»Die Polizei hat das Gleiche gesagt. Hilde sagt, sie hätte keine Freundinnen.«
»Verdammt!«
»Was?«
Harry richtete sich im Bett auf. Er würde in dieser Nach t so oder so nicht m ehr schlafen könne n. »Tut mir leid! Ich bin in einer Stunde da.«
»Danke, Harry!«
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KAPITEL 42
Hilde Molnes war definitiv zu betrunken für eine Valium . Sie war, um es klar auszudrücke n, zu betrunken für alles außer Weitertrinken.
Jens schien das nicht zu be merken, er rannte wie ein gejag tes Kaninchen immer wieder in die Küche, u m Wasser und Eis zu holen.
Harry saß auf de m Sofa und hörte ihrem Lallen nur m it hal-bem Ohr zu.
»Sie glaubt, dass etwas Schreck liches geschehen ist«, sagte Jens.
»Sagen Sie ihr, dass m ehr als achtzig Prozent dieser Verm iss-tensachen damit enden, dass die Ver
missten wohlbehalten
wieder auftauchen«, sagte Harry, als müsse seine Aussage erst noch in ihre gelallte Sprache übersetzt werden.
»Das habe ich ihr auch schon gesagt. Sie glaubt aber, dass Runa etwas angetan worden ist, sie sagt, sie könne das spüren.«
»Blödsinn!«
Jens saß auf der vordersten Kante des Stuhls und knetete seine Finger. Er wirkte total gelähm t und starrte Harry flehend an:
»Runa und Hilde haben in der letz ten Zeit viel gestritten, ich denke, dass sie vielleicht …«
»… abgehauen ist, ohne etwas zu sagen, um ihre Mutter zu bestrafen? Durchaus möglich.«
Hilde Molnes hustete und es kam Bewegung ins Sofa. Sie richtete sich auf und kippte ei nen weiteren Gin hinunter. Das Tonic Water war jetzt definitiv ausgegangen.
»Manchmal geschieht das einfach mit ihr«, sagte Jens, als sei sie gar nicht anwesend. Was sie w ohl auch nicht wirklich w ar, 329
wie Harry feststellte. Ihr Mund st and offen und sie schnarchte leise. Jens sah zu ihr hinüber.
»Als ich sie das erste Mal getr offen habe, hat sie m ir erzählt, dass sie Tonic trinke, um keine Malaria zu bekommen. Da ist Chinin drin, weißt du? Nur dass das ohne Gin so langweilig schmeckt.« Er lächelte blass und hob den Telefonhörer ab, um noch einmal zu überprüfen, dass m it der Le itung alles in Ordnung war.
»Falls sie …«
»Verstehe«, sagte Harry.
Sie setzten sich auf die Terrasse und lauschten der Stadt.
Durch den Verkehrslärm drang das Dröhnen wütender Press -
lufthämmer.
»Die neue Superautobahn«, sagt e Jens. »Sie arbeiten Tag und Nacht daran. Die wird direkt durch das Viertel dort unten führen.« Er zeigte.
»Ich habe gehört, dass ein Norw eger an dem Projekt beteiligt ist. Ove Klipra. Kenne n Sie ih n?« Harry sah Jens aus den Augenwinkeln an.
»Ove Klipra, ja natü rlich. Wir sind sein wichtigster Anlagen-verwalter. Ich habe für ihn unzählige Geldgeschäfte getätigt.«
»Ach ja? Wissen Sie, was er im Moment macht?«
»Tja, schwer zu sagen. Er hat in der letzten Zeit auf jeden Fall eine ganze Reihe von Gesellschaften aufgekauft.«
»Was für Gesellschaften?«
»Kleine Bauunternehmen. Er will sich wohl vergrößern und Zulieferer aufkaufen, um genug Kapazität zu haben, ein dickes Stück vom BERTS-Kuchen abzubekommen.«
»Ist das klug?«
Jens lebte auf, ganz o ffensichtlich froh darüber, an etwas anderes denken zu können. »Solange er die Aufkäufe finanzie-330
ren kann und die Gesellschafte n dann auch die erwartete n Aufträge erhalten, ehe sie vor die Hunde gehen.«
»Kennen Sie eine Gesellschaft mit Namen Phuridell?«
»Ja, klar!« Jens lachte. »Wir haben im Auftrag von Klipra eine Analyse gemacht und ihm zum Kauf geraten. Die Frage sollte aber wohl eher lauten, woher Sie sie kennen.«
»Das war wohl keine sonderl ich glückliche Em pfehlung, oder?«
»Nein, nicht wirklich …« Jens sah desorientiert aus.
»Ich habe die Firma gestern mal untersuchen lassen und dabei hat sich gezeigt, dass der Laden mehr oder m inder pleite ist«, sagte Harry.
»Das stimmt schon, aber … W ieso interessieren Sie sich für Phuridell?«
»Lassen Sie es mich so sagen, ich interessiere mich für Klipra.
Sie haben einen Überblick über se ine finanzielle Situation. Wie hart trifft ihn dieser Konkurs?«
Jens zuckte mit den Schultern. »Normalerweise wäre das kein Problem, aber in Verbindung m it BERTS hat er derart viele Aufkäufe über Kredite fina nziert, dass das Ganze einem Kartenhaus ähnelt. Ein Windhauch kann das gesamte Konstrukt zum Einsturz bringen, w enn Sie verstehen, was ich m eine. Und dann geht auch Klipra zu Boden.«
»Er hat also Phuridell auf euer – oder soll ich sagen, Ihr Anra-ten hin gekauft? Nur zwei Wochen später geht die Gesellschaft Konkurs und jetzt läuft er Gefahr, dass alles, was er aufgebaut hat, wegen des falschen Ratsch lags eines Maklers kaputtgeht.
Ich weiß nicht viel über Finanzanalysen, aber ich weiß, dass drei Wochen kein langer Z eitraum sind. Er m uss den Eindruck haben, dass Sie ihm einen Gebr auchtwagen ohne Motor ange-dreht haben. Dass Banditen wie Sie hinter Schloss und Riegel gehören.«
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Es schien, als begreife Jens langsam, auf was Harry hinauswollte.
»Ove Klipra soll …? Sie machen Witze!«
»Nun. Ich hab da so eine Theorie.«
»Und die wäre?«
»Dass Ove Klipra den Botschaf ter im Motel getötet und dafür gesorgt hat, dass Sie als Schuldiger dastehen.«
Jens stand auf. »Jetzt h aben Sie sich aber verflucht weit aufs Glatteis gewagt, Harry.«
»Setzen Sie sich hin und hören Sie mir zu, Jens.«
Jens ließ s ich seufzend auf einen Stuhl fallen. Harry beu gte sich über den Tisch.
»Ove Klipra ist ein aggressi ver Mann, oder? Ein Mann der Tat, wie man so schön sagt.«
»Das stimmt schon, aber …« Jens zögerte.
»Stellen Sie sich m al vor, dass Atle Molnes etwas gegen Klipra in der Hand hat und viel Geld von ihm fordert, und zwar genau in dem Moment, in dem er ohnehin schon darum kämpft, sich finanziell über Wasser zu halten.«
»Was für eine Geldforderung?«
»Gehen wir einfach davon aus, dass Molnes Geld brauchte und dass ihm Material in die Hände gefallen ist, mit dem er Klipra in arge Schwierigkeiten bringen könnte. Normalerweise h ätte Klipra eine solche Situation bestimmt gemeistert, aber nicht bei dem Druck, der bereits auf ihm lastete, so dass er sich in die Ecke gedrängt fühlt wie eine Ratte. Können Sie m ir noch folgen?«
Jens nickte.
»Sie verlassen Klipras Anwese n im Wagen des Botschafters, weil Klipra darauf besteht, den Tausch des kompromittierenden Materials gegen das erp resste Geld an einem etwas diskreteren 332
Ort stattfinden zu lassen. Aus guten Gründen hat der Botschafter nichts dagegen. Ich vermute, Klipra denkt noch nicht an dich, als er vor seiner Bank aus de m Wagen steigt und den Botschafter zum Motel vo rfahren lässt. Er veranlasst d as so, um selbst ungesehen ins Motel zu komm en. Doch dann beginnt er zu denken. Eventuell kann er zwei Fliegen m it einer Klappe schlagen. Er weiß, dass der Bots chafter vorher bei dir war und dass du so oder so von der Polizei unter die Lupe genommen werden würdest. Deshalb beginnt er, m it dem Gedanken zu spielen – vielleicht hat der gute Br ekke ja kein Alibi f ür diesen Abend?«
»Warum in aller Welt hätte er das annehmen sollen?«, wandte Jens ein.
»Weil er selbst eine Analyse bei Ihnen in Auftrag gegeben hat, die Sie am nächsten Tag abliefern sollten. Er nutzt Ihre Dienste als Finanzmakler schon so lange, dass er in etwa weiß, wie Sie arbeiten. Vielleicht ruft er Sie sogar aus einer Te lefonzelle an und erhält die Bestätigung, dass Sie die Telefonanlage abgestellt haben, so dass Ihnen niemand sonst ein Alibi geben kann. Er hat Blut geleckt und will weiter gehen und die Polizei glauben machen, dass Sie bewusst lügen.«
»Die Videoaufnahme?«
»Sie arbeiten schon lange für ihn, so dass er Sie sicher m ehrmals im Büro besucht hat und das System in der Tiefgarage kennt. Vielleicht hat Molnes auch nebenbei erwähnt, dass Sie ihn in die Tiefgarage begleitet haben. Er konnte davon ausgehen, Sie würden das in einem möglichen Verhör sagen und jeder einigermaßen aufmerksame Ermittler würde d as mittels der Videoaufzeichnungen nachprüfen.«
»Ove Klipra hat also diesen W achmann bestochen und ihn anschließend mit Blausäure getö tet? Tut mir leid, Harry, aber ich kann mir das alles wirklich nicht vorstellen. Dass Ove Klipra mit einem Neger solche Geschäfte gem acht haben soll, dass er 333
Opium gekauft und zu Hause in seiner Küche den Cocktail gemixt haben soll.«
Harry nahm die letzte Zigarette aus dem Päckchen, er hatte sie sich so lange wie m öglich aufgehoben. Er sah auf die Uhr.
Eigentlich gab es keinen Gr und für die Annahm e, dass Runa morgens um fünf Uhr anrufen könnt e. Trotzdem merkte er, dass er das Telefon immer im Blick behielt. Jens war m it dem Feuerzeug zur Stelle, ehe Harry sein eigenes zücken konnte.
»Danke. Kennen Sie Klipras Background, Jens? W ussten Sie, dass er hier m it einem abgebrochenen Studium und wi rren Plänen ankam und in W irklichkeit aus Norwegen abgehauen war, weil dort ein paar hässliche Gerüchte zu kursieren begonnen hatten?«
»Ich weiß, dass er in Norweg en keinen form ellen akademi-schen Titel hatte, ja. Das andere ist mir neu.«
»Glauben Sie, dass ein solcher Flüchtling, einer, der bereits ein Außenseiter innerhalb der Gese llschaft ist, Skrupel hat, die Mittel zu nutzen, die nötig sind, um es zu etwas zu bringen, insbesondere dann, wenn diese Mittel bereits mehr oder weniger hoffähig sind? Klipra ist seit mehr als dreißig Jahren in einer der korruptesten Branchen der W elt tätig und das nicht irgendwo, sondern in einem der korruptesten Länder überhaupt. Kennen Sie den Song nicht: Mit mir ist es wie mit allen anderen, wenn es regnet, werde ich nass? «
Jens schüttelte den Kopf.
»Ich will damit nur sagen, dass Klipra als Geschäftsmann zu den gleichen Mittel n greift wie alle anderen. Diese L eute müssen lediglich darauf achten, sich nicht selbst die Hände schmutzig zu m achen, für solche Arbeiten haben sie ihre speziellen Leute. Ich schätze mal, dass Klipra nicht einmal weiß, wie Jim Love zu Tode kam.«
Harry zog an seiner Zigarette. Sie schmeckte nicht so gut, wie er sich das vorgestellt hatte.
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»Verstehe«, sagte Jens schließlich. »Aber es gibt eine E rklä-
rung für den Konkurs, die es m ir schwermacht, zu glauben, dass er mir wirklich die Schuld in die S chuhe schieben wollte. W ir haben die Gesellsch aft von ein em multinationalen Kon zern gekauft, der die Dollar-Schuld der Gesellschaft nicht term inge-sichert hatte, da sie auch noch von anderen Tochtergesellschaf-ten Dollareinnahmen hatten.«
»Was bitte?«
»Mit anderen W orten – als di e Gesellschaft herausgelöst wurde und in Klipras Hände kam , schoss der Dollar wahnsinnig in die Höhe. Eine solche E xponierung ist w ie eine tickende Zeitbombe. Ich habe ihn gebeten, die Schuld sofort abzusichern und Dollaroptionen zu verkaufen, aber er wollte warten, weil er der Meinung war, der Dollar se i überbewertet. Bei norm alen Kursschwankungen könnte m an sagen, dass er lediglich ein gewisses Risiko einging. Aber es k am schlimmer als in jed em worst case scenario. Als sich der Wert des Dollars in nur drei Wochen im Verhältnis zum Baht beinahe verdoppelte, verdop-pelten sich auch die Schulden der Gesellschaft. Die Gesellschaft ging nicht im Laufe von dr ei Wochen, sondern von drei Tagen Konkurs!«
Hilde Molnes zuckte bei Jens’ Ausruf zusammen und schnaubte im Wohnzimmer etwas im Schlaf. Er sa h besorgt z u ihr hinüber und wartete, bis sie sich w ieder auf die Seite gedreht und zu schnarchen begonnen hatte.
»Drei Tage!«, wiederholte er flüsternd und zeigte mit Daumen und Zeigefinger, was für eine kurze Zeitspanne das war.
»Sie meinen also, es wäre unvernünftig gewesen, Ihnen die Schuld zu geben?«
Jens nickte. Harry d rückte die Zigarette aus. Sie war ein Fiasko gewesen.
335
»Nach allem, was ich über K lipra gehört habe, komm t das Wort ›vernünftig‹ in se inem Wortschatz nicht vor. Sie dürfen den menschlichen Hang zur Irrationalität nicht vergessen, Jens.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie einen Nagel in die Wand schlagen wollen und sich dabei auf den Daum en hauen, was schm eißen Sie dann an die Wand?«
»Den Hammer?«
»Eben. Und wie fühlt es sich an, der Hammer zu sein, Jens Brekke?«
Gegen halb sechs rief Harry im Präsidium an, wurde drei Mal weiterverbunden, ehe er endlich jemanden am Apparat hatte, der gut genug Englisch sprach und ihm sagen konnte, dass es von der Vermissten weiterhin keine Spur gab.
»Sie taucht schon wieder auf«, sagte der Mann am Telefon.
»Ganz sicher«, erwiderte Harry. »Ich schätze, sie ist in irgendeinem Hotel und bestellt sich gerade das Frühstück.«
»Was?«
»Ich schätze … Ach, vergessen Sie’s! Danke für Ihre Hilfe.«
Jens begleitete ihn zur Tre ppe. Harry sah zum Himm el, die Nacht verblich langsam.
»Wenn das alles vorbei ist, m öchte ich Sie um etwas bitten«, sagte Jens. Er hi elt die Luft an und läch elte hilflos. »Hilde hat meinen Heiratsantrag ange nommen und ich brauche einen Trauzeugen.«
Es vergingen ein paar S ekunden, bis Harry klar wurde, was er meinte. Er war so perplex, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
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Jens sah auf die Spitzen seiner Schuhe. »Ich weiß, dass sich das merkwürdig anhört, dass wir so kurz nach de m Tod ihres Mannes heiraten wollen, aber es gibt Gründe dafür.«
»Sicher, aber ich …«
»Sie kennen mich noch nicht so lange? Ich weiß, Harry, aber wenn es Sie nicht gäbe, wäre ich jetzt kein freier Mann.« Er hob lächelnd den Kopf. »Denken Sie einfach mal drüber nach.«
Als Harry ein Taxi auf der Straße anhielt, wurde es über den Hausdächern im Osten hell. Der Abgasdunst, von dem Harry angenommen hatte, dass er über Nacht verschwinden würde, hatte sich bloß zwischen den Hä usern schlafen gelegt. Jetzt stand er gemeinsam mit der Sonne auf und m alte einen majestä-
tischen roten Sonnenaufgang an den Himmel. Sie fuhren über die Silom Road und die Straßenpf eiler warfen lange, stumme Schatten auf den bl utbefleckten Asphalt, wie schlafende Dinosaurier.
Harry saß auf dem Bett und starrte auf die Nachttischs chublade.
Erst jetzt war ihm in den Sinn gekommen, dass der Brief von Runa einen Bescheid beinhalt en konnte, wohin sie gegangen war. Er riss die Schublade auf, nahm den letzten Brief heraus und öffnete ihn m it dem Wohnungsschlüssel. Vielleicht war er aufgrund der identischen Umschläge so selbstverständlich davon ausgegangen, dass auch dieser Brief von Runa war. Der getippte und mit einem Laserdrucker ausg edruckte Text war kurz und bündig:
Harry Hole. Ich sehe dich. Komm nicht näher. Sie wird unbe-schadet wieder auftauchen, wenn du im Flugzeug nach Hause sitzt. Ich kann dich überall finden. Du bist allein. Sehr allein.
Nummer 20.
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Es fühlte sich an, als hätte jemand eine Schlinge um seinen Hals gelegt, und er musste aufstehen, um atmen zu können.
Das ist doch nicht wahr, dachte er. Das darf nicht wahr sein –
nicht schon wieder.
Ich sehe dich. Nummer 20.
Er weiß, was sie wissen. Scheiße!
Du bist allein.
Irgendjemand redet. Er nahm den Telefonhörer in die Hand, legte ihn ab er wieder h in. Denken, denken. Woo hatte nichts angefasst. Er nahm wieder den Hörer des Telefons und schraub-te den Deckel der Sprechmuschel ab. Neben dem Mikrofon, das dort hingehörte, war ein kleiner, schwarzer G egenstand befestigt, der wie ein Chip aussah. Harry hatte so etw as schon einmal gesehen. Es war ein russisches Modell, sicher noch besser als die Wanzen der CIA.
Die Schmerzen in seinem Fuß betäubten einen Mom ent lang all die anderen Schmerzen, als er gegen das Nachttischchen trat, dass es krachend umstürzte.
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KAPITEL 43
Liz setzte die Kaffeetasse an die Lippen und schlürfte so laut, dass Løken Harry m it hochgezogenen Augenbrauen ansah, als wolle er fragen, was für ein Wesen er denn da mitgebracht habe.
Sie saßen in Millie’s Karaoke, von der W and starrte sie eine platinblonde Madonna m it hungrigem Blick an, während eine digitalisierte Karaoke-Version von »I just called to say I love you« fröhlich vor sich hin trällert e. Harry drückte verzweifelt auf der Fernbedienung herum , um die Musik abzustellen. Sie hatten den Brief gelesen und noch niemand hatte etwas gesagt.
Harry fand den richtigen K nopf und die Musik verstummte abrupt.
»Das war es, was ich zu sagen hatte«, sagte Harry. »Ihr seht also, dass wir irgendwo in den eigenen Reihen ein Leck haben.«
»Was ist m it der Wanze, die d ieser Woo in Ihrem Telefon installiert haben soll?«, fragte Løken.
»Die erklärt nicht, woher der Betreffende weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind. Ich habe an diesem Telefon nicht viel ge -
sagt. Aber unabhängig davon schlage ich vor, dass wir uns von jetzt ab nur noch hier treffen. Wenn wir den Informanten finden, kann er uns m öglicherweise zu Klipra führen, aber ich glaube nicht, dass wir da ansetzen sollten.«
»Warum nicht?«, fragte Liz.
»Ich habe das Gefühl, dass sich dieser Maulwurf ebenso gut versteckt wie Klipra.«
»Warum?«
»Klipra verrät in dem Brief, dass er interne I nformationen erhalten hat. Er würde das niem als tun, wenn wir seine Quelle enttarnen könnten.«
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»Warum sollten wir nic ht die naheliegendste Frage stellen?«, fragte Løken. »W oher wollen Sie wissen, dass der Inform ant keiner von uns ist?«
»Das weiß ich nicht. Aber soll te das der Fall sein, haben w ir ohnehin bereits verloren, das Risiko müssen wir also eingehen.«
Die anderen nickten.
»Wir brauchen nicht zu erwähnen, dass die Z eit gegen uns arbeitet und dass es für das Mädchen schlechter aussieht, je länger das Ganze dauert. Siebzig Prozent dieser Entführungsfäl-le enden d amit, dass der Kidnap per sein Opfer tötet.« Er versuchte das so neutral wie m öglich zu sagen und verm ied es, ihren Blicken zu begegnen, doch er war sich s icher, dass ihm seine Gefühle ins Gesicht geschrieben standen.
»Also, wo fangen wir an?«, fragte Liz.
»Wir sollten damit anfangen, dass wir einige Dinge ausschlie-
ßen«, sagte Harry. »Wo ist sie nicht? «
»Nun, solange er d as Mädchen h at, hat er v ermutlich noch keine Landesgrenzen überquert«, sagte Løken. »Und er wird wohl auch kaum in ein Hotel gegangen sein.«
Liz war einverstanden. »Vermutlich ist er an einem Ort, wo sie sich über längere Zeit versteckt halten können.«
»Ist er allein?«, fragte Harry.
»Klipra gehört keinem der Clans hier unten an«, sagte Liz. »Er hat nichts m it organisierten Entführungen zu tun. Sich einen Mann zu besorgen, der einen He roinabhängigen wie Jim Love aus dem Weg räumt, dürfte kein Problem sein. Aber es ist eine ganz andere Größenordnung, ein weißes Mädchen zu entführen, noch dazu die Tochter eines Botschafters. Wenn er versucht hat, sich dafür Leute zu b eschaffen, hat er sicher m it einigen Professionellen gesprochen, und die schätzen imm er erst das Risiko ab, ehe sie einen Auftrag annehm en. In diesem Fall
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hätten sie bestimm t erkannt, da ss sie die ganze Polizei des Landes gegen sich hätten, wenn sie diesen Job erledigten.«
»Sie glauben also, er hat das allein gemacht?«
»Wie gesagt, er gehört zu keinem der Clans. Innerhalb dieser Familien zählen Loyalität und T radition, doch die Leu te, die Klipra hätte anheuern müssen, si nd Freelancer, denen er n ie zu hundert Prozent trauen könnte. Fr üher oder später würden die rauskriegen, wofür er das Mädchen brauchte, und dam it würde er das Risiko eingehe n, dass sie diese Kenntnis beim nächsten Mal gegen ihn verwendeten. Er hat Jim Love ausgeknipst. Er will also s icherstellen, dass ihm hinterhe r niemand in den Rücken fallen kann.«
»O.k., gehen wir also davon aus, dass er allein ist. Und wo?«
»Eine Unzahl von Möglichkeiten«, sagte Liz. »Seine Gesellschaften verfügen gewiss über viele Imm obilien, von denen notwendigerweise einige leer stehen müssen.«
Løken räusperte sich laut, bekam wieder Luft und schluckte.
»Ich hatte lange schon den Verdacht, dass Klipra ein geheimes Liebesnest hat. Manchm al hat er einen oder zwei Jungen mitgenommen und ist dann bis zum nächsten Morgen verschwunden. Ich habe es nie g eschafft, diesen Ort zu erm itteln, unter seinem Na men ist jedenf alls keine an dere Immobilie eingetragen. Aber es ist klar, dass es sich dabei um einen abseits gelegenen Ort in der Nähe von Bangkok handeln muss.«
»Können wir einen der Jungen id entifizieren und befragen?«, fragte Harry.
Løken zuckte mit den Schultern und blickte zu Liz.
»Es ist eine große S tadt«, sagte sie. »Und erfahrungsgem äß verschwinden diese Jungen wie die Nadel im Heuhaufen, wenn wir nach ihnen zu suchen beginnen. Außerdem würde das bedeuten, eine ganze Reihe anderer Leute zu involvieren.«
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»Vergiss es«, sagte Harry. »W ir müssen verhindern, dass Klipra auch nur das Geringste von dem zu Ohren komm t, was wir unternehmen.«
Harry klopfte rhythmisch mit seinem Stift auf die Tischplatte.
Zu seiner eigenen Irritation bemerkte er, dass ihm noch i mmer I just called to say I love you durch den Kopf geisterte.
»Fassen wir also zusammen: Wir gehen davon aus, dass Klipra die Entführung allein durchgez ogen hat und dass er sich irgendwo an einem sicheren Ort befindet, m aximal eine Auto-stunde von Bangkok entfernt.«
»Was machen wir also?«, fragte Løken.
»Ich mach mal einen Ausflug nach Pattaya«, sagte Harry.
Roald Bork stand am Tor, als Harry mit dem großen allradange-triebenen Toyota vor das Haus gekurvt kam. Staub legte sich auf den Kies der Einfahrt, während Harry mit Gurt und Zündschlüssel kämpfte. Wie gewöhnlich war er nicht auf die Hitze vorbereitet, die ihm entgegenschlug, als er die Autotür öffnete.
