arbeit störe.« Seine Stimme war sanft und von mittlerer Tonlage, richtig angenehm für das Ohr.

»Das ist in Ordnung, Sir. Ich habe Sie gewissermaßen erwartet.«

Die fein rasierten Augenbrauen zogen sich sanft zusammen. »Ah, ist das so? Ich frage mich, warum?«

Penn zuckte mit den Achseln. »Meine Quellen sagten mir, dass sie in diese Richtung unterwegs waren.« Das war die Wahrheit – es nützte nichts, diesen Mann anzulügen. Er würde sich über alles informieren müssen, und es war besser, es von dem zu hören, der es am besten wusste. Penn zeigte nach vorne.

»Ich wäre erfreut, wenn wir uns setzen könnten. Dani wird gleich mit etwas Tee bei uns sein.«

Die Augenbrauen bewegten sich erneut, diesmal nach oben. »Tee wäre mir sehr lieb«, murmelte er und setzte sich, elegant wie ein Mädchen. Seine Handlangerin nahm eine Position hinter ihm ein.

Penn sackte in seinen eigenen Sessel und fragte sich, was er jetzt noch sagen konnte. Dani enthob ihn einer sofortigen Entscheidung, als sie mit einem Tablett voller Tassen, einer Kanne und Keksen erschien. Sie stellte alles sofort auf den Tisch, ohne zu kleckern, was recht beachtlich war angesichts des starken Zitterns ihrer Hände. Dann warf sie Penn einen Blick aus geweiteten, ängstlichen Augen zu.

»Danke, Dani«, sagte er leichthin, als ob er mit Thera zu Mittag essen würde. »Wir bedienen uns selbst.«

»Ja, Sir, Boss«, flüsterte sie und floh, die Tür etwas zu hart hinter sich schließend.

Vorsichtig goss Penn Tee in eine der Tassen, nippte daran und biss in einen Keks. Damit hatte er seinen guten Willen bewiesen, füllte eine weitere Tasse und reichte sie über den Tisch.

»Ich danke Ihnen«, murmelte Boss Conrad und nahm einen Schluck, dann sah er Penn direkt an. »Ich hoffe, dass Sie mir vergeben, wenn ich gleich zum Zweck meines Besuchs komme.«

Penn schluckte den Rest seines Kekses.

»Sicher«, sagte er und auch für ihn klang seine Stimme etwas zittrig. »Sie sind ein beschäftigter Mann.«

»Wie Sie«, sagte Conrad. »Also gut, schnell: Ich bin hier, um Ihnen das Angebot einer Partnerschaft mit mir zu machen.«

Penn blinzelte, dachte, er hätte sich verhört, und wagte es, einen schnellen Blick auf die Professionelle zu werfen. Sie lächelte etwas und senkte ihren Kopf.

»Nun«, sagte Penn und nahm noch einen Schluck, um die Sägespäne aus seinem Mund zu spülen, »was für eine Partnerschaft wäre das?«

»Eine absolut ungewöhnliche Art von Partnerschaft – so glaube ich zumindest weiterhin, entgegen den Gefühlen jener, die es vorzogen zu sterben, anstatt sie zu akzeptieren.« Conrad nippte am Tee. »Ich dachte an freien Durchgang und Handel zwischen unseren Territorien und ein Zusammenlegen verschiedener Ressourcen zum Wohle aller. Sie werden weiterhin Ihr Gebiet verwalten, wie sie es so fähig in den letzten zehn Jahren getan haben, und ich die meinen, hoffentlich genauso gut.«

Penn blinzelte erneut, dann schüttelte er mit einem halben Lachen den Kopf. »Entschuldigung. Verstehen Sie, als Sie hier hereinkamen, da wusste ich, dass meine Tage gezählt waren. Es hat etwas gedauert, bis ich meine Konzentration wiedergefunden habe.« Etwas kam ihm in den Sinn und er schaute in Conrads sanftes, ruhiges Gesicht.

