HINTERLASSENSCHAFTEN
Die Dinge, von denen ich erzählen möchte –
diejenigen, die sie hinterlassen haben -, tauchten im August 2002
in meiner Wohnung auf. Das weiß ich bestimmt, weil ich die meisten
gefunden habe, kurz nachdem ich Paula Robeson bei ihrem
Airconditioner behilflich gewesen bin. Das Gedächtnis braucht immer
einen Anhaltspunkt, und das ist meiner. Sie war
Kinderbuchillustratorin, sah gut aus (Teufel, sie sah klasse
aus), der Ehemann im Import-Export-Geschäft. Als Mann hat man so
seine Art, sich an Gelegenheiten zu erinnern, bei denen man
tatsächlich einer gut aussehenden Lady in Not helfen konnte (selbst
einer, die einem ständig versichert, sie sei »sehr verheiratet«);
solche Gelegenheiten sind allzu selten. Heutzutage
verschlimmbessert der Möchtegernkavalier meistens nur alles.
Sie stand frustriert in der Eingangshalle, als ich
zu einem Nachmittagsspaziergang nach unten kam. Ich sagte: Hi,
wie geht’s, wie man das zu Mitbewohnern seines Hauses eben
sagt, und sie fragte mich in einem aufgebrachtem Ton, der fast
schon an Verdrossenheit grenzte, weshalb der Hausmeister
jetzt im Urlaub sein müsse. Ich wies darauf hin, dass sogar
Tramperinnen ihre Schicksalsjahre haben und sogar Hausmeister
Urlaub machen; außerdem sei der August ein äußerst sinnvoller
Monat, um eine Zeit lang auszuspannen. Im August sind in New York
(und in Paris, mon ami) Psychoanalytiker, im Trend liegende
Künstler und Hausmeister ausgesprochen dünn gesät.
Sie lächelte nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob
sie den Hinweis auf Tom Robbins überhaupt verstanden hatte
(Indirektheit ist der Fluch der lesenden Klasse). Sie sagte, auch
wenn es vielleicht stimme, dass der August ein guter Monat sei, um
abzuhauen und aufs Cape oder nach Fire Island zu fahren, stehe ihre
verdammte Wohnung praktisch in Flammen, und der verdammte
Airconditioner gebe keinen Mucks von sich. Ich fragte sie, ob ich
es mir ansehen solle, und ich erinnere mich gut an den Blick, mit
dem sie mich daraufhin musterte – diese kühlen, abschätzenden
grauen Augen. Ich weiß noch, dass ich dachte, dass solche Augen
vermutlich ziemlich viel sahen. Und ich erinnere mich an mein
Lächeln, als sie mich fragte: Sind Sie ungefährlich? Das
erinnerte mich an diesen Film, nicht Lolita (das Nachdenken
über Lolita, manchmal um zwei Uhr morgens, kam erst später),
sondern an den, in dem Dustin Hoffman von Laurence Olivier eine
improvisierte Zahnbehandlung verpasst wird und dieser ihn ständig
fragt: Ist es sicher?
Ich bin ungefährlich, sagte ich. Hab seit
über einem Jahr keine Frau mehr überfallen. Früher waren es zwei
bis drei pro Woche, aber die Gruppentherapie hilft.
Eine alberne Antwort, aber ich war in ziemlich
alberner Stimmung. In Sommerlaune. Sie musterte mich
nochmals, dann lächelte sie. Streckte mir die Hand hin.
Paula Robeson, sagte sie. Es war die Linke, die sie
ausstreckte – nicht normal, aber die Hand mit dem schlichten
Goldring. Ich glaube, das war vermutlich Absicht, oder nicht? Aber
dass sie mir erzählte, ihr Mann sei im Import-Export-Geschäft, kam
erst später. An jenem Tag, an dem ich an der Reihe war, sie
um Hilfe zu bitten.
Im Aufzug warnte ich sie davor, zu viel zu
erwarten. Hätte sie jedoch einen Mann gebraucht, der die wahren
Ursachen der New Yorker Wehrpflichtigen-Unruhen ermittelt oder ein
paar amüsante Anekdoten über die Entwicklung des Impfstoffs gegen
Windpocken liefert oder sogar Zitate über die soziologischen
Auswirkungen der TV-Fernbedienung ausgräbt (meiner bescheidenen
Meinung nach die wichtigste Erfindung der letzten fünfzig Jahre),
wäre ich ihr Mann gewesen.
Recherche ist Ihr Beruf, Mr. Staley?, fragte
sie, als wir mit dem langsamen, klapprigen Aufzug
hinauffuhren.
Ich bekannte mich dazu, ohne allerdings
hinzuzufügen, dass ich in dieser Branche noch ziemlich neu war. Ich
forderte sie auch nicht auf, mich Scott zu nennen – das hätte sie
gleich wieder kopfscheu gemacht. Und ich erzählte ihr erst recht
nicht, dass ich mich bemühte, alles zu vergessen, was ich einst
über landwirtschaftliche Versicherungen wusste. Dass ich in
Wahrheit versuchte, einen ganzen Haufen Dinge zu vergessen,
darunter ungefähr zwei Dutzend Gesichter.
Wie man sieht, kann ich mich noch an ziemlich viel
erinnern, auch wenn ich mich vielleicht zu vergessen bemühe. Ich
glaube, das tun wir alle, wenn wir uns auf etwas konzentrieren (und
manchmal, recht viel unangenehmer, wenn wir es nicht tun). Ich
erinnere mich sogar an etwas, was einer dieser südamerikanischen
Romanciers gesagt hat – also, einer dieser sogenannten Magischen
Realisten, ja? Nicht an den Namen des Typen, der ist nicht wichtig,
sondern an dieses Zitat: Im Säuglingsalter besteht unser erster
Sieg darin, dass wir ein kleines Stück der Welt ergreifen,
gewöhnlich die Finger unserer Mutter. Später entdecken wir, dass
die Welt und die Dinge der Welt uns ergreifen, uns schon immer
festgehalten haben. Borges? Ja, das könnte von Borges sein.