Unwillkürlich rang er nach Atem . Die Luft hatte einen s alzigen Geschmack, was darauf hinwies, dass sich das Meer direkt hinter den sanften Hügeln befand.
»Ich habe Sie die Einfahrt hochkommen höre n«, sagte Bork.
»Ein imposantes Gefährt, das Sie da fahren.«
»Ich habe das größte gem ietet, das sie hatten«, sagte Harry.
»Ich habe gemerkt, dass man damit in gewisser Weise Vorfahrt hat. Was nötig ist, de nn diese Wahnsinnigen fahren hier ja links.«
Bork lachte. »Haben Sie die neue Autobahn gefunden, über die ich gesprochen habe?«
»Ja, schon. Die war nur noch nicht ganz fertig, so dass sie an einigen Stellen mit Sandsperren blockiert war. Aber alle anderen 342
sind darüber hinweggefahren, so dass ich einfach hinterherge-fahren bin.«
»Das ist norm al so«, sagte Bork . »Es ist nicht ganz korrekt, aber auch nicht wirklich verboten. Kein W under, dass man sich in dieses Land verlieben kann.«
Sie zogen die Schuhe aus und gingen ins Haus. Der angenehm kalte Steinboden brannte unter Harrys nackten Fußsohlen. I m Wohnzimmer hingen Bilder von Fridtjof Nansen, Henrik Ibsen und der Kö nigsfamilie. Auf der Komm ode stand ein Bild von einem Jungen, der in die Ka mera blinzelte. Er mochte vielleicht zehn Jahre alt sein und hatte ei nen Fußball unter dem Arm. Auf dem Esstisch und auf dem Klavie r lagen überall ordentlich gestapelte Papiere und Zeitungen.
»Ich versuche, m ein Leben ein wenig zu archivieren«, sagte Bork. »Um herauszufinden, was geschehen ist und warum.«
Er deutete auf einen der Stapel. »Das sind die S cheidungspa-piere. Ich starre sie an und versuche, mich zu erinnern.«
Ein Mädchen kam mit einem Tablett herein. H arry probierte den Kaffee, den sie eingoss, und sah sie fragend an, als e r
bemerkte, dass er eiskalt war.
»Sind Sie verheiratet, Herr Hole?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Gut. Vermeiden Sie es weiterh in. Früher oder später versuchen die Ihnen das letzte Hemd auszuziehen. Ich habe eine Frau, die mich ruiniert hat, und einen erwachsenen Sohn, der jetzt das Gleiche versucht. Und ich kann ni cht verstehen, was ich ihnen angetan habe.«
»Wie sind Sie hier gelandet? «, fragte Harry und nahm noch einen Schluck. Im Grunde schmeckte es gar nicht so schlecht.
»Ich habe hier unten für die Telekom gearbeitet, die haben damals ein paar Zentralen für einen thailändischen Telefon-343
betreiber installiert. Nach dem dritten Montageaufenthalt bin ich nicht mehr zurückgegangen.«
»Nie mehr?«
»Ich war geschieden und hatte hier alles, was ich brau chte.
Eine Weile dachte ich zwar, dass ich mich nach dem norwegischen Sommer sehnen würde, nach den Fjorden und Bergen und all dem Zeug.« Er nickte in Richtung der Bilder, die an der Wand hingen, als könnten diese den Rest erzählen.
»Ich bin deshalb zwei Mal zu rück nach Norw egen gefahren, aber beide Male war ich im Laufe einer Woche wieder hier. Ich habe es nicht ausgehalten, habe m ich von de m Moment an, i n dem ich meine Füße auf norwegi schen Boden gestellt hatte, wieder zurückgewünscht. Inzwischen habe ich verstanden, dass ich hierher gehöre.«
»Was arbeiten Sie?«
»Ich bin ein bald in den Ruhe stand gehender Berater im Bereich Telekommunikation, hier und da übernehm e ich einen Auftrag, aber nich t zu viele. Ich v ersuche, mir auszurechnen, wie viel Zeit ich noch habe und
wie viel ich in dieser Zeit
brauchen werde. Ich will den Geiern nicht eine Øre hinterlassen.«
Er lachte und wedelte mit der Hand in Richtung Scheidungs-papiere, als wolle er einen üblen Geruch vertreiben.
»Was ist mit Ove Klipra? Warum ist der noch immer hier?«
»Klipra? Tja, der wird Ihnen w ohl eine ähnliche Geschichte erzählen, denke ich. Ke iner von uns hat wirklich ausreichende Gründe, wieder zurückzugehen.«
»Klipra hatte wohl eher gute Gründe, nicht zurückzukehren.«
»Pah, ich weiß, auf was Sie anspielen«, sagte Bork. »Das alles ist doch nur dumm es Gerede. Wenn Ove wirklich dam it etwas zu tun hätte, hätte ich mich nie mit ihm abgegeben.«
»Sind Sie sicher?«
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Borks Augen glänzten. »Es gab ein paar Norweger, d ie aus den falschen Gründen hierher nach Pattaya gekommen sind. Wie Sie wissen, bin ich eine Art Nest or der norwegischen Gemeinde hier in der Stadt und wir empfinden eine gewisse Verantwortung für das, was unsere Lan dsleute hier unten treiben. Die m eisten von uns sind anständige Bürger und wir haben getan, was getan werden musste. Diese pädophilen Arschlöcher haben Pattayas Ruf trotzdem derart gründlich ru iniert, dass einige schon den Namen der Stadtteile nennen, wie Naklua und Jom tien, wenn jemand in Norwegen fragt, wo sie wohnen.«
»Was meinen Sie mit ›getan, was getan werden musste‹?«
»Lassen Sie es m ich so ausdrücken, zwei d ieser Kerle s ind wieder nach Hause gefahren, einer hat es nicht so weit geschafft.«
»Ist der möglicherweise aus einem Fenster gefallen?«, schlug Harry vor.
Bork lachte dröhnend. »Nein, so weit gehen wir nun auch wieder nicht. Aber ich nehme an, das war das erste Mal, dass die Polizei einen anonym en Anruf auf Thailändisch m it norwegischem Akzent bekommen hat.«
Harry lächelte.
»Ihr Sohn?« Er sah fragend zu dem Bild auf der Kommode.
Bork sah etwas betreten aus, nickte aber.
»Sieht nach einem aufgeweckten Jungen aus.«
»Das war er mal.«
Bork lächelte traurig und wiederholte: »Das war er mal.«
Harry sah auf die Uhr. Die Fahrt von Bangkok hierher hatte beinahe drei Stunden gedauert, doch er war langsam wie ein Sonntagsfahrer gewesen, bis er sich auf den letzten Meilen endlich etwas sicherer gefühlt ha tte. Vielleicht schaffte er den Rückweg in gut zwei S tunden. Er nahm drei Bilder aus seiner Mappe und legte sie vor Bork auf den Tisch. Løken hatte sie auf 345
24 mal 30 Zentimeter vergrößert, um den maximalen Schockef-fekt zu erzielen.
»Wir glauben, dass Ove Klipra irgendwo in der Nähe von Bangkok einen Schlupfwinkel hat. Wollen Sie uns helfen?«
346
KAPITEL 44
Søs klang glücklich am Telefon. Sie hatte einen Jungen kennengelernt, Anders. Er war gerade im Wohnheim auf dem gleichen Flur eingezogen und war ein Jahr jünger als sie.
»Und er trägt eine Brille. Aber das macht nichts, denn der ist superlieb.«
Harry lachte und stellte sich Søs’ neuen Einstein vor.
»Er ist total verrückt. Der glau bt wirklich, die lassen uns irgendwann Kinder kriegen. Stell dir das doch mal vor.«
Harry stellte es sich vor und erkannte, dass da in naher Zukunft einige schwierige Gespräche vor ihm lagen. Doch im Moment freute er sich nur dar über, dass sich Søs so zufrieden anhörte.
»Warum bist du so traurig? « Die Frage schloss sich ohne Pause an die Neuigkeit an, dass Vater bei ihr zu Besuch gewesen war.
»Bin ich traurig?«, fragte Harry zurück, wohl wissend, dass sie seinen Gemütszustand schon immer besser als er hatte einschätzen können.
»Ja, du trauerst irgendeiner Sache nach. Ist es die Schwedin?«
»Nein, es ist nicht B irgitta. Hier gibt es ein paar traurige Sachen, aber das wird sich b ald klären. Ich w erde da aufräumen.«
»Gut.«
Es entstand eine der seltenen Pausen, in denen Søs nichts sagte. Harry meinte, es sei an der Zeit, aufzulegen.
»Du, Harry?«
»Ja, Søs?«
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Er hörte sie geradezu innerl ich Anlauf nehm en. »Meinst du, wir können diese Sache jetzt vergessen?«
»Welche Sache?«
»Diese Sache, du weißt schon, mit dem Mann. Anders und ich, wir … wir haben es so schön. Ich habe keine Lust mehr, daran zu denken.«
Harry wurde still. Dann holte er Luft.
»Er hat dich mit einem Messer verletzt, Søs.«
Sofort waren die Tränen in ihrer Stimme.
»Ich weiß d as. Du brau chst das nicht noch einm al zu sagen.
Aber ich sage dir doch, ich will nicht mehr daran denken.«
Sie schluchzte und Harry spürte, wie sich etwas in seiner Brust zusammenzog.
»Bitte, Harry, ja?«
Er merkte plötzlich, wie er den Telefonhörer umklammerte.
»Denk nicht daran. Denk nicht daran, Søs. Alles wird gut.«
Sie lagen seit bald zw ei Stunden in dem hohen Elefantengras und warteten darauf, dass die S onne unterging. Hundert Meter vor ihnen lag ein kleines Haus am Waldrand. Es war in trad itioneller Thaiart erbaut, aus Ba mbus und Holz und m it einem offenen Hof in der Mitte. Es gab kein Tor, sondern nur einen kleinen Kiesweg, der zum Eingang führte. Vor dem Haus stand etwas, das wie ein bunter Vogelkäfig auf einem Pfahl aussah.
Das war ein phra phum, ein Geisterhaus, das das Gebäude vor bösen Geistern schützen sollte.
»Der Besitzer muss ein Haus für sie bauen, damit sie nicht ins Haupthaus einziehen«, sagte Liz und streckte sich. »Und m an muss Essen opfern und Rauchwaren wie Zig aretten oder so etwas, um sie bei Laune zu halten.«
»Und das reicht?«
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»Nicht in jedem Fall.«
Sie hatten keine Zeichen von Leben gehört oder gesehen.
Harry versuchte, nicht dara n zu denken, was ihn drinnen erwarten konnte. Sie hatten mit dem Auto nur eine Stunde aus Bangkok gebraucht, aber trotzdem fühlte es sich an, als wären sie in einer anderen W elt. Sie hatten hinter einem kleinen Haus an der S traße neben einem Schweinepferch geparkt und einen Pfad gefunden, der über den steilen, bewaldeten Hang zu de m Plateau nach oben führte, auf dem, wie ihnen Roald Bork erklärt hatte, Klipras kleines Haus lag. D er Wald war saftig grün, der Himmel nachweislich blau und Vögel in allen Farben des Regenbogens schwirrten über Harry hinweg, der auf dem Rücken lag und der Stille lauschte . Zuerst hatte er geglaubt, Watte in den Ohren zu haben, ehe er begriff, was wirklich los war: Seit e r Oslo verla ssen hatte, war es nich t mehr so still gewesen.
Als sich die Dunkelheit über sie senkte, war damit Schluss. Es hatte mit vereinzeltem Zirpen und Summen angefangen, wie bei einem Symphonieorchester, das die Instrum ente stimmt. Dann startete das Konzert m it Quaken und Gackern und m ündete in ein Crescendo, als das Orchester durch ein Heulen und schrille, herzzerreißende Schreie oben aus den Bäumen ergänzt wurde.
»Waren all diese Tiere die ganze Zeit über da?«, fragte Harry.
»Frag mich was leichteres«, sagte Liz. »Ich bin ein Stadtmädchen.«
Harry spürte etwas Kaltes über seine Haut streichen und zog seine Hand blitzschnell weg.
Løken amüsierte sich.
»Das sind nur die Frösche, die m achen einen Abendspazier-gang«, sagte er. Und ganz richtig, bald waren überall um sie herum Frösche, die scheinbar planlos hin und her hüpften.
»O.k., o.k.«, sagte Harry, »solange hier nur Frösche weiden, ist das alles noch in Ordnung.«
349
»Die Frösche sind auch nur Nahrung«, sagte Løken. Er zog sich eine schwarze Kapuze über den Kopf. »Wo Frösche sind, sind auch Schlangen.«
»Sie machen Witze!«
»Fünf, sechs verschiedene Kobra-Arten, die grüne Kreuzotter, die Russel-Kreuzotter und noch ei n paar andere. Nehm en Sie sich in Acht, es heißt, dass von den dreißig häufigsten Schlan-genarten in Thailand sechsundzwanzig giftig sind.«
»Verdammt!«, rutschte es Harry heraus. »Und woher soll m an wissen, welche giftig sind?«
Løken sah ihn mit seinem Armer-Rekrut-Blick an.
»Harry, bei der Quote ist es vi elleicht besser, davon auszugehen, dass alle giftig sind.«
Es wurde acht Uhr.
»Ich bin bereit«, sagte Li z ungeduldig und überprüfte zum dritten Mal, ob ihre Smith & Wesson 650 geladen und entsichert war.
»Angst?«, fragte Løken.
»Nur, dass wir nicht re chtzeitig kommen, bevor der Polize ichef kapiert, was hier läuft«, sagte sie. »W isst ihr, wie hoch das Durchschnittsalter eines Verkehrspolizisten in Bangkok ist?«
Løken legte seine Hand auf ihre Schulter.
»O.k., legen wir los.«
Liz lief gebückt durch da s hohe Gras und verschwand im Dunkel.
Løken studierte das Haus m it dem Nachtsichtgerät, während Harry die Fassade mit einem Elefantentöter deckte, den Liz aus der Waffenkammer der Polize i requiriert hatte. Des W eiteren hatte sie noch eine Pistole bekommen, eine Ruger SP-101, die Harry in einem ungewohnten Beinhalfter trug, da Schulterhalfter sinnlos sind in einem Land, wo eine Anzugjacke eine unpraktische Belastung darstellt. Der Vollmond stand hoch am Himmel 350
und gab auf jeden Fall genug L
icht, um die Konturen der
Fenster und Türen zu erkennen.
Liz blinkte einmal mit der Taschenlampe, das Signal, dass sie ihre Position unter einem der Fenster eingenommen hatte.
»Sie sind an der Reihe, Harry«, flüsterte Løken, als er bemerkte, dass er zögerte.
»Verdammt, warum haben Sie auch das m it den Schlangen gesagt?«, sagte Harry und überprüfte noch einm al, dass das
Messer an seinem Gürtel hing.
»Mögen Sie die nicht?«
»Nun, die wenigen, denen ich bi s jetzt begegnet bin, haben keinen guten Eindruck hinterlassen.«
»Wenn Sie gebissen werden, achte n Sie darauf, die Schlange zu erwischen, da mit Sie das richtige Serum bekommen. Im Prinzip macht es nicht so viel au s, wenn Sie noch ein zweites Mal gebissen werden.«
Es war zu dunkel, um zu erke nnen, ob Løken l ächelte, aber Harry ging davon aus.
Harry rannte auf das Haus zu, das vor ihm aus dem Dunkel auftauchte. Die Silhouette de s geifernden Drachenkopfes auf dem First sah aus, als w ürde sie sich bewegen. Trotzdem wirkte das Haus verdamm t tot. Der Schaft des Ham mers, den er im Rucksack hatte, schlug gegen seinen Rücken. Er hatte aufgehört, an die Schlangen zu denken.
Er erreichte das andere Fens ter, gab Løken das Signal und setzte sich hin. Es wa r eine Weile her, d ass er zuletzt so weit gelaufen war, vermutlich klopfte sein He rz deshalb so wild.
Dann hörte er leichte Atemzüge neben sich. Es war Løken.
Harry hatte Tränengas vorgesc hlagen, doch Løken hatte das mit Nachdruck abgewiesen. Es war so dunkel, dass es sie a m
Sehen hindern würde, und außerdem hatten sie keinen Grund zu 351
der Annahme, dass Klipra mit einem Messer an Runas Kehle auf sie wartete.
Løken zeigte Harry die Faust, das vereinbarte Startsignal.
Harry nickte und spürte, dass er einen trockenen Mund hatte, ein sicheres Zeichen, dass das Ad renalin in reichlichen Mengen durch sein Blut ström te. Der Sc haft der Pistole lag klamm in seiner Hand. Er überprüfte, ob die Tür nach innen aufging, ehe Løken mit dem Hammer ausholte.
Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Eisen und für einen kurzen Moment sah er aus wi e ein Tennisspieler beim Auf-schlag, dann knallte der Hamm er mit voller W ucht auf das Schloss, das krachend nachgab.
Im nächsten Mom ent war Harry drinnen und der Lichtkegel seiner Taschenlampe huschte durch den Raum. Er sah sie sofort, doch das Licht floh weiter, wie von selbst. Küchenregale, ein Kühlschrank, eine Bank, ein Kruz ifix. Er hörte die Geräusche der Tiere nicht m ehr, nur das Klirren von Ketten, die W ellen, die im Yachthafen von Sydney schm atzend an die Seite des Bootes klatschten, und das Schrei en der Möwen, vi elleicht weil Birgitta an Deck lag und so unendlich tot war.
Ein Tisch mit vier Stühlen, ein Schrank, zwei Bierflaschen, ein Mann am Boden, reglos, Blut unter dem Kopf, seine H and verborgen unter ihren Haaren, ei ne Pistole unter dem Stuhl, das Gemälde einer Obstschale und einer leeren Vase. Stillleben.
Unbewegtes Leben. Nature morte. Das Licht h uschte über sie und er sah sie wieder: die ans Tischbein gelehnte, nach oben zeigende Hand. Er hörte ihre Stimme: »Kannst du es spüren? Du kannst das ewige Leben erlangen! « Als versuchte sie, Energie zu sammeln für einen letzten Pr otest gegen den Tod. Eine T ür, ein Gefrierschrank, ein Spiegel. Eh e er geblendet wurde, sah er sich selbst für den Bruchteil einer Sekunde – eine Gestalt in schwarzen Kleidern m it einer Kapuze über dem Kopf. Er sa h aus wie ein Henker. Harry ließ die Taschenlampe fallen.
352
»Bist du o.k.?« Liz legte ihre Hand auf seine Schulter. Er hatte vor zu antworten, öffnete den Mund, doch es kam nichts.
»Das ist Ove Klipra, ja«, sagte Løken. Er hatte sich vor den Toten gehockt, eine nackte Birne beleuch tete die Szen erie.
»Seltsam, da habe ich diesen Kerl seit Monaten überwacht.«
Er legte die Hand auf Klipras Stirn.
»Nichts anfassen!«
Harry packte Løken am Kragen und zog ihn hoch.
»Nichts …!«
Er ließ ihn ebenso plötzlich wieder los. »Tut m ir leid, ich …
Aber nichts anfassen. Noch nicht.«
Løken sagte nichts, er starrte ihn bloß an. Liz hatte wieder ihre tiefe Falte zwischen den haarlosen Augenbrauen.
»Harry?«
Er ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Es ist jetzt vorbei, Harry. Es tut mir leid, es tut uns allen leid, aber es ist vorbei.«
Harry schüttelte lediglich den Kopf.
»Gibt es etwas, was du mir erzählen willst, Harry?«
Sie hatte sich über ihn gebeugt und eine große, warme Hand in seinen Nacken gelegt. Wie es seine Mutte r immer getan hatte.
Verdammte Scheiße.
Er stand auf, schob sie zur Se ite und ging nach draußen. L iz und Løken sprachen drinnen leis e miteinander. Er sah z um Himmel, suchte nach einem Stern, konnte aber keinen finden.
Es war beinahe Mitternacht, als Harry klingelte. Hilde Molnes öffnete. Er sah zu Boden, hatte nicht einm al vorher angerufen und hörte an ihrem Atem, dass sie gleich anfangen würde zu weinen.
353
Sie setzten sich im Wohnzimmer einander gegenüber. Er konnte keine Ginflasche sehen und sie erschien ihm auch klar genug zu sein. Sie trocknete ih re Tränen. »Sie wollte Turm -
springerin werden, wussten Sie das?«
Er nickte.
»Aber sie w ollten sie an de n üblichen Ausscheidungen nicht teilnehmen lassen. Behaupteten, di e Punktrichter wüssten nicht, wie sie sie einschätzen s ollten. Einige meinten sogar, es sei ein Vorteil, mit einem Arm zu springen, dass das nicht fair sei.«
»Es tut mir leid«, sagte er. Es war das Erste, was er seit seinem Kommen gesagt hatte.
»Sie wusste es nicht«, sagte sie. »Hätte sie es gewusst, hätte sie nicht so m it mir geredet.« Ihr Gesicht verzog sich und die Tränen rannen wie kleine Bäche über die Fältchen an ihrem Mund.
»Wusste was, Frau Molnes?«
»Dass ich krank bin!«, rief sie und legte das Gesicht in die Hände.
»Krank?«
»Warum, glauben Sie, betäube ich mich sonst derart? Mein Körper ist bald von innen aufg efressen, das ist nur noch ein Haufen fauler Materie und toter Zellen.«
Harry sagte nichts.
»Ich wollte es ihr sagen«, flüs terte sie durch die Finger. »Dass die Ärzte mir noch sechs Monate geben. Aber ich wollte ihr das an einem guten Tag sagen.«
Ihre Stimme war jetzt kaum noch zu hören. »Nur dass keine guten Tage mehr kamen.«
Harry stand auf, er konnte einfach nicht sitzen bleiben. Er ging zum großen Gartenf enster, vermied die Fam ilienbilder an der Wand, denn er wusste, we m seine Augen da begegnen würden.
Der Mond spiegelte sich im Pool.
354
»Haben sie wieder angerufen? Die Männer, denen Ihr Mann Geld schuldete?«
Sie nahm die Hände w eg. Ihre Augen waren verweint und hässlich.
»Sie haben angerufen, aber Jens war hier und hat m it ihnen gesprochen. Seither habe ich nichts mehr gehört.«
»Dann passt er auf Sie auf, oder?«
Harry fragte sich, warum er ge rade das gefragt hatte. V ielleicht war es ein plumper Vers uch zu trösten, sie daran zu erinnern, dass es in ihrem Leben noch jemanden gab.
Sie nickte stumm.
»Und jetzt wollen Sie heiraten?«
»Haben Sie etwas dagegen?«
Harry drehte sich zu ihr um. »Nein, warum sollte ich das?«
»Runa …« Sie kam nicht weiter und die Tränen begannen wieder über ihre Wangen zu rollen.
»Herr Hole, ich habe in meinem Leben nicht viel Liebe erfahren. Ist es zu viel verlangt, vor dem Tod noch ein paar glückliche Monate zu haben? Konnte sie mir das nicht gönnen?«
Harry sah ein violettes Blüte nblatt im Pool sc hwimmen. Er dachte an die Frachter aus Malaysia.
»Lieben Sie ihn, Frau Molnes?«
In der Stille, die folgte, lauschte er den Trompetenstößen.
»Ihn lieben? Was spielt das für eine Rolle? Es gelingt mir, mir einzubilden, dass ich ihn liebe , ich glaube, ich könnte jeden lieben, der mich liebt, verstehen Sie?«
Harry blickte zum Barschrank. Es waren nur drei Schritte bis dort. Drei Schritte, zwei Eiswürfel und ein Glas. Er schloss die Augen und konnte das Eis im Glas klirren und tanzen hören, das Glucksen der Flasche, w enn er die bräunliche F lüssigkeit darü-
355
bergoss, und zu guter Letzt das zischende Geräusch, wenn sich das Sodawasser mit dem Alkohol mischte.
356
KAPITEL 45
Es war sieben Uhr morgens, als Harry zum Tatort zurückkehrte.
Um fünf hatte er den Versuch zu schlafen aufgegeben, sich angezogen und in den Leihwagen gesetzt, der noch in der Garage stand. Es war sonst noch niemand dort, die Spurensicherung hatte ihre Arbeit in der Nacht unterbrochen und würde sicher erst in einer Stunde zurück sein. Er stieg über die orange Polizeiabsperrung und ging ins Haus.
Bei Tageslicht sah alles ganz anders aus, friedlich und ge-pflegt. Nur das Blut und die m it Kreide gezogenen Umrisse der zwei Körper auf dem groben Holzboden bezeugten, dass es sich um denselben Raum handelte, in dem er in der Nacht gewesen war.
