3. Personen

Das Stück spielt in einem kleinen, absolutistisch regierten Fürstentum in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Der Regierungssitz in einer kleinen Residenzstadt und das Lustschloss in der näheren Umgebung geben die Haupthandlungsorte ab. Der Zuschauer oder der Leser wird also in die höfische Welt des Adels versetzt. Die Haupt- und Titelfigur des Trauerspiels, Emilia Galotti, gehört jedoch nicht in diesen Kreis. Die Familie Galotti steht für die bürgerliche Welt außerhalb und unterhalb des höheren Adels, auch wenn nicht genau zu bestimmen ist, ob die Galottis »begüterte Bürger oder kleine Adlige«4 sind. Odoardo, der Vater, wohnt auf seinem Landsitz; Mutter und Tochter haben vorübergehend eine Wohnung in der Stadt genommen.

Hettore Gonzaga – der Prinz. Als Erster des Staates, als Fürst, ist der Prinz die ranghöchste Person des Stückes. Er ist nicht etwa, wie das Wort heute zu verstehen gibt, Thronanwärter, sondern der von keinem Gesetz und keinem Parlament abhängige, souveräne Monarch. Er ist unangefochten: Von noch lebenden Vorfahren oder von fürstlichen Konkurrenten oder gar revolutionären Bewegungen ist nirgendwo die Rede. Seine Stellung ist gesichert; er braucht auf niemanden Rücksicht zu nehmen.

Seiner Aufgabe, den Staat zu lenken, geht er betont lustlos nach. Sich mit »Klagen« und »Bittschriften« (I,1) beschäftigen zu müssen hält er für ärgerlich. Er fällt seine Entscheidungen ziemlich willkürlich. Von Verantwortungslosigkeit zeugt, wenn er sozusagen im Vorübergehen bereit ist, ein »Todesurteil« (I,8) zu unterschreiben. Bei einer solchen Einstellung mutet es grotesk an, wenn er Conti, dem Maler, vorhält, dass »der Künstler […] auch arbeiten wollen« (I,2) müsse. Der Fürst benutzt die Aussage »Ich bin beschäftiget« (IV,4 und 5) nur als Ausrede, um einem Gespräch mit der Gräfin Orsina auszuweichen. Ebenso willkürlich, wie er mit politischen und gerichtlichen Entscheidungen umgeht, verfährt er mit der Staatskasse. Er lässt den Maler Conti bestimmen, welchen Preis er für seine Bilder haben wolle, und verweist ihn an seinen »Schatzmeister«, der auf »Quittung […] bezahlen« (I,4) werde, was der Maler fordert.

Diese scheinbar souveräne Stellung macht den Prinzen jedoch keineswegs glücklich. Er versteht nicht, dass man ihn und die Fürsten allgemein »beneidet« (I,1). Für ihn steht fest, dass er in einem entscheidenden Lebensbereich unfreier und stärker eingeschränkt ist als alle Personen um ihn herum. Er klagt, dass seine »Vermählung mit der Prinzessin von Massa« bevorstehe und dass sein »Herz […] Opfer eines elenden Staatsinteresses« (I,6) werde. Er hat die Beziehung zu seiner Geliebten, der Gräfin Orsina, aufgegeben und fühlt sich einerseits »behäglicher« und »besser« (I,3). Andererseits ist er von einer neuen Liebe schon besetzt. Als er dem von Conti gemalten Porträt der Emilia Galotti gegenübersteht, bricht es aus ihm heraus: »Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur!« (I,5). Von den Folgen dieses Wunsches, sich um jeden Preis in den Besitz dieser heiß geliebten Emilia Galotti zu bringen, handelt das folgende Drama.

Der Prinz hat Emilia Galotti bei einer Abendgesellschaft seines Kanzlers kennen gelernt, ist offensichtlich in seinem Herzen empfindlich getroffen worden und hat dann noch einige Male Gelegenheit gehabt, die junge Frau in der Kirche von fern zu sehen, während es der Anstand verbot, sie anzusprechen. Um sie tatsächlich für sich zu gewinnen, bedarf es der Intrigen seines Kammerherrn Marinelli, der sich dazu bereitwillig zur Verfügung stellt. Während dieser Marinelli seinen Plan ausheckt, versucht der Prinz noch einmal, eine persönliche Begegnung zu arrangieren: Er lauert ihr in der Kirche auf, flüstert ihr gegen jede Sitte und gegen jeden Anstand sein Liebesgeständnis zu und versucht, sie nach der Messe auf dem Kirchplatz zu sprechen. Aber dies wird von Emilia keineswegs als galantes Gerede, sondern als so unerhörter Angriff empfunden, dass alle Bemühungen des Prinzen nun aussichtslos sind, Emilia auf höfliche Art von seiner Liebe zu überzeugen. Nur das »Bubenstück« Marinellis bringt Emilia in die Nähe des Prinzen.