»Sie haben dies doch nicht auch all den anderen Bossen angeboten, oder doch?«

»Nein, nicht allen. Der verstorbene Boss Deacon hatte auf mich nicht den Eindruck hinterlassen, dass es gut wäre, mit ihm zusammenzuarbeiten. Die anderen jedoch – durchaus. Ich habe ihnen exakt das Gleiche angeboten.«

»Und sie haben abgelehnt?« Penn rieb seine Nase. »Wie dumm sind diese Leute?« Er winkte mit einer Hand. »Ich weiß, ich weiß. Dumm genug.« Er schloss seine Augen, schaute sich den Deal in seinem Kopf von allen Seiten an, von diesem und jenem Winkel, sah Profit, Wachstum und – ein Problem.

»Ich habe hart gearbeitet, um meine Straßen sicher zu halten«, sagte er vorsichtig. »Einige der Gebiete, die Sie sich an Land gezogen haben, waren ziemlich heruntergewirtschaftet, so wie ich gehört habe. Die Zollstationen können nicht jeden Ärger draußen halten, aber sie halten ihn unter Kontrolle.«

»Das ist wahr. Wir entwickeln derzeit eine Straßenpatrouille, die dann dafür sorgen wird, den Ärger im Griff zu haben. In der Zwischenzeit können die Zollstationen bleiben, wenngleich nur als Checkpoints. Reisende müssen anhalten und sich durchsuchen lassen, wie jetzt auch, aber es wird nicht mehr gezahlt.«

»Okay, so können wir es regeln – das geht.«

»Gut. Was halten Sie davon, wenn wir auch mit unseren Leuten handeln?«

Penn erstarrte. »Mit Menschen handeln?«

Boss Conrad bewegte seine Hand, sein großer Ring glitzerte. »Langsam. Ich meinte damit nur, dass es von Vorteil für Sie sein könnte – zum Beispiel –, wenn ich einen Braumeister, der in meinem Gebiet lebt, darum bitten würde, für einige Zeit in Ihrem Gebiet zu arbeiten, um sein Handwerk einem Ihrer Leute zu lehren. Auf der anderen Seite bedarf ich der Hilfe beim Aufbau von Schulen, wie Sie sie unterhalten. Wir haben derzeit ein System von … Wanderlehrern, die von Straße zu Straße ziehen, und jenen, die es lernen wollen, das Lesen beibringen. Ich würde gerne Besseres tun, aber ich muss lernen, wie.«

»Ich verstehe«, grinste Penn, nun positiv aufgeregt. »Und wenn Ihr Braumeister, sagen wir mal, seine Heimat nicht verlassen möchte, dann schicke ich ihm einen meiner Lehrlinge für einige Zeit herüber.«

Conrad lächelte schwach. »Genau.«

»Okay, das ist der einfache Teil.« Penn sah den Mann ernsthaft an. »Wo liegt der Haken?«

Ein weiteres Lächeln, diesmal nicht mehr so schwach. »Der Haken ist, dass es mein Ziel ist, die gesamte Hafenstraße zu sichern, und ich erwarte von Ihnen, dass Sie Ihren Teil so sichern, dass alle freie Passage haben. Ich werde Ähnliches tun.«

Die Hafenstraße ging quer mitten durch Penns Gebiet und war so sicher wie alle anderen seiner Straßen.

Aber …

»Wir sind im Norden durch Ivernet abgeschnitten und im Osten durch Whitman. Ich kann meinen Teil der Straße sichern, kein Problem, aber niemand wird aus Ivernets Gebiet kommen. Whitman – ich kann mit Whitman reden, wenn Sie wollen. Sie ist keine, die einen Profit ausschlägt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Aber Ivernet – verdammt, Ivernet ist verrückt.«

»Ah ja. Wie dem auch sei, ich werde Boss Ivernet besuchen und ihm das Angebot machen. Wenn der Handel ihm nicht zusagt, dann werden Maßnahmen ergriffen.«

Penn schüttelte seinen Kopf. »Sie sind tapferer als ich«, sagte er.

»Eher ein Narr, denke ich.« Conrad lehnte sich nach vorne, um seine Tasse auf den Tisch zu stellen, und erhob sich würdevoll und elegant. Penn stand ebenfalls auf und fühlte sich, als würde sein ganzer Körper grinsen.