Sie hatten keinen Brief gefunden, aber trotzdem hatte niemand wirklich bezweifelt, was geschehen war. Die Frage war eher, warum Ove Klipra erst sie und dann sich erschossen hatte. Hatte er erkannt, dass sein S piel verloren war? Aber wenn das so gewesen war, warum hatte er sie dann nicht einfach gehen lassen? Vielleicht war es nicht geplant gewesen, vielleicht hatte er sie bei einem Fluchtversuch erschossen oder weil sie etwas gesagt hatte, was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Und dann hatte er sich selbst erschossen? Harry kratzte sich am Kopf.
Er betrachtete die Kreid estriche, die die Lage ihres Körpers nachzeichneten, und das Blut, das noch nicht weggewaschen war. Klipra hatte ihr mit der Pistole, die sie gefunden hatten –
eine Dan Wesson –, in den Hals geschossen. Die Kugel war glatt durchgegangen und hatte dabei di e Pulsader aufgerissen, die noch so viel Blut herausgepum pt hatte, dass es bis zum Spülbe-cken geflossen war, ehe ihr Herz zu schlagen aufhörte. Der Arzt meinte, sie sei sof ort ohnmächtig gewesen, weil ih r Gehirn keinen Sauerstoff m ehr erhalten habe, und sei dann nach drei 357
oder vier Herzschlägen gestorben. Ein Loch im Fenster zeigte, wo Klipra gestanden hatte, als er sie erschoss. Harry stellte sich in den Umriss von Klipras Körper. Der Winkel stimmte.
Er sah zu Boden.
Das Blut zeichnete einen ge ronnenen, schwarzen Glorien-schein um die Stelle, an der se in Kopf gelegen hatte. Das war alles. Er hatte sich in den M und geschossen. Harry sah, dass die Männer von der Spurensicherung den Ort m it Kreide gekenn-zeichnet hatten, an dem die Kugel in die doppelte Bam buswand eingeschlagen war. Er stellte sich vor, wie Klipra sich hingelegt, den Kopf zur Seite gedreht und si e angesehen hatte. Vielleicht hatte er sich gefragt, wo sie war, ehe er abgedrückt hatte.
Er ging nach draußen und fand das Austrittsloch in der W and.
Er sah hinein und blickte direkt auf das G
emälde auf der
gegenüberliegenden Wand. Stillleben. Seltsam, er hatte gedacht, in Klipras Umriss zu blicken. Er ging zurü ck zu dem Ort, an dem sie am Abend zuvor im Gras gelegen hatten, stam pfte hart mit dem Fuß auf, um nicht unverm
ittelt auf irgendwelche
Kriechtiere zu stoßen, und ging weiter zum Geisterhaus. Ein kleiner, lächelnder Buddha m it kugelrundem Bauch thronte i m Innern des Häuschens, umgeben von ein paar welken Blumen in einer Vase, vier Filterzigaretten u nd ein paar ausgebrann ten Kerzen. Ein kleines, weißes Lo ch am hinteren Rand der Kera-mik zeigte, wo die Kugel eing eschlagen hatte. Harry nahm sein Schweizermesser heraus und hebelte einen def ormierten Blei-klumpen heraus. Er blickte zurü ck zum Haus. Die Kugel war in einer direkten, horizontalen L inie geflogen. Natürlich, Klipra hatte gestanden, als er sich erschoss. Warum hatte er gedacht, er hätte am Boden gelegen?
Er ging zurück zum Haus. Irgendetwas stimmte da nicht. Alles wirkte so sauber und aufgeräum t. Er öffnete den Kühlschrank.
Leer, nichts, um zwei Menschen am Leben zu halten. Ein Staubsauger kippte heraus und fiel auf seinen großen Zeh, als er den Küchenschrank öffnete. Er fluchte und drückte den S taub-358
sauger zurück in den Schrank, doch er kam ihm wieder entgegen, ehe er die Tür schließen konnte. Als er genauer hinsah, fand er einen Haken, an dem er ihn befestigen konnte.
Ein System, dachte er. Hier gibt es ein System. Aber jemand hat da gemogelt.
Er nahm die Bierflaschen von der Gefriertruhe und öffnete sie.
Blasses, rotes Fleisch leuchtete ih m entgegen. Es war nicht eingepackt, sondern einfach in großen Stücken eingefroren worden. An manchen Stellen war das Blut zu einer schwarzen Hülle gefroren. Er nahm ein Stück heraus, m usterte es, ehe er seine eigene morbide Fantasie verfluchte und es zurücklegte. Es sah wie ganz normales Schweinefleisch aus.
Harry hörte einen Laut und wirbelte herum
. Eine Gestalt
erstarrte in der Türöffnung. Es war Løken.
»Mein Gott, hast du m ich erschreckt, Harry. Ich war sicher, dass niemand hier ist. Was machst du hier?«
»Nichts. Mich umsehen. Und du?«
»Ich wollte nur überprü fen, ob es hier irgendwelche Papie re gibt, die wir im Rahmen der Pädophiliesache verwenden können.«
»Warum? Jetzt, wo der Mann to t ist, hat sich die Sache doch wohl erledigt.«
Løken zuckte mit den Schultern.
»Wir brauchen sichere Indizie n, um zu bewei sen, dass unser Vorgehen richtig war, s chließlich müssen wir jetzt damit rechnen, dass die Überwachung herauskommt.«
Harry musterte Løken. Sah er nicht ein wenig angespannt aus?
»Aber, mein Gott, du hast doch die Bilder. Kann es denn noch bessere Beweise geben?«
Løken lächelte, aber nicht brei t genug, damit Harry den Goldzahn sehen konnte. »Mag sein, dass du recht hast, Harry. Ich bin 359
wohl nur ein ängstlicher, alter Mann, der ganz auf der sicheren Seite sein will. Hast du etwas gefunden?«
»Nur die hier«, sagte Harry und hielt die Bleikugel hoch.
»Hm«, sagte Løken und betrachte te sie. »W o hast du die gefunden?«
»Draußen im Geisterhaus. Und irgendwie passt das nicht.«
»Warum nicht?«
»Das bedeutet, dass Klipra gestanden haben muss, als er sich erschoss.«
»Und wenn schon?«
»Dann hätte das Blut aber doch über den ganzen Küchenboden spritzen müssen. Aber nirgends ist Blut von ihm, nur dort, wo er gelegen hat. Und selbst da nur wenig.«
Løken hielt die Kugel zwischen den Fingerspitzen. »Hast du noch nichts vom Vakuumeffekt bei Mundschüssen gehört?«
»Was hat es damit auf sich?«
»Wenn ein Opfer ausatm et und de n Mund um den Lauf der Pistole legt, entsteht ein Vakuu m, durch das das Blut in die Mundhöhle läuft, statt durch die Ausschusswunde auszutreten.
Von dort läuft es in die Bauchhöhle und hinterlässt bloß diese kleinen Geheimnisse.«
Harry sah ihn skeptisch an. »Das ist mir neu.«
»Wär doch langweilig, wenn man mit Mitte dreißig schon alles wüsste«, sagte Løken.
Tonje Wiig hatte angerufen und be richtet, dass alle größeren norwegischen Zeitungen angerufe n hatten. D ie blutrünstigsten von ihnen hatten ihre Ankunf t in Bangkok angekündigt. In Norwegen beschränkten sich d ie Schlagzeilen bislang auf die kürzlich verstorbene Tochter des Botschafters. Ove Klipra war trotz seiner Position in Bangkok ein in Norwegen unbekannter 360
Name. Die Zeitschrift Kapital hatte zwar ein mal vor ein paar Jahren ein Interview m it ihm geführt, doch da er niem als in einer der populären Talkshows zu Gast gewesen war, wussten die wenigsten, wer er war.
»Die Tochter des Botschafters« und »der unbekannte norwegische Magnat« waren laut Beri cht beide erschossen worden, höchstwahrscheinlich von Einbrechern oder Räubern.
Auf den tha iländischen Zeitungen aber prangte das Bild von Klipra auf der Titelseite. Der Journalist der Bangkok Post setzte überdies ein Fragezeichen hinter die Theorie d er Polizei, wie sich alles zugetragen haben könnt e. Er schrieb, dass m an nicht ausschließen könne, dass Klipra Runa Molnes getötet und anschließend Selbstmord begangen hatte. Die Zeitschrift spekulierte überdies offen darübe r, welche Folgen das für die weitere Entwicklung von BERTS haben würde. Harry war beeindruckt.
Beide Zeitungen des Landes unt erstrichen aber, dass d ie Ermittlungsergebnisse der thailändischen Polizei bis jetzt recht spärlich ausfielen.
Harry fuhr zum Portal von K lipras Anwesen und hupte. Er musste sich eingestehen, dass er begann, den geräum igen
Toyota zu mögen. Der W achmann kam und Harry ließ die Scheibe herunter.
»Polizei, ich hatte angerufen«, sagte er.
Der Wachmann warf ih m den obligatorischen S ecurity-Blick zu, ehe er das Tor öffnete.
»Sperren Sie mir die Haustür auf?«, bat Harry.
Der Wachmann sprang auf das Tr ittbrett des Jeeps und Harry spürte den Blick des Mannes. Er parkte in der Garage. Der Security-Mann klirrte mit den Schlüsseln.
361
»Der Haupteingang ist auf der a nderen Seite«, sagte er und beinahe wäre Harry herausgerutscht, dass er das bereits wusste.
Als der Wachm ann den Schlü ssel ins Schloss steckte und umdrehen wollte, drehte er sich zu Harry und f ragte: »Habe ich Sie schon einmal gesehen, sil? «
Harry lächelte. Wie konnte das möglich sein? Sein Rasierwas-ser? Die Seife, die er benutzte? Es heißt, dass sich das menschliche Hirn am besten an Gerüche erinnere.
»Wohl kaum.«
Der Wachmann erwiderte sein Lächeln. »Entschuldigen S ie, sil. Ich habe Sie bestimmt verwe chselt. Ich kann farangs so schlecht unterscheiden.«
Harry verdrehte die Augen, hielt dann aber inne und sah auf.
»Sagen Sie mir, erinnern Sie sich an ein blaues Diplomatenfahrzeug, das unmittelbar vor Klipras Verschwinden hierher kam?«
Der Wachmann nickte. »Autos sind kein Problem. Der Fahrer war auch ein farang. «
»Wie sah er aus?«
Der Wachmann lachte. »Wie gesagt …«
»Was trug er für Kleider?«
Er schüttelte den Kopf.
»Einen Anzug?«
»Ich glaube schon.«
»Einen gelben Anzug? Gelb wie ein Kanarienvogel.«
Der Wachmann runzelte die S tirn und sah ihn an. »Kanarienvogel? Solche Anzüge trägt doch wohl niemand?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Nun, mancher schon.«
Er stand in dem Flur, in de n er und Løken gekommen waren, und betrachtete ein kleines, r undes Loch in der W and. Es sah aus, als hätte jemand vergeblich versucht, dort eine Schraube in 362
die Wand zu drehen, um ein Bild aufzuhängen. Es konnte aber auch etwas anderes sein.
Er ging ins Büro, blätterte durch einige Papiere, stellte einfach so den PC an und wurde nach einem Passwort gefragt.
Er versuchte es mit »MAN U«. Incorrect. Falsch.
Eine höfliche Sprache, dieses Englisch.
»OLD TRAFFORD«. Wieder incorrect.
Ein letzter Versuch, bevor er endgültig gesperrt wurde. Er sah sich um, um im Raum einen Anhaltspunkt zu finden. Was nutzte er selbst? Er brummte belustigt. Natürlich. Das häufigste Passwort ganz Norwegens. Vorsich tig tippte er die Buchstaben
»PASSWORD« ein, ehe er auf ENTER drückte.
Die Maschine schien einen Augenblick zu zögern. Dann erlosch sie und er bekam schwarz auf weiß eine etwas weniger höfliche Mitteilung, dass ihm der Zugang verwehrt war.
»Scheiße!«
Er versuchte, die Maschine an- und auszuschalten, bekam aber nur einen weißen Bildschirm.
Er blätterte schließlich noch durch ein paar andere Papiere und fand eine erst kürzlich aktualisierte Aktionärsliste von Phuridell.
Ein neuer Aktionär, Ellem Ltd., war mit 3 Prozent der Aktien verzeichnet. Ellem. Ein wilder Gedanke schoss Harry durch den Kopf, aber er wies ihn von sich.
Ganz unten in der Schublade fand er die Bedienungsanleitung des Anrufbeantworters. Er sah auf die Uhr und seufzte. Er musste das wohl lesen. Nach einer halben Stunde begann er, die aufgezeichneten Meldungen abzuhören. Klipras Stimm e war vorwiegend auf Thailändisch zu hören, aber er hörte, dass mehrmals der Nam e Phuridell fi el. Nach drei S tunden gab er auf. Das a m Mordtag gef ührte Gespräch mit dem Botschafter war einfach auf keinem der Au fzeichnungsgeräte zu finden.
Und, um genau zu sein, auch kein anderes Gespräch. Er steckte 363
eines der B änder in seine Tasche, schaltete das Gerät aus und vergaß nicht, dem PC einen Tr itt zu verpassen, als er n ach draußen ging.
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KAPITEL 46
Er fühlte nicht viel. Die Beerdigung war wie eine Wiederholung im Fernsehen. Der gleiche Ort, der gleich e Pfarrer, die g leiche Urne, der gleiche Schock für die Augen, wenn m an danach wieder in die Sonne trat, und die gleichen Menschen, die oben auf der Treppe standen und sich unschlüssig ansahen. Beinahe die gleichen Menschen. Harry begrüßte Roald Bork.
»Tja, Sie haben sie gefunden«, sa gte er nur. Seine wachen Augen hatten einen grauen Schlei er, er wirkte verändert, als hätten ihn die Geschehnisse um Jahre altern lassen.
»Wir haben sie gefunden.«
»Sie war noch so jung.« Es klang w ie eine Frage. Als wollte er, dass ihm jemand erklärte, wie so etwas möglich war.
»Warm«, sagte Harry, um das Thema zu wechseln.
»An dem Ort, wo Ove jetzt ist, ist es noch wärm er.« Er sagte es nachlässig dahin, doch sein e Stimme hatte einen harten, bitteren Klang. Er wischte sich die S tirn mit einem Taschentuch ab. »Ich habe im Übrigen herausgefunden, dass ich eine Auszeit von dieser Hitze brauche. Ich ha be mir einen Flug nach Hause reservieren lassen.«
»Nach Hause?«
»Na ja, nach Norwegen eben. So bald wie m öglich. Ich habe meinen Jungen angeruf en und ihm gesagt, dass ich ihn gerne sehen möchte. Es dauerte eine W eile, bis ich begriff, dass nicht er am Telefon war, sondern sein S ohn. Hähä, ich werde wohl langsam senil. Ein seniler Großvater, das ist doch was.«
Etwas abseits im Schatten der Kirche standen Sanphet und Ao.
Harry ging zu ihnen und erwiderte ihr wai.
»Darf ich Ihnen kurz eine Frage stellen, Fräulein Ao?«
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Ihr Blick huschte unsicher zu Sanphet, dann nickte sie.
»Sie sortieren doch die Post in der Botschaft. Können Sie sich erinnern, etwas von einer Gese llschaft mit Namen Phuridell erhalten zu haben?«
Sie dachte einen Moment nach, ehe sie entschuldigend lächelte: »Ich erinnere m ich nicht, es sind so viele Briefe. Ich kann morgen im Büro des Botschafters nachsehen, wenn Sie wollen.
Es kann aber einen Mom ent dauern, er war ja nicht gerade ordentlich.«
»Ich denke nicht an den Botschafter.«
Sie sah ihn verständnislos an.
Harry seufzte.
»Ich weiß n icht einmal, ob das wichtig is t, aber würden Sie mit mir Kontakt aufnehmen, wenn Sie etwas finden?«, fragte er.
Sie sah zu Sanphet.
»Das wird sie, Herr Kommissar«, sagte er.
Harry saß wartend in ihrem Büro, als Liz vollkomm en außer Atem hereingehastet kam. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn.
»Verflucht«, sagte sie, »da dr außen spürt man ja den Asphalt durch die Schuhsohlen.«
»Wie lief die Besprechung?«
»Ganz gut, so weit. Die Chefetage gratulierte zur Aufklärung des Falls und stellte keine weite rgehenden Fragen zum Bericht.
Sie haben sogar gefressen, da ss wir Klipra aufgrund eines anonymen Hinweises unter die Lupe genommen haben. Sollte der Polizeichef einen Verdacht haben, was hier vorgegangen ist, hat er anscheinend nicht vor, Ärger zu machen.«
»Im Grunde habe ich dam it gerechnet. Er hätte dadurch ja nichts zu gewinnen.«
»Höre ich da einen gewissen Sarkasmus heraus, Herr Hole?«
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»Überhaupt nicht, Fräulein Crum ley. Das ist nur die Stimme eines jungen, naiven Beam ten, der langsam begonnen hat, die Spielregeln zu verstehen.«
»Vielleicht. Aber a lle Beteiligten sind insgeheim wohl froh darüber, dass Klipra tot ist. Ein Verfahren hätte zwangsweise ein paar unangenehme Details zu tage gefördert, nicht nur f ür ein paar Polizeipräsidenten, sondern auch für die Behörden unserer beider Länder.«
Liz streifte sich die S chuhe ab und lehnte sich zufrieden zurück. Die Federn ihres Stuhls knirschten, während sich der unverkennbare Geruch von Schweißfüßen im Raum ausbreitete.
»Ja, es passt ein paar Leuten fast schon auffallend gut in den Kram, findest du nicht?«, fragte Harry.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht«, sagte Harry . »Ich m eine nur, die Sache stinkt.«
Liz blickte auf ihre Zehen und sah Harry misstrauisch an.
»Hat dir schon m al jemand gesagt, dass du an Paranoia lei-dest?«
»O ja, sicher. Aber das braucht ja nicht zu bedeuten, dass die kleinen, grünen Männchen nich t auf der Jagd nach dir sind, oder?«
Sie sah ihn verständnislos an. »Komm mal wieder runter, Harry.«
»Ich versuch es ja.«
»Also, wann fährst du?«
»Sobald ich mit dem Arzt und der Kriminaltechnik gesprochen habe.«
»Was willst du denn mit denen?«
»Nur meine Paranoia loswerden. Du weißt schon … so’n paar komische Ideen, die mir durch den Kopf gegangen sind.«
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»Ja, ja«, sagte Liz. »Hast du schon gegessen?«
»Ja«, log Harry.
»Verflucht, ich hasse es, allein zu essen. Kannst du m ir nicht einfach Gesellschaft leisten?«
»Ein andermal, o.k.?«
Harry kam auf die Beine und verschwand aus dem Büro.
Der junge Polizeiarzt putzte be im Reden seine Brille. Die Pausen zwischen den Worten waren m anchmal so lang, dass Harry sich fragte, ob seine zähflüssige Rede nun vollends ins Stocken geraten war. Doch dann kam wieder ein W ort, gefolgt von einem weiteren, bis sich der Korken löste und er weiterrede-te. Er schien fast zu fürcht en, Harry könnte etwas an seine m Englisch auszusetzen haben.
»Der Mann hat dort höchstens zw ei Tage gelegen«, sagte der Arzt. »Etwas länger bei dieser Wärme und der Körper wäre …«
Er blies die W angen auf und m achte Andeutungen m it den Armen.
»… hätte wie ein g roßer Gasballon ausgesehen. Und dann hätten Sie auch etwas gerochen. Was das Mädchen angeht …«
Er blies noch einmal die Wangen auf.
»… das Gleiche.«
»Wie schnell ist Klipra an dem Schuss gestorben?«
Der Arzt befeuchtete seine Lippen und Harry glaubte, die Z eit verfliegen zu spüren.
»Schnell.«
»Und sie?«
Der Polizeiarzt steckte das Taschentuch in seine Tasche.
»Augenblicklich, denn der Nackenwirbel wurde durchtrennt.«
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»Ich meine, kann sich einer von beiden nach dem Schuss noch bewegt haben, können sie Zuckungen oder so etwas gehabt haben?«
Der Arzt se tzte seine Brille auf, vergewisserte sich, dass sie richtig saß, und nahm sie wieder ab.
»Nein.«
»Ich habe gelesen, dass m an zu Beginn der Französischen Revolution, als die Guillotine noch nicht erfunden war und m an die Leute noch von Hand köpfte, den Verurteilten die F reiheit versprach, sollte der Henker se
in Handwerk nicht richtig
ausführen und sie in der Lage bl eiben, sich zu erheben und das Schafott zu verlassen. Angeblic h sollen es einige geschafft haben, ohne Kopf noch einmal aufzustehen und ein paar Schritte zu machen, ehe sie zusammenbrachen, natü rlich unter gro ßem Jubel des Publikum s. Wenn ich m ich richtig erinnere, hat das ein Wissenschaftler damit erklärt, dass m an sein Geh irn in einem gewissen Grad vorprogr ammieren kann und dass die Muskeln Überstunden machen können, wenn unm ittelbar vor der Enthauptung große Mengen Ad renalin ins Herz gepumpt werden. Dass das wie bei den Hühnern ist, die geköpft werden.«
Der Arzt lächelte gezwungen.
»Interessant, Herr Komm issar. Aber ich fürchte, das sind Räubermärchen.«
»Was gibt es denn sonst für eine Erklärung für das hier?«
Er reichte dem Arzt ein Foto von R una und Klipra am Boden liegend. Der Arzt betrachtete das B ild lange, ehe er seine Brille aufsetzte und es noch einmal genauer studierte.
»Eine Erklärung wofür?«
Harry zeigte auf das Bild. »Seh en Sie, hier! Seine Hand liegt unter ihren Haaren.«
Der Arzt blinzelte, a ls hätte er Staub in den Augen, der ihn daran hinderte, zu verstehen, was Harry meinte.
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Harry verscheuchte eine Fliege . »Hören Sie, Sie wissen doch, wie das Unterbewuss tsein automatisch seine Schlüsse z ieht, oder?«
Der Arzt zuckte mit den Schultern.
»Tja. Ohne m ir darüber im Klaren zu sein, habe ich den Schluss gezogen, dass Klipra am Boden gelegen haben muss, als er sich selb st erschoss, weil er nur so bereits die Hand unter ihren Haaren gehabt haben konnt e. Verstehen Sie? Doch der Winkel des Schusses zeigt, dass er stand. Wie kann er erst sie und dann sich erschossen und dann trotzdem ihre Haare über seiner Hand haben, das müsste doch umgekehrt sein?«
Der Arzt nahm seine Brille ab und begann vor vorne m it dem Putzen.
»Vielleicht hat sie beide erschossen«, sagte er, doch da war Harry bereits gegangen.
Harry nahm die Sonnenbrille ab und blinzelte m it brennenden Augen in den dunklen Gastraum des Restaurants. Eine Hand winkte und er strebte auf einen Ti sch unter einer Palme zu. Ein Streifen Sonnenlicht ließ eine Stahlbrille aufblinken, als sich der Mann erhob.
»Wie ich sehe, haben Sie die Nachricht erhalten«, sagte Dagfinn Torhus. Sein Hemd hatte große, nasse Ringe unter den Armen und über der Stuhllehne hing ein Jackett.
»Hauptkommissarin Crumley hat m ir mitgeteilt, dass Sie angerufen haben. W as führt Sie hierher?«, fragte Harry und ergriff die ausgestreckte Hand.
»Administrative Tätigkeiten in d er Botschaft. Ich bin heute Morgen angekommen, um einige Papiere in Ordnung zu bringen. Außerdem müssen wir einen neuen Botschafter finden.«
»Tonje Wiig?«
370
Torhus lächelte milde. »Wir werden sehen. Da gibt es viele Rücksichten zu nehmen. Was isst man hier?«
Ein Kellner stand bereits an ihrem Tisch und Harry sah fragend auf.
»Aal«, empfahl der Kellner. »V ietnamesische Spezialität. Mit vietnamesischem Roséwein und …«
»Nein, danke«, unterbrach ihn Ha rry, warf einen Blick in die Speisekarte und zeigte auf die Kokosmilchsuppe.
»Mit Mineralwasser.«
Torhus zuckte mit den Schultern und nickte zustimmend.