Indem sich der Prinz seines Kammerherrn, des Marquese Marinelli, als Handlanger bedient und ihm alle Handlungsfreiheiten gewährt, ihm sogar zusichert, alle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen, macht er sich schuldig. Er, der sich um jeden Preis in den Besitz Emilias bringen wollte, ohne sich selbst die Finger schmutzig zu machen, wird nun vor der Welt als der eigentliche Mörder des Grafen Appiani dastehen, obwohl dieser Mord allein das erklärte Ziel Marinellis war. Der Prinz, der nach eigenem Eingeständnis nichts »gegen kleine Verbrechen« hat, ist letzten Endes Urheber des Verbrechens, bei dem Graf Appiani, der Bräutigam Emilias, und Nicolo, der Helfershelfer Marinellis, umkommen. Indirekt ist er auch der Urheber von Emilias Tod, die von ihrem Vater erstochen wird, um der Schmach zu entgehen. Die Zerstörung der Familie Galotti geht ganz zu seinen Lasten.

Die Abhängigkeit des angeblich souveränen Prinzen ist größer, als zunächst deutlich wird. Er ist nicht in sich gefestigt, vielmehr seinen Begierden und Leidenschaften ausgeliefert. Er ist auf seine Räte, seinen Kanzler, den Schatzmeister und die Bedienten angewiesen. Während er jedoch in Camillo Rota einen Rat hat, der ihn vor Unbedachtsamkeiten bewahrt und ihn vor seiner eigenen Leichtfertigkeit schützt, gerät er dadurch, dass er seinem Kammerherrn vertraut und ihn selbstständig planen und handeln lässt, in die schlimmsten Verstrickungen. Der Prinz selbst weicht jeder Auseinandersetzung aus: Er verweigert der Gräfin Orsina eine Unterredung; er fürchtet die Konfrontation mit Odoardo; er traut sich nicht, die ins Lustschloss gebrachte Emilia »wieder anzureden« (III,3), und überlässt auch das Marinelli. Er macht sich zu spät klar, dass er vor der »Mutter«, vor »Emilia« und vor der »Welt« als der eigentliche »Täter« dastehen wird und dass man Marinelli, der den Plan hatte, und Angelo, der den Schuss auf den Grafen abgab, nur als »Werkzeug« (IV,1) ansehen wird. Dieser Fürst ist schwach, empfindsam und galant, aber nicht fähig, Verantwortung zu übernehmen.

Als Alleinherrscher, der nicht an Gesetze gebunden ist und keinem Parlament Rechenschaft schuldig ist, ist er im staatsrechtlichen Sinn ein Tyrann. Nicht allein Brutalität und Gewaltherrschaft machen einen Tyrannen aus, sondern jene Art der Willkürherrschaft, die vorzüglich auf den eigenen Vorteil bedacht ist. Am Ende kommt der Prinz zu der Einsicht, dass es »zum Unglücke so mancher« ist, »dass Fürsten Menschen sind« (V,8). Er mag dabei erkennen und bedauern, dass seine Liebe zu Emilia, als menschliche Schwäche gedeutet, Emilia und ihre Angehörigen ins Unglück gestoßen hat. Dabei verkennt er allerdings, dass es sein Vorsatz war, sie um jeden Preis zu besitzen, und dass seine Möglichkeiten, dies mit Hilfe seiner Werkzeuge gegen Gesetz und Anstand tun zu können, es waren, die ihn als Menschen disqualifiziert und als Tyrannen bloßgestellt haben. Diese Einsicht fehlt, sein Selbstmitleid ist lediglich ein Beleg für seine Uneinsichtigkeit.

Marinelli – der Kammerherr. Als Marquese gehört Marinelli dem Adel an. Die italienische Bezeichnung, die auf das deutsche Wort Markgraf zurückgeht, ist mit dem deutschen Grafen-Titel zu vergleichen. Vom Prinzen wird Marinelli ohne Titel angeredet; im Umgang mit Leuten niedrigeren Standes besteht der Marquese auf korrekter Anrede mit Titel (III,8).

Am Hof übt er die Rolle eines Kammerherrn aus. An fürstlichen Höfen der damaligen Zeit war es durchaus üblich, dass der Souverän Adlige als Kammerherrn um sich hatte, die zu Diensten aller Art herangezogen werden konnten. Sie ordneten den Tageslauf des Fürsten und begleiteten ihn bei Dienstgeschäften und bei allen Veranstaltungen des Hofes. In seinem Namen empfingen sie auswärtige Gäste und machten Aufwartungen an fremden Höfen. Sie waren an der Gestaltung des Hoflebens entscheidend beteiligt und meist über alles und jeden genau informiert.

Marquese Marinelli darf als die rechte Hand des Prinzen angesehen werden. Der Prinz lässt ihn am frühen Morgen rufen, sich von ihm berichten und raten und weiht ihn in seine persönlichen Dinge ein. Doch sieht er in ihm keinen Freund – »O ein Fürst hat keinen Freund! Kann keinen Freund haben!« (I,6) –, sondern einen besonders treuen und zuverlässigen Diener. Er begibt sich ganz in seine Hand – in dem Augenblick, in dem er ihm genehmigt, alles zu tun, was dazu beiträgt, ihm, dem Prinzen, Emilia Galotti zuzuspielen.