»Es scheint, als hätten wir uns grundsätzlich geeinigt«, sagte Conrad und neigte den Kopf zur Seite. »Natesa.«

Die Frau bewegte sich. Penn hatte Zeit für einen scharfen Anfall von Angst, ehe er sah, dass die Frau keine Waffe in der Hand hielt, sondern ein tragbares Funkgerät.

Zittrig nahm er es entgegen.

»Wenn Sie mit mir sprechen müssen – ein Rat, ein Notfall –, dann einfach die Vier drücken. Wenn ich mich mit Ihnen besprechen möchte, werde ich anrufen und Ihr Funkgerät wird drei Ruftöne erklingen lassen, von tief zu hoch. Ist das akzeptabel?«

»Akzeptabel«, krächzte Penn.

»Gut. Und nun will ich mich verabschieden und Ihnen die Möglichkeit geben, Ihre Arbeit fortzusetzen. Guten Tag, Penn Kalhoon. Es ist mir eine Freude, mit Ihnen Geschäfte zu machen.«

»Guten Tag, Sir. Ma’am.« Er hob seine Stimme. »Marj!«

Die Tür öffnete sich so schnell, dass er wusste, dass sie direkt am Rahmen gelauscht haben musste. Ihr Gesicht war kalkweiß, aber sie grinste so breit, als wolle sie alle darin übertrumpfen.

»Marj, Boss Conrad und seine Stellvertreterin verlassen uns jetzt. Bitte geleite Sie runter zur Tür.«

»Ja, Sir!«, sagte sie zackig und richtete ihr Grinsen auf den Mann und die Frau. »Hier entlang, Mr. Conrad.«

Sie folgten ihr ohne einen Blick zurück und Penn sackte auf seinen Sessel zurück und erfreute sich an der simplen Tätigkeit des Atmens.

Nach einer Weile begann sein Gehirn zu arbeiten, wie es das immer tat, und er schüttelte den Kopf. Er würde Ivernet besuchen, tatsächlich? Diese Natesa war hoffentlich eine verdammt gute Schützin.

    

 

Tag 345,
Standardjahr 1392,
Jolies Haus der Freude,
Surebleak

 

•  •  •  •  •  

»Häuser in Ivernets Gebiet?« Wyn, ihr Gastgeber an diesem Abend, schüttelte bedauernd seinen Kopf. »Es gibt keine Häuser in Ivernets Gebiet, Mr. Conrad. Wir hören, dass es überhaupt wenig in Ivernets Gebiet gibt – jedenfalls nichts, was jemand wirklich haben will. Wenn man stattdessen über Whitmans Territorium reden würde, wären wir erfreut, Sie auf Mirabells Haus hinweisen zu dürfen.«

»Nun«, murmelte Pat Rin. »Mir ist derzeit eher danach, Boss Ivernet zu besuchen.«

Wyn schaute seine Partnerin an, die Jolie, die dem Haus den Namen gegeben hatte. Er seufzte.

»Mr. Conrad, Wyn hat recht – es gibt nichts in Ivernets Gebiet, was Sie wollen. Wir hatten – wie lange ist es her, Wyn? Zwei Jahre? Drei? Als die Kids da rauskamen?«

Seine hohe Stirn runzelte sich nachdenklich. »Oh, verdammt, ja, ich erinnere mich an sie. Drei Jahre muss es her sein – mitten im Winter.«

Jolie nickte, lehnte sich nach vorne und berührte Pat Rins Ärmel sanft mit bleichen Fingern.

»Zwei Kinder waren es. Sie hatten es geschafft, Ivernets Gebiet zu entkommen, wie Wyn es sagte, mitten im Winter, ihre Füße in Lumpen gewickelt und ohne ein vollständiges Stück Kleidung am Leib. Wie sie an den Zollstationen vorbeigekommen sind, haben wir nie herausgefunden. Eines haben wir sofort verloren – sie war bloß noch Haut und Knochen, total unterkühlt –, wir konnten sie nicht mehr warm bekommen, und ich sage Ihnen, wir haben sie mit jeder Decke zugedeckt, die wir im Haus hatten, mit Nuce und Silbey an ihrer Seite. Was auch immer wir taten, es reichte nicht – sie war so fertig aufgrund der Drogen und des schlechten Essens und der Flucht durch den Schnee, um in Sicherheit zu gelangen …« Sie wandte ihr Gesicht ab, um sich wie eine ordentliche Liaden-Frau von der allzu offensichtlichen Zurschaustellung ihrer Gefühle zu erholen.