»Gratuliere.« Torhus schob sich einen Zahnstocher zwischen die Zähne. »Wann fahren Sie?«
»Danke, Herr Torhus, aber ich fürchte, dafür ist es noch etwas zu früh. Es gibt noch ein paar Spuren, denen wir nachgehen müssen.«
Torhus hörte zu stochern auf. »Spuren? Es ist nicht Ihr Job, alles bis zur Perfektion zu Ende zu f ühren, Hole. Sie sollten die Sachen packen und zusehen, dass Sie nach Hause kommen.«
»Ganz so einfach ist das nicht.«
Es blitzte in den harten blauen Bürokraten augen. »Es ist
vorbei, verstehen Sie? Der Fall
ist gelöst. In Oslo prangte
gestern auf jeder Titelseite, dass Klipra den Botschafter und dessen Tochter getötet hat. Aber wir überleben, Hole. Man bezieht sich auf die Aussage des hiesigen Polizeichefs, dass man sich über das Motiv noch im Unklaren ist und dass Klipra möglicherweise geistig gestört war. So einfach und so total unbegreiflich. Das W ichtigste ist, dass die Menschen uns das abkaufen, und das tun sie.«
»Der Skandal ist also Tatsache geworden?«
»Ja und nein. Es ist uns gelunge n, die Sache m it dem Motel unter Verschluss zu halten. Das W ichtigste ist, dass der Ministerpräsident keinen Schaden ni mmt. Jetzt müssen wir uns über 371
andere Dinge Gedanken machen. Die Zeitungen haben angefangen, sich hier unten vor Ort zu erkundigen, warum nicht früher bekanntgegeben worden ist, dass der Botschafter Opfer eines Mordes geworden war.«
»Was antworten Sie dann?«
»Was zum Teufel soll ich sa gen? Sprachprobleme und Missverständnisse. Dass uns die thailändische Polizei zu Beginn m it falschen Ermittlungsergebnissen versorgt hat, so etwas in der Art.«
»Und das kauft man Ihnen ab?«
»Nicht wirklich. Aber m an kann uns dann wenigstens nicht den Vorwurf der gezielten Fehlinfor mation machen. In der Pressemeldung heißt es, dass der Bo tschafter tot in einem Hotel aufgefunden worden ist, und das ist so weit ja richtig. W
ie,
sagen Sie, haben Sie die Tochter des Botschafters und Klipra gefunden?«
»Ich habe dazu gar nichts gesa gt.« Harry atmete ein paar Mal tief durch. »Hören Sie, Torhus, ich habe zu Hause bei Klipra ein paar Pornos gefunden, die dara uf hindeuten, dass er pädophil war. Davon steht nichts in den Polizeiberichten.«
»Nicht? Tja.« Die Stimme verriet nicht einen Augenblick, dass er log. »W ie auch imm er, Sie haben hier in Thailand kein Mandat mehr. Und Møller hat betont, dass er Sie so schnell wie möglich wieder zurückhaben will.«
Dampfend heiße Kokosmilchsuppe wurde serviert und Torhus blickte skeptisch auf seinen Teller. Seine Brille beschlug.
»Die Boulevardpresse wird si cher ein hübsches Foto von Ihnen machen, wenn Sie auf de m Flughafen ankommen«, sagte er säuerlich.
»Probieren Sie m al eine von di esen Roten da«, sagte Harry und zeigte auf den Teller.
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KAPITEL 47
Supawadee war laut Liz derjenig e in Thailand, der die m eisten Mordfälle löste. Seine wichtigs ten Hilfsmittel dafür waren ein Mikroskop, ein paar Glaskolben und Lackmuspapier. Er grinste wie eine Sonne, als er vor Harry saß.
»Es stimmt, Hally. Die Kalkbröckchen, die Sie uns gegeben haben, beinhalten den gleichen Farbstoff wie der S taub am Schraubenzieher im Kofferraum des Wagens, den der Botschafter gefahren hat.«
Statt auf Harrys Frage einfach nur mit ja oder nein zu antworten, wiederholte er die gesam te Fragestellung, damit es keine Missverständnisse gab. Der Grund dafür war, dass Supawadee ein sprachkundiger Mann war, er wusste, dass man auf Englisch aus irgendeinem Grund die doppe lte Verneinung anwendete.
Wäre Harry in Thailan d in ei nen falschen Bus gestiegen und hätte dann voller Zweifel einen an deren Passagier gefragt: »Ist das nicht der Bus nach Hualam phong?«, hätte der Betreffende Thai vermutlich mit »yes« geantwortet, um zu bestätigen, dass es stimmte, was Harry gesagt hatte, dass dies näm lich nicht der Bus nach Hualamphong war. Farangs, die auch nur ein bisschen Thailändisch können, wissen das, doch dann entstehen Missverständnisse, wenn ein Thailände r, der ein bisschen besser Englisch spricht, m it »no« antwortet. Supawadee wusste aus Erfahrung, dass farangs in der Regel nichts verstanden, wenn er etwas zu erklären versuchte, weshalb er dazu übergegangen war, mit ihnen so zu sprech en, wie man es eben m it etwas weniger intelligenten Kreaturen tun musste.
»Und das zweite stimmt auch, Hally. Der Inhalt des Staubsaugerbeutels aus Klipras Hütte war sehr inte ressant. Er enthält Fasern vom Teppich im Kofferraum des Bot schafter-Wagens, vom Anzug des Botschafters und auch von Klipras Jacke.«
373
Harry notierte mit wachsender Begeisterung. »Wie sieht es mit den beiden Bändern aus, die ich Ihnen gegeben habe? Haben Sie die nach Sydney geschickt?«
Supawadees Lächeln wurde, wenn das überhaupt möglich war, noch breiter, denn jetzt kam der Teil, m it dem er wirklich zufrieden war.
»Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, Herr Kommissar, wir verschicken keine Bänder, die käm en dann ja erst in frühestens vier Tagen an. W ir haben sie au f einem DAT-Band digitalisiert und die Aufnahme per E-Mail an Ihren Tonexperten geschickt.«
»Oh, so was ist möglich?«, fragte Harry, teils um Supawadee eine Freude zu machen, teils aus Resignation. Neben diesen PC-Freaks kam er sich im mer schrecklich alt vor. »Und was hat Jesús Marguez dazu gesagt?«
»Ich habe ihm zuerst gesagt, dass man doch auf der Basis einer Anrufbeantworteraufzeichnung keine Aussage darüber treffe n kann, aus was für einem Raum eine Person anruft. Aber Ihr Freund wirkte sehr überzeuge nd, er hat eine Menge über Frequenzbereiche und Hertz erzählt, das für mich sehr lehrreich war. Wussten Sie zum Beispiel, dass das Ohr im Laufe von nur einer Mikrosekunde zwischen ei ner Million unterschiedlicher Laute unterscheiden kann? Ich glaube, er und ich könnten …«
»Das Ergebnis, Supawadee?«
»Er ist zu dem Schluss gekommen, dass die zw ei Aufnahmen von zwei unterschiedlichen Personen stammen, dass sie aber mit großer Wahrscheinlichkeit im gleichen Raum gesprochen haben.«
Harry spürte sein Herz schneller schlagen.
»Und das Fleisch in der Gefr iertruhe. War das Schweinefleisch?«
»Es stimmt, was Sie sagen, Hally. Das Fleisch in der Gefriertruhe war Schweinefleisch.«
374
Supawadee zwinkerte ihm zu und kicherte vor Glück. Harry verstand, dass es noch mehr zu sagen gab.
»Und?«
»Aber das Blut war nicht nur Schweineblut. Ein Teil davon war Menschenblut.«
»Wissen Sie von wem?«
»Nun, es dauert ein paar Tage , bis ich das Ergebnis der endgültigen DNA-Analyse erhalte, so dass ich es vorläufig nur m it etwa neunzigprozentiger Sicherheit sagen kann.«
Harry war sich sicher, hätte Supawadee eine Trompete gehabt, hätte er jetzt zuerst eine Fanfare geblasen.
»Das Blut stammt von unserem Freund, nai Klipra.«
Harry kam endlich zu Jens’ Büro durch.
»Wie geht’s, Jens?«
»Geht so.«
»Sind Sie sicher?«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie hören sich so …« Harry fielen nicht die richtigen Worte ein.
»Sie hören sich ein bisschen traurig an«, sagte er.
»Ja. Nein. Es ist nicht so einf ach. Sie hat ihre ganze Familie verloren und ich …«
Die Stimme versagte.
»Und Sie?«
»Ach, vergessen Sie’s.«
»Na los, Jens!«
»Es ist nur so, dass ich jetzt nicht mehr zurückkann. Ich meine, falls ich mir das mit der Hochzeit noch einmal anders überlegen würde.«
375
»Warum das?«
»Mein Gott, sie hat jetzt doch nur noch m ich, Harry. Deshalb weiß ich auch, dass ich eigentlich an sie und all das denken sollte, was sie durchgemacht hat, aber stattdessen sitze ich h ier und grüble darüber nach, in was ich m ich da hineinmanövriere.
Ich bin sicher ein schlechter Mensch, aber diese ganze Sache jagt mir eine Riesenangst ein, können Sie das verstehen?«
»Ich glaube schon.«
»Verdammt. Wäre es doch nur um Geld gegangen. Da mit kenne ich mich aus. Aber diese …« Er suchte nach der richtigen Formulierung.
»Gefühle?«, schlug Harry vor.
»Genau. Das ist doch Scheiße.« Er lachte humorlos. »Egal. Ich habe mir nun einm al vorgenommen, wenigstens einm al im Leben etwas zu tun, bei dem es nicht nur um mich geht. Und ich will, dass Sie dabei s ind und mir in den Arsch treten, wenn Sie auch nur d as geringste Anzeichen eines Rüc kzugs bei m ir bemerken. Hilde muss wirklich auf andere Gedanken komm en, weshalb wir schon ein Datum festgelegt haben. Den vierten April. Ostern in Bangkok, wie fi nden Sie das? Sie ist schon ein bisschen positiver eingestellt und denkt sogar darüber nach, weniger zu trinken. Ich schick e Ihnen Ihr Flugticket m it der Post, Harry. Denken Sie dran, ich zähle auf Sie, Sie dürfen jetzt keinen Rückzieher mehr machen.«
»Wenn ich wirklich der beste Ka ndidat bin, um Ihr Trauzeuge zu werden, wage ich kaum , über Ihr soziales Leben nachzudenken, Jens.«
»Alle, die ich kenne, habe ich schon mindestens einmal aufs Kreuz gelegt. Solche Geschichten passen nicht in die Ansprache eines Trauzeugen, oder?«
Harry lachte. »O.k., aber geben Sie mir noch ein paar Tage Bedenkzeit. Aber ich habe ei gentlich angerufen, um Sie um einen Gefallen zu bitten. Ich versuche, etwas über einen der 376
Besitzer von Phuridell heraus zufinden, eine Gesellschaft m it Namen Ellem Li mited, aber im Firmenregister finde ich bloß eine Postfachadresse hier in Bangkok und eine Bestätigung, dass das Aktienkapital einbezahlt worden ist.«
»Das muss ein recht neuer Eigne r sein, den Nam en habe ich noch nie gehört. Ich kann m ich natürlich einmal umhören und versuchen, etwas herauszufinden. Ich rufe Sie dann zurück.«
»Nein, Jens. Die Sache ist s treng vertraulich, bis jetzt wissen davon nur Liz, Løken und ich,
Sie dürfen das niem andem
gegenüber erwähnen. Nicht einm al der Polizei gegenüber. W ir drei treffen uns heute Abend an einem geheim en Ort, es wäre klasse, wenn Sie bis dahin etwa s herausgefunden hätten. Ich werde Sie von dort aus anrufen, o.k.?«
»Ja, mein Gott. Das hört sich ja e rnst an, ich dachte, der Fall sei abgeschlossen?«
»Der wird heute Abend abgeschlossen.«
Das Dröhnen des Presslufthamme rs auf Stein war ohrenbetäubend.
»Sind Sie George Walters?«, brüllte Harry ins Ohr des Mannes mit dem gelben Schutzhelm, auf den die Gruppe in Arbeitsover-alls gezeigt hatte.
Er drehte sich zu Harry um. »Ja, und wer sind Sie?«
Zehn Meter unter ihnen schleppt e sich der Verkehr langs am vorwärts. Es schien ein weiterer Nachmittag mit Verkehrsstaus zu werden.
»Kommissar Hole, norwegische Polizei.«
Walters rollte einen Plan zusammen und reichte ihn einem der Männer, die neben ihm standen.
»Ach ja. Klipra?«
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Er gab dem Mann an der Bohrersteuerung ein Tim e-Out-Zeichen und die relative Stille le gte sich wie ein Filter auf die Trommelfelle, als der Bohrer abgeschaltet wurde.
»Eine Wacker-Maschine«, sagte Harry. »LHV5.«
»Oh, Sie kennen sich aus?«
»Ich habe ein paar Jahre lang in den Somm erferien auf dem Bau gearbeitet. Ich habe m eine Nieren mit dieser Maschine ein bisschen durchgeschüttelt.«
Walters nickte. Er hatte sonnengebleichte, weiße Haare und sah müde aus. Die Falten zogen sich bereits tief durch s ein Gesicht, obwohl es eigentlich noch nicht wirklich alt war.
Harry zeigte auf den Betonweg, der sich wie ein röm isches
Aquädukt durch die Steinwüste aus Häusern und W olkenkratzern zog. »Das ist also BERTS, Bangkoks Rettung?«
»Ja«, sagte Walters und blickt e in die gleiche Richtung wie Harry. »Sie stehen darauf.«
Der andächtige Klang in seiner Stimme und die Tatsache, dass er sich hier befand und nicht etwa im Büro, verrieten Harry, dass der Chef von Phuridell das I ngenieurwesen dem Rechnungswe-sen vorzog. Es war sicher spa nnender zuzusehen, wie ein Projekt Gestalt annahm, als sich zu sehr darum zu kümmern, was mit den Dollarschulden der Firma geschah.
»Da muss man fast an die ch inesische Mauer denken«, sagte Harry.
»Diese hier soll aber Mensch en verbinden und nicht aussper-ren.«
»Ich bin gekomm en, um Ihnen ein paar Fragen über Klipra und dieses Projekt zu stellen. Und über Phuridell.«
»Tragisch«, sagte W alters, ohne zu spezifizieren, auf was er anspielte.
»Kannten Sie Klipra, Herr Walters?«
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»So würde ich das nicht ausdrü cken. Wir haben bei einigen Vorstandssitzungen miteinander gesprochen und er hat m ich auch ein paar Mal angerufen.« W alters setzte sich eine Sonnenbrille auf. »Das war alles.«
»Ein paar Mal angerufen? Ist Phuridell nicht eine z iemlich große Gesellschaft?«
»Mehr als achthundert Angestellte.«
»Und Sie wollen a ls Chef dieser Firma kaum mit dem Mann gesprochen haben, dem sie gehörte?«
»Willkommen in der Businesswel t.« Walters blickte über die Stadt und die Straße, als gehe ihn all das andere nichts an.
»Er hat ziemlich viel Geld f ür Phuridell gezahlt. Meinen Sie, dass er sich nicht gekümmert hat?«
»Er hatte anscheinend keine E inwände gegen die Art, in der die Firma geleitet wurde.«
»Kennen Sie die Gesellschaft Ellem Limited?«
»Ich habe gesehen, dass die pl ötzlich auf der Aktionärsliste waren. Wir mussten uns in der le tzten Zeit aber ganz andere Gedanken machen.«
»Zum Beispiel, wie Sie das Schuldenproblem lösen sollten?«
Walters drehte sich wieder zu Harry um. Auf seinen Brillen-gläsern sah er ein verzerrtes Spiegelbild von sich selbst.
»Was wissen Sie darüber, Mister?«
»Ich weiß, dass Ihre Gesellschaft eine Refinanzierung braucht, um weiter tätig bleiben zu können. Sie unterliegen nicht der Meldepflicht, weil Sie nicht mehr an der Börse notiert sind, so dass Sie diese Probleme noch eine Weile geheim halten können, während Sie darauf hoffen, da ss irgendwoher ein Retter m it neuem Kapital auftau cht. Es wäre doch verflucht ärgerlich, zu einem Zeitpunkt das Handtuch werfen zu m üssen, in dem Sie endlich in der Position sind, weit ere große Firmenabschlüsse im Rahmen des BERTS-Projektes zu machen, nicht wahr?«
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Walters signalisierte den Ingeni euren, dass er sie nicht mehr brauchte.
»Ich schätze m al, dass dieser Retter auftauchen wird«, fuhr Harry fort. »Der Betref fende wird die Gesellschaft für wenig Geld kaufen und ist dann bald, wenn die Verträge hereinkom -
men, ein steinreicher Mann. W ie viele L eute sind über die Situation Ihrer Firma im Bilde?«
»Hören Sie, Mister …«
»Kommissar. Der Vorstand natürlich, aber darüber hinaus?«
»Wir haben alle Ante ilseigner informiert, aber abgesehen davon sehen wir keinen Grund, Gott und die Welt über Dinge zu informieren, die sie nichts angehen.«
»Was glauben Sie, Herr W alters, wer wird die Gesellschaft übernehmen?«
»Ich bin der geschäftsführende Direktor«, sagte Walters brüsk.
»Ich arbeite im Auftrag der Aktionäre und mische mich nicht in Besitzfragen ein.«
»Auch wenn das für Sie und achthun dert andere die Arbeitslo-sigkeit bedeuten kann? Auch wenn Sie hieran dann nicht mehr beteiligt wären?« Harry nickte in die Himm elsrichtung, in der der Beton im Dunst verschwand.
Walters gab keine Antwort.
»Ziemlich schön«, sagte Harry. »Eri nnert fast ein bisschen an den gelben Weg, aus dem Zauberer von Oz, wissen Sie?«
George Walters nickte langsam.
»Hören Sie Walters, ich habe Klipras Anwalt und ein paar der verbliebenen Aktionäre angerufen. Ellem Limited hat im Laufe der letzten Tage Ihre Aktien au fgekauft. Keiner der and eren würde es schaffen, Phuridell gege nzufinanzieren, so dass alle froh sind, ihre Beteiligung an der Firm a losgeworden zu sein, ohne ihre gesam ten Investitionen verloren zu haben. Sie behaupten, der Besitzerwechsel sei nicht Ihr Bier, Walters, aber 380
Sie sehen aus wie ein verant wortungsbewusster Mann. Und Ellem ist Ihr neuer Besitzer.«
Walters nahm die Sonnenbrille ab und rieb sich die Augen m it dem Handrücken.
»Herr Walters, würden Sie m ir bitte sagen, wer hinter Ellem Limited steht?«
Die Presslufthämmer setzten wieder ein und Harry musste sich zu ihm vorbeugen, um ihn zu verstehen.
Harry nickte. »Das wol lte ich nur von Ihnen hören«, rief er zurück.
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KAPITEL 48
Harry konnte nicht schlafen. Es krabbelte und raschelte, doch wenn er das Licht einschaltete, verstumm ten die Geräusche. Er seufzte, lehnte sich aus dem Bett und drückte den Abspielknopf des Anrufbeantworters. Wieder quäkte die nasale Stimme durch den Lautsprecher:
»Hier ist Tonje. Ich wollte nur mal deine Stimme hören.«
Es war jetzt sicher das zehnte Ma l, dass er sich die Mitte ilung angehört hatte, doch jedes Mal scha uderte ihn: Es hörte sich an wie eine Zeile aus dem Fortsetzungsroman eines Wochenmaga-zins. Er schaltete das Licht aus. Eine Minute verging.
»Scheiße«, brummte er und schaltete das Licht wieder ein.
Es war nach Mitternacht, als das Taxi vor einem kleinen, aber herrschaftlichen Haus hinter einer niedrigen weißen Gartenmau-er hielt. Als Tonje Wiig in die Gegensprechanlage sprach, klang ihre Stimme überrascht, und sie hatte bereits hektische rote Flecken auf den Wangen, als sie die Tür öffnete. Sie fuhr dam it fort, sich für die Unordnung in der Wohnung z u entschuldigen, während Harry ihr bereits die Kleider auszog. Sie war dünn, kreideweiß und an ihrem Hals konnte er schnell und ängstlich ihren Puls schlagen sehen. Da nn gingen ihr die W orte aus und sie deutete stumm auf die Schlafzimmertür. Harry nahm sie auf die Arme und sie ließ theatralisc h den Kopf fa llen, so dass ihre Haare über das Parkett tanzten. Sie winselte, als er sie aufs Bett legte, rang nach Atem, als
er seine Hose aufknöpfte, und
protestierte schwach, als er sich auf die Laken kniete und sie an sich zog.
»Küss mich«, flüsterte sie, doch Harry reagierte nicht, sondern drang mit geschlossenen Augen in sie ein.
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Sie bekam seine Hose zu fassen, wollte sie ihm ganz ausziehen, doch er schob ihre Hände weg. Auf dem Nachttischchen stand das Bild eines älteren Paares, vermutlich ihre Eltern. Harry biss die Zähne zusamm en, spürte es hinter den Augenlidern knistern und versuchte, sie sich vorzustellen.
»Was hast du gesagt?«, fragte sie und hob den Kopf an, konnte sein Gemurmel aber nicht versteh en. Sie versuchte, sein en Bewegungen zu folgen, zu stöhnen, doch er drückte die Luft aus ihr, als sei sie ein Rodeoreiter, den er abwechselnd festhielt und abzuwerfen versuchte.
Er kam mit einem unartikulierten Brüllen und im gleichen Moment krallte sie ihre Fingernägel in sein T-Shirt, bäumte sich auf und schrie. Dann zog sie ihn zu sich nach unten und er drückte sein Gesicht an die Seite ihres Halses.
»Das war wunderbar«, sagte sie, aber die W orte blieben wie eine absurde, überflüssige Lüge in der Luft hängen. Er antwortete nicht.
Als er hörte, dass sie gleichmäßig atmete, stand er auf und zog sich leise an. Beide w ussten, dass sie b eide wussten, dass sie nicht schlief. Dann ging er nach draußen.
Ein Wind war aufgekomm en. Harry ging über die gekieste Einfahrt, während ihr Geruch langsam verwehte. Neben de m Tor schlug das Seil wütend gege n die Fahnenstange. Vielleicht kam der Monsun in diesem Jahr eher, vielleicht war es auch El Niño. Oder nur ein normaler Wetterwechsel.
Draußen vor der Einfahrt erka nnte er den dunklen W agen. Er glaubte, hinter den getönten Sc heiben den Umriss einer Gestalt auszumachen, war sich aber n icht sicher, bis er das elektrische Summen einer Scheibe, die heru ntergelassen wurde, hörte und die leisen Klänge von Griegs C-Moll-Symphonie.
»Wollen Sie nach Hause, Herr Hole?«
Harry nickte, eine Tür wurde geöffnet und er stieg ein. D
er
Chauffeur richtete seinen Sitz auf.
383
»Was machen Sie so spät noch hier, Herr Sanphet?«
»Ich habe gerade Herrn Torhus gefahren. Es ist zwecklos, zum Schlafen nach Hause zu fahren, in wenigen Stunden m uss ich Frau Wiig ohnehin wieder holen.« Er startete den Motor und sie glitten durch die nächtlich stillen Straßen des Villenviertels.
»Und wohin wollte Torhus so spät noch?«, fragte Harry.
»Er wollte sich Patpong ansehen.«
»Ah ja, haben Sie ihm eine der Bars empfohlen?«
»Nein, es sah so aus, als wüsste er, wohin er wollte. Jeder weiß wohl am besten, welche Art von Medizin er braucht.« H arry begegnete seinem Blick im Spiegel.
»Da haben Sie wohl recht«, sagte er und sah aus dem Fenster.
Sie hatten die Rama V erreicht und der Verkehr war ins Stocken geraten. Eine alte, zahnl ose Frau starrte s ie von der Ladefläche eines Pick-ups aus an. Harry m einte, sie sch on einmal gesehen zu haben, und plötz lich lächelte sie. Es verging eine Weile, bis ihm klar wurde, dass sie nicht ins Innere des Wagens schauen konnte, sondern sich nur in den schwarzen Scheiben des Diplomatenwagens gespiegelt hatte.
384
KAPITEL 49
Ivar Løken wusste, dass es vorbei war. Er hatte m it keiner Faser seines Körpers aufgegeben, aber es war vorbei. Die Panik kam in Wellen, brandete über ihn hi nweg und zog sich zurück. Und die ganze Zeit über wusste er, d ass er sterben würde. Das war eine rein intellektuelle Schl ussfolgerung, doch die Gewissheit rann wie Eiswasser durch seine Adern. Damals, als er in My Lai in diese Falle gegangen war, die ihm
einen nach Fäkalien
stinkenden Bambusstab durch den Oberschenkel und einen anderen durch die Fußsohle bis in s Knie gejagd hatte, hatte er nicht eine Sekunde an den Tod geglaubt. Als er später vom Fieber geschüttelt in Japan lag und man ihm sagte, dass der Fuß amputiert werden m üsse, hatte er behauptet, lieber sterben zu wollen, wobei er allerdings die klare Empfindung hatte, dass der Tod keine wirkliche Alterna tive war, er war ganz einfach ausgeschlossen. Als sie m it der Narkose kam en, hatte er de m Pfleger einfach die Spritze aus der Hand geschlagen.
Idiotisch. Aber sie hatten ihm den Fuß gelassen. »Solange es Schmerzen gibt, gibt es Leben«, hatte er über dem Bett in die Wand geritzt. Fast ein Jahr hatte er in der Klinik in Ok abe
gelegen, ehe er den Kampf gegen sein eigenes infiziertes Blut gewonnen hatte.
Er redete sich selbst ein, ein langes Leben gehabt zu haben.
Lang. Das war doch etwas. Und
schließlich hatte er auch
Menschen gesehen, denen es sc hlechter ergangen war. W arum also sich dagegen wehren, dachte er. Und wehrte sich dagegen.