Dem Marquese kommt dieser Auftrag entgegen. Er ist einerseits enttäuscht, vom Fürsten nicht als Freund eingeschätzt zu werden; andererseits ist er als Höfling darauf aus, möglichst viel Macht am Hof und einen möglichst großen Einfluss auf das Denken und Handeln des Fürsten zu gewinnen. Dabei kommt ihm zugute, dass er einen eigenen persönlichen Diener hat und dass er über Kontakte zu Leuten aus der Unterwelt verfügt, die gegen angemessene Bezahlung für Mord und Entführung zu haben sind. Kein anderes Interesse hat Marinelli, als seinem Herrn alle Möglichkeiten zu eröffnen, an das Ziel der geheimsten Wünsche zu gelangen. Der Plan, der Emilia zugänglich machen soll, indem der Bräutigam durch einen amtlichen Auftrag gebunden wird, ist zwar gemein, aber nicht kriminell. Als dieser erste Streich jedoch misslingt, schreckt Marinelli aber auch vor Kapitalverbrechen nicht zurück.

Moralische Bedenken scheint Marinelli nicht zu kennen. Er versteht die Skrupel des Prinzen in Dingen der Liebe nicht und meint, dass »neben so einer Gemahlin […] die Geliebte noch immer ihren Platz« haben könne und dass Emilia auch verheiratet noch erreichbar sei: »Waren, die man aus der ersten Hand nicht haben kann, kauft man aus der zweiten« (I,6). »Ein Mädchen ohne Vermögen und ohne Rang« (I,6), nämlich Emilia Galotti, ist für Marinelli ohne Reiz und Wert. Geradezu zynisch ist seine Frage an Appiani, ob sich die anberaumte Hochzeit nicht aufschieben lasse, ob – so ist der nicht geäußerte Verdacht – etwas »Unangenehmes« (II,10) vorliege.

Während Marinelli weder vor Lügen und Intrigen noch vor kleinen und großen Verbrechen zurückschreckt, achtet er sorgfältig auf höfische Etikette und angemessene Sprachformen. Die Vorwürfe Claudias, der verzweifelten Mutter, tut er ab: »Sie schwärmen, gute Frau.« Und er fügt vorwurfsvoll hinzu: »Aber mäßigen Sie wenigstens Ihr wildes Geschrei und bedenken Sie, wo Sie sind« (III,8). In ähnlicher Art weist er Odoardo zurecht. Nur Orsina kann er auf diese Weise nicht beeindrucken. Für sie ist Marinelli ein »nachplapperndes Hofmännchen« (IV,3). Sie schätzt den Kammerherrn ähnlich ein wie Graf Appiani, für den der Marquese »ein ganzer Affe« (II,10) ist.

Und doch ist mit diesen Charakterisierungen noch nicht das ganze Urteil gesprochen. Dem Prinzen bleibt es vorbehalten, am Ende zu erkennen, dass der, der sein »Freund« sein wollte, in Wahrheit ein »Teufel« (V,8) war. Teuflisch war schon seine Empfehlung, von der »Gewalt« Gebrauch zu machen, in deren Besitz er als »Herr« sei, um Emilia zu gewinnen (I,6). Teuflisch ist das Unternehmen, durch das zwei unschuldige Menschen umkommen und das Claudia, die Mutter Emilias, zusammengefasst »Bubenstück« (III,8) nennt.

Gräfin Orsina war bis vor kurzer Zeit die Geliebte des Prinzen. Dieser gibt zu, er »habe sie zu lieben geglaubt, […] vielleicht sogar wirklich geliebt« (I,1); doch das sei vorbei. Ein Grund für den Wechsel der Empfindungen wird nicht genannt. Orsina ist Opfer der Lust und der Laune des Fürsten, ist beiseite geschobener Spielball des Prinzen.

Als Gräfin gehört Orsina dem Adel an. Sie scheint hochgebildet und selbstbewusst zu sein. Sie hat genug Verstand und Erfahrung, um zu durchschauen, was am Hof gespielt wird. Aber sie ist nicht bereit, sich so ohne weiteres wegschieben und abdrängen zu lassen.

Deshalb hat sie Kundschafter angestellt, die den Prinzen beobachten sollen, und brieflich um eine persönliche Aussprache mit ihm gebeten. Obwohl sie sich von Marinelli, dem Kammerherrn, den sie zu dem »Hofgeschmeiß« (IV,3) zählt, nicht abweisen lässt, gelingt es ihr trotzdem nicht, bis zum Fürsten vorzudringen, da dieser jeder Aussprache aus dem Weg geht.

Orsina ist zugleich bestürzt und verbittert. Es ist nicht von vornherein klar, was sie sich von der Unterredung mit dem Prinzen verspricht. Sie vermutet, dass sie von dem Prinzen seit dem Augenblick verachtet wird, in dem er merkte, dass sie nicht nur lachen, sondern auch denken will. Sie vermutet: »Ein Frauenzimmer, das denket, ist ebenso ekel als ein Mann, der sich schminket« (IV,3). Unter diesen Umständen kann es ihr nicht darum gehen, die Liebe des Prinzen zurückzugewinnen. Eher ist ihr zuzutrauen, dass sie längst einen »Frevel« (IV,3) geplant hat.

Als Orsina dann die Zusammenhänge durchschaut, die zu Graf Appianis Tod und zu Emilia Galottis Entführung gehören, sucht sie einen, der »das ganze Heer der Verlassenen« an dem »Verführer« (IV,8) rächt. In Odoardo sieht sie einen Verbündeten, dem sie vertrauensvoll einen Dolch überreicht. Damit wird deutlich, dass »die betrogene, verlassene Orsina« (IV,8) in Dosalo nicht Aussöhnung suchte, sondern eine Gelegenheit sich zu rächen.