Oder von Márquez. Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich
weiß nur, dass ich ihren Airconditioner wieder zum Laufen brachte,
und als die kühle Luft aus dem Konvektor zu strömen begann,
strahlte sie übers ganze Gesicht. Ich weiß auch, dass das wahr ist,
diese Sache mit der Umkehrung unserer Wahrnehmung, so dass wir
erkennen, dass die Dinge, die wir erfasst zu haben glaubten, in
Wirklichkeit uns erfasst halten. Uns vielleicht gefangen halten –
Thoreau dachte das jedenfalls -, aber auch sicher an unserem Platz
halten. Das ist der Ausgleich. Und unabhängig von Thoreaus Meinung
glaube ich, dass dieser Tauschhandel meist fair verläuft. Oder habe
es jedenfalls damals geglaubt; heute bin ich mir meiner Sache nicht
mehr so sicher.
Und ich weiß, dass diese Dinge Ende August 2002
passierten, nicht ganz ein Jahr nachdem ein Stück des Himmels
herabgestürzt ist und sich alles für uns alle geändert hat.
Eines Nachmittags – ungefähr eine Woche nachdem
Sir Scott Staley seine Barmherziger-Samariter-Rüstung angelegt und
den schrecklichen Airconditioner besiegt hatte – machte ich meinen
Nachmittagsspaziergang zu Staples in der 83rd Street, um eine Box
Zip-Disketten und eine Packung Schreibpapier zu kaufen. Ich war
einem Kerl vierzig Seiten Hintergrundinformationen über die
Entwicklung der Polaroidkamera schuldig (die eine interessantere
Geschichte ist, als man vielleicht glauben würde). Als ich in meine
Wohnung zurückkam, lag auf dem kleinen Tisch in der Diele, auf dem
ich Rechnungen, die bezahlt werden müssen, Abholscheine, Mahnungen
wegen überfälliger Bibliotheksbücher und dergleichen Dinge
aufbewahre, eine Sonnenbrille mit rotem Gestell und sehr
charakteristischen Gläsern. Ich erkannte die Gläser augenblicklich
und spürte, wie mich alle Kraft verließ. Ich kippte zwar nicht um,
ließ aber meine Einkäufe zu Boden fallen, lehnte mich innen gegen
die Wohnungstür und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während
ich diese Sonnenbrille anstarrte. Hätte es nichts zum Anlehnen
gegeben, wäre ich vermutlich so ohnmächtig niedergesunken wie eine
Miss in einem jener viktorianischen Romane, in denen immer, wenn es
Mitternacht schlägt, der lüsterne Vampir auftritt.
Zwei zusammenhängende, aber unterschiedliche
emotionale Wellen brandeten über mich hinweg. Die erste war jenes
entsetzte Schamgefühl, das man empfindet, wenn man weiß, dass man
bei irgendeiner Handlung ertappt werden wird, die man niemals wird
erklären können. Woran ich mich in dieser Beziehung erinnere, ist
eine Sache, die mir einmal passiert ist – oder beinahe passiert ist
-, als ich sechzehn war.
Meine Mutter und meine Schwester waren in Portland
einkaufen, und ich hatte das Haus vermeintlich bis abends für mich.
Ich lag nackt auf meinem Bett und hatte mir einen Slip meiner
Schwester um den Schwanz gewickelt. Übers Bett verstreut lagen
Fotos, die ich aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Ich hatte
sie im Nebenraum der Garage entdeckt – vermutlich das geheime Lager
des vorigen Hausbesitzers mit Magazinen wie Penthouse und
Gallery. Ich hörte ein Auto über den Kies der Einfahrt
knirschen. Der Klang dieses Motors war unverkennbar; das waren
meine Mutter und meine Schwester. Peggy hatte sich irgendein
Grippevirus geholt und angefangen, aus dem Fenster zu spucken. Sie
waren bis Poland Springs gekommen und dort umgekehrt.
Ich betrachtete die übers ganze Bett verstreuten
Bilder, meine über den ganzen Fußboden verstreuten Klamotten und
den Bausch rosa Viskose in meiner linken Hand. Ich weiß noch, wie
alle Kraft aus mir hinausströmte, und erinnere mich an ein Gefühl
schrecklicher Mattigkeit, das sie ersetzte. Meine Mutter rief nach
mir – »Scott, Scott, komm runter, und hilf mir mit Peg, ihr geht’s
ziemlich schlecht« -, und ich weiß noch, wie ich dachte: »Was
soll’s? Sie haben dich erwischt. Damit musst du dich abfinden, sie
haben dich erwischt, und dies ist das Erste, woran sie für den Rest
ihres Lebens denken werden, wenn sie an dich denken: Scott der
Wichskünstler.«
Aber meistens schaltet sich in solchen Augenblicken
eine Art Überlebens-Overdrive zu. So war es auch bei mir. Ich würde
zwar untergehen, überlegte ich mir, aber nicht, ohne wenigstens
versucht zu haben, mir meine Würde zu bewahren. Ich wischte die
Fotos und den Slip unters Bett. Dann zog ich mich blitzschnell an,
arbeitete mit tauben, aber griffsicheren Fingern und musste dabei
die ganze Zeit an die verrückte alte Gameshow denken, die ich mir
früher oft angesehen hatte: Beat the Clock.
Ich weiß noch, wie meine Mutter mein gerötetes
Gesicht berührte, als ich nach unten kam, und erinnere mich an die
nachdenkliche Besorgnis in ihrem Blick. »Vielleicht wirst du ja
auch krank«, sagte sie.
»Schon möglich«, sagte ich, und das wäre mir nur
recht gewesen. Erst eine halbe Stunde später entdeckte ich, dass
ich vergessen hatte, den Reißverschluss meiner Hose hochzuziehen.