Sein Körper wehrte sich, wie er es selbst sein ganzes L eben getan hatte. Hatte sich dagege n gewehrt, die Grenze zu über-schreiten, wenn ihn die Begierde von hinten anfiel, hatte sich dagegen gewehrt, sich vom Rausschmiss aus dem Militär zerstören zu lassen, und dagegen, sich selbst leid zu tun, wenn 385
ihn die Erniedrigung derart auspe itschte, dass sich seine Wunden erneut öffneten. Doch zual lererst hatte er sich dagegen gewehrt, die Augen zu schließen. Darum hatte er das alles miterlebt, die Kriege, das Leiden, die Grausam keiten, den Mut und die Menschlichkeit. So viel von allem , dass er m it Gewissheit behaupten konnte, ein langes L eben gelebt zu haben. Nicht einmal jetzt schloss er die A ugen, er zwinkerte kaum . Løken wusste, dass er sterben würde. Hä tte er Tränen gehabt, er h ätte geweint.
Liz sah auf die Uhr. Es war halb neun. Sie und Harry saßen nun seit beinahe einer Stunde in Millie’s Karaoke. Sogar Madonna blickte mittlerweile eher ungeduldig als hungrig von ihre m Plakat.
»Wo bleibt er?«, fragte sie.
»Løken kommt«, sagte Harry. Er stand am Fenster, hatte das Rollo nach oben gezogen und sah, wie sein eigenes Spiegelbild von den Schweinwerfern der Autos durchlöchert wurde, die auf der Silom Road vorbeifuhren.
»Wann hast du mit ihm gesprochen?«
»Direkt nachdem ich m it dir gesprochen hatte. Er war zu Hause und räumte gerade die B ilder und seine Fotoausrüstung zusammen. Løken kommt schon.«
Er presste sich die Hand ballen auf die Augen. S ie waren seit dem Morgen schon rot und gereizt.
»Lass uns anfangen«, sagte er.
»Womit? Du hast überhaupt nicht gesagt, was wir hier machen sollen.«
»Wir müssen das Ganze noch einm al durchgehen«, sagte Harry. »Eine letzte Rekonstruktion.«
»O.k., aber warum?«
»Weil wir uns die ganze Zeit geirrt haben.«
386
Er führte die Anspielung nicht weiter aus. Es hörte sich an als falle etwas durch ein dichtes Bl ätterdach, als das Rouleau nach unten gerauscht kam.
Løken saß auf einem Stuhl. Vor ihm auf dem Tisch lagen einige Messer. Jedes davon konnte innerhalb von S
ekunden einen
Menschen töten. Es w ar überhaupt erstaunlich, wie leicht es war, einen Menschen zu töten. So leicht. Man konnte m anchmal kaum glauben, dass die Menschen so alt wurden, wie sie wurden. Eine runde Bewegung, wi e wenn man die Kappe einer Apfelsine abschneidet, und schon war die Kehle durchtrennt.
Das Blut wurde mit einer Kraft herausgepumpt, die dafür sorgte, dass der T od schon nach Sekunden eintraf, zum indest dann, wenn die Tat von jem andem ausgeführt wurde, der sein H andwerk verstand.
Ein Stich in den Rücken be durfte genauerer P räzision. Man konnte zwanzig, dreißig Mal zust echen, ohne irgendetwas zu treffen, ziellos in M enschenfleisch herumhacken. Doch wenn man sich in der Anatom ie auskannte und wusste, wo m an eine Lunge punktieren oder ein Herz treffen konnt e, war es kein Kunststück. Wenn man von vorne zustach, war es am besten, tief anzusetzen und nach oben zu stechen, so dass m an unter die Rippen kam und die vitalen Organe erreichte. Aber von hinten war es leichter, m an musste nur etwas seitlich von der W irbelsäule zustechen.
Wie leicht war es, einen Menschen zu erschießen? Unglaublich leicht. Den ersten Menschen, den er getötet hatte, hatte er mit einem halbautomatischen Gewehr in Korea erschossen. Er hatte gezielt, abgedrückt und ei nen Menschen fallen sehen. Das war alles. Keinerlei Gewissensqualen, Albträum e oder nervöse Zusammenbrüche. Vielleicht weil Krieg gewesen war, aber er glaubte nicht, dass das die einz ige Erklärung war. Vielleicht fehlte ihm die Empathie? Ein Psychologe hatte ihm erklärt, dass 387
er pädophil sei, weil seine Seele verwundet war. Er hätte ebenso gut »schlecht« sagen können.
»O.k., hör jetzt gut zu.« Harry hatte gegenüber von Liz Platz genommen. »Am Mordtag kam der W agen des Botschafters gegen sieben Uhr zu Ove Klipras Haus, aber nicht der Botschafter saß am Steuer.«
»Nicht?«
»Nein, der Wachmann erinnert sich an keinen gelben Anzug.«
»Na und?«
»Du hast den Anzug gesehen, Li z, dagegen sieht eine Tankstelle geradezu diskret aus. Gl aubst du, m an vergisst so einen Anzug?«
Sie schüttelte langsam den Kopf und Harry fuhr fort: »Der Fahrer parkte den W agen in der Garage und klingelte a m Seiteneingang. Als Klipra die Tür öffnete, blickte er verm utlich direkt in die Mündung einer Pist ole. Der Besucher kam ins Haus, schloss die Tür und bat K lipra höflich, den Mund zu öffnen.«
»Höflich?«
»Ich versuche nur, der Geschi chte ein bis schen Farbe zu geben. O.k.?«
Liz kniff die Lippen zusamm en und fuhr sich vielsagend m it dem Zeigefinger über den Mund.
»Dann schob er den Lauf der W affe hinein, befahl Klipra, die Zähne zusammenzubeißen, und drückte ab, kalt und gnadenlos.
Die Kugel schlug durch Klipras Hinterkopf und bohrte sich in die Wand. Der Mörder wischte das Blut weg und … ja, du weißt ja, wie so etwas dann aussieht.«
Liz nickte und bedeutete ihm weiterzureden.
388
»Kurz gesagt, der Betref fende entfernte alle Spuren. Zu guter Letzt holte er den Schraubenz ieher aus dem Kofferraum und hebelte damit die Kugel aus der Wand.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe Kalk am Boden im Flur gesehen und einen Ein-schusstrichter. Die Krim inaltechnik hat nachgewiesen, dass es der gleiche Kalk war wie auf de m Schraubenzieher im Kofferraum.«
»Und dann?«
»Danach ging der Mörder wieder nach draußen zum Auto und schob die Leiche des Botschafters ein wenig zur Seite, damit er den Schraubenzieher wieder zurücklegen konnte.«
»Er hatte den Botschafter bereits getötet?«
»Darauf komme ich später no ch zurück. Der Mörder zog sich um und streifte sich den Anzug des Botschaf ters über. Dann ging er in Klipras Büro und nahm eines der beiden Shan-Messer sowie die Hüttensch lüssel mit. Er führte au ch ein kurzes Telefonat aus dem Büro und nahm das Band m it der Aufzeichnung mit. Dann packte er Klipras Leiche in den Kofferraum und fuhr etwa gegen acht Uhr weg.«
»Das Ganze klingt ein bisschen verdreht, Harry.«
»Gegen halb neun checkte er bei Wang Lee ein.«
»Bitte, Harry, Wang Lee hat den Botschaf ter als denjenige n identifiziert, der bei ihm eingecheckt hat.«
»Wang Lee hatte keinen Grund zur Annahm e, dass der Tote auf dem Bett nicht derjenige war, der bei ihm eingecheckt hatte.
Er sah schließlich nur einen farang in einem gelben Anzug.
Außerdem …«
»… sehen alle farangs gleich aus. Verflucht!«
»Ganz besonders dann, wenn sie ihre Gesichter hinter Son-nenbrillen verstecken. Und du musst auch bedenken, dass ihn 389
das Messer, das aus dessen Rücken ragte, bei der Identifizierung ziemlich ablenken musste.«
»Ja, was ist mit dem Messer?«
»Der Botschafter wurde mit einem Messer g etötet, aber lange bevor er ins Motel kam. Ein Samen-Messer, denke ich, da es mit Rentierfett eingeschmiert war. Solche Messer kann m an überall in der Finnmark kaufen.«
»Aber der Arzt bestätigte, dass die W unde von dem Shan-Messer stammte.«
»Der Punkt ist, dass die Shan-Messer länger und breiter als die Samen-Messer sind. Es war also unmöglich zu erkennen, dass zuvor ein anderes Messer benutzt worden war. Jetzt pass auf.
Der Mörder kam mit zwei Leichen im Kofferraum im Motel an, verlangte ein Zimmer möglichst weit weg von der Rezeption, so dass er m it dem Wagen bis vor die Tür fahren und Molnes unbemerkt die paar Meter ins Zimmer tragen konnte. Er bat ferner darum, nicht gestört zu werden, ehe er sich selbst meldete. Im Zimmer zog er sich dann wieder um und legte dem Botschafter wieder den gelben An zug an. Aber er hatte es eilig und war ein bisschen unaufm erksam. Erinnerst du dich, wie ich bemerkt habe, dass der Botschafter offensichtlich Frauenbesuch erwartete, weil er s einen Gürtel ein Loch enger als sonst geschnallt hatte?«
Liz schnalzte m it der Z unge. »Der Mörder hat nicht auf die Löcher im Gürtel geachtet, als er ihn zugemacht hat.«
»Ein unbedeutender Fehler, kein Beweis, nur eines der zahl-reichen Indizien, der diese Rech enaufgabe aufgehen lässt.
Während Molnes auf dem Bett lag, drückte er das Shan-Messer vorsichtig in die alte S tichwunde, ehe er den Schaft abwischte und alle Spuren entfernte.«
»Das erklärt auch, warum so wenig Blut im Motelzimmer war, er wurde woanders getötet. W arum haben die Ärzte das nicht bemerkt?«
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»Es ist immer schwer zu sagen, wie stark so eine Stichwunde blutet, es kommt darauf an, welc he Arterien durchtrennt werden und wie stark das Messer selbst de n Blutstrom blockiert. Nichts ist wirklich unnorm al. Gegen neun Uhr hat er das Motel m it
Klipra im Kofferraum verla ssen und ist zu Klipras Hütte gefahren.«
»Er wusste, wo die Hütte ist? Dann muss er Klipra ja gekannt haben.«
»Er kannte ihn gut.«
Ein Schatten fiel über den Tisc h und ein Mann setzte sich auf den Stuhl, der vor Løken stand. Die Balkontür stand offen, der ohrenbetäubende Verkehrslärm dröhnte herein und das ganze Zimmer stank bereits nach Abgasen.
»Ist es so weit?«, fragte Løken.
Der Riese m it dem Zöpfchen sah ihn an. Er war s ichtlich überrascht, dass Løken Thailändisch sprach.
»Ich bin bereit«, antwortete er.
Løken lächelte blass. Er fühlte sich unendlich müde.
»Also, worauf wartest du, fang an.«
»Als er zur Hütte kam , schloss er auf und legte Klipra in die Tiefkühltruhe. Dann wusch er den Kofferraum aus und saugte ihn, damit wir von keinem von beiden Spuren fanden.«
»O.k., aber woher weißt du das?«
»Die Kriminaltechnik fand Blut von Ove Klipra in der Gefriertruhe und F asern aus dem Kofferraum und von den Kleidern beider Toter im Staubsaugerbeutel.«
»Mein Gott. Dann war der Botsch after nicht der pedantische Typ, für den du ihn gehalten hast , als wir das Auto untersucht haben?«
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Harry lächelte. »Dass der Botschafter kein ordentlicher Mann war, habe ich erkannt, als ich sein Büro gesehen habe.«
»Habe ich das richtig verstanden, du gestehst ein, einen Fehler gemacht zu haben?«
»Ja doch.« Harry hob den Zeigefin ger. »Aber Klipra war ein Ordnungsfanatiker. Alles dort oben in der Hütte wirkte ordentlich, ganz system atisch, erinnerst du dich? Im Schrank befand sich sogar ein Haken, an dem man den Staubsauger aufhängen konnte. Aber als ich am nächsten Tag die Schra nktür öffnete, kippte mir der Staubsauger en tgegen. Als hätte ihn jem and benutzt, der sich dort nicht auskannte. Deshalb kam ich auf die Idee, den S taubsaugerbeutel von der Kriminaltechnik untersuchen zu lassen.«
Liz schüttelte langsam den Kopf, aber Harry fuhr fort:
»Als ich all das Fleisch in de r Tiefkühltruhe sah, kam mir in den Sinn, dass m an problemlos einen Menschen über W ochen darin aufbewahren konnte, ohne dass …«
Harry blies die Backen auf und gestikulierte mit den Armen.
»Bei dir stimmt es auch nicht me hr so richtig«, sagte Liz. »Du solltest mal zum Arzt gehen.«
»Willst du den Rest hören oder nicht?«
Sie wollte.
»Anschließend fuhr er zurück ins Motel, parkte den W agen und ging in das Zimm er, wo er die Schlüssel in Molnes’
Hosentasche steckte. Dann verschwand er spurlos in der Nacht.
Im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Moment mal! Als wir zur Hütte fuhren, brauchten wir pro Weg anderthalb Stunden, oder? Die Entfernung von hier ist ungefähr die gleiche. Unsere Freundin Dim hat ihn um halb zwölf entdeckt, also zweieinhalb Stunden, nachdem der Mörder, wie du meinst, das Motel verlassen hat. Er konnte es unm öglich 392
zurück zum Motel s chaffen, bevor Molnes’ Leiche entd eckt wurde. Oder hast du das vergessen?«
»Nein, nein. Ich bin die Strecke sogar abgefahren. Ich bin um neun losgefahren, hab eine ha lbe Stunde oben an der Hütte gewartet und bin zurückgefahren.«
»Und?«
»Ich war um Viertel nach zwölf zurück.«
»Da siehst du, das passt nicht.«
»Erinnerst du dich, was Di m über den W agen gesagt hat, als wir sie verhört haben?«
Liz biss sich auf die Unterlippe.
»Sie erinnerte s ich an kein Auto«, sagte Harry. »W eil da keines war. Viertel nach zwölf standen sie an der Rezeption und warteten auf die Polizei. Die haben gar nicht bem erkt, dass der Wagen des Botschafters angefahren kam.«
»Aber hallo, und ich dachte, wir hätten es mit einem vorsichti-gen Mörder zu tun. Der hat ja risk iert, dass die Polizei dort war, als er angefahren kam.«
»Er war vorsichtig, aber er konnte nicht voraussehen, dass der Mord vor s einer Rückkehr entdeckt wurde. Gem äß Absprache sollte Dim ja erst nach seinem Anruf ins Zimmer kommen, nicht wahr? Doch W ang Lee wurde ung eduldig und hätte beinahe seinen ganzen Plan dur chkreuzt. Der Mörd er ahnte vermutlich nichts von der drohenden Gefahr, als er im Raum war, um die Schlüssel zurückzulegen.«
»Pures Glück, also?«
»Ich würde das lieber als ei n bisschen Glück im Unglück bezeichnen. Dieser Mann plant nichts auf der Basis von Glück.«
Er muss aus der Mandschurei sein, dachte Løken. Vielleicht aus der Provinz Jilin. W ährend des Koreakrieges hatte er erfahren, dass die Rote Arm ee dort viele So ldaten rekrutierte, weil sie so 393
groß waren. Seltsam e Logik eige ntlich, denn diese Männer sanken im Matsch tiefer ein und gaben größere Ziele ab. Die andere Person i m Zimmer stand hinter ihm und summ te ein Lied. Løken konnte es nicht beschwören, aber er m einte, I
Wanna Hold Your Hand zu erkennen.
Der Chinese hatte eines der Messer vom Tisch genommen, wenn man denn einen siebzig Zent imeter langen Krummsäbel als Messer bezeichnen konnte. Er wog ihn in den Händen wie ein Baseballspieler, der sich ein Schlagholz aussucht, dann hob er ihn wortlos über den Kopf. Løke n biss die Zähne zusammen.
Im gleichen Moment lichtete sich die angenehme Müdigkeit des Barbitursäure-Rausches, das Blut gefror in seinen Adern und er verlor die Selbstbeherrschung. W ährend er schreiend an den Lederriemen zerrte, mit denen seine Hände an den Tisch gebun-den waren, näherte sich von hi nten das Summen. Eine Hand packte seine Haare, sein Kopf wurde nach hinten gerissen und ein Tennisball in seinen Mund gepresst. Er konnte die filzige Oberfläche auf Zunge und Gaum en spüren, sie saugte den Speichel auf wie Löschpapier und seine Schreie wurd en zu einem hilflosen Stöhnen.
Die Schlauchbinde war so stra ff um seinen Oberarm gezurrt worden, dass er längst das Gefühl in seiner Hand verloren hatte, und als der Säbel mit einem trockenen Schlag nach unten zuckte und er nichts spürte, glaubte er zuerst, er hätte sein Ziel verfehlt.
Dann sah er seine rechte Hand auf der anderen Seite der Säbelklinge. Er hatte sie zur Faus t geballt, doch jetzt öffnete sie sich langsam. Der Schnitt war glatt und sauber. Er konnte zwei weiße, glatt abgetrennte Knoc henstümpfe herausragen sehen.
Radius und Ulna. Das hatte er sc hon bei anderen gesehen, nie aber bei sich selbst. Aufgrund der Schlauchbinde blutete es kaum. Die Behauptung, dass plöt zliche Amputationen nicht wehtäten, stimmte nicht. Die Sc hmerzen waren unerträglich. Er wartete auf den Schock, den lä hmenden Zustand des Nichts, aber diesen Fluchtweg versper rten sie ihm unmittelbar. Der 394
summende Mann jagte ihm durch das Hemd eine Spritze in den Oberarm. Er versuchte nicht einmal, eine Ader zu finden. Das ist das Gute an Morphium, es wirkt, wohin man es auch spritzt. Er wusste, dass er es überleben konnte. Ziemlich lange. Solange sie wollten.
»Und was ist m it Runa Molnes ?« Liz stoch erte mit einem Streichholz in ihren Zähnen herum.
»Er kann sie wo auch immer aufgelesen haben«, sagte Harry.
»Zum Beispiel auf dem Rückweg von der Schule.«
»Und dann hat er sie mit in di e Hütte von Klipra genomme n.
Was ist dann geschehen?«
»Das Blut und das Einschussloc h im Fenster deuten darauf hin, dass sie in der Hütte erschossen wurde. Bestimm t sofort, nachdem sie angekommen waren.«
Jetzt, da sie ein Mordopfer war, war es beinahe unproblem atisch, über sie zu sprechen.
»Das verstehe ich nicht«, sagt e Liz. »Warum sollte er s ie kidnappen und sie dann gleich töte n? Ich dachte, er wollte m it ihr bezwecken, dass du deine
Ermittlungen einstellst. Das
konnte er doch nur, solange Runa noch am Leben war. Er
musste doch davon ausgehen, dass du einen Beweis dafür fordern würdest, dass sie noch lebte, ehe du seine Forderung erfülltest.«
»Und wie sollte ich seine Forderungen erfüllen?
«, fragte
Harry. »Einfach fahren – und dann sollte Ru na glücklich und zufrieden wieder nach Hause zu rückkommen? Und der Kidnapper sollte e rleichtert aufatmen, obgleich er ke in Druckmittel mehr hatte, nur weil ich versprochen hatte, ihn in Ruhe zu lassen? Hast du dir das so vorgest ellt? Meinst du wirklich, der hätte sie einfach gehen lassen …«
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Harry bemerkte Liz’ Blick und wurde sich bewusst, dass er laut geworden war. Er hielt betroffen inne.
»Es geht nicht um mich. Ich versuche, m ich in den Mörder hineinzuversetzen«, sagte Liz, wobei sie ihn noch imm er
anstarrte. Sie hatte wieder ih
re Sorgenfalte zwischen den
Augenbrauen.
»Tut mir leid, Liz.« Er presste sich die Fingerspitzen auf die Wangenknochen. »Ich bin wohl ziemlich müde.«
Er stand auf und trat wieder ans Fenster. Durch die Kälte innen und die warm e, feuchte Luft draußen war das Fenster grau beschlagen.
»Er hat sie nicht gekidnappt, we il er Angst hatte, ich könnte mehr herausgefunden haben, als ich durfte. Dazu hatte er keinen Grund, ich hatte nämlich nicht die Bohne verstanden.«
»Und was war dann da s Motiv für die Entführung? Wollte er unsere Theorie bestätigen, dass Klipra für die Morde a m
Botschafter und Jim Love verantwortlich war?«
»Das war das sekundäre Motiv«, sagte er, zur Scheibe gewandt. »Aber primär musste er sie töten. Als ich …«
Aus dem Nachbarraum war le ise das dum pfe Dröhnen eines Basses zu hören.
»Ja, Harry?«
»Als ich sie zum ersten Mal sah, war sie bereits zum Tode verurteilt.«
Liz holte tief Luft. »Harry, es ist jetzt bald neun. Vielleicht könntest du mich doch darüber aufk lären, wer der Mörder ist?
Auch wenn Løken noch nicht da ist.«
Løken hatte um sieben Uhr die Tür seiner Wohnung geschlossen und war auf die Straße getreten, um mit einem Taxi zu Millie’s Karaoke zu fahren. Er hatte das Auto sofort erkannt. Es war ein Toyota Corolla und der Mann hinterm Steuer schien den ganzen 396
Wagen auszufüllen. Auf de m Beifahrersitz erkannte er die Silhouette eines anderen Mannes. Er fragte sich, ob er an den Wagen treten und sich erkundigen sollte, w as sie wollten,
entschied sich dann aber, sie ers t einmal zu testen. Er meinte zu wissen, was sie wollten und wer sie geschickt hatte.
Løken rief ein Taxi und nach ein paar Straßenecken erkannte er, dass sie ihm tatsächlich folgten.
Der Taxifahrer bem erkte instinktiv, dass der farang auf der Rückbank kein Tourist war, und verkniff sich die W erbung für die Massagesalons. Doch als Løke n ihn bat, ein paar Umwege zu fahren, schien der F ahrer seine Auffassung zu revidieren.
Løken begegnete seinem Blick im Spiegel.
»Sightseeing, sil? «
»Ja, Sightseeing.«
Nach zehn Minuten gab es keinen Zweifel mehr. Das Ziel war vermutlich, dass Løken die beiden Polizis ten zu ihrem heimli-chen Treffpunkt führte. Er fragte sich nur, wie der Polizeichef überhaupt Wind davon bekomm en hatte, dass sie sich treffe n wollten. Und warum er so negativ darauf reagierte, dass seine Hauptkommissarin gegen alle Regeln m it einem Ausländer zusammenarbeitete. Das Ganze verlief vielleicht nicht ganz nach Lehrbuch, aber es hatte schließlich zu Resultaten geführt.
Auf der Sua Pa Road kam der Verkehr schließlich ins Stocken.
Der Fahrer drückte sich in eine Lücke hinter zwei Bussen und zeigte auf die Betonständer, die zwischen den Spuren gebaut wurden. Ein Stahlträger war in der letzten W oche heruntergefal-len und hatte einen Autofahrer getötet. Er hatte davon gelesen.
Sie hatten sogar ein Bild davon gedruckt. Der F ahrer schüttelte den Kopf, nahm einen Lappen und wischte das Ar maturenbrett ab, die Fenster, die Buddhafigur und das Bild der Königsfamilie, ehe er mit einem Seufzer die Zeitung aufschlug und den Sport-teil suchte.
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Løken sah aus dem Rüc kfenster. Nur zwei Autos lagen zwischen ihnen und dem Corolla. Er sah auf die Uhr. Halb acht. Er würde sich verspäten, auch ohne diese zwei Idioten abschütteln zu müssen. Løken fällte eine Entscheidung und tippte de m Fahrer auf die Schulter.
»Ich sehe da jem anden, den ich kenne«, sagte er auf Englisch und gestikulierte nach hinten.
Der Fahrer sah skeptisch aus, vermutlich hatte er den farang unter Verdacht, ihn prellen zu wollen.
»Bin gleich wieder da«, sagte Løken und drückte sich aus der Tür. Einen Tag weniger zu lebe n, dachte er, als er eine CO 2-Dosis einatmete, die eine Ra ttenfamilie ausgeknockt hätte, und ging ruhig auf den Corolla zu.
Der eine Scheinwerfer war
scheinbar beschädigt, denn er leuc htete ihm direkt ins Gesicht.
Er überlegte sich, was er sagen wollte, und freute sich bereits auf ihre langen Gesichter. Løken war nur noch wenige Meter entfernt und konnte die zwei im Wagen erkennen. Mit eine m Mal wurde er unsicher. Etwas an ihrer E
rscheinung stimmte
nicht. Auch wenn Polizisten oft nicht gerade zu den hellsten gehörten, hatten sie in der Rege l verstanden, dass Diskretion beim Observieren das oberste Gebot war. Der Mann auf de m Beifahrersitz trug eine Sonnenbr ille, obgleich die Sonne längst untergegangen war, und auch we nn viele Chinesen in Bangkok Zöpfe auf dem Kopf hatten, war dieser Riese auf dem Fahrersitz geradezu Aufsehen erregend. Løken wollte k ehrtmachen, als sich die Tür des Corollas öffnete.