Orsina durchschaut am deutlichsten von allen Personen die verbrecherischen Machenschaften am Hof. Sie erkennt als Erste in dem Prinz den »Mörder« und in Marinelli den »Teufel« (IV,5). Marinelli beschwört Odoardo vergeblich, nichts auf Orsinas Reden zu geben, da es »mit deren Verstande« (IV,6) nicht recht bestellt sei. In einem ganz anderen Sinn gibt Orsina Marinelli Recht, wenn sie sagt: »[…] wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren« (IV,8). Das, was an diesem einen Tag am Hof des Fürsten Hettore Gonzaga geschah, genügt, um den Verstand zu verlieren.

Camillo Rota steht als »Rat« in Diensten des Fürsten. Er ist bürgerlicher Herkunft und als Beamter mit einem Aufgabenbereich betraut. Er hat bei den Regierungsgeschäften zu helfen, nämlich Bitten und Eingaben zu prüfen, Entscheidungen vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass getroffene Entscheidungen ausgeführt werden. Dagegen hat er selbst keine Entscheidungsgewalt.

In Camillo Rota hat man einen sorgfältigen, bedächtigen, verantwortungsvollen, wohl schon älteren und abgeklärten Rat vor sich, der im angemessenen Umgang mit dem Fürsten geübt und in der Sache kompetent ist.

Conti, der Maler, ist freier Künstler, gehört dem Bürgerstand an, arbeitet offensichtlich gern für den Hof und für den Fürsten, ist jedoch kein fest angestellter Hofmaler. Er ist darauf bedacht, vor dem Prinzen die Rolle des Künstlers in angemessenem Licht erscheinen zu lassen. Dabei gibt er zu, dass »die Kunst […] nach Brot« (I,2) geht. Seinem Mäzen gibt er genaue Einblicke in die Probleme künstlerischen Schaffens, ohne dass er sicher sein kann, verstanden zu werden.

Odoardo Galotti ist eine am Hof und im Fürstentum bekannte Persönlichkeit. Der Prinz erklärt Marinelli: »Das Geschlecht der Galotti ist groß« (I,6). Odoardo hatte den Rang eines Obersten, ehe er aus dem Dienst schied; er wagte es, dem Fürsten zu widersprechen und sich dessen »Ansprüchen auf Sabionetta« (I,4) zu widersetzen. »Er ist mein Freund nicht«, gibt der Prinz zu, versagt ihm aber nicht die Anerkennung: »Ein alter Degen; stolz und rau; sonst bieder und gut!« (I,4). Von Claudia, seiner Ehefrau, wird Odoardo ähnlich eingeschätzt. Auch sie weiß, dass der Fürst »des Vaters Feind« ist; sie preist oder kritisiert ihn ob »der rauen Tugend«; in ihrem Ausruf »Welch ein Mann!« ist wahrscheinlich ebenso viel bewundernde Anerkennung wie indirekt geäußerte Kritik enthalten (II,5).

Odoardo geht ganz in der Rolle des Familienvaters, genauer des Kindesvaters auf. Seine ganze Sorge gilt seiner einzigen und geliebten Tochter Emilia. Er selbst wohnt getrennt von der Familie auf einem Landgut in Sabionetta, seit sich seine Frau Claudia mit der Vorstellung durchgesetzt hat, dass eine standesgemäße Erziehung der Tochter und eine Aussicht auf eine günstige Heirat nur in der Stadt gegeben seien. Odoardo misstraut – im Gegensatz zu seiner Frau – der Stadt und dem Leben am Hof grundsätzlich. Er hält »das Geräusch und die Zerstreuung der Welt« für gefährlich und glaubt, dass »Unschuld und Ruhe« nur auf dem Land zu bewahren und zu gewinnen seien (II,4). Seine Sorge und sein Argwohn sind so groß, dass er fürchtet, jeder Schritt könnte zum »Fehltritt« (II,3) werden. Wenn er seine Frau und seine Tochter in der Stadt besucht, geschieht das weniger aus Liebe als aus dem Bedürfnis nach Kontrolle. Als Claudia berichtet, dass der Prinz über Emilia »mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen« habe, steht für ihn fest: »Ein Wollüstling, der bewundert, begehrt« (II,4). Nur mit Mühe unterdrückt er Zorn, Wut und Empörung und bricht den Besuch ab, ehe er Emilia gesehen hat.

Als übertrieben scheinen die Sorgen und die Reaktionen des Vaters und man ist geneigt, ihn für einen gänzlich patriarchalisch denkenden Haustyrannen zu halten, bis durch die Entführung Emilias deutlich wird, dass die schlimmsten Befürchtungen Wirklichkeit geworden sind. Odoardo stellt sich den Absichten des Prinzen entgegen und bezweifelt, dass »der hier alles darf, was er will« (V,4). Er ist erleichtert, als er von Emilia hört, dass sie sich eher den Tod wünscht als ein Leben in »Schande« (V,7). Dass er als Vater seine Tochter töten muss, um sie vor der Schande und vor den »Lasterhaften« (V,7) zu bewahren, macht seine Tragik aus.