»Nun«, sagte sie nach einem Moment, richtete die blauen Augen, nun feucht, wieder auf ihn. »Das zweite überlebte etwas länger – lange genug, dass wir beinahe glaubten, es würde durchkommen. Lange genug, um uns zu erzählen, wie es da drüben ist.« Sie presste ihre Finger fester um seinen Ärmel und zog sie dann zurück.

»Mr. Conrad, es ist ein Höllenloch da drüben. Einfach nur zu sagen, dass Ivernet verrückt ist, reicht nicht aus, um es zu beschreiben. Es gibt Drogen – etwas, was man ›Nirf‹ nennt – und die meisten nehmen das Zeug, weil es das Hungergefühl bekämpft. Es gibt keine Häuser, genauso, wie Wyn es geschildert hat. Einige arbeiten für alles, was sie kriegen können – und meistens ist das Nirf. Es gibt auch keine nennenswerte Wirtschaftstätigkeit, wie wir sie hier in Boss Penns Gebiet kennen – oder in Ihren Gebieten, Sir. Das liegt daran, dass niemand weiß, wann Ivernet austickt und er und seine Leute auf die Straßen strömen, um jagen zu gehen, wie sie es nennen. Dann werden Häuser entzündet, damit es genug Licht zum Sehen gibt.«

Es schien in der Tat eine gute Beschreibung eines Höllenlochs zu sein, dachte Pat Rin, dankbar für die geduldige Gegenwart Natesas, die still zu seiner Rechten stand. Die Beschreibung war in der Tat so gut, dass er sich selbst erlaubt hätte, nur Boss Whitman zu besuchen, würde diese Option ernsthaft existieren. Die Notwendigkeit aber diktierte etwas anderes.

»Ich bin gewarnt«, murmelte er. »Aber, wie es nun einmal so ist, es gibt eine Sache, die Boss Ivernet unter Kontrolle hat und die mich interessiert. Die Hafenstraße geht durch sein Gebiet.«

»Ja, das tut sie«, sagte Wyn, der nun etwas aufrechter saß, seine Augen voller Interesse. »Sie wollen die Straße sichern?«

»Das will ich«, sagte Pat Rin erfreut. »Ich habe die Absicht, sie vom Zentrum bis zum Raumhafen zu sichern, mit freier Passage für alle.«

Wyn pfiff. »Sie haben mit Penn darüber gesprochen?«

»Das war der Anlass meines Besuches. Mr. Kalhoon und ich haben diese Angelegenheit am Nachmittag besprochen und gelangten zu einer für alle vorteilhaften Übereinkunft«, sagte Pat Rin und fühlte, wie sich Natesa neben ihm bewegte. »Bitte sprechen Sie selbst mit ihm und stellen Sie jede Frage, die sie bewegt. Ich bin mir sicher, dass ein Boss, der sein Gebiet so gut verwaltet wie Mr. Kalhoon, sich oft mit seinen Leuten trifft.«

»Penn ist der beste Boss in neun Territorien«, versicherte Wyn warm und schüttelte seinen Kopf. »Audrey sagte uns, dass Sie jemand sind, der den Wandel vorantreibt.« Er sah seine Partnerin an. »Wir haben es versucht, Jolie. Audrey sagte ja, er sei zudem sehr dickköpfig.«

»Ja, das sagte sie. Und sie meinte, er wäre gut für das Geschäft, was sich ändern wird, wenn er in Ivernets Gebiet getötet wird.« Sie blickte ihn an, etwas Röte stand auf ihren Wangen. »Nicht, dass das meine Entscheidung wäre, wirklich, oder ich etwa sagen möchte, Ms. Natesa sei nicht professionell genug …«

»Ich danke Ihnen für Ihre Sorge«, sagte Pat Rin aufrichtig, »aber meine Pläne stehen fest.«

»Und deswegen ist er ein Boss«, beendete Wyn die Diskussion und schlug breit und erfreut grinsend auf den Tisch. »Kommen Sie doch bitte wieder bei uns vorbei, wenn Sie zurückkehren. Wir würden uns freuen, Sie beide wiederzusehen.«

Mit einem warmen Gefühl neigte Pat Rin den Kopf.