Zum Glück merkten das weder Peg noch meine Mutter, obwohl bei jeder
anderen Gelegenheit eine von ihnen oder beide mich gefragt hätten,
ob ich eine Genehmigung als Hotdog-Verkäufer besäße (dergleichen
galt in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, als witzig). An
diesem Tag war eine von ihnen zu krank und die andere zu besorgt,
um witzig zu sein. Also kam ich völlig ungeschoren davon.
Schwein gehabt.
Was an diesem Augusttag in meiner Wohnung auf die
erste emotionale Welle folgte, war viel unkomplizierter: Ich
glaubte, verrückt zu werden. Weil diese Brille nicht hier sein
konnte. Absolut nicht. Unmöglich.
Dann hob ich den Kopf und sah noch etwas, das ganz
sicher nicht in meiner Wohnung gewesen war, als ich eine halbe
Stunde zuvor zu Staples aufgebrochen war (wobei ich wie immer die
Tür hinter mir abgeschlossen hatte). In der Ecke zwischen
Kochnische und Wohnzimmer lehnte ein Baseballschläger. Dem Etikett
nach von Hillerich & Bradsby. Und obwohl ich die andere Seite
nicht sehen konnte, wusste ich recht gut, was dort stand:
SCHADENSREGULIERER, die Buchstaben mit einem Lötkolben ins
Eschenholz gebrannt und dann dunkelblau eingefärbt.
Eine weitere Gefühlsregung durchflutete mich: eine
dritte Welle. Das Ganze war eine Art surrealer Verzweiflung. Ich
glaube nicht an Geister, aber in diesem Moment habe ich bestimmt
ausgesehen, als hätte ich gerade einen erblickt.
So fühlte ich mich auch. Und wie! Diese
Sonnenbrille musste nämlich schon lange hinüber sein – »Long-Time
Gone«, wie die Dixie Chicks sagen. Ebenso Cleve Farrells
Schadensregulierer. (»Besboll war serr gutt zu mir«, sagte Cleve
manchmal, indem er an seinem Schreibtisch sitzend den Schläger über
dem Kopf schwang. »Ver-SICH-erung war nix gutt.«)
Ich tat das Einzige, was mir einfiel: Ich schnappte
mir Sonja D’Amicos Sonnenbrille, trabte damit zum Aufzug zurück und
trug sie vor mir her, wie man etwas Unappetitliches tragen würde,
das man nach einer einwöchigen Urlaubsreise auf dem Fußboden seiner
Wohnung vorfindet: ein verdorbenes Stück Käse oder den Kadaver
einer vergifteten Maus. Ich erinnerte mich unwillkürlich an ein
Gespräch über Sonja, das ich mit einem Kerl namens Warren Anderson
geführt habe. Sie muss ausgesehen haben, als wollte sie nochmal
raufflitzen und fragen, ob jemand’ne Coca-Cola für sie hat,
hatte ich gedacht, als Warren mir erzählte, was er gesehen hatte.
Bei einem Drink im Blarney Stone Pub in der Third Avenue war das
gewesen, ungefähr sechs Wochen nachdem der Himmel eingestürzt war.
Nachdem wir darauf angestoßen hatten, dass wir nicht tot
waren.
Solche Dinge haben eine eigene Art, sich
einzuprägen, ob einem das gefällt oder nicht.Wie eine musikalische
Phrase oder der Nonsensrefrain eines Popsongs, der einem einfach
nicht mehr aus dem Kopf geht. Man wacht um drei Uhr morgens auf,
weil man pinkeln muss, und während man mit dem Schwanz in der Hand
und zu ungefähr zehn Prozent wach vor der Schüssel steht, fällt es
einem plötzlich wieder ein: Als wollte sie nochmal raufflitzen.
Raufflitzen und’ne Cola schnorren. Irgendwann im Verlauf dieses
Gesprächs hatte Warren mich gefragt, ob ich mich an ihre komische
Sonnenbrille erinnern könne, und ich hatte gesagt, das könne ich.
Natürlich konnte ich das.
Vier Stockwerke tiefer stand Pedro, der Portier,
im Schatten der Markise und unterhielt sich mit Rafe, dem
FedEx-Mann. Pedro war unerbittlich, wenn es darum ging, wie lange
Lieferwagen vor dem Gebäude halten durften – er hatte eine
Siebenminutenregel, eine Taschenuhr, um ihre Einhaltung zu
überwachen, und alle Streifenpolizisten waren seine Kumpel -, aber
mit Rafe kam er gut aus, und manchmal standen die beiden da,
steckten zwanzig Minuten oder noch länger die Köpfe zusammen und
schwatzten nach alter New Yorker Art. Politik? Besboll? Das
Evangelium des Henry David Thoreau? Ich wusste es nicht, und es war
mir nie gleichgültiger als an jenem Tag. Sie waren da gewesen, als
ich mit meinem Büromaterial nach oben gefahren war, und standen
noch da, als ein weit weniger sorgenfreier Scott Staley wieder nach
unten kam. Ein Scott Staley, der im Gefüge der Realität einen
kleinen, aber deutlich wahrnehmbaren Riss entdeckt hatte. Allein
dass die beiden da waren, genügte mir schon. Ich trat vor sie und
streckte Pedro die rechte Hand hin, die mit der Sonnenbrille.
»Wie würden Sie das nennen?«, fragte ich, indem ich
die beiden unterbrach, ohne mir die Mühe zu machen, mich zu
entschuldigen oder sonst was.
Er musterte mich mit einem nachdenklichen Blick,
der besagte: »Ihre Unhöflichkeit überrascht mich, Mr. Staley,
wirklich wahr«, dann blickte er auf meine Hand hinunter. Als er
sekundenlang nichts sagte, ergriff eine schreckliche Idee Besitz
von mir: Er sah nichts, weil es nichts zu sehen gab. Bloß meine
ausgestreckte Hand, als wäre heute Verkehrter Dienstag und
ich erwartete ein Trinkgeld von ihm. Meine Hand war
leer. Klar war sie das, sie musste leer sein, weil Sonja D’Amicos
Sonnenbrille nicht mehr existierte. Sonjas Scherzbrille war echt
long-time gone.