Als »unglücklicher Vater« (V,8) steht Odoardo am Schluss da. Unerreichbar hat sich die Vorstellung erwiesen, dass seine Tochter als Ehefrau des Grafen Appiani fern vom Hofleben auf dem Land ihr Glück machen könne. Um den Preis des irdischen Lebens hat er Emilia – gemäß seiner und seiner Tochter Überzeugung – das ewige Leben gesichert. Dennoch muss er sich fragen lassen, ob er mit seiner Rigorosität und seiner Impulsivität seine Tochter in angemessener Weise auf das Leben in dieser Welt vorbereitet hat.

Das grundsätzliche Misstrauen gegen den Hof und die rigorose Ausrichtung auf die Tugendideale haben seine Menschenkenntnis nicht verbessert, sondern geschwächt. So vorbehaltlos er für seinen zukünftigen Schwiegersohn Graf Appiani schwärmt, so grundsätzlich ist er gegen jeden eingestellt, der in Hofdiensten steht. Dass das Haus des Kanzlers Grimaldi eine Lasterhöhle ist, steht für ihn fest, ohne dass es Beweise gäbe. Seiner Frau traut er kein Urteilsvermögen zu. Höchst unsicher ist er in Bezug auf Emilia: Als die Gräfin Orsina zu überlegen gibt, ob Emilia nicht freiwillig mit dem Prinzen gemeinsame Sache mache und mit der Beseitigung des Bräutigams einverstanden sei, hält er das einen Augenblick für möglich. Er merkt nicht, wie er von der Gräfin, die ein Rachewerkzeug sucht, in eine Falle gelockt wird.

Odoardo, der in seinem Haus so stark auftritt, wirkt seltsam unsicher und ungeschickt, wenn er am Hof erscheint. Sein offensichtlich anerzogener Respekt vor der Obrigkeit veranlasst ihn zu unterwürfigem Verhalten sogar Marinelli gegenüber. Im Gespräch ist er weder Marinelli noch dem Prinzen gewachsen. Um seine Tochter Emilia retten zu können, wären Selbstvertrauen, Mut und Tatkraft notwendig. An all dem fehlt es ihm.

Die Tötung seiner eigenen Tochter hält er für eine unglückselige, aber notwendige Tat. Er liefert sich »selbst in das Gefängnis« (V,8) und entfernt sich damit endgültig aus dieser Welt. Dagegen wird er »vor dem Richter unser aller« (V,8) selbstbewusst auftreten, weil er fest davon überzeugt ist, sich angesichts des letzten Gerichts nichts vorwerfen zu müssen.

Claudia Galotti lebt mit ihrer Tochter Emilia »fern von einem Manne und Vater, der euch so herzlich liebet« (II,4), in der Residenzstadt Guastalla. Sie will ihrer Tochter in der Stadt und in der Nähe des Hofes »eine anständige Erziehung […] geben« und sieht ihren Plan dadurch bestätigt, dass Graf Appiani hier Emilia »fand« und nun heiratet (II,4).

Claudia ist gläubig, unterstützt Emilia in dem Vorsatz, am Morgen der Hochzeit die Messe zu besuchen, ist jedoch nicht von der Strenge und Rauheit ihres Gatten. Sie liebt ihre Tochter und muss sich zurechtweisen lassen, als sie angesichts der bevorstehenden Hochzeit klagt, »diese einzige geliebte Tochter« (II,4) zu verlieren. Sie ist stolz darauf, dass der Prinz »gegen sie so gnädig« war und »von ihrer Schönheit mit so vielen Lobeserhebungen gesprochen« (II,4) hat.

Während ihr Mann übertrieben misstrauisch ist, scheint sie vertrauensselig zu sein. Claudia hat eine andere Vorstellung von den Menschen ihrer Umgebung und eine andere Einstellung zu den Tugendbegriffen. Das aufdringliche Verhalten des Prinzen gegenüber Emilia hält auch sie für einen Frevel. Doch kann sie in dieser Angelegenheit nichts Strafbares bei sich und auch nicht bei ihrer Tochter erkennen. Es macht sie nicht stutzig, dass ihre Tochter eben nicht »mächtig genug« war, dem Prinz »in einem Blick alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdient« (II,6). Geradezu fatal ist ihr Vorschlag, weder dem Vater noch dem Bräutigam etwas von der Begegnung mit dem Prinzen zu erzählen. Sie spielt den ganzen Vorfall mit dem Satz »Der Prinz ist galant« (II,6) herunter.

Sicherlich ist Odoardos Zurechtweisung »Claudia! Eitle, törichte Mutter« (II,4) überzogen und impulsiv aus dem Augenblick getan. Claudia ist im Recht, wenn sie auch angesichts der Ermordung Appianis und der Entführung Emilias sagt: »Aber wir sind unschuldig. Unschuldig, in allem unschuldig« (IV,8). Doch darf andererseits festgestellt werden, dass sie mit Sicherheit die Gefahr unterschätzt hat, die in der Stadt und durch einen verliebten tyrannischen Prinzen und seinen Höfling droht.

Sie durchschaut zu spät – aber immerhin als Erste – das »Bubenstück« (III,8), das man ihnen gespielt hat. Sie klagt Marinelli als »Mörder« und »Kuppler« (III,8) an. In dieser Situation zeigt sie sich als »Löwin, der man die Jungen geraubet«, mehr jedoch als »unglückselige Mutter« (III,8), die gegen Macht und Bosheit nicht ankommt.