Audrey hatte ihn natürlich im Haus von Jolie und Wyn eingeführt, genauso, wie sie es bei den anderen sechs Bordellen in den sechs Gebieten, die ihm jetzt entweder gehörten oder mit ihm verbündet waren, getan hatte.

Alle Hausvorstände waren freundlich gewesen, aber keiner außer Audrey – und diesen beiden hier – hatte so etwas wie persönliche Sorge gezeigt. Warum sollten sie auch? Bosse kamen und Bosse gingen, und selbst ein Boss, der gut fürs Geschäft war, würde eines Tages ermordet werden.

»Ich danke Ihnen«, sagte er nochmals und neigte seinen Kopf. »Es wird mir eine Freude sein, unsere Bekanntschaft bei meiner Rückkehr zu erneuern.«

»Dann ist es abgemacht«, sagte Wyn, erhob sich mit Jolie an seiner Seite. Pat Rin stand auch aus Respekt vor seinen Gastgebern auf, ebenso wie Natesa.

»Es ist Zeit für uns, auf den Gang zu gehen und dafür zu sorgen, dass alle ruhig bleiben«, sagte Jolie. »Wenn Sie Gesellschaft mögen, haben Sie die freie Auswahl – es geht aufs Haus. Wir haben ein Frühstücksbuffet für die frühen Gäste vorbereitet – wie auch für jene, die spät nach Hause gehen. Auch dazu sind Sie eingeladen.«

»Sie sind großzügig«, murmelte Pat Rin. »Ich habe heute Abend kein Bedürfnis nach Begleitung, aber vielleicht möchte sich Natesa vergnügen.«

»Wie es Ihnen gefällt«, sagte Wyn. »Ich werde Sie zu Ihrem Raum bringen und dafür sorgen, dass die Türsteher wissen, wer Sie sind. Personalunterkünfte, hinten im Haus. Wir haben hier selten Ärger, aber manchmal verliebt sich ein Kunde in jemanden vom Personal und macht etwas zu viel Lärm.« Er winkte mit einer Hand und bedeutete Pat Rin, ihn zu begleiten.

Er tat es, sehr sorgfältig darauf bedacht, Natesa nicht anzuschauen, die jede Freude verdiente, derer sie sich hier bedienen mochte, an einem Ort, der so sicher war, wie er auf Surebleak nur sein konnte, zu Beginn eines Vorhabens von großer Gefahr, wenn nicht außerordentlicher Dummheit.

Und daher entging ihm auch das subtile Schimmern in den nachtschwarzen Augen, die ihn nachdenklich betrachteten, als er den Raum verließ.

  

Sie kam so »nackt« zu ihm, wie sie es selbst in den diversen Träumen nicht getan hatte, die er zu diesem Thema gehabt hatte, und trug eine Flasche Wein und zwei Gläser bei sich.

Pat Rin, aufgeschreckt von seiner Arbeit am Logbuch, selbst ohne Jacke und den meisten seiner Waffen, öffnete die Tür, nachdem sie geklopft hatte, und starrte dann nur noch.

»Etwas nicht in Ordnung?« Natesas volle Stimme trug einen gar nicht subtilen Unterton von Gelächter.