»Das nenne ich eine Sonnenbrille, Mr. Staley«,
sagte Pedro schließlich. »Wie sollte ich’s sonst nennen? Oder ist
das eine Art Fangfrage?«
Rafe, der FedEx-Mann, der eindeutig interessierter
war, nahm sie mir aus der Hand. Meine Erleichterung darüber, ihn
mit der Brille in der Hand dastehen und sie betrachten, sie fast
studieren zu sehen, glich dem Gefühl, wie wenn jemand einem
genau die Stelle zwischen den Schulterblättern kratzt, die
grässlich juckt. Er trat unter der Markise hervor, hielt sie ins
Tageslicht hoch und ließ von den herzförmigen Gläsern je einen
Sonnenstern aufblitzen.
»Genau wie die, die das kleine Mädchen in diesem
Pornofilm mit Jeremy Irons getragen hat«, sagte er
schließlich.
Ich musste trotz meiner Sorge grinsen. In New York
sind sogar die Ausfahrer Filmkritiker. Das gehört zu den Dingen,
die ich an dieser Stadt liebe.
»Richtig, Lolita«, sagte ich und nahm die
Brille wieder an mich. »Nur kommt die Sonnenbrille mit herzförmigen
Gläsern in der Fassung vor, bei der Stanley Kubrick Regie geführt
hat. Damals, als Jeremy Irons noch nichts anderes als ein Putter
war.« Das war kaum verständlich (sogar für mich), aber mir war das
scheißegal. Mir war wieder albern zumute … aber auf keine gute Art.
Diesmal nicht.
»Wer hat in dem den Perversling gespielt?«, fragte
Rafe.
Ich schüttelte den Kopf. »Hol mich der Teufel, wenn
ich’s gerade weiß.«
»Nehmen Sie’s mir nicht übel«, sagte Pedro, »aber
Sie sehen reichlich blass aus, Mr. Staley. Haben Sie sich irgendwas
geholt? Vielleicht die Grippe?«
Nein, das war meine Schwester, hätte ich
beinahe gesagt. An dem Tag, als ich nur etwa zwanzig Sekunden
davon entfernt war, erwischt zu werden, wie ich mit dem Bild von
Miss April vor Augen in ihren Slip masturbiere. Aber ich war
nicht erwischt worden. Nicht damals und auch am 11. September
nicht. Ätsch, reingelegt, wieder das Rennen gegen die Uhr gewonnen.
Ich konnte nicht für Warren Anderson sprechen, der mir im Blarney
Stone erzählt hatte, er habe an dem bewussten Morgen im zweiten
Stock haltgemacht, um mit einem Freund über die Yankees zu reden,
aber nicht erwischt zu werden, war regelrecht zu meiner Spezialität
geworden.
»Mir fehlt nichts«, erklärte ich Pedro, und obwohl
das nicht stimmte, bewirkte das Wissen, nicht der Einzige zu sein,
der Sonjas Scherzbrille als einen tatsächlich auf der Welt
existierenden Gegenstand wahrnahm, dass ich mich zumindest etwas
besser fühlte. Wenn die Sonnenbrille existierte, galt das
vermutlich auch für Cleve Farrells Hillerich &
Bradsby-Schläger.
»Ist das die Brille?«, fragte Rafe plötzlich
in respektvollem, fast ehrfürchtigem Ton. »Die aus dem ersten
Lolita-Film?«
»Ach was«, sagte ich und klappte die Bügel hinter
den herzförmigen Gläsern zusammen, und während ich das tat, kam mir
plötzlich der Name des Mädchens in der Kubrick-Verfilmung in den
Sinn: Sue Lyon. Wer den Perversling spielte, fiel mir immer noch
nicht ein. »Bloß’ne Imitation.«
»Ist an der was Besonderes dran?«, wollte Rafe
wissen. »Sind Sie deshalb hier runtergerannt gekommen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Irgendwer hat sie in
meiner Wohnung zurückgelassen.«
Ich fuhr wieder hinauf, bevor sie weitere Fragen
stellen konnten, und sah mich in der Hoffnung um, es gebe keine
weiteren Dinge zu entdecken. Aber es gab welche. Außer der
Sonnenbrille und dem Baseballschläger mit dem seitlich
eingebrannten Wort SCHADENSREGULIERER fand ich ein Furzkissen der
Marke Howie’s Laff-Riot, eine große Schneckenmuschel, ein in
einem Plexiglaswürfel eingegossenes Centstück aus Stahl und einen
Keramikpilz (rot mit weißen Punkten), auf dessen Hut eine
Keramik-Alice saß. Das Furzkissen hatte Jimmy Eagleton gehört und
war jedes Jahr auf der Weihnachtsfeier ein paarmal zum Einsatz
gekommen. Die Keramik-Alice hatte auf Maureen Hannons Schreibtisch
gestanden – ein Geschenk von ihrer Enkelin, hatte sie mir einmal
erzählt. Maureen hatte wunderschönes weißes Haar, das sie sehr
lang, sogar taillenlang trug. Das sieht man in einem geschäftlichen
Umfeld selten, aber sie war seit fast vierzig Jahren bei der Firma
und fand, sie könne ihr Haar tragen, wie es ihr passe. Auch an die
Schneckenmuschel und das stählerne Centstück konnte ich mich
erinnern, wusste aber nicht mehr, auf wessen Schreibtisch (oder in
wessen Büro) ich die beiden Dinge gesehen hatte. Das konnte mir
noch einfallen – oder auch nicht. Bei Light and Bell,
Versicherungen, hatte es viele Schreibtische (und Büros)
gegeben.
Die Schneckenmuschel, der Pilz und der
Plexiglaswürfel bildeten einen ordentlichen kleinen Haufen auf dem
Couchtisch in meinem Wohnzimmer. Das Furzkissen lag – völlig zu
Recht, wie ich fand – auf dem Spülkasten meiner Toilette neben der
neuesten Ausgabe von Spenck’s Rural Insurance Newsletter.