» Mistel« , rief eine weiche Stimme. Es war vollkommen falsch.
Løken versuchte, zurück zum Taxi zu kommen, doch ein Auto hatte sich in eine Lücke gequetscht und versperrte ihm den Weg.
Er drehte sich um und ging zurück zum Corolla. Der Chinese kam auf ihn zu. » Mistel« , wiederholte er, als s ich der Verkehr auf der gegenüberliegenden Spur wieder in Bewegung setzte. Es hörte sich wie das Flüstern eines Orkans an.
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Løken hatte einmal einen Mann m it den bloßen Händen getö-
tet. Er hatte seinen Kehlkopf mit einem Handkantenschlag gebrochen, genau wie er es im Trainingslager in Wisconsin gelernt hatte. Doch das war lange her, damals war er jung gewesen. Und lebensmüde. Jetzt war er nicht m ehr lebensmüde, nur noch zornig.
Vermutlich machte das keinen Unterschied.
Als er die beiden Arm e um sich spürte und wahrnahm , dass seine Beine den Boden nicht m ehr berührten, wusste er, dass es wirklich keinen Unters chied machte. Er ve rsuchte zu schreien, doch die Luft, die die S timmbänder zum Vibrieren brauchten, war aus ihm herausgedrückt wo rden. Er sah, wie sich der Sternenhimmel langsam drehte, ehe er von einem gepolsterten Autodach verdeckt wurde.
Er spürte einen warm en, stechenden Atem in seinem Nacken und sah durch die Frontscheibe des Corolla. Der Mann m it der Sonnenbrille stand am Taxi und schob ein paar Scheine durch das Seitenfenster. Der G riff lockerte sich etwas und Løken sog die verschmutzte Luft m it einem langen, zitternden Atem zug wie Quellwasser ein.
Das Fenster des Taxis wurde nach oben gekurbelt und der Mann mit der Sonnenbrille war auf dem Rückweg zu ihnen. Das heißt, er hatte gerade die Sonnenbrille abgenom men, und als er ins Licht des beschädigten Sche inwerfers trat, erkannte Løken ihn wieder.
»Jens Brekke?«, flüsterte er überrascht.
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KAPITEL 50
»Jens Brekke?«, platzte Liz hervor.
Harry nickte.
»Unmöglich! Der h at doch ein Alibi, dieses idiotensichere Band, das beweist, dass er um Viertel vor acht seine Schwester angerufen hat.«
»Das stimmt schon, aber nicht aus seinem eigenen Büro. Ich fragte ihn, wie er auf die Id ee kommen konnte, seine arbeits-süchtige Schwester m itten in der besten Büro zeit zu Ha use anzurufen, und er meinte bloß, er habe vergessen, wie spät es da in Norwegen war.«
»Und?«
»Glaubst du an einen Broker, der die Uhrzeit in anderen Ländern vergisst?«
»Vielleicht nicht, aber was hat das damit zu tun?«
»Er hat ihren Anrufbeantworter angewählt, weil er weder Ze it noch Lust hatte, mit ihr zu reden.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Ich bin darauf gekommen, als ich gesehen habe, dass Klipra die gleiche Maschine h at wie Brek ke. Nachdem er Klipra erschossen hatte, rief er sie aus Klipras Büro an und nahm das Band mit. Das zeigt, wann er angerufen hat, aber nicht von wo.
Wir haben nie daran gedacht, dass das Band aus einem anderen Gerät stammen könnte. Aber ich kann bew eisen, dass aus
Klipras Büro ein Band entfernt wurde.«
»Wie?«
»Erinnerst du dich, dass am Morgen des dritten Januar ein Anruf von Klipra auf das Handy des Botschafters registriert 400
worden war? Das findet sich auf keinem der Bänder in seine m Büro.«
Liz lachte laut.
»Harry, das ist vollkommen verrü ckt. Der Kerl hat s ich ein wasserdichtes Alibi beschafft und ließ sich ins Gefängnis stecken, nur um seine Trum pfkarte zu einem Zeitpunkt zu spielen, da sie extra überzeugend wirken musste?«
»Höre ich da eine gewisse Bege isterung in deiner Stimme, Frau Hauptkommissarin?«
»Rein professionell. Glaubst du, das war alles von Anfang an geplant?«
Harry sah auf die Uhr. Sein Gehirn begann ihm zu morsen, dass irgendetwas schiefgelaufen war.
»Wenn es eine Sache gibt, über die ich m ir sicher bin, dann, dass alles, was Brekke unternimm t, akribisch geplant ist. E r hat nicht ein Detail dem Zufall überlassen.«
»Wie kannst du dir da so sicher sein?«
»Tja«, sagte er und drückte sich das leere Glas an die S
tirn.
»Das hat er m ir selber gesagt. Dass er das Risiko hasst, dass er nicht spielt, wenn er sich nicht sicher ist, zu gewinnen.«
»Ich denke, du hast dir auch schon Gedanken gemacht, wie er den Botschafter getötet hat?«
»Erst einmal hat er den Botschaf ter nach unten in die Tiefgarage begleitet, das kann die Empfangsdame bestätigen. Dann fuhr er mit dem Fahrstuhl wieder nach oben, dafür hat er diese Zeugin, die zu ihm in den Fahr stuhl gestiegen ist und die er eingeladen hat. Verm utlich hat er den Bots chafter in der Tiefgarage getötet, ihm das sam ische Messer in den Rücken gestoßen, sowie sich der Botschafter um gedreht hatte, um z u seinem Wagen zu gehen. Danach wird er ihm die Schlüssel abgenommen und ihn in den Kofferraum des W agens gelegt haben, ehe er zurück in den Fahrstuhl ging und so lange wartete, 401
bis jemand drückte, damit er sicher sein konnte, einen Zeugen dafür zu haben, dass er auf dem Weg nach oben war.«
»Er hat sie sogar zum Essen eingeladen, damit sie sich an ihn erinnerte.«
»Richtig. Wenn jem and anderes in den Aufzug gekomm en wäre, hätte er sich etwas andere s einfallen lassen. Dann hat er sein Telefon für ankommende Ge spräche gesperrt, dam it man den Eindruck hatte, die Leitung
sei besetzt, fuhr mit dem
Fahrstuhl wieder nach unten und schließlich mit dem Wagen des Botschafters zu Klipra.«
»Aber wenn er den Botschafter in der Garage getötet hat, wurde das doch auf Video aufgezeichnet.«
»Warum glaubst du, dass das Videoband weg war? Da hat natürlich niemand versucht, Brekkes Alibi zu zerstören, er selbst hat Jim Love dazu gebracht, ihm das Video auszuhändigen. An dem Abend, an dem wir ihn beim Boxkampf getroffen haben, hatte er es sehr eilig, zurück ins Büro zu komm en. Nicht um mit einem amerikanischen Kunden zu reden, sondern weil er eine Abmachung mit Jim Love hatte, ihn in den Aufzeichnungsraum zu lassen, dam it er die Aufnah me überspielen konnte, auf der man sieht, wie er den Botschafter tötet. Und um den Tim er umzuprogrammieren, damit es so aussah, als hätte jemand versucht, sein Alibi zu durchkreuzen.«
»Warum hat er das Originalband nicht einfach weggenom -
men?«
»Er ist Perfektion ist. Er wusste, dass ein einig ermaßen aufmerksamer Ermittler früher oder später herausfinden würde, dass mit der Aufnahme und der Zeitangabe etwas nicht stim m-te.«
»Wie?«
»Da er die Aufnahm e mit derjenigen von einem anderen Abend überspielt hat, musste di e Polizei früher oder später beginnen, Angestellte zu suchen, die nachweis lich am dritten 402
Januar zu dem entsprechenden Zeitpunkt an der Kam era
vorbeigefahren sind. Und die Tatsache, dass auch diese nicht auf dem Band waren, war der defini tive Beweis, dass das Band gefälscht war. Das mit dem Regen und den nassen Reifenspuren hat die Sache bloß ein bisschen beschleunigt.«
»Du warst also nicht smarter, als er sich das gedacht hat?«
Harry zuckte m it den Schultern. »Nee, aber dam it kann ich leben. Jim Love aber nicht. Er erhielt sein e Bezahlung in Form von vergiftetem Opium.«
»Weil er Zeuge war?«
»Wie gesagt, Brekke mag kein Risiko.«
»Aber wie sieht es mit dem Motiv aus?«
Harry atmete durch die Nase aus, es klang wie das Zischen der Hydraulikbremse eines Lastwagens.
»Erinnerst du dich, dass wir uns gefragt haben, ob 50 Millionen Kronen für sechs Jahre als Motiv reichen, den Botschafter zu töten? Sie reichten nicht. Aber für den Rest des Lebens darüber verfügen zu können, reicht e für Jens Brekke als Mo tiv aus, um drei Menschen zu töten. Laut Testament sollte Runa mit ihrer Volljährigkeit das Geld erben, doch da nicht weiter festgelegt war, was im Falle ihres Todes geschehen sollte, würde dann die norm ale Erbreihenfolge greifen. Das heißt, dass das Vermögen Hilde Moln es zugesprochen wird. Das Testament beinhaltet ja auch keine Eins chränkungen, wie sie jetzt über das Geld zu verfügen hat.«
»Und wie will Brekke sie dazu bringen, das Geld abzugeben?«
»Das braucht er gar nicht zu tun. Hilde Molnes hat noch sechs Monate zu leben. Lang genug, um ihn zu heiraten, aber nicht so lang, dass Brekke es nicht scha ffen könnte, in dieser Zeit den perfekten Gentleman zu spielen.«
»Er hat ihren Mann und ihre To chter aus dem Weg geräumt, um das Geld zu erben, wenn sie stirbt?«
403
»Und nicht nur das«, sagte Harr y. »Er hat das Geld bereits ausgegeben.«
Liz sah ihn fragend an.
»Er hat eine beinahe bankrotte Firma mit Namen Phuridell übernommen. Wenn es nach den Vorstellungen von Barclay Thailand geht, kann die Gesellsch aft in wenigen Jahren das Zwanzigfache von dem wert sein, was er jetzt bezahlt hat.«
»Und warum verkaufen dann die anderen?«
»Laut George W alters, dem Geschäftsführer von Phuridell sind ›die anderen‹ ein paar Klei naktionäre, die sich geweigert haben, ihre Posten zu verkaufen, als Ove Klipra sich die Aktienmehrheit verschafft hat, we il sie geahnt haben, dass da irgendwas Großes im Busch ist. Doch nach Klipras Vers chwinden erfuhren sie, dass die Do
llarschulden die Gesellschaft
massiv nach unten zogen, so dass sie Brekkes Angebot dankbar annahmen. Das Gleiche gilt fü r die Anwaltsfirm a, die den Nachlass von Klipra verwaltet. Die gesamte Kaufsumme beläuft sich auf rund hundert Millionen Kronen.«
»Aber Brekke hat das Geld doch noch nicht?«
»Walters hat mir erzählt, dass die Hälf te des Geldes jetzt bei Vertragsabschluss fällig ist, die andere Hälfte in sechs Monaten.
Wie er den ersten Teil bezahlen will, weiß ich nicht, das Geld muss er sich auf einem anderen Weg beschafft haben.«
»Und was, wenn sie nicht innerhalb von sechs Monaten stirbt?«
»Irgendwie glaube ich, dass Br ekke schon dafür sorgen wird, dass das geschieht. Er mischt ihr schließlich ihre Drinks …«
Liz starrte nachdenklich vor sich hin. »Hatte er keine Angst, dass man Verdacht schöpfen konnte, wenn er ausgerechnet jetzt plötzlich als der neue Besitzer von Phuridell auftaucht?«
»Doch. Deshalb hat er die Aktien im Namen einer Gesellschaft mit Namen Ellem Limited gekauft.«
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»Man hätte herausfinden können, dass er dahintersteckt.«
»Das tut er nicht. Die Gesellsch aft ist unte r Hilde Moln es’
Namen eingetragen. Aber er erbt nach ihrem Tod natürlich auch das.«
Liz formte ihre Lippen zu einem stummen »O«.
»Und all das hast du auf eigene Faust herausgefunden?«
»Mit Hilfe von W alters. Aber der Verdacht kam mir, als ich bei Klipra die Aktionärsliste von Phuridell gefunden habe.«
»Ach ja?«
»Ellem.« Harry lächelte. »Das ha t mich natürlich zuers t Ivar Løken verdächtigen lassen. Sein Spitzname im Vietnamkrieg war nämlich LM. Aber die Lösung ist noch banaler.«
Liz legte die Hände hinter den Kopf. »Ich gebe auf.«
»Wenn man Ellem von hinten liest, wird daraus Meile. Das ist Hilde Molnes’ Mädchenname.«
Liz starrte Harry an, als wäre er eine Attraktio n im zoologi-schen Garten.
»Verdammt, du bist echt nicht ganz normal«, murmelte sie.
Jens blickte auf die Papaya, die er in der Hand hielt.
»Wissen Sie was, Løken? In dem Moment, in dem man in eine Papaya beißt, riecht es immer n ach Erbrochenem, haben Sie das schon einmal bemerkt?«
Er schlug die Zähne ins Frucht fleisch. Der Saft rann ihm über das Kinn.
»Und dann schmeckt’s nach Fotze.« Er legte den Kopf in den Nacken und lachte.
»Wissen Sie, eine Papaya kostet hier in Chinatown 5 Baht –
das ist fast nichts. Jeder kann sich das leisten, Papaya zu essen ist eine der sogenannten einf achen Freuden. Und wie alle 405
anderen einfachen Freuden weiß m an sie nicht zu schätzen, solange man sie hat. Das ist wie …«
Jens fuchtelte mit der Hand vor sich herum , als suche er nach einer passenden Analogie.
»… sich selbst den Arsch abzuwischen. Oder zu wichsen. Das Einzige, was man dafür braucht, ist eine intakte Hand.«
Er hob Løkens abgehackte Hand am Mittelfin ger hoch u nd hielt sie ihm vor das Gesicht.
»Eine haben Sie noch. Denken Sie darüber nach. Und denken Sie an all das, was Sie ohne Hände nicht mehr machen können.
Ich habe mir schon ein paar Gedanken darüber gem acht, ich
kann Ihnen da gerne helfen. Sie können keine Apfelsine mehr schälen, keinen Köder m ehr an einen Angelhaken stecken, Sie können keine Frau mehr liebkosen oder Ihre eigene Hose zuknöpfen. Ja, Sie können sich ni cht mal mehr selbst erschie-
ßen, falls Sie Lust dazu haben sollten. Sie brauchen Hilfe für alles. Für alles, denken Sie daran.«
Blutstropfen sickerten aus se iner Hand und tropften auf den Rand des Tisches, so dass Løkens Hemd kleine, rote Spritzer bekam. Jens legte die Hand we g. Die Finger zeigten an die Decke.
»Andererseits gibt es keine Gr enzen dafür, was m an mit zwei gesunden Händen anstellen kann. Man kann einen Menschen, den man hasst, erwürgen, den Pott zu sich ziehen, der auf de m Tisch liegt, und einen Golfschläg er umklammern. Wissen Sie, wie weit die medizinischen Möglichkeiten mittlerweile gediehen sind?«
Jens wartete, bis er s ich sicher war, dass Løken nicht antworten würde.
»Die können eine Hand wieder annähen, ohne dass auch nur ein Nerv zerstört wird. Sie gehe n bis weit in Ih ren Arm hinein und ziehen die Nerven wie Gumm ibänder nach unten. Nach sechs Monaten werden Sie kaum noch spüren, dass sie einma l 406
ab war. Natürlich hängt das da von ab, ob Sie schnell genug zu einem Arzt kommen und daran gedacht haben, die Hand auch mitzunehmen.«
Er ging langsam um Løkens Stuhl herum, legte das Kinn auf seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Gucken Sie m al, was für eine schöne Hand, finden Sie nicht auch? Fast wie die Hand auf diesem Bild von Michelangelo, wie heißt das noch mal?«
Løken antwortete nicht.
»Das aus der Levi’s-Werbung. Sie wissen schon.«
Løken hatte seinen Blick auf eine n Punkt in der Luft vor sich geheftet. Jens seufzte.
»Wir sind wohl beide keine großen Kunstkenner, oder? Nun, vielleicht kaufe ich m ir ein paar bekannte Bilder, wenn all das hier vorbei ist, v ielleicht kann d as ja m ein Interesse anregen.
Apropos vorbei, was glauben Sie, wie lange dauert es, bis es zu spät ist, so eine Hand wieder anzu nähen? Eine halbe Stunde?
Eine Stunde? Vielleicht länge r, wenn wir sie auf Eis legen würden, aber das ist uns heute leider ausgegangen. Zu Ihrem großen Glück braucht m an von hi er bis zum Answut-Hospital nur eine Viertelstunde.«
Er holte Luft, legte den Mund an Løkens Ohr und brüllte:
»WO SIND HOLE UND DIESE FRAU?«
Løken zuckte zusamm en und öffnete seinen Mund zu einem schmerzverzerrten Grinsen.
»Tut mir leid«, sagte Jens. Er nahm ein Stückchen orangenes Fruchtfleisch von Løkens W ange. »Es ist nur so, dass es für mich nicht ganz unwichtig ist, sie zu finden. Ihr drei seid schließlich die Einz igen, die kapiert ha ben, wie das alles zusammenhängt, nicht wahr?«
Ein heiseres Flüstern kam über die Lippen des alten Mannes:
»Sie haben recht …«
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»Was?«, fragte Jens. Er beugt e sich vor Løkens Mund. »Was sagen Sie? Reden Sie, Mann!«
»Sie haben recht, was die Papa ya angeht. Sie stinkt nach Erbrochenem.«
Liz verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Sag m al, diese Sache mit Jim Love. Ich kann m ir irgendwie nicht vorstellen, wie Brekke in der K üche steht und Blausäure ins Opium mischt.«
Harry verzog seinen Mund zu einem schiefen Grinsen.
»Das Gleiche hat Brekke über Klipra gesagt. Aber du hast recht, er hatte jemanden, der ihm geholfen hat, einen Profi.«
»Aber solche Leute inserieren nicht gerade in der Zeitung.«
»Nein.«
»Vielleicht jemand, den er zufällig kennengelernt hat. Schließ-
lich verkehrt er in ziemlich dubiosen Spielerkreisen. Oder …«
Sie hielt inne, als sie sah, dass er sie anstarrte. »Ja?«, fragte sie. »Was ist?«
»Ist das nicht offensichtlich ? Das ist unser alter Freund W oo.
Er und Jens haben die ganze Zeit zusamm engearbeitet. Es war Jens, der ihm den Befe hl gegeben hat, die W anze in m einem Telefon zu installieren.«
»Ist es nich t ein biss chen zu viel des Zufalls, dass derselbe Mann, der für Molnes’ Kreditgebe r gearbeitet hat, auch für Brekke arbeiten soll?«
»Natürlich ist das k ein Zufall. Hilde Molnes hat mir erzählt, dass sich die Geldeintreiber, die sie nach dem Tod ihres Mannes angerufen haben, nicht m ehr bei ihr gem eldet haben, nachde m sie einmal mit Jens Brekke telefoniert hatten. Ich bezweifle, dass er ihnen eine solche Todesangst eingejagt hat, um es mal so auszudrücken. Als wir Thai Indo Travellers besuchten, sagte Herr Sorensen, dass sie keine Außenstände mehr bei Molnes 408
hätten. Vermutlich sagte er die W ahrheit, ich schätze, dass Brekke die Schulden des Botschaf ters beglichen hat. Natürlich gegen gewisse Gegenleistungen.«
»Woos Dienste.«
»Genau.« Harry sah auf die Uhr. »Scheiße, Scheiße. Wo bleibt Løken denn bloß?«
Liz stand auf und seufzte. »W ir sollten versuchen, ihn anzurufen. Vielleicht hat er verschlafen.«
Harry kratzte sich nachdenklich am Kinn.
»Vielleicht.«
Løken spürte einen Schm erz in der Brust. Er hatte noch nie Herzprobleme gehabt, kannte aber die Symptome. Wenn es ein Infarkt war, hoffte er, dass er kräftig genug war, ihm das Leben zu nehmen. Er musste so oder so sterben, da war es umso besser, wenn er Brekke wenigstens um diese Freude bringen konnte.
Obwohl, wer weiß, vielleicht be reitete es ih m ja gar keine Freude. Vielleicht war es für Brekke, wie es für ihn selbst gewesen war – ein Job, der erledigt werden m usste. Ein Schuss, ein zu Boden gehender Mann, das war’s. Er sah Brekke an. Er sah, wie sich sein Mund bewegte, und erkannte zu seiner Überraschung, dass er nichts hörte.
»Als Ove Klipra mich bat, die Dollarschuld von Phuridell zu sichern, tat er das nicht am Telefon wie sonst, sondern bei einem gemeinsamen Essen«, sagte Jens . »Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich geschah. Eine Order über fast 500 Millionen und das mündlich ohne Bandaufzeichnung! Auf so eine Chance wartet man sein ganzes Leben und normalerweise bietet sie sich dann doch nie.« Jens wischte sich mit einer Serviette den Mund ab.
»Als ich zurück in m einem Büro war, unternahm ich unter meinem Namen die Dolla rtermingeschäfte. Sollte der D ollar 409
fallen, konnte ich den Handel sp
äter einfach auf Phuridell
umschreiben und behaupten, das sei die angesprochene Dollar-sicherung. Sollte er steigen, konnte ich d en Gewinn s elbst einfahren und einfach leugnen, dass Klipra mich um diese Termingeschäfte gebeten hatte. E r konnte nichts beweisen.
Raten Sie m al, was geschah, Iv ar? Ich darf Si e doch Ivar nennen?«
Er knüllte die Serviette zusamm en und zielte auf den Müllei-mer neben der Tür.
»Tja, Klipra drohte damit, wegen dieser Sache zur Geschäfts-leitung von Barclay Thailand zu gehen. Ich erklärte ihm , dass ihm Barclay Thailand, sollten sie seine Aussage stützen, seine n Verlust erstatten m üssten und da ss sie ihren besten Makler verlieren würden. Mit anderen Worten: Sie ko nnten gar n icht anders, als sich hinter mich zu stellen. Dann drohte er mir damit, seine politischen Kontakte zu nutzen. W issen Sie was? Dazu kam es nic ht mehr. Ich habe erkannt, dass ich ein Problem beiseite schaffen konnte, näm lich Ove Klipra, und gleichzeitig seine Firma Phuridell übernehmen konnte, eine Gesellschaft, die wie eine Rakete abgehen wird. Und ich sage das nicht nur, weil ich es glaube und hoffe, wie das diese pathetischen Aktienspe-kulanten machen. Ich weiß es. Ich werde dafür sorgen. Es wird geschehen.«
Jens’ Augen leuchteten.
»Genau wie ich weiß, dass Harry Hole und dieses kahlköpfige Frauenzimmer heute Abend sterben werden. Auch das wird geschehen.« Er sah auf die Uhr. »Entschuldigen Sie die Melo-dramatik, aber die Zeit läuft, Ivar . Es ist an der Zeit, dass Sie an Ihr eigenes Wohlergehen denken, nicht wahr?«
Løken sah ihn mit einem leeren Blick an.
»Sie haben keine Angst, oder? Ein harter Brocken?«
Brekke zog etwas überrascht an einem losen Faden an einem Knopfloch. »Soll ich Ihnen sa gen, wie m an Sie finden wird, 410
Ivar? Jeder an einem Pfahl am Fluss mit einer Kugel im Bauch und Gorillagrimasse. Haben Sie den Ausdruck schon m al
gehört, Ivar? Nicht? Vielleicht nannte man das ja anders, als Sie jung waren? Ich habe selber auch nie genau gewusst, was dam it gemeint war. Bis m ir mein Freund Woo hier erzäh lt hat, dass man mit einer Bootsschraube
buchstäblich die Haut vom
Gesicht eines Menschen fräsen kann, so dass das rote Fleisch darunter zum Vorschein kommt, verstehen Sie? Das Beste daran ist, dass das eine klassische Ma fiamethode ist. Natürlich werden sich einige hinterher fragen, was die beiden angestellt haben, um die Mafia d erart wütend zu m achen, aber darauf werden sie wohl nie eine Antwort erhalt en, oder? Bestimmt nicht von Ihnen, die Sie eine Gratisoper ation und fünf M illionen Dollar bekommen können, wenn Sie mir sagen, wo die beiden sind. Sie haben ja eine gewisse Erfahr ung im Untertauchen und darin, sich eine neue Identität oder so etwas zu verschaffen, nicht wahr?«
Ivar Løken sah, wie sich Jens’ Lippen bewegten, und er hörte das Echo einer weit entfernten Stimme. Wörter wie »Bootsschraube«, »fünf Millionen« und »neue Ide ntität« flatterten vorbei. Er hatte sich nie selbst für einen Helden gehalten und er hatte auch nicht wirklich den Wunsch, als ein solcher zu sterben.