Graf Appiani wird von Prinz Hettore Gonzaga geschätzt als »ein sehr würdiger junger Mann, ein schöner Mann, ein reicher Mann, ein Mann voller Ehre« (I,6). Er ist Graf, gehört also dem Hochadel an, stammt aus Piemont, wo er über umfangreiche Güter verfügt, und gehört augenblicklich zum Hof von Guastalla, ohne dass er ein genauer umschriebenes Amt bekleidet. Der Prinz denkt daran, ihn sich »verbinden zu können« (I,6). Doch der Graf hat längst beschlossen, den Hof zu verlassen und in die Heimat zurückzugehen, sobald die Heirat mit Emilia Galotti vollzogen ist. Sosehr der Fürst den Grafen schätzt, so sehr wird er von Marinelli, dem Kammerherrn des Prinzen, gehasst. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Marinelli in dem ranghöheren Grafen mit dem ausgezeichneten Leumund einen Konkurrenten fürchtet, den er gern beseitigt sieht.

In der Familie Galotti ist Graf Appiani sehr willkommen. Claudia, Emilias Mutter, ist überzeugt, dass Emilia und der Graf »für einander geschaffen« sind und dass nur in der Nähe des Hofes »die Liebe [sie] zusammenbringen« (II,4) konnte. Auch Odoardo ist glücklich, »diesen würdigen jungen Mann meinen Sohn zu nennen« (II,4). Mehr noch als die Tugendhaftigkeit schätzt er den Entschluss seines künftigen Schwiegersohns, dem Hof- und Stadtleben den Rücken zu kehren und sich mit Emilia aufs Land zurückzuziehen, »wohin Unschuld und Ruhe sie rufen« (II,4). Graf Appiani entspricht ganz den Vorstellungen Odoardos; deshalb ist Odoardo auch überzeugt, dass mit dieser Heirat das Glück seiner Tochter Emilia gesichert sei.

Dass Graf Appiani am Morgen der Hochzeit eher »feierlich« und »ernsthaft« als »heiter« (II,7) ist, muss nicht verwirren. Immerhin gesteht er, »schwanger mit so viel Glückseligkeit für mich« (II,7) zu sein. Was ihm Verdruss bereitet, ist, dass ihm von seinen Freunden nahe gelegt wird, seine bevorstehende Hochzeit dem Fürsten offiziell zu melden. Nicht zu Unrecht sieht er darin das Eingeständnis einer Abhängigkeit, die faktisch nicht gegeben ist und die er als anstößig empfinden würde. Tatsächlich weiß der Prinz längst von der Verbindung, auch wenn sie »sehr geheim gehalten worden« (I,6) ist. Trotzdem wollte er offiziell »noch hören, dass er versprochen ist« (I,6). Aber gerade gegen solche überkommenen Erwartungen wehrt sich der empfindsame Graf. Jedem Herrschaftsanspruch, der vom Fürsten ausgeht und der vom Kammerherrn Marinelli überbracht wird, widersetzt er sich. In der Auseinandersetzung mit Marinelli macht er deutlich, dass er im Gegensatz zu Marinelli dem Prinzen keinen Gehorsam schulde, dass er kein Sklave, vielmehr »Vasall eines größern Herrn« (II,10) sei, gemeint ist wohl der Kaiser. Indem er Marinelli als »Affen« beschimpft, hat er einen Kampf angesagt, in dem er umkommt.

Man muss Claudia glauben, wenn sie sagt, dass nur in Guastalla »der Graf Emilien finden« konnte und dass nur dort »die Liebe zusammenbringen« konnte, »was füreinander geschaffen war« (II,4). Die gegenseitigen Liebesbezeugungen der Brautleute fallen allerdings sehr sparsam aus. Appiani scheint mehr daran gelegen, Odoardos »Sohn zu heißen« (II,7) als Emilia als Braut heimzuführen. Ihm ist wichtig, in Emilia »eine fromme Frau« zu haben; für ihren »Putz« hat er keinen Blick (II,7). Ein besonderes Hochzeitskleid ist ohnehin nicht vorgesehen. Die Hochzeitsfeier, zu der es nicht kommt, hätte eher den Charakter einer ernsthaften Pflichtveranstaltung als den eines heiteren Festes gehabt. Gefasst nimmt Emilia später zur Kenntnis, »dass alles verloren ist« (V,7). Sicherlich durfte sich der Graf von Emilia geliebt wissen. Er wurde ebenso beherrscht geliebt, wie er beherrscht betrauert wird.

Emilia Galotti ist nicht nur Titel-, sondern auch Hauptperson von Lessings Drama, auch wenn ihr Redeanteil geringer ist als der des Prinzen und der des Kammerherrn Marinelli. Emilia Galotti ist – überspitzt gesagt – in jeder Szene gegenwärtig, auch dann, wenn sie nicht auf der Bühne steht.