Dass landwirtschaftlicheVersicherungen früher mein Fachgebiet
waren, habe ich schon erwähnt, glaube ich. Ich kannte mich gut mit
Wahrscheinlichkeitsrechnung aus.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit hierfür?
Wenn im Leben einmal etwas schiefgeht und man das
Bedürfnis hat, darüber zu reden, dürfte die erste Regung den
meisten Leuten eingeben, jemanden aus der Familie anzurufen. Für
mich war das keine ernsthafte Option. Mein Vater hatte sich auf
Französisch verabschiedet, als ich zwei war und meine Schwester
vier. Meine Mutter, garantiert keine Drückebergerin, war allein
durchgestartet und hatte uns zwei großgezogen, während sie von zu
Hause aus die Verrechnungsstelle eines Versandhauses leitete.
Meines Wissens hatte sie dieses Geschäft selbst aufgebaut und lebte
nicht schlecht davon (nur das erste Jahr sei wirklich beängstigend
gewesen, erzählte sie mir später). Aber sie qualmte wie ein Schlot
und starb mit achtundvierzig an Lungenkrebs – sechs bis acht Jahre
bevor das Internet sie zu einer Dot-Com-Millionärin gemacht
hätte.
Meine Schwester Peg lebte zurzeit in Cleveland, wo
sie Mary Kay Cosmetics, die Indianer und fundamentales Christentum
in die Arme geschlossen hatte, nicht unbedingt in dieser
Reihenfolge. Hätte ich Peg angerufen und ihr von den Dingen
erzählt, die ich in meiner Wohnung vorgefunden habe, hätte sie mir
geraten, niederzuknien und Jesus zu bitten, in mein Leben zu
kommen. Ob das nun richtig war oder nicht: Ich hatte nicht das
Gefühl, dass Jesus mir bei meinem gegenwärtigen Problem helfen
könnte.
Ich besaß die übliche Ausstattung an Onkeln und
Tanten, Cousins und Cousinen, aber die meisten lebten westlich des
Mississippi, und wir hatten uns schon jahrelang nicht mehr gesehen.
Die Killians (meineVerwandten mütterlicherseits) haben nie viel von
Familientreffen gehalten. Eine Karte zum Geburtstag und eine zu
Weihnachten galten als ausreichend, um alle familiären
Verpflichtungen zu erfüllen. Eine Karte zum Valentinstag oder zu
Ostern war dann sozusagen eine Dreingabe. An Weihnachten rief ich
meine Schwester an, oder sie rief mich an, wir murmelten den
Standardscheiß, dass wir uns »demnächst mal« treffen müssten, und
legten dann beide irgendwie erleichtert auf.
Die nächste Option, wenn man in der Klemme saß,
bestand vermutlich darin, einen guten Freund zu einem Drink in
einer Bar einzuladen, ihm die Lage zu schildern und dann seinen Rat
zu erbitten. Aber ich war ein schüchterner Junge, der zu einem
schüchternen Mann herangewachsen war, arbeite in meinem jetzigen
Beruf als Rechercheur allein (weil mir das am liebsten ist) und
habe also keine Kollegen, die sich zu Freunden entwickeln könnten.
In meinem vorigen Beruf war ich mit ein paar Kollegen befreundet –
mit Cleve Farrell und Sonja, um nur zwei zu nennen -, aber die sind
jetzt natürlich tot.
Wenn ich schon keinen Freund hatte, überlegte ich
mir, sei es das Nächstbeste, sich einen zu mieten. Eine kleine
Therapie konnte ich mir durchaus leisten, und ich glaubte, ein paar
Sitzungen (vier würden vielleicht genügen) auf der Couch
irgendeines Psychiaters gäben mir ausreichend Gelegenheit, die
Ereignisse zu schildern und zu artikulieren, was ich dabei empfand.
Wie viel würde ich für vier Sitzungen berappen müssen? Sechshundert
Dollar? Vielleicht achthundert? Das erschien mir als fairer Preis
für etwas Erleichterung. Und ich hielt sogar einen Bonus für
möglich. Vielleicht würde ein unbeteiligter Außenstehender eine
unkomplizierte, vernünftige Erklärung sehen können, die mir einfach
entging. Meiner Ansicht nach schien die abgesperrte Tür zwischen
meiner Wohnung und der Außenwelt solche Erklärungen weitgehend
auszuschließen, aber so dachte eben ich; war das nicht der
springende Punkt? Und vielleicht das Problem?
Ich hatte mir schon alles zurechtgelegt. Bei der
ersten Sitzung würde ich erklären, was passiert war. Zur zweiten
würde ich die betreffenden Dinge mitbringen: Sonnenbrille,
Plexiglaswürfel, Schneckenmuschel, Baseballschläger, Keramikpilz,
das allseits beliebte Furzkissen. Ein bisschen Herzeigen und
Erzählen, genau wie in der Grundschule. Danach blieben meinem
Mietfreund und mir zwei weitere Sitzungen, in denen wir die Ursache
dieser beängstigenden Schieflage meiner Lebensachse ergründen und
die Dinge wieder ins Lot bringen konnten.
Ein einziger Nachmittag, den ich damit verbrachte,
in den Gelben Seiten blätternd Telefonnummern zu wählen, genügte,
um mir zu beweisen, dass meine Idee, zu einem Psychiater zu gehen,
sich in der Praxis nicht verwirklichen ließ, so gut sie theoretisch
auch klingen mochte. Einer tatsächlichen Terminvereinbarung am
nächsten kam ich, als eine Sprechstundenhilfe mir erklärte, Dr.