Doch er kannte den Unterschied zwischen Recht und Unrecht und mit gewissen Abstrichen hatte er sich an das gehalten, was er als Recht empfand. Niemand außer Brekke und Woo würden jemals mitbekommen, ob er dem Tod m it erhobenem Haupte entgegengetreten war oder nicht, niemand würde an den Veteranen-Stammtischen des Nachrich tendienstes oder d es Auswärtigen Amtes über den alte n Løken reden, und eigentlich war Løken das auch alles reichlich egal. Was sollte er mit Ruhm nach seinem Tod? Sein Leben war ein gut gehütetes Geheimnis gewesen und deshalb war es nur natürlich, dass auch sein Tod so sein würde. Dieser Mom ent bot keinen Raum für große Gesten 411
und das Einzige, was er erreichen konnte, wenn er Brekke gab, was er wollte, war ein schnellerer Tod. Und Schm erzen hatte er keine mehr. Das war es also nicht wert. Und es hätte auch nichts geändert, wenn Løken die Details von Brekkes Vorschlag gehört hätte. Nichts hätte etwas geände rt. Denn im gleichen Mom ent begann das Handy zu piepen, das an seinem Gürtel befestigt war.
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KAPITEL 51
Als Harry auflegen wollte, hörte er ein Klicken und dann einen neuen Klingelton. Er entnahm daraus, dass der Anruf von Løkens Festnetzanschluss weitergeleitet worden war. Er wartete, ließ es s ieben Mal klin geln, ehe er aufgab und sich bei dem Mädchen mit den Micky-Maus-Zöpfchen hinter dem Tresen für das Telefon bedankte.
»Wir haben ein Problem«, sagte er , als er wieder in den Raum kam. Liz hatte sich die Schuhe ausgezogen, um eine Stelle m it trockener Haut zu inspizieren.
»Der Verkehr«, sagte sie. »Es ist immer der Verkehr.«
»Ich wurde zu seinem Handy weitergeleitet, aber da hat er das Gespräch auch nicht entgegengenommen. Das gefällt m ir gar nicht.«
»Beruhig dich. W as sollte ihm hier im friedlichen Bangkok schon zustoßen? Er hat das Handy sicher zu Hause liegen lassen.«
»Ich habe einen Fehler gem acht«, sagte Harry. »Ich habe Brekke erzählt, dass wir uns heute Abend treffen wollen, und ihn gebeten, herauszufinden, wer hinter Ellem Limited steht.«
»Du hast was?« Liz nahm die Füße von Tisch.
Harry schlug mit der Faust auf den Tisch, dass die Kaffeetas-sen hochhüpften. »Scheiße, Scheiße! Ich wollte sehen, wie er reagiert.«
»Wie er reagiert? Verflucht, Harry, das ist kein Spiel!«
»Ich spiele nicht. Ich habe mit ihm vereinbart, ihn von hier aus anzurufen, um einen Treffpunkt zu vereinbaren. Ich dachte an das Lemon Grass.«
»Das Restaurant, in dem wir waren?«
413
»Das ist gleich in der Nähe und es ist besser, als bei ihm zu Hause in einen Hinterh alt gelockt zu werden. Wir sind zu dritt, so dass ich dachte, wir könnten ihn so festnehm en wie neulich Woo.«
»Und dann m usstest du ihn aufscheuchen, indem du Elle m erwähnst?«, stöhnte Liz.
»Brekke ist nicht dumm. Er hat schon lange vorher Lunte gerochen. Er hat wieder davon gesprochen, dass er m ich gerne als Trauzeugen hätte, der wollte mich testen, sehen, ob ich ihn auf dem Kieker hatte.«
Liz schnaubte. »W as für eine Machoscheiße! Das darf doch wohl nicht wahr sein, dass ihr da auch noch persönlich involviert seid. Harry, ich dachte eigentlich, du wärst zu professionell für so etwas.«
Harry antwortete nicht. Er wusste, dass sie recht hatte, er hatte sich wie ein Amateur aufgeführt. Warum in aller Welt hatte er Ellem Limited erwähnt? Er hätte hundert andere Vorwände finden können, um ihn zu treffen. Vielleicht stimmte das, was Jens gesagt hatte, dass m anche Menschen das Risiko um des Risikos Willen suchen, vielleicht war er nur e iner der Spieler, die Brekke so pathetisch fand. Nei n, so war es nicht. Jedenfalls nicht nur. Sein Großvater hatte ihm einm al erklärt, warum er niemals auf Schneehühner schoss, die am Boden saßen: »Das ist nicht schön.«
War es deshalb? Eine Art ve rerbte Jagdethik, dass m an die Beute aufscheuchte, um sie im Flug zu erschießen, um ihr eine symbolische Chance zu geben, davonzukommen?
Liz unterbrach seine Gedanken.
»Also, Herr Kommissar, was tun wir jetzt?«
»Warten«, sagte Harry. »W ir geben Løken noch eine halbe Stunde. Wenn er bis dahin nicht aufgetaucht ist, rufe ich Br ekke an.«
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»Und wenn Brekke nicht ans Telefon geht?«
Harry stieß die Luft aus . »Dann rufen wir den Polizeichef an und setzen die ganze Maschinerie in Bewegung.«
Liz fluchte durch zusammengebi ssene Zähne. »Habe ich dir schon mal das mit den Verkehrspolizisten gesagt?«
Jens blickte auf das Display von Løkens Handy und lachte glucksend. Es hatte aufgehört zu piepen.
»Ein schönes Telefon haben Sie da, Ivar«, sagte er. »Ericsson hat da wirklich gute Arbeit geleistet, finden Sie nicht? Man kann die Nummer des Anrufers sehen, so dass du einfach nicht drangehen kannst, wenn es jem and ist, m it dem du nicht sprechen willst. Wenn ich m ich nicht ir re, beginnt sic h da jemand zu fragen, warum Sie nicht aufgetaucht sind. Denn Sie haben doch sicher nicht so vi ele Freunde, die Sie um diese Uhrzeit anrufen, oder Ivar?«
Er warf das Telefon über seine S
chulter und W oo sprang
geschmeidig einen Schritt zur Seite und fing es auf.
»Ruf die Auskunft an und finde heraus, wer diese Nummer hat und wo das ist. Sofort.«
Jens hockte sich neben Løken. »Langsam wird diese Operation sehr dringend, Ivar.«
Er hielt sich die Nase zu und blickte zu Boden, auf de m sich unter dem Stuhl eine Pfütze gebildet hatte.
»Also wirklich, Ivar.«
»Millie’s Karaoke«, kam es von hinten auf Stakkato-Englisch.
»Ich weiß, wo das ist.«
Jens klopfte Løken auf die Schulter.
»Sorry, aber wir m üssen jetzt los, Ivar. W enn wir wieder zurück sind, bringen wir Sie in s Krankenhaus, das verspreche ich, o.k.?«
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Løken spürte die Vibration si ch entfernender Schritte und wartete auf den Luftzug einer ins Schloss fallenden Tür. Er kam nicht. Stattdessen hörte er wieder das fe rne Echo einer Stimme dicht bei seinem Ohr: »Ach ja, das habe ich fa st vergessen, Ivar.« Er spürte den warmen Atem an seiner Schläfe.
»Wir brauchen etwas, um sie an d ie Pfähle zu binden. Kann ich mir mal diese Schlauchbind e ausleihen? Ich verspreche auch, dass ich sie Ihnen zurückbringe.«
Løken öffnete den Mund und spürte, wie sich die Schleim haut in seinem Hals losriss, als er zu brüllen begann. Ein anderer hatte das Komm ando in sein em Hirn übernomm en, und er spürte, wie er an den L ederriemen zerrte, als er das Blut den Tisch überfluten sah. Die Är mel seines Hemdes saugten es auf, bis sie rundum getränkt waren. Den Luftzug von der Tür spürte er nicht.
Harry sprang auf, als es an der Tür klopfte.
Unfreiwillig schnitt er eine Grimasse, als es nicht Løken war, sondern das Mädchen mit den Micky-Maus-Zöpfen.
»You Hally, sil? «
Er nickte.
» Telephone. «
»Was habe ich gesagt?«, sagte Liz. »Hundert Baht, dass es der Verkehr war.«
Er folgte dem Mädchen zur Rezeption und registrierte unter-bewusst, dass sie die gleichen rabenschwarzen Haare und einen ähnlich schlanken Hals wie Runa hatte. Er starrte auf die kleinen, schwarzen Härchen unter ihrem Haaransatz im Nacken.
Sie drehte sich um , lächelte rasch und streckte ihm die Hand entgegen. Er nickte und nahm den Hörer.
»Ja?«
»Harry? Ich bin’s.«
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Harry glaubte zu spüren, wie seine Adern anschwollen, als das Herz das Blut schneller durch se inen Körper pumpte. Er atm ete ein paar Mal tief durch, ehe er ruhig und deutlich zu reden begann: »Wo ist Løken, Jens?«
»Ivar? Ach, wissen Sie, der ha t alle Hände voll zu tun und konnte nicht kommen.«
Harry konnte an seiner Stimm e erkennen, dass die Maskerade vorüber war, jetzt sprach wirklich Jens Brekke, die Person, m it der er beim ersten Mal im Büro gesprochen hatte. Der neckisch herausfordernde Ton eines Mannes, der sich seines Sieges schon sicher ist, d ie Zeit bis zum Gnadenstoß aber noch auskosten will. Harry versuchte, s chnell etwas zu f inden, damit sich das Blatt wieder zu seinen Gunsten wendete.
»Ich habe auf Ihren Anruf gewartet, Harry.« Es war wirklich nicht die Stimme eines verzweif elten Menschen, sondern eines Mannes, der nonchalant mit einer Hand am Steuer saß.
»Tja, Sie sind mir zuvorgekommen, Jens.«
Jens lachte heiser. »Ich komme Ihnen wohl immer zuvor, oder, Harry? Wie fühlt sich das an?«
»Anstrengend. Wo ist Løken?«
»Wollen Sie wissen, was Runa vor ihrem Tod gesagt hat?«
Harry spürte ein Kribbeln unter der Haut auf seiner Stirn.
»Nein«, hörte er sich s elbst sagen. »Ich will nur wissen, wo Løken ist, was Sie m it ihm gemacht haben und wo wir Sie finden können.«
»Ja, aber das sind ja drei Wünsche auf einmal!«
Die Membran des Te lefonmikrofons zitterte bei seinem Lachen. Aber da war noch etwas anderes, das seine Aufm erksamkeit erregte, etwas, das er noch nicht identifizieren konnte. Das Lachen stoppte abrupt.
»Wissen Sie, wie viel Einsatz ein Arrangem ent wie d ieses erfordert, Harry? Sich doppelt und dreifach abzusichern und alle 417
nur möglichen Umwege zu gehen, um die Sache wasserdicht zu machen? Ganz zu schw eigen von dem physischen Unbehagen.
Töten ist eine Sache, aber glauben Sie etwa, die Tage im Gefängnis haben m ir gefallen? Sie mögen m ir vielleicht nicht glauben, aber was ich Ihnen übe r das Eingesperrtsein gesagt habe, stimmt wirklich.«
»Und warum haben Sie dann all diese Umwege gemacht?«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, dass es nich t billig is t, das Risiko zu eliminieren, aber es lohnt sich, das ist imm er so. Wie all die Arbeit, die es mich gekostet hat, es so aussehen zu lassen, als wäre Klipra der Täter.«
»Warum konnten Sie die Sache ni cht einfacher gestalten? Sie alle niederschießen und die Sache dann der Mafia in die Schuhe schieben?«
»Sie denken wohl an einen dies er Loser, mit denen Sie sonst zu tun haben, Harry. Wie die Spieler, die die H älfte übersehen, den Haken an der Sache. Natürlich hätte ich Molnes, Runa und Klipra auch einfacher töte n und darauf achten können, keine Spuren zu hinterlas sen. Aber das hätte nicht gereicht. D enn spätestens, wenn ich das Molnes-Verm
ögen und Phuridell
übernommen hätte, wäre es m ehr als deutlich geworden, dass ich ein Motiv hatte, alle drei zu töten, nicht wahr? Drei Morde und eine Person, die in allen drei Fällen ein Motiv hat, sogar die Polizei könnte so eine Rechenau fgabe lösen, glauben Sie nicht auch? Auch ohne schlüssige Beweise hätten Sie m ir das Leben zur Hölle machen können. Also musste ich Ihnen ein Alternativ-szenario geben, bei dem einer de r Toten selbst der Schuldige war. Eine Lösung, die nicht zu kompliziert war, dam it Sie sie finden konnten, aber auch nicht zu simpel, so dass Sie sich damit zufriedengaben. S ie sollten mir eigentlich dankbar sein, Harry, ich habe Sie doch wirklic h gut aussehen lassen, als Sie auf die Spur von Klipra kamen, oder?«
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Harry hörte nur halb hin, er wa r in Gedanken ein Jahr zurück.
Da hatte er auch die Stimm e eines Mörders im Ohr gehabt.
Damals waren es die Hintergr undgeräusche gewesen, die ihn verraten hatten, doch jetzt hörte Harry nur ein leises Summen von Musik, die von überall her kommen konnte.
»Was wollen Sie, Jens?«
»Was ich will? Tja, was will ic h? Wahrscheinlich nur ein bisschen reden.«
Mich aufhalten, dachte Harry. Er will mich aufhalten. Warum?
Synthetische Trommeln schlugen leise und eine Klarinette hüpfte davon.
»Aber wenn Sie es wirklich konkr et wissen wollen, ich habe nur angerufen, um Ihnen zu sagen …«
I Just Called To Say I Love You!
»… dass Ihre Kollegin wirklich ein Gesichtslifting gebrauchen könnte. Oder was meinen Sie, Harry? Harry?«
Der Telefonhörer pendelte in einem Bogen knapp über dem Boden.
Harry spürte den süßen Adrenalinstoß wie eine Spritze, während er über den Flur hastete. Das Mädchen m it den Mi cky-Maus-Zöpfen war entsetzt zurückgesprungen, als er den Hörer losgelassen, seine geliehene Ruger SP-101 in einer gleitenden Bewegung aus dem Hüfthalfter gezogen und geladen hatte.
Hatte sie mitbekommen, dass e r gerufen hatte, sie solle die Polizei alarmieren? Aber f ür solche Gedanken war jetz t keine Zeit, er war hier. Harry trat die ers te Tür auf u nd blickte über seine Pistole hinweg in vier entsetzte Gesichter.
»Sorry.«
Im nächsten Raum hätte er b einahe aus b loßem Schrecken geschossen. In der Mitte des Zimmers stand ein winziger, dunkler Thailänder in silberglit zerndem Hosenanzug, Zuhälter-brille und mit weit ge spreizten Beinen. Es dauerte ein paar 419
Sekunden, bis Harry kapierte, was der Mann m achte, doch dem Thai-Elvis waren die Reste von Hound Dog bereits im Hals stecken geblieben.
Harry starrte den Flur hinunter . Es m ussten alles in allem mindestens fünfzig Zimmer sein. Sollte er Liz h olen? Irgendwo in seinem Kopf hatte eine Alarm glocke zu läuten begonnen, doch sein Gehirn war bereits derart überlastet, dass er versucht hatte, sie auszuschalten. Jetzt hörte er sie plötzlich klar und deutlich. Liz! Scheiße, Scheiße, Jens hatte ihn aufgehalten.
Er stürmte den Flur hinunter, und als er um die Ecke kam, sah er sofort die Tür zu ihrem Zi mmer offen stehen. Er dachte n icht mehr, fürchtete nichts mehr, hofft e nichts mehr, sondern rannte in dem Bewusstsein weiter, dass er die Grenze längst überschrit-ten hatte, bis zu der das Töten schwierig war. Es war nicht mehr wie ein schlimmer Traum, in dem man durch hüfthohes Wasser laufen muss. Er stürm te durch die Tür und sah Liz gekrümmt hinter dem Sofa liegen. Er schw ang die Pistole herum , doch zu spät. Etwas traf ihn unterhalb de r Nieren, p resste die Luft aus ihm heraus und im nächsten Augenblick spürte er, wie ihm der Hals abgedrückt wurde. Aus den Augenwinkeln sah er da s
Kabel des Mikrofons und wurde von dem nach Curry stinkenden Atem überwältigt.
Harry schlug den Ellenbogen nach hinten, spürte, dass er etwas getroffen hatte, und hörte ein Stöhnen.
» Tay« , sagte eine Stimme und eine Faust kam von hinten und traf ihn unter dem Ohr, so da ss ihm schwarz vor Augen wurde.
Er spürte sofort, dass irgendetwas Kostspieliges mit seinem Kiefer passiert war. Dann straffte sich das Kabel um seine Kehle wieder. Er versuchte, einen Fi nger dazwischenzuschieben, doch ohne Erfolg. Seine Zunge quoll ihm taub aus de m Mund, als küsste ihn jem and von innen. Vi elleicht würde ihm diese Zahnarztrechnung ja doch erspart bleiben, es wurde bereits wieder dunkel.
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Harry hatte Brausepulver im Hirn. Er schaffte es nicht wirklich, versuchte aber trotzdem , sich irgendwie auf das Sterben vorzubereiten, doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Automatisch streckte er einen Ar m nach oben, aber dort war kein Poolkescher, der ihn retten konnte . Es war nur ein Gebet, als würde er auf der Brücke des Siam Squares stehen und um das ewige Leben bitten.
»Stopp!«
Das Kabel um seinen Hals löste sich und Sauerstoff strömte in seine Lungen. Mehr, er m usste noch m ehr davon haben. Die Luft des ga nzen Raums schien nicht genug und seine Lungen fühlten sich an, als wollten sie seine Brust sprengen.
»Lass ihn los!« Liz hatte sich hingekniet und deutete mit ihrer Smith & Wesson 650 auf Harry.
Harry spürte, wie sich Woo hi nter ihm zusammenkauerte und das Kabel wieder straffte, doch jetzt hatte Harry die linke Hand hinter das Kabel bekommen.
»Erschieß ihn.« Harry hatte eine Donald-Duck-Stimme.
»Lass ihn los! Jetzt!« Liz’ P upillen waren schwarz vor Angst und Wut. Blut sickerte aus ihrem Ohr über den Wangenknochen und über den Hals.
»Er wird nicht loslassen, du m usst schießen«, flüsterte Harry heiser.
»Jetzt!«, schrie Liz.
»Schieß!«, brüllte Harry.
»Halt’s Maul!« Liz we delte mit der Pisto le herum, um das Gleichgewicht zu bewahren. Ha rry lehnte sich nach hin ten gegen Woo. Es war, als würde m an sich an eine W and stützen.
Liz hatte Tränen in den Augen und ihr Kopf kippte nach vorn.
Harry kannte die Sym ptome. Sie hatte eine schwere Gehirner-schütterung und sie hatten nur wenig Zeit.
»Liz, hör jetzt auf mich!«
421
Das Kabel straffte sich und Harry spürte, wie es in die Haut seiner Handkante einschnitt.
»Deine Pupillen sind weit geöffnet, du bekommst gleich einen Schock, Liz! Hörst du! Du musst jetzt schießen, bevor es zu spät ist! Du wirst gleich ohnmächtig, Liz!«
Ein Schluchzen kam über ihre Lippen.
»Verflucht, Harry! Ich kann das nicht, ich …«
Das Kabel glitt wie Butter durch sein Fleisch. Er versuchte, die Faust zu ballen, doch einige Nerven m
ussten durchtrennt
worden sein.
»Liz! Sieh mich an! Liz!«
Liz blinzelte und blinzelte und sah ihn m it schwimmenden Augen an.
»Das wird verdamm t noch m al gutgehen, Liz. Kannst du verstehen, warum die diese Nord chinesen in die Armee holen?
Verdammt, es gibt auf der ga nzen Welt keine größeren Ziel-scheiben. Sieh dir den Kerl doch an, Liz. Wenn du es irgendwie schaffst, an mir vorbeizuschießen, bist du quasi gezwungen, ihn zu treffen!«
Sie sah ihn m it offenem Mund an, dann senkte sie die Pistole und begann zu lachen. Harry versuchte, Woo zu stoppen, der an ihm vorbeiging, doch es war, als hätte Harry sich einer Lokomo-tive in den Weg gestellt. Sie ware n über ihr, als etwas in Harrys Gesicht explodierte. Wieder s choss ein stech ender Schmerz durch seine Nervenbahnen, doch dieses Mal war er an ders, irgendwie brennend. Er roch ihr Parfüm und spürte ihren Körper unter dem massiven Gewicht von Woo nachgeben, der sie alle drei zu Boden drückte. Das Ec ho des Donners rollte durch die geöffnete Tür auf den Flur hinaus. Dann wurde es still.
Harry atmete. Er lag eingekl emmt zwischen Woo und Liz, doch er spürte, wie sich sein e Brust hob und senkte. Das konnte nur bedeuten, dass er noch am Leben war. Etwas tropfte und 422
tropfte. Er versuchte, den Gedanken von sich zu weisen, er hatte jetzt keine Zeit dafür, keine Zeit für den nassen Tau, die kalten, salzigen Tropfen gegen die Decke. Dies hier w ar nicht Sydney.
Sie fielen auf Liz’ Stirn, auf ihre Augenlider. Dann hörte er wieder ihr Lachen. Liz’ Augen öffneten sich und wurden zu zwei schwarzen Fenstern, um geben von weißen Rahm en auf einer rot bem alten Wand. Großv aters Axthiebe, trockene, dumpfe Schläge, wenn das Ho lz auf dem hart gestam pften Boden aufschlug. Der Hi mmel war blau, das Gras kitzelte an den Ohren und eine Möwe flog i mmer wieder in sein Blickfeld.
Er hatte Lust zu schlafen, doch sein ganzes Gesicht stand in Flammen, er roch den Gestank seines eig enen verschmorten Fleisches, in dessen Poren sich das Pulver eingebrannt hatte, Mit einem Stöhnen rollte er sich aus dem m enschlichen Sandwich.
Liz lachte noch immer, ihre Augen waren weit aufgerissen und er ließ sie.
Dann wälzte er W oo auf den Rücken. Sein Gesicht war in einem überraschten Ausdruck er starrt. Sein Mund war halb geöffnet, als wollte er g egen das schwarze Loch in seiner Stirn protestieren. Er ha tte Woo beweg t, hörte es aber noch immer tropfen. Er drehte sich zur W and um und registrierte, dass er sich das nicht nur eingebildet hatte. Madonna hatte schon wieder eine andere Haarfarbe. Woos Zöpf chen hatte sich ganz oben an den Bilderrahmen geklebt und gab ihr einen schwarzen Punker-look, aus dem etwas tropfte, das wie eine Mischung aus Rührei und Rote-Bete-Saft aussah. Es fiel mit einem weichen Klatschen auf den dicken Teppich.
Liz lachte und lachte.
»So, ihr feiert hier eine Party? «, hörte er eine Stimm e aus der Türöffnung. »Und den lieben Jens habt ihr nicht eingeladen?
Dabei dachte ich, wir wären Freunde …«
Harry drehte sich nicht um , seine Augen suchten fieberh aft den Boden nach seiner Pistole ab. Sie m usste unter den T isch 423
oder hinter den Sessel gerutscht sein, als ihm Woo den Schlag in den Rücken versetzt hatte.
»Suchen Sie die hier, Harry?«
Natürlich. Er drehte sich langs am um und starrte in die Mündung seiner eigenen Ruger SP-101. Er wollte den Mund öffnen und etwas sagen, als er es sah. Jens würde schießen. Er hielt die Pistole mit beiden Händen und hatte sich bereits ein wenig nach vorn gelegt, um den Rückstoß abzufangen.
Er sah den Beam ten, der im Schrøder gesessen und m it dem Stuhl gewippt hatte, seine na ssen Lippen, das verächtliche Lächeln, das nicht läch elte, aber trotzdem da war. Das gleiche unsichtbare Lächeln, das die Polizeipräsidentin aufsetzen würde, wenn sie um eine Gedenkminute für Harry Hole bat.
»Das Spiel ist aus, Jens«, hörte er sich selbst sagen. »Da mit kommen Sie nicht davon.«
»Das Spiel ist au s? Sagt man das wirklich so ?« Jens seuf zte und schüttelte den Kopf. »Sie haben zu viele schlechte Krim is gesehen, Harry.«
Der Finger krümmte sich um den Abzug.
»Aber o. k., Sie haben recht – es ist aus. Sie haben es gerade hingekriegt, dass die Sache für m ich jetzt noch besser aussieht, als ich geplant hatte. Was glauben Sie, wer bekommt die Schuld, wenn man einen Handlanger der Mafia und zwei Polizisten findet, die sich gegenseitig erschossen haben?«
Jens kniff e in Auge zu, was bei den knapp drei Metern Abstand kaum nötig war. Kein Spieler, dachte H arry, schloss die Augen und holte unbewusst tief Luft, um die Kugel in Empfang zu nehmen.