Für Conti, den Maler, bildet Emilia das Ideal »der weiblichen Schönheit«; ihm ist die Aussage des Prinzen, dass Emilia »mit zu den vorzüglichsten Schönheiten unserer Stadt« gehört, zu relativ und zu vorsichtig (I,4). Sobald der Prinz allein ist, gibt er die Vorsicht auf und schwärmt ohne Vorbehalt von dem Bild Emilias, das auch als Kopie ein »schönes Werk der Kunst« ist, noch mehr aber von der Person als dem »schönre[n] Meisterstück der Natur« (I,5).

Bei Emilias erstem Auftritt werden dem Zuschauer statt dem Glanz der Schönheit eher die Gefahren bewusst, denen eine so vollkommene Person ausgesetzt ist. Emilia »stürzet in einer ängstlichen Verwirrung« (II,6) in den Saal der Stadtwohnung, ist nicht fähig, einen klaren Satz zu formulieren, und braucht einige Zeit, um die Gedanken zu sammeln und – immer noch ungeordnet – zu erzählen, was ihr geschehen ist. Tatsache ist, dass sie in der Kirche mit Lobpreisungen und Liebesklagen bedrängt wurde, dass sich diesen »Frevel«, wie sie nach einiger Zeit merkte, der Prinz erlaubte und dass dieser Prinz sie nach der Messe in eine Unterredung ziehen wollte. Dies alles hat sie bis zum Äußersten verwirrt. Sie war nicht in der Lage, angemessen zu reagieren: »Meine Sinne hatten mich verlassen« (II,6). Sie ist sich unsicher, ob in ihrem Verhalten schon etwas »Strafbares« lag, ob sie zu einer »Mitschuldigen« wurde, ob »sündigen wollen« auch schon »sündigen« (II,6) ist. Um zu verstehen, was in Emilia vorgeht, muss man sich vergegenwärtigen, dass dieser Überfall am Morgen ihres Hochzeitstages geschieht und dass zur Zeit des Absolutismus Übergriffe der Fürsten auf die Unschuld bürgerlicher Töchter als ein schlimmer Beweis dafür angesehen wurden, dass die Bürger der Willkür der Fürsten ausgeliefert waren. Für das moralische Bürgertum galt es als unverzeihliche Schande, sich auf die Verlockungen eines Prinzen einzulassen.

Emilia Galotti ist grundlegend geprägt von den moralischen Vorstellungen des Bürgertums und von den Lehren ihrer Religion. Sie kennt die Gebote und erwartet ein ewiges Leben nach dem Tod. Sie besucht jeden Morgen die Messe, betet zu den Engeln und sucht »Andacht« (II,6). Sie ist zu Treue, Rechtschaffenheit und vor allem zu Gehorsam erzogen. Sie folgt blind der höchst problematischen Empfehlung ihrer Mutter, weder dem Vater noch dem Bräutigam etwas von dem Vorfall in der Kirche zu sagen, und erklärt: »Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen« (II,7). Sie scheint die vom Vater entworfene Lebenskonzeption, nämlich in »Unschuld und Ruhe« (II,4) auf dem Land zu leben, akzeptiert zu haben, Graf Appiani scheint dazu der rechte und durchaus geliebte Partner zu sein.

Obwohl Claudia, Emilias Mutter, mit der »Stadterziehung« (II,4) eine Erweiterung des Horizonts und eine Verbesserung der Umgangsformen im Blick gehabt haben dürfte, ist Emilia das Leben in der Residenzstadt verdächtig. Im Haus des Kanzlers Grimaldi hat sie die Lebensart der »Lasterhaften« (V,7) kennen gelernt. Angesichts der Gefahr, dort der »Verführung« zu erliegen und die »Unschuld« zu verlieren, entwickelt sie jetzt einen starken »Willen«, mit allen Mitteln – sogar durch Selbsttötung – dieser Gefahr auszuweichen, sich vor einer solchen »Schande« zu bewahren und ihr erstrebtes ewiges Leben nicht aufs Spiel zu setzen (V,7).

Die Gefahr, die ihr droht, hat sie erstmals kennen gelernt, als sie im Haus der Grimaldi vom Prinzen angesprochen wurde. Sie muss gemerkt haben, dass der Prinz »von ihrer Munterkeit und ihrem Witz«, vor allem »von ihrer Schönheit« (II,4) angetan war. Trotzdem ist sie höchst erschrocken, als sie später von ebendiesem Prinzen in der Kirche angesprochen wird.

Sie ist der Situation nicht gewachsen. Sie ist nicht vorbereitet, einem begehrlichen Mann »in einem Blicke alle die Verachtung zu bezeigen, die er verdienet«; erst recht ist sie außer Stande, so dem Prinzen, dem Staatsoberhaupt, entgegenzutreten: »Nach dem Blicke, mit dem ich ihn erkannte, hatte ich nicht das Herz, einen zweiten auf ihn zu richten« (II,6). Es muss unentschieden bleiben, ob hier das Herz, das Blut, die Sinne angerührt wurden oder ob der Verstand versagte, der eine Entscheidung nach den Regeln der Sitte, der Moral und der Lebensklugheit hätte durchsetzen müssen. Weil Emilia nicht bewusst und verantwortlich zu handeln gelernt hat, wird sie Opfer.