Jauss könne mich vielleicht im kommenden Januar einschieben. Selbst
das werde noch raffiniertes Jonglieren mit Terminen erfordern,
deutete sie an. Die anderen machten mir alle nicht die geringste
Hoffnung. Ich versuchte es mit einem halben Dutzend Therapeuten in
Newark und vier in White Plains, sogar mit einem Hypnotiseur im
Stadtteil Queens, immer mit demselben Ergebnis. Mohammed Atta und
seine Selbstmörderpatrouille mochten für die Stadt New York (von
der Ver-SICH-erungs-Branche ganz zu schweigen) nix gutt gewesen
sein, aber nach diesem einen erfolglos vertelefonierten Nachmittag
war mir klar, dass sie für den Berufsstand der Psychiater ein Segen
gewesen waren, auch wenn die Psychiater vielleicht darunter
stöhnten. Wenn man im Sommer 2002 auf der Couch irgendeines Mannes
vom Fach liegen wollte, musste man eine Nummer ziehen und sich
anstellen.
Ich konnte mit diesen Dingen in meiner Wohnung
schlafen, aber nicht gut. Sie flüsterten mir zu. Ich lag wach im
Bett, manchmal bis zwei, und dachte über Maureen Hannon nach, die
fand, sie habe ein Alter erreicht (von einem Grad an
Unersetzlichkeit ganz zu schweigen), in dem sie ihr erstaunlich
langes Haar auf jede verdammte Weise tragen konnte, die ihr
beliebte. Oder ich erinnerte mich an die verschiedenen Leute, die
auf der Weihnachtsfeier herumgelaufen waren und Jimmy Eagletons
berühmtes Furzkissen geschwenkt hatten. Wie ich vielleicht schon
erwähnt habe, war es sehr beliebt, sobald die Leute um zwei oder
drei Drinks näher an Silvester herangerückt waren. Ich wusste noch,
wie Bruce Mason mich gefragt hat, ob es nicht wie ein
Klistierbeutel für Elfen – »für Elfm«, sagte er – aussehe, und
durch irgendeinen Assoziationsprozess fiel mir ein, dass die
Schneckenmuschel ihm gehört hatte. Natürlich. Bruce Mason, Herr der
Fliegen. Und einen Schritt tiefer in der Assoziationskette fand ich
Namen und Gesicht von James Mason, der damals Humbert Humbert
gespielt hatte, als Jeremy Irons noch nichts anderes als ein Putter
gewesen war. Der Verstand ist ein gerissener Affe – manchmal
nimmt-a de Banana, manchmal nimmt-a se nich. Deshalb war ich mit
der Sonnenbrille hinuntergegangen, obwohl ich mir zu diesem
Zeitpunkt keines deduktiven Prozesses bewusst gewesen war. Ich
wollte nur eine Bestätigung. Ein Gedicht von Giorgos Seferis fragt:
Sind das die Stimmen deiner toten Freunde, oder ist das nur das
Grammophon? Das ist manchmal eine gute Frage, die man anderen
stellen muss. Oder... man höre sich Folgendes an.
In den späten achtziger Jahren, gegen Ende meiner
bitteren zweijährigen Romanze mit dem Alkohol, wachte ich einmal in
meinem Arbeitszimmer auf, nachdem ich mitten in der Nacht am
Schreibtisch eingedöst war. Ich torkelte ins Schlafzimmer, in dem
ich jemanden sich bewegen sah, als ich nach dem Lichtschalter
griff. Ich hatte sofort die Vorstellung (praktisch die
Gewissheit) von einem drogensüchtigen Einbrecher mit einem
billigen.32er Revolver vom Pfandleiher in der zitternden Hand, und
mein Herz hämmerte zum Zerspringen. Ich machte mit der einen Hand
Licht und tastete mit der anderen nach etwas Schwerem auf der
Kommode – alles, sogar der Silberrahmen mit dem Bild meiner Mutter
wäre mir recht gewesen -, als ich merkte, dass der Eindringling ich
selbst war. Mein Spiegelbild mit halb aus der Hose gerutschtem Hemd
und am Hinterkopf hochstehendem Haar starrte mich mit wildem Blick
aus dem Spiegel an der Wand gegenüber an. Ich war von mir selbst
angewidert, aber auch erleichtert.
Ich wollte, dass es jetzt genauso wäre. Ich
wünschte mir den Spiegel, das Grammophon, sogar jemanden, der mir
einen üblen Streich spielte (vielleicht jemanden, der wusste,
weshalb ich an jenem Tag im September nicht im Büro gewesen war).
Aber ich wusste, dass nichts dergleichen infrage kam. Das
Furzkissen war hier, ein wirklicher Gast in meiner Wohnung. Ich
konnte mit dem Daumen über die Schnallen auf Alice’ Keramikschuhen
fahren, mit der Fingerspitze den Scheitel ihrer gelben Keramikhaare
nachziehen. Ich konnte das Prägejahr auf dem Centstück in dem
Plexiglaswürfel lesen.
Im Juli nahm Bruce Mason, alias der
Schneckenmuschelmann, alias der Herr der Fliegen, seine große rosa
Schneckenmuschel zum Betriebsausflug nach Jones Beach mit und blies
dort darauf wie auf einem Horn, um die Leute zu einem fröhlichen
Mittagspicknick mit Hotdogs und Hamburgern zu rufen. Anschließend
versuchte er, Freddy Lounds beizubringen, wie man darauf blies. Das
Beste, was Freddy herausgebracht hatte, war eine Serie von
schwachen Huptönen gewesen, die wie … nun, wie Jimmy Eagletons
Furzkissen geklungen hatten. So schließt sich der Kreis. Letztlich
bildet jede assoziative Kette ein Halsband.
Ende September hatte ich einen genialen Einfall,
eine dieser Ideen, die so einfach sind, dass man kaum glauben kann,
dass man nicht schon früher darauf gekommen ist.Weshalb behielt ich
diesen unwillkommenen Scheiß überhaupt bei mir? Wieso beseitigte
ich ihn nicht einfach? Schließlich war es nicht so, als hätte ich
diese Sachen in Verwahrung genommen; die Leute, denen sie gehörten,
würden nicht irgendwann später aufkreuzen und ihre Rückgabe
verlangen. Cleve Farrells Gesicht habe ich zuletzt auf einem Poster
gesehen, und die letzten dieser Plakate waren bis November 2001
abgenommen worden. Das allgemeine (wenn auch unausgesprochene)
Gefühl war, solche selbst gestalteten ehrenden Nachrufe vergraulten
die Touristen, die in dünnen Rinnsalen in die Fun City
zurückzukehren begannen. Was passiert war, war schrecklich, fanden
die meisten New Yorker, aber Amerika war noch da, und Matthew
Broderick würde nicht unbegrenzt lange in The Producers
mitspielen.
An diesem Abend hatte ich mir chinesisches Essen
aus einem zwei Blocks entfernten Lokal geholt, das ich mochte. Ich
hatte vor, mein Abendessen wie gewohnt einzunehmen: während ich
zusah und hörte, wie Chuck Scarborough mir die Welt erklärte. Ich
stellte gerade den Fernseher an, als mir die Erleuchtung kam. Sie
waren mir nicht anvertraut worden, diese unwillkommenen
Erinnerungsstücke an den letzten sicheren Tag, noch waren sie
Beweismittel. Ein Verbrechen war verübt worden, ja – darüber waren
sich alle einig -, aber die Täter waren tot, und ihre Hintermänner,
die sie auf ihren verrückten Weg gebracht hatten, befanden sich auf
der Flucht. Vielleicht würde es später Prozesse geben, aber Scott
Staley würde niemals in den Zeugenstand gerufen, Jimmy Eagletons
Furzkissen niemals als Beweisstück A gekennzeichnet werden.
Ich ließ mein General Tso’s Chicken mit noch
ungeöffneter Aluschale auf der Küchentheke stehen, holte einen
Wäschesack aus dem Regal über meiner selten benutzten
Waschmaschine, legte die Dinge hinein (als ich sie einsackte,
konnte ich kaum glauben, wie leicht sie waren oder wie lange ich
gewartet hatte, um etwas so Einfaches zu tun) und fuhr mit dem
zwischen meinen Füßen stehenden Sack mit dem Aufzug hinunter. Ich
ging zur Ecke 75th Street und Park Avenue, vergewisserte mich mit
einem Blick in die Runde, dass ich nicht beobachtet wurde (weiß der
Teufel, weshalb ich mich so schuldbewusst fühlte, aber so war das
nun mal), und stopfte dann den Abfall in den dafür vorgesehenen
Behälter. Als ich wegging, sah ich mich nochmals um. Der
Schlägergriff ragte einladend aus dem Abfallkorb. Jemand würde
vorbeikommen und ihn mitnehmen, das bezweifelte ich nicht.
Wahrscheinlich bevor Chuck Scarborough an John Seigenthaler – oder
wer sonst an diesem Abend Tom Brokaw vertrat – übergab.
Auf dem Heimweg kehrte ich im Fun Choy ein, um eine
frische Portion von General Tso’s Chicken mitzunehmen. »Letzte
nicht gut?«, fragte Rose Ming an der Kasse. Das klang leicht
besorgt. »Sie sagen, warum.«
»Nein, die letzte war in Ordnung«, sagte ich. »Ich
hatte heute Abend nur Lust auf zwei.«
Sie lachte, als wäre dies das Komischste, was sie
je gehört hätte, und ich lachte mit. Schallend laut. Die Art
Lachen, die weit über Albernheit hinausgeht. Ich konnte mich nicht
erinnern, wann ich zuletzt so gelacht hatte, so laut und so
natürlich. Bestimmt nicht mehr, seit Light and Bell,Versicherungen,
auf die West Street gestürzt war.
Ich fuhr mit dem Aufzug in mein Stockwerk hinauf
und ging die zwölf Schritte zu 4-B. Ich fühlte mich, wie
Schwerkranke sich fühlen müssen, wenn sie eines Morgens erwachen,
sich im nüchternen Licht des Tages begutachten und entdecken, dass
das Fieber überstanden ist. Ich klemmte mir die Essenstüte unter
den linken Arm (eine linkische Haltung, aber für kurze Zeit
praktikabel) und sperrte dann die Tür auf. Ich machte Licht. Dort,
auf dem Tisch mit Rechnungen, die bezahlt werden mussten,
Abholscheinen und Mahnungen für überfällige Bibliotheksbücher, lag
Sonja D’Amicos Scherzsonnenbrille, die mit dem roten Gestell und
den herzförmigen Lolita-Gläsern. Sonja D’Amico, von der Warren
Anderson (der meines Wissens einzige weitere überlebende
Angestellte aus dem Hauptsitz von Light and Bell) mir erzählt hat,
sie sei aus dem hundertzehnten Stock des brennenden Gebäudes
gesprungen.
Er behauptete, ein Foto gesehen zu haben, das ihren
Sturz festhielt: Sonja, deren Hände sittsam ihren Rock festhielten,
damit er nicht über die Schenkel hochgeweht wurde, ihr Haar vor dem
Rauch und dem blauen Himmel jenes Tages zu Berge stehend, ihre
Schuhspitzen nach unten zeigend. Bei dieser Beschreibung musste ich
an das Gedicht Falling denken, das James Dickey über eine
Stewardess geschrieben hat, die mit ihrem wie ein Stein fallenden
Körper irgendwo Wasser zu treffen versucht, als könnte sie lächelnd
daraus auftauchen, sich Wasserperlen aus dem Haar schütteln und
eine Coca-Cola verlangen.
»Ich hab mich übergeben müssen«, hatte Warren mir
damals im Blarney Stone erzählt. »Ich will niemals mehr ein Foto
dieser Art sehen, Scott, aber ich weiß, dass ich’s nie vergessen
werde. Man konnte ihr Gesicht erkennen, und ich denke, sie hat
geglaubt, irgendwie … jawohl, irgendwie werde alles gut
ausgehen.«
Ich habe als Erwachsener nie laut gekreischt, aber
nun tat ich es beinahe, als ich von Sonjas Sonnenbrille zu Cleve
Farrells Schadensregulierer hinübersah, Letzterer lehnte wieder
nonchalant in der Ecke am Durchgang zum Wohnzimmer. Irgendein Teil
meines Verstands muss sich daran erinnert haben, dass die Tür zum
Flur offen stand und beide Nachbarn im vierten Stock mich hören
würden, wenn ich kreischte; dann wären ein paar Erklärungen fällig
gewesen, wie man so schön sagt.