»Keinesfalls«, versicherte er ihr und schüttelte sich mental, um seine Selbstbeherrschung wieder herzustellen. »Ich versuchte nur gerade, mich daran zu erinnern, ob ich dich jemals so ganz ohne Waffen gesehen habe.«

»Ah«, lächelte sie diesmal und zeigte ihm die Gläser. »Darf ich hereinkommen? Jolie meint, dieser hier sei durchaus trinkbar.«

»Meint sie?« Er machte einen Schritt zurück, erlaubte ihr einzutreten und betrachtete sie, wie sie zum Tisch spazierte, bewunderte ihre subtile Schönheit, schlank und viel zu erregend in dem cremefarbenen, kurzen Shirt und der eng anliegenden schwarzen Hose. Mit Gewalt wendete er seine Augen ab und schloss die Tür.

Als er zu ihr an den Tisch trat, hatte sie das Logbuch bereits geschlossen und zur Seite gelegt, um Platz für die Gläser und den Wein zu schaffen.

»Ich bin keinesfalls völlig unbewaffnet«, murmelte sie, als er an ihre Seite trat. »Genauso wenig wie Sie.« Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Selbst in der Gegenwart von Freunden bleiben wir wachsam. Wir sind bedauernswert.«

»Und werden sicher bedauert«, stimmte er zu, als sie ein Weinmesser aus ihrem Gürtel holte und sich um den Korken kümmerte.

»Ich frage mich, warum Sie hier sind«, sagte er dann, als er beobachtete, wie ihre langen, klugen Finger das Messer benutzten. »Verstehen Sie mich nicht falsch – es ist mir eine Freude, Wein mit Ihnen zu trinken. Es erschien mir nur so, als hätten Sie sich für die Vergnügungen des Hauses entschieden.«

»Ah, ja.«

Ein glitzernder Blick aus schwarzen Augen, als sie den Korken herausholte und den Wein atmen ließ. »Das war nicht sehr gut gemacht von Ihnen.«

»War es nicht?«, fragte er in völliger Dummheit. Es wäre besser gewesen zu leugnen, überhaupt etwas getan zu haben. Viel besser, so zu tun, als hätte er sie nicht verstanden.

»Nein«, erwiderte sie. »War es nicht.« Sie griff nach einem Glas, ihr Ärmel berührte den seinen – ein leises Flüstern von Stoff auf Stoff, und keine Linderung für das helle Flackern seiner Nerven.

Der Wein wurde eingeschenkt, sauber und ohne große Gestik. Natesa überreichte ihm ein Glas. Sie hielt das andere, trank aber noch nicht, stand einfach nur da und schaute ihn mit einem ernsthaften Gesichtsausdruck an.

»Sie verweigern sich den Vergnügungen dieses Hauses, oder?«

Er neigte den Kopf und erlaubte sich, amüsiert zu wirken. »Sicher. Ich bin der Boss und es wartet immer Arbeit auf mich.«

»Ja, natürlich.« Sie hob ihr Glas – ein terranischer Toast – und er tat es ihr gleich.

»Auf unseren morgigen Erfolg!«

»Auf unseren morgigen Erfolg!«, wiederholte er und sie tranken.

»Haben Sie Befürchtungen, was das Ergebnis unserer morgigen Aktion betrifft?«, fragte er, nachdem sie erneut am Wein genippt hatten, das Aroma eines wahrhaft guten Weins genossen – nicht vergleichbar mit dem süßen, aber völlig falsch bezeichneten Herbstwein.

Sie lachte leicht und setzte sich voller Eleganz und Würde in den einzigen Stuhl im Raum. Pat Rin lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch und schaute hinunter in ihr Gesicht. Seine Finger waren erfüllt von der Sehnsucht, ihre sanfte Wange zu berühren – was jenseits Idiotie war, schon nahe an völliger Verrücktheit. Er nahm noch etwas von dem Wein, um die Vernunft zu stärken, die ihm noch blieb.