Dass sie dazu werden kann, ist dadurch vorgeprägt, dass sie lange Zeit nur Objekt anderer und nie Subjekt eigener Entscheidungen war. Von einem rauen Vater wurde sie streng erzogen; der Mutter folgte sie in blindem Gehorsam; vom Maler Conti wurde sie gemalt; von Graf Appiani wurde sie »gefunden«, – er will »eine fromme Frau« an ihr »haben« (II,7) – nur ein Marinelli kann meinen, dass sie, Emilia, ihn, den Grafen, »in ihre Schlinge zu ziehen gewusst« (I,6) habe. Glaubhafter ist die Charakterisierung der Mutter, dass Emilia »die Furchtsamste und Entschlossenste unsers Geschlechts« (IV,8) sei. Ihre Furchtsamkeit bestimmt sie bis zu dem Augenblick, in dem sie »nicht ohne Sträuben« (III,5) in die Privatzimmer des Prinzen abgeführt wird. Als sie etwas später ihren Vater trifft, ist sie entschlossen, das ausweglos erscheinende Leben zu beenden. Der Todeswunsch ist ihre eigene Entscheidung; im Tod erst erreicht sie Souveränität.

Die Personenkonstellation

Der Prinz Hettore Gonzaga liebt Emilia Galotti, Tochter eines Obersten außer Dienst, und möchte diese »besitzen« (I,5). Emilia, von den Lehren der Religion geprägt und nach bürgerlichen Wertvorstellungen erzogen, tut alles, um aus »den Händen [des] Räubers« zu »fliehen« (V,7). Von dem Gegensatz Fürst – Emilia und von den gegenläufigen Handlungen, einerseits »besitzen« und andererseits »fliehen« zu wollen, ist das ganze Stück bestimmt.

Die übrigen Personen sind den Lebenskreisen dieser beiden Hauptpersonen zuzuordnen; sie wirken offen oder verdeckt, direkt oder indirekt am Gelingen oder Misslingen der Absichten des Prinzen und an der Gewinnung oder der Bewahrung von Emilias Lebensentscheidung mit.

Der Fürst steht an der Spitze des Hofes. Zur höfischen Welt gehören der adlige Kammerherr Marinelli und der Rat Camillo Rota, der aus dem Bürgerstand stammt. Auf den Hof ausgerichtet ist aber auch Conti, der freie Künstler, der gern für den Fürsten und dessen Galerie arbeitet. Gräfin Orsina, ebenfalls adlig, spielte eine Rolle am Hof, solange sie die Mätresse des Prinzen war.

Emilia Galotti steht für die antihöfische Welt. Der soziale Stand der Galottis ist zwar schwer bestimmbar; doch ist die Familie Galotti ganz zweifellos von bürgerlichen Vorstellungen geprägt. Emilia besucht als streng gläubige Katholikin täglich die Messe und lässt sich von den bürgerlichen Tugenden leiten, vor allem von der des Gehorsams. Darin wird sie unterschiedlich nachdrücklich von Odoardo und Claudia, den Eltern, angeleitet. Odoardo Galotti war einst in Diensten des Fürsten, blieb aber in kritischer Distanz und steht, seit er den Dienst quittiert hat, in direkter Gegnerschaft zum Prinzen.

Appiani gehört als wohlhabender Graf dem Adel an und ist dem Fürsten zu Diensten bereit, sofern diese erwünscht und ehrenhaft sind. Er hat jedoch Emilia für sich entdeckt, will sie heiraten und dann mit ihr »nach seinen Tälern von Piemont« (I,6) ziehen. Er will also Stadt und Hof verlassen – entweder gemäß eigenen Wünschen oder aus der Einsicht, dass ihm nach der Heirat mit Emilia der Hof und die »Zirkel der ersten Häuser […] verschlossen« (I,6) sind. Unübersehbar ist jedoch, dass er Emilia liebt, seine künftigen Schwiegereltern schätzt und trotz des Standesunterschieds deren Welt- und Lebensanschauungen teilt.

Der Ausgangspunkt aller Handlungen im Stück ist der Prinz. Der von ihm begehrte Wert ist Emilia. Marinelli, sein Kammerherr, soll den Weg bereiten. Ihm überlässt er die Planung; ihm lässt er »freie Hand« (I,6) und genehmigt ihm im Voraus alles, was er tut. Marinelli spannt in die Intrige seine Bediensteten und Helfer aus dem kriminellen Milieu ein.

Erstes Opfer der Intrige wird Graf Appiani. Ein weiteres Todesopfer ist Nicolo. Emilia wird zwar dem Prinzen im Lustschloss zugeführt, doch ihre Distanz zum Prinzen ist größer als jemals zuvor. Als das ganze Ausmaß der Intrige erkennbar wird, kann man deutlich zwischen Tätern und Opfern unterscheiden. Opfer sind der getötete Graf Appiani, die entführte Emilia, aber auch deren Mutter und Vater. Täter sind der die Verantwortung tragende Prinz, sein teuflischer Berater und dessen kriminelle Helfershelfer.

Einer weiteren Entehrung, die sie erlitte, wenn sie die Stelle der Gräfin Orsina einnähme, will sich Emilia unter allen Umständen entziehen. Indem der Vater seine Tochter tötet, rettet er sie vor der Schande und vor dem Verlust des ewigen Seelenheils. Er selbst macht sich gemäß den irdischen Gesetzen schuldig, baut aber auf den Ausgleich durch den ewigen Richter.