Ich schlug mir eine Hand vor den Mund, um den
Aufschrei zurückzuhalten. Die Tüte mit General Tso’s Chicken fiel
auf den Hartholzboden der Diele und platzte auf. Ich konnte mich
kaum dazu überwinden, die Schweinerei vor meinen Füßen anzusehen.
Diese dunklen Klumpen aus gekochtem Fleisch hätten alles Mögliche
sein können.
Ich ließ mich auf den einzelnen Stuhl fallen, den
ich in der Diele stehen habe, und verbarg das Gesicht in den
Händen. Ich kreischte nicht und ich weinte nicht, und nach einiger
Zeit war ich imstande, die Schweinerei aufzuwischen. Mein Verstand
wollte ständig zu den Dingen zurück, die mich auf dem Heimweg von
der Ecke 75th Street und Park Avenue überholt hatten, aber das ließ
ich nicht zu. Immer wenn er versuchte, in diese Richtung
auszubrechen, riss ich ihn an der Leine zurück.
In dieser Nacht hörte ich, während ich im Bett lag,
Gesprächen zu. Erst sprachen die Dinge (mit leisen Stimmen), und
dann antworteten die Leute, denen sie gehört haben (mit etwas
lauteren Stimmen). Manchmal sprachen sie über das Picknick in Jones
Beach – über den Kokosnussduft von Sonnenmilch und wie aus Misha
Bryzinskis Lautsprecher immer wieder Lou Begas »Mambo No. 5«
gekommen war. Oder sie sprachen über Frisbees, die unter dem Himmel
segelten, während sie von Hunden gejagt wurden. Manchmal
diskutierten sie auch über Kinder, die in Shorts und Badeanzügen
mit herabhängendem Hosenboden im nassen Sand buddelten. Mütter in
Badeanzügen, die sie aus dem Katalog von Land’s End bestellt
hatten, gingen mit weißen Klecksen Sonnencreme auf der Nase neben
ihnen her. Wie viele Kinder jenes Tages hatten eine sie behütende
Mama oder einen frisbeewerfenden Dad verloren? Mann, das war eine
Rechenaufgabe, die ich nicht zu lösen versuchen wollte. Aber die
Stimmen, die ich in meiner Wohnung hörte, wollten sie lösen.
Sie versuchten es immer wieder.
Ich erinnerte mich, wie Bruce Mason auf seiner
Schneckenmuschel geblasen und sich zum Herrn der Fliegen ausgerufen
hatte. Ich erinnerte mich, wie Maureen Hannon mir einmal erklärt
hat (nicht in Jones Beach, nicht bei dieser Gelegenheit), Alice
im Wunderland sei der erste psychedelische Roman gewesen. Und
wie Jimmy Eagleton mir eines Nachmittags erzählt hat, sein Sohn sei
nicht nur Stotterer, sondern leide auch an Lernschwäche, zwei zum
Preis von einem, und der Junge werde einen Nachhilfelehrer für
Mathe und einen weiteren für Französisch brauchen, um in absehbarer
Zukunft die Highschool absolvieren zu können. »Bevor er Anspruch
auf den Seniorenrabatt für Schulbücher hat«, wie Jimmy es
ausgedrückt hatte. Seine Wangen waren in der schrägen
Nachmittagssonne blass und ein wenig stoppelig, als wäre sein
Rasierer an diesem Morgen stumpf gewesen.
Ich war allmählich in Schlaf abgedriftet, aber das
ließ mich schlagartig wieder hellwach werden, weil mir klarwurde,
dass dieses Gespräch nicht lange vor dem 11. September
stattgefunden haben musste.Vielleicht nur wenige Tage
davor.Vielleicht sogar am Freitag davor, das heißt am allerletzten
Tag, an dem ich Jimmy lebend gesehen habe. Und der kleine Scheißer,
der stotterte und lernschwach war: Hatte er tatsächlich Jeremy
geheißen, wie Jeremy Irons? Bestimmt nicht, sicher war das nur mein
Verstand (manchmal nimmt-a de Banana), der seine Spielchen trieb,
aber sein Name hat bei Gott ähnlich geklungen. Vielleicht
Jason. Oder Justin. In den ersten Morgenstunden wirkt alles
übersteigert, und ich weiß noch, wie ich mir überlegte, dass ich
wahrscheinlich überschnappen würde, wenn sich herausstellte, dass
der Junge tatsächlich Jeremy hieß. Der Tropfen, der das Fass
zum Überlaufen gebracht hat, Baby.
Gegen drei Uhr morgens fiel mir ein, wem der
Plexiglaswürfel mit dem eingegossenen Centstück gehört hatte:
Roland Abelson aus der Haftpflichtabteilung. Er nannte es seinen
Pensionsfonds. Es war Roland gewesen, der oft gesagt hatte: »Lucy,
jetzt sind ein paar Erklärungen fällig.« Eines Abends im Herbst
2001 hatte ich seine Witwe in den 18-Uhr-Nachrichten im Fernsehen
gesehen. Ich hatte mich bei einem der Firmenpicknicks (sehr
wahrscheinlich bei dem in Jones Beach) mit ihr unterhalten und sie
hübsch gefunden, aber die Witwenschaft hatte diese Hübschheit
verfeinert, sie in wirkliche Schönheit verwandelt. In der
Nachrichtensendung bezeichnete sie ihren Mann stets nur als
»vermisst«; sie weigerte sich, ihn als »tot« zu bezeichnen. Und
wenn er überlebt hatte – wenn er jemals wieder auftauchte -, würden
ein paar Erklärungen fällig sein. Garantiert. Aber natürlich auch
von ihrer Seite. Eine hübsche Frau, die sich als Ergebnis eines
Massenmords in