»Erfolg ist niemals sicher«, sagte Natesa ernsthaft, im Gegensatz zu ihrer nach außen wirkenden Gelassenheit. »Und morgen geht es gegen jemanden, der weder vorhersehbar noch ausgebildet ist, was für zusätzliche Gefahr sorgt.«

»Wir wissen darüber Bescheid und haben entsprechend geplant«, erklärte er. »Wir werden nicht nackt vor Boss Ivernet stehen und wir werden Verstärkung in Reichweite haben.«

»Wohl wahr – und dennoch ist es ratsam, vorsichtig zu sein. Tatsächlich hätte ich, wenn ich die Antwort nicht schon kennen würde, vorgeschlagen, dass Sie hier einen schönen Urlaub verbringen, während ich mit Mr. McFarland und einem kleinen Team aufbreche, um die Sache zu regeln.«

Er antwortete nicht sofort, studierte vielmehr aufmerksam ihr Gesicht. Sie erwiderte seinen Blick, weitete ihre Augen ein wenig, bewegte die Lippen zu einem sanften und unmissverständlich verführerischen Lächeln.

Er verstand, dass sie ihn dafür bestrafen wollte, dass er sie den Vergnügungen des Hauses hatte überlassen wollen. Er holte tief und vorsichtig Luft, kühlte bewusst die Hitzewallungen seines Blutes. Ausgleich war ihr Recht, da sie offenbar der Ansicht war, er habe eine Grenze überschritten. Aber Ausgleich verlangte nicht von ihm, sich wie ein Narr zu verhalten.

Also, zum Geschäft. »Wir haben das doch besprochen. Es ist meine Absicht, jedem Boss meinen Handel anzubieten. Extreme Gewalt ist jenen vorbehalten, die gewaltsam ablehnen. Wir können nicht einfach jemanden nur aufgrund seines Rufs ermorden. Es mag sein, dass man ihn … missverstanden hat – auch, wenn ich zugeben möchte, dass dies unwahrscheinlich ist. Wir können trotzdem nicht so tun, als wäre es unmöglich. Sollen wir mal jene zählen, die heute glauben, dass Jonni mein echter Sohn war, seine tote Mutter meine Frau, von der ich durch schlimme Umstände zu lange getrennt gewesen bin?«

Sie neigte ihren Kopf. »Das ist wahr. Dennoch möchte ich nicht, dass Sie sich in unnötige Gefahr begeben. Wenn Boss Ivernet harmlos und missverstanden ist, dann wird es keinen Schaden anrichten, erst einmal einen Botschafter zu entsenden. Wenn er so sein sollte wie berichtet, würde eine ordentliche Vorhut dafür sorgen, dass Ihr Leben geschützt bleibt.«

Sie leerte ihr Weinglas und erhob sich. Sanft stellte sie das Glas auf den Tisch und wandte sich ihm zu, Entschlossenheit in den Augen.

Pat Rin stellte auch sein Glas hin, bewegte sich fort vom Tisch – zu spät, sie war bereits einen Schritt auf ihn zugegangen und ihm nun sehr nahe. Ihre Hüfte berührte seine Seite, ihre Hand hob sich langsam und immer in seinem Blickfeld zu seiner Wange.

So viel zum Thema Ausgleich, dachte er.

So viel zu Ehre und richtigem Handeln. Verlangen elektrifizierte sein Blut.

Er schaute nach oben in ihre Augen und wusste, dass er verloren war – wusste, dass er nicht verlieren durfte.

»Inas«, flüsterte er. »Inas, bitte nicht.«

Ihre Hand hielt inne. »Warum?«

»Weil … weil ich Ihren Eid halte«, brachte er hervor, obgleich seine Stimme peinlich zitterte. »Ich möchte Sie nicht entehren.«

Etwas bewegte sich in ihrem Gesicht. Von den eigenen Emotionen überwältigt, konnte er nicht erkennen, was es bedeutete.

»Ah«, sagte sie sanft, ihr Atem warm an seiner Wange. »Ich verstehe.« Ihre Hand bewegte sich, ein leichter Finger berührte den Edelstein in seinem Haar, dann trat sie zurück, verbeugte sich auf terranische Art, ohne jede Nuance in der Aussage.

»Pat Rin, gute Nacht. Schlafen Sie tief und träumen Sie gut.«

»Schlafen Sie gut, Inas«, gab er zurück und sah, wie sie sich leichtfüßig abwandte und seinen Raum verließ.

    

 

Tag 346,
Standardjahr 1392,
Industriestraße,
Surebleak

 

•  •  •  •  •  

Gwince lenkte das Fahrzeug zu etwas, das wie ein Bordstein aussah, zog die Bremse und sah auf. Pat Rin konnte ihren besorgten Blick im Rückspiegel erkennen.

»Boss, ich mag diese Straße nicht besonders.«

Was aus dieser Frau jemanden mit großer Voraussicht machte, dachte Pat Rin. Während seiner vergangenen Reisen hatte er miese Gegenden erlebt – sehr miese Gegenden sogar.

Diese Straße hier aber war – eine Beleidigung für jeden, der Ehre hatte, ein Schandfleck im Auge, ein Leid auf der Seele.

Ausgebrannte Gebäude säumten beide Seiten der aufgerissenen Straße, die zerbrochenen Fenster öffneten sich wie zahnbewehrte Eingänge in schwarze und bodenlose Schlünde. Es gab keine Bäume, keine Blumen, wie man sie in einigen Straßen von Penn Kalhoons Gebiet zu Gesicht bekam. Es gab auch keine Fahrzeuge auf der Straße und keine Menschen, von ihnen selbst einmal abgesehen.

Ein Haus stand dort, weder verbrannt noch verwüstet, allein am Rand der erbarmungswürdigen Straße: Ein großer, grauer Klotz, bewacht durch einen rostigen Zaun, der mit glitzernden Metallzacken bedeckt war.

»Nun gut«, sagte er und machte sich bereit. Er drehte sich um, begegnete Natesas Blick. Sie senkte ihren Kopf, Lehrling zum Meister, ohne jede Ironie.

»Gwince, bitte kontaktieren Sie Mr. McFarland und teilen Sie ihm mit, dass er sein Team näher bringen soll. Natesa und ich werden nachsehen, ob Boss Ivernet daheim ist.«

Gwince biss auf ihre Lippe. »Boss, es wäre vielleicht eine gute Idee, zu warten, bis Mr. McFarland hier ist.«

»Ruf an«, sagte er wegen ihrer Sorge geduldig. »Er wird sicher nicht das Feuer eröffnen, ehe er nicht weiß, wer sich nähert.«

Er lag falsch.

Er hatte genau fünfzehn Schritte entlang des zertrümmerten Bürgersteigs in Richtung des Hauses gemacht, Natesa hinter ihm, als die erste Kugel an seinem Ohr vorbeizischte. Er fand sein Ziel, feuerte und sprang im selben Moment nach vorne, landete schwer auf seiner Schulter hinter einem Haufen zerbrochenem Beton, der einstmals Teil einer Mauer gewesen sein mochte.

Die Luft war nun voller Geschosse, schnarrend und jaulend, die von seiner schwachen Deckung abprallten. Pat Rin lehnte sich zur Seite, fand ein Ziel, feuerte, duckte sich wieder, das Gesicht mit Betonstaub bedeckt. Er schaute erneut hervor und erstarrte.

Natesa lag ohne jede Deckung und ohne Bewegung auf dem Bürgersteig, der zum Haus führte. Als er sie ungläubig anstarrte, schlug eine Kugel in den Stein direkt vor ihrem Kopf ein. Er konnte nicht sagen, ob sie noch am Leben war – nein, ihre Hand! Da hatten sich ihre Finger doch in Richtung ihrer heruntergefallenen Waffe bewegt!

Weitere Kugeln schossen heran und er duckte sich wieder, maß die Entfernung mit seinen Augen, ignorierte die alte, kritische Stimme, die ihm sagte, dass er zu langsam war, viel zu langsam. Er würde nicht scheitern. Er würde sie niemals da draußen sterben lassen.

Vorsichtig steckte er seine Waffe fort. Vorsichtig kam er auf seine Füße. Der Sturm der Kugeln ließ etwas nach, er fokussierte sich ganz auf die regungslose Gestalt auf dem zerbrochenen Asphalt, holte Luft – und rannte.

Rasch und verzweifelt erreichte er ihre Seite, hob sie auf seine Arme und warf sich zurück hinter den fragwürdigen Schutz zerbrochenen Betons.

Er hätte es beinahe geschafft.

– Fortsetzung folgt –