Seine Trommelfelle wurden zerfetzt. Drei Mal. Kein Spieler.
Harry spürte seinen Rücken an die Wand schlagen, oder auf den Boden, er hatte keine Ahnung, und der Korditgestank brannte in der Nase. Kordit? Er kapierte gar nichts m ehr. Jens hatte doch 424
drei Mal geschossen, da sollte er doch längst nicht m ehr in der Lage sein, etwas zu riechen.
»Verfluchte Scheiße!« Es klang, als brüllte jemand durch eine Decke.
Der Rauch trieb zur Seite und er sah Liz an die Wand gelehnt, in der einen Hand die rauchende Waffe, die andere auf ihren Bauch gepresst.
»Verdammt, der hat mich getroffen! Bist du da, Harry?«
Bin ich da?, fragte sich Harry. Er erinnerte sich dunkel an den Schlag in der Hüfte, der ihn herumgewirbelt hatte.
»Was ist passiert?«, rief Harry, noch immer halb taub.
»Ich habe zuerst geschossen. Ich habe getroffen. Ich weiß, dass ich getroffen habe, Harry. Verdamm t, wie hat der es noch nach draußen geschafft?«
Harry richtete sich auf, riss die Tassen vom Tisch und brachte schließlich die Beine unter sich. Sein linker Fuß war eingeschlafen. Eingeschlafen? Er legte die Hand auf s eine Hüfte und spürte, dass die Hose ganz nass war. Er wollte sich das gar nicht erst ansehen. Stattdessen streckte er die Hand aus.
»Gib mir die Pistole, Liz.«
Sein Blick war auf die Tür geri chtet. Blut. Es war Blut auf dem Linoleum. Diese Richtung. Di ese Richtung nach draußen, Hole. Du musst nur den Spuren folgen. Er sah zu Liz. Auf ihrem blauen Hemd quoll eine rote R
ose zwischen ihren Fingern
hervor. Scheiße, verfluchte Scheiße!
Sie stöhnte und reichte ihm ihre Smith & Wesson 650.
»Apport, Harry.«
Er zögerte.
»Verdammt noch mal, das ist ein Befehl!«
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KAPITEL 52
Er warf bei jedem Schritt das Bein nach vorn und hoffte, dass es nicht unter ihm wegknicken würd e. Es flimmerte vor seinen Augen und er wusste, dass sein Ge hirn gerade versuchte, vor den Schmerzen zu fliehen. Er hinkte an dem Mädchen an der Rezeption vorbei, die erstarrt für Edvard Munchs »Schrei«
Modell zu stehen schien, doch es kam kein Laut über ihre Lippen.
»Rufen Sie einen Krankenwag en!«, brüllte Harry und sie wachte auf. »Doktor!«
Dann war er draußen. Der W ind hatte sich gelegt und es war warm, drückend warm. Ein Auto stand m it offener Tür quer auf der Straße und der Fahrer war au sgestiegen, fuchtelte wild mit den Armen in der Luft herum und zeigte imm er wieder nach oben. Hinter dem Wagen war eine Bremsspur. Harry riss die Arme hoch und lief auf die Straße. Er achtete nicht auf di e
Autos, denn er wusste, dass sie vielleicht anhalten würden, wenn sie sahen, dass er einfach loslief. Gummi kreischte. Er starrte dorthin, wohin der Fahrer zeigte. Eine Karawane grauer Elefanten passierte über ihm den Sternenhimmel. Sein Gehirn schaltete sich wie ein billiges Autora dio immer wied er aus und ein einsames Trompeten erfüllte die Nacht. Bis zum Rand. Harry spürte den Sog des hupenden La stwagens, der ihm fast die Kleider vom Leib riss, als er an seinen Hacken vorbeidonnerte.
Er war wieder zurück, seine Augen suchten die Betonpfeile r ab. Yellow brick road. BERTS. Ja, warum nicht? Irgend wie wirkte es logisch.
Eine Stahlleiter führte zu einem Loch im Beton, fünfzehn, zwanzig Meter über ihm. Durch das Loch konnte er einen Zipfel des Monds sehen. Er nahm den Gr iff der Pistole zwischen die Zähne, registrierte, dass der Gürtel lose herabhing, und versuch-426
te, gar nicht erst daran zu denke n, was eine K ugel, die in der Lage war, eine Gürtelschnalle zu durchschlagen, mit seiner Hüfte angestellt haben könnte. Mit den Armen zog er sich an der Leiter hoch. Der Stahl presste sich in die W unde, die das Kabel an seinem Hals hinterlassen hatte.
Nichts spüren, dachte Harry und fluchte, als er den Halt verlor, weil das Blut se ine Hand wie e in glitschiger, roter Spülhand-schuh überzog. Es gelang ihm, den rechten Fuß auf eine Sprosse zu stützen, er beugte das Knie, sprang ab und fand eine Sprosse höher erneut Halt. Jetzt ging es besser. W
enn er nur nicht
ohnmächtig wurde. Er sah nach unten. Zehn Meter? Nein, er durfte definitiv nicht o hnmächtig werden. W eiter. Es wurde dunkel. Zuerst glaubte er, ihm selbst sei schwarz vor A ugen geworden, so dass er nicht mehr weiterkletterte, doch als er nach unten blickte, konnte er die Autos sehen und eine Polizeisirene hören, die wie ein Sägeblatt du rch die Luft schnitt. Er sah wieder nach oben. Das Loch am Ende der Leiter war schw arz geworden. Waren W olken aufgezogen? Ein Tropfen zersprang auf dem Lauf der Pistole. Schon wieder ein Mangoschauer?
Harry versuchte, einen weiteren Schritt zu m achen. Er spürte sein Herz klopfen, unregelmäßig, den einen oder anderen Schlag aussetzend, es tat sicher, was es konnte.
Was soll das Ganze? , fragte er sich und sah nach unten. Bald war der erste Streifenw agen da. Jens war s icher bereits ü ber diesen Geisterweg entschwunden, grölend vor Lachen, und kletterte jetzt irgendwo in einem anderen Viertel nach unten, um dann – schwups – in der Menschenm enge unterzutauchen. Der Zauberer von diesem verdammten Oz.
Der Tropfen rann am Schaft entlang und zwischen Harrys zusammengebissene Zähne.
Drei Gedanken m eldeten sich gl eichzeitig. Der erste lau tete, wenn Jens gesehen hatte, dass Harry lebendig aus Millie’s Karaoke gelaufen war, würde er sicher nicht abhauen – er hatte keine Wahl, er musste sein Werk vollenden.
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Der zweite sagte, dass Regentropfen weder süßlich noch metallisch schmecken.
Der dritte Gedanke war der, da ss es sich nicht bewölkt hatte, sondern dass jemand das Loch versperrte, jemand, der blutete.
Dann ging alles sehr schnell.
Er hoffte, noch genug Nerven in seiner linken Hand zu haben, um sich festzuhalten, riss mit der rechten die Pistole aus seinem Mund, sah Funken von oben über die Sprossen herabstieben, hörte das Pfeifen des Projektils und spürte ein Zupfen an seinem Hosenbein, ehe er selb st die W affe auf das schwarze Lo ch gerichtet hatte und feuern konnte. Er spürte den Rückstoß in seinem lädierten Kiefer. Auch oben leuchtete Mündungsfeuer auf und Harry schoss, bis sein Ma gazin leer war. Er drückte immer wieder ab, doch es war nur ein m etallisches Klicken zu hören. Verdammter Amateur.
Er konnte den Mond wieder sehe n, ließ die Pistole fallen und kletterte weiter die Leiter hoch, als die Waffe unten aufschlug.
Dann war er oben. Die Straße , die W erkzeugkoffer und die Baumaschinen badeten im gelben Licht d es lächerlich g roßen Ballons, den jemand über ihnen aufg ehängt hatte. Jens saß m it auf den Bauch gepressten Hände n auf einem Haufen Bausand und bewegte seinen Oberkörper kichernd hin und her.
»Verdammt, Harry, jetzt hast du aber Mist gebaut. Sieh her.«
Er nahm die Arme zur Seite. Es quoll heraus, dick und glänzend.
»Schwarzes Blut. Das bedeutet , dass du die L eber getroffen hast, Harry. Da laufe ich noc h Gefahr, dass m ir mein Arzt verbietet, Alkohol zu trinken. Das ist gar nicht gut.«
Die Polizeisirenen wurden imm er lauter. Harry versuch te, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen.
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»An deiner Stelle würde ich das nicht so schwernehm en, Jens.
Ich habe gehört, dass der Cogn ac in den thailändischen Gefäng-nissen sowieso nicht sonderlich gut sein soll.«
Er begann, auf Jens zuzuhinken, der nun erneut die W affe auf ihn richtete.
»Na, na, jetzt werd mal nicht übermütig, Harry, das tut nur ein bisschen weh. Nichts, was sich für Geld nicht regeln ließe.«
»Du hast keine Munition mehr«, sagte Harry und ging weiter.
Jens lachte und musste husten.
»Guter Versuch, Harry, aber ich fürchte, nur du hast dein Magazin leer geschossen. Ich kann nämlich zählen.«
»Kannst du das?«
»Hä, hä, ich dachte, das hätte ich dir erklärt. Zahlen. Davon lebe ich.«
Er zeigte es mit den Fingern der freien Hand an.
»Zwei für dich und diese Tussi im Karaokeschuppen und drei auf der Leiter. Bleib t eine fü r dich übrig, Harry. Manchm al sollte man sich etwas für schlechte Zeiten aufheben, m einst du nicht?«
Harry war nur noch zwei Schritte entfernt.
»Du hast zu viele schlechte Krimis gesehen, Jens.«
»Die berühmten letzten Worte.«
Jens setzte eine bedauernde Miene auf und drückte ab. Das Klicken war ohrenbetäubend. Jens ’ Gesichtsausdruck wandelte sich in grenzenlose Ungläubigkeit.
»Nur in schlechten Krim is haben alle Pistolen sechs Schuss, Jens. Das da ist eine Ruger SP-101. Die hat fünf.«
»Fünf?« Jens starrte die Pistole an. »Fünf? Woher wusstest du das?«
»Ich lebe davon, dass ich so was weiß.«
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Harry konnte das Blaulicht unten auf der Straße sehen. »A m besten, du gibst m ir die W affe, Jens. Polizisten haben so eine Tendenz zu schießen, wenn sie eine Pistole sehen.«
Die Verwirrung stand Jens ins Gesicht geschrieben, als er Harry die Waffe reichte, der sie unter seinen Hosenbund schob.
Vielleicht war es der fehlende Gü rtel, der die P istole an seinem Bein nach u nten rutschen ließ, v ielleicht war er einfach m üde oder hatte einen Moment lang die Konzentration verloren, als er die Kapitulation in Jens’ Augen sah. Überrumpelt von Jens’
rascher Bewegung taumelte er nach hinten, als der Schlag ihn traf, und registrierte, dass sein linkes Bein unter ihm nachgab, ehe er mit dem Hinterkopf auf dem Beton aufschlug.
Er war einen Mom ent lang weggetreten. Das konnte er sich jetzt nicht erlauben. Frenetisch suchte sein inneres Radio nach einer Station. Das Erste, was er sah, war das Aufblitzen eines Goldzahns. Harry blinzelte. Es war kein Goldzahn, es war das Mondlicht, das sich auf der Klinge des sam ischen Messers
spiegelte. Dann senkte sich der durstige Stahl zu ihm hinunter.
Harry würde nie eine Antwort darauf bekommen, ob er einfach instinktiv gehandelt hatte oder ob seinem Tun eine Überlegung zugrunde lag. Seine linke Hand st reckte sich m it gespreizten Fingern dem Messer entgegen und die Klinge schnitt sich w eich durch die Handfläche. Als sie bis zum Schaft hindurchgedrun-gen war, riss Harry die Hand zu sich und trat m it seinem
unverletzten Bein zu. E r traf irgendwo in das schwarze Blut, Jens klappte zusammen, stöhnte und fiel seitlich in den Sa nd.
Harry rappelte s ich auf die Knie au f. Jens hatte sich in Säu g-lingsstellung zusammengekauert und presste beide Hände auf seinen Bauch. Er heulte. Ob vor Lachen oder vor Schm erz, war schwer zu sagen.
»Verdammt, Harry. Das tut so weh, das ist schon wieder fantastisch.«
Er rang nach Atem, grunzte und lachte abwechselnd.
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Harry kam auf die Beine. Er blick te auf das Messer, d as in seiner Hand steckte, unsicher, was er tun sollte: es herausziehen oder wie einen Korken in der Hand stecken lassen ? Unten auf der Straße hörte er jemanden in ein Megafon sprechen.
»Weißt du, was jetzt geschieht, Harry?« Jens hatte die Augen geschlossen.
»Nicht wirklich.«
Jens machte eine Pause und sammelte sich. »Dann erklär ich dir jetzt mal, was passieren wird, Harry. Jetz t ist Zahltag für einen ganzen Haufen Poliziste n, Juristen und Richter. Zum Teufel mit dir, Harry, das wird mich teuer zu stehen kommen.«
»Wie meinst du das?«
»Wie ich das m eine? Du spielst wohl wieder den norwegischen Pfadfinder, was? Alles is t käuflich. Wenn man Geld hat.
Und ich habe Geld. Außerdem …« Er hustete.
»… gibt es da ein paar Politiker mit Interesse an der Bauwirt-schaft, denen es wichtig ist, dass BERTS nicht vor die Hunde geht.«
Harry schüttelte den Kopf. »Dieses Mal nicht, Jens. Dieses Mal nicht.«
Jens fletschte die Zähne zu einem schmerzerfüllten Grinsen.
»Wollen wir wetten?«
Geh weg, dachte Harry. Tu jetzt nichts, was du später bereust, Hole. Er sah auf die Uhr, ein Reflex. Der Zeitpunkt der F
est-
nahme, für den Bericht.
»Eine Sache ist m ir nicht ganz klar, Jens. Hauptkomm issarin Crumley meinte, ich hätte zu v iel verraten, als ich dich nach Ellem Limited fragte. Vielleicht habe ich das. Aber du w eißt schon seit einiger Zeit, dass ich dich als Täter identifiziert hatte, nicht wahr?«
Jens versuchte, seinen Blick auf Harry zu heften.
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»Eine ganze Weile. Deshalb habe ich nicht verstanden, warum du dir so viel Mühe gegeben hast, m ich aus der Untersuchungshaft zu holen. Warum, Harry?«
Harry spürte, wie ihm schwindelig wurde, und setzte sich auf einen der Werkzeugkoffer.
»Nun, vielleicht war es mir da noch nicht ganz klar. Vielleicht wollte ich wissen, welche Karte du als Nächstes ausspielst. Oder ich wollte dich irgendwie aufscheuchen, ich weiß nicht. W oran hast du erkannt, dass ich es wusste?«
»Jemand hat es mir gesagt.«
»Unmöglich. Ich habe kein W ort darüber verloren, erst heute Abend.«
»Jemand hat es erkannt, ohne dass du etwas gesagt hast.«
»Runa?«
Jens’ Kinn zitterte und er hatte weißen Speichel in den Mundwinkeln. »Weißt du was, Harry ? Runa hatte das, was m an Intuition nennt. Ich nenne es die Fähigkeit, etwas zu beobachten.
Du musst lernen, deine Gedanke n besser zu verbergen, Harry, dich dem Feind nicht zu öffne n. Denn es ist unglaublich, was eine Frau zu sagen bereit ist, wenn man ihr damit droht, ihr das abzuschneiden, was sie zur Frau m acht. Ja, den n eine Frau zu werden, das hat sie noch geschafft, nicht wahr, Harry? Du …«
»Womit hast du ihr gedroht?«
»Die Brustwarzen. Ihr die Br ustwarzen abzuschneiden. Was hältst du davon, Harry?«
Harry hatte das Gesicht zum Himmel gestreckt und die Augen geschlossen, als warte er auf Regen.
»Habe ich etwas Falsches gesagt, Harry?«
Harry spürte warme Luft durch seine Nase streichen.
»Sie hat auf dich gewartet, Harry.«
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»In welchem Hotel wohnst du, wenn du in Oslo bist?«, flüsterte Harry.
»Runa sagte, du würdest kommen und sie retten, du wüsstest, dass ich es war, der sie entführ t hatte. Sie hat geheult wie ein Kind und m it dieser Prothese um sich geschlagen, es sah wirklich witzig aus. Dann …«
Das Geräusch von zitterndem Stahl. Klang, klang. Sie kletterten die Leiter hoch. Harry blickt e auf das Messer, das in seiner Hand steckte. Nein. Er sah sich um. Jens’ Stimme kratzte in seinem Ohr. Ein süßes Kribbeln stieg von irgendwo ganz unten in seinem Bauch hoch, ein leic htes Sausen im Kopf, wie ein Champagner-Rausch. Tu es nicht, Ho le, halt dich fest. Aber er konnte bereits das ekstatische Gef ühl des freien Falls verneh-men. Er ließ los.
Das Schloss des W erkzeugkoffers gab beim zweiten T ritt nach. Der Presslufthammer wa r von der Marke W acker, ein leichtes Modell, kaum mehr als zwanzig Kilo schwer und startete auf den ersten Knopfdr uck. Jens klappte abrupt den Mund zu und seine Augen weiteten sich, als sein Hirn nach und nach begriff, was jetzt geschehen würde.
»Harry, du kannst nicht …«
»Mund auf«, sagte Harry.
Das Brüllen des vibrierenden St ahls erstickte den Verkehrslärm unter ihnen, das scheppernde Megafon und das Zittern der stählernen Leiter. Harry lehnte sich breitbeinig vor, das Gesicht noch immer zum Himmel gewandt, die Augen geschlossen. Es regnete.
Harry ließ sich in den Sand fa llen. Legte sich auf den Rücken und blickte in den Hi mmel, er war am Strand, sie fragte ihn, ob er sie eincremen könne, sie hätte so empfindliche Haut. Wollte keinen Sonnenbrand bekommen. Dann waren sie da, rufende Stimmen, Stiefel auf Beton und das glatte Klicken der Ladegrif-fe. Er öffne te die Augen und wurde von einer Taschenlampe 433
geblendet, die auf ihn herabschien. Dann be wegte sich der
Lichtkegel weiter und er sah die Silhouette von Rangsan.
»Und?«
»Keine Löcher«, sagte Harry und nahm noch den Geruch seiner eigenen Galle war, eh e ihm der Mageninhalt Mund und Nase verstopfte.
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KAPITEL 53
Liz wachte auf und wusste, wenn sie jetzt die Augen öffnete, würde sie d ie gelbe Decke m it dem T-för migen Riss im Putz sehen. Seit zwei W ochen starrte sie jetzt darauf. W egen ihres Schädelbruches durfte sie wede r lesen noch fernsehen, bloß ein bisschen Radio hören. Die Schusswunde würde schnell heilen, sagten sie, es seien keine lebenswichtigen Organe betroffen.
Jedenfalls keine für sie lebenswichtigen.
Ein Arzt war bei ihr gewesen und hatte s ie gefragt, ob sie jemals vorgehabt habe, Kinder zu bekommen. Sie hatte den Kopf geschüttelt und den Rest nicht hören wollen. Er hatte sie in Ruhe gelassen. Später war noch Zeit genug für schlechte Nachrichten, jetzt versuchte sie sich erst einmal auf die guten zu konzentrieren. Zum Beispiel auf diejenige, dass sie in den nächsten Jahren nun doch nicht den Verkehr regeln musste. Und dass der P olizeichef bei ihr gewesen war und ihr ein paar Wochen Ferien zugesagt hatte.
Sie ließ ihren Blick zu m Fensterrahmen wandern. Versuchte, den Kopf z u drehen, doch sie hatten etwas über ihren Kopf gestellt, das wie ein Bohrturm aussah, so dass sie ihren Nac ken unmöglich bewegen konnte.
Sie mochte es gar nich t, allein zu sein, hatte es noch nie gemocht. Tonje Wiig war am Tag zuvor bei ihr gewesen und hatte sie gefragt, ob sie wisse, wo Ha rry Hole abg eblieben sei. Als hätte Liz, während sie im Koma lag, irgendwie telepathisch mit Harry Verbindung gehabt. Aber Liz verstand, dass Wiigs Sorgen mehr als nur professioneller Natur waren, und hatte keinen Kommentar dazu abgegeben, sonde rn nur gesagt, dass er schon wieder auftauchen würde.
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Tonje Wiig hatte so einsam und verloren ausgesehen, als hätte sie gerade festgestellt, dass ihr Zug ohne sie abgefahren war. Na ja, sie würde sich schon wieder fangen. Sie sah so aus. Sie hatte erfahren, dass sie die ne ue Botschafterin werden sollte, Dienst-beginn 1. Mai.
Jemand räusperte sich. Sie öffnete die Augen.
»Wie geht’s?«, fragte eine heisere Stimme.
»Harry?«
Ein Feuerzeug klickte und sie roch Zigarettenqualm.
»Du bist also zurück?«, sagte sie.
»Ich halt mich so eben über Wasser.«
»Was machst du?«
»Experimente«, sagte er. »Suche die ultimative Methode, das Bewusstsein zu verlieren.«
»Man hat mir erzäh lt, du seist einfach aus dem Krankenhaus marschiert.«
»Sie konnten nichts mehr für mich tun.«
Sie lachte vorsichtig, indem si e die Luft in kle inen, kurzen Stößen ausatmete.
»Was hat er gesagt?«, fragte Harry.
»Bjarne Møller? Dass es in Os lo regnet und der Frühling in diesem Jahr früh zu komm en scheint. Ansonsten alles wie immer, er hat m ich gebeten, dir Grüße auszurichten und zu sagen, dass alle zufrieden und gl ücklich und erleichtert seien.
Verwaltungschef Torhus hat Blumen gebracht und nach dir gefragt. Er hat mich gebeten, dir zu gratulieren.«
»Was hat Møller gesagt?«, wiederholte Harry.
Liz seufzte.
»O.k., ich habe gesagt, was ich s agen sollte, und er hat es überprüft.«
»Und?«
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»Du weißt, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, dass Brekke etwas mit diesem Vergewaltigungsfall zu tun hat, nicht wahr?«
»Ja.« Sie konnte den Tabak knister n hören, als er an der Z igarette zog.
»Vielleicht solltest du die Sache einfach vergessen, Harry.«
»Warum?«
»Diese Ex von Brekke hat die Frage überhaupt nicht kapiert.
Sie hat sich von ihm getrennt, weil sie ihn langweilig fand, einen anderen Grund hatte sie nicht. Und …«
Sie atmete ein.
»Und er war nicht einmal in Oslo, als das mit deiner Schwester passiert ist.«
Da sie ihn nicht ansehen konnte, versuchte sie zu hören, wie er es aufnahm.
»Tut mir leid«, sagte sie.
Sie hörte die Zigarette fallen und dann das Quietschen einer Gummisohle auf dem Steinboden.
»Tja. Ich wollte nur sehen, wie es dir geht«, sagte er. Stuhlbei-ne scharrten über den Boden.
»Harry?«
»Ja, ich bin hier.«
»Nur eines noch. Komm wieder, versprichst du mir das? Bleib nicht da draußen.«
Sie hörte ihn atmen.
»Ich komme wieder zurück«, sagt e er tonlos, al s sei dieser Satz ein Refrain, den er längst leid war.
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KAPITEL 54
Er sah den Staub in einem einsamen Lichtstrahl tan zen, der durch einen Spalt in den Diel en über ihm drang. Das Hemd klammerte sich an seinen Körper wie eine zu Tode erschrockene Frau, der Schweiß brannte auf seinen Lippen und vom Gestank des Bodens wurde ihm übel. Doch dann bekam er die Pfeif e zu fassen, eine Hand hielt die Nadel und schm ierte das Loch m it dem schwarzen Teer ein , hielt die Pfeife dann ruhig direkt über die Flamme und alles wurde wieder weicher. Nach dem zwe iten Zug stellten sie sich ein: Ivar Løken, Jim Love und Hilde Molnes. Nach dem dritten Zug kam en die anderen. Doch eine fehlte. Er zog den Rauch tief in die Lungen, ließ ihn dort, bis er zu zerspringen glaubte, und end lich tauchte auch sie auf. Sie stand in der Verandatür und die So nne schien ihr seitlich aufs Gesicht. Zwei Schritte, dann schwebte sie in einer weich gezeichneten Linie durch die Lu ft, schwarz, den Körper gespannt von den Fußsohlen bis zu den Fingerspitzen. Unendlich langsam durchbrach sie die W asseroberfläche wie ein weic her Kuss, drang tiefer und tiefer, bis sich das W
asser schließlich
über ihr schloss. Ein paar Luftbl asen stiegen an die Oberfläche und eine Welle schw appte an den Rand des Beckens. Dann wurde es still und das grüne W asser spiegelte den Hi mmel, als hätte sie nie existiert. Er inhalierte ein letztes Mal, legte sich mit dem Rücken auf die Bambusmatte und schloss die Augen. Dann hörte er das weiche Gluckern ihrer Schwimmzüge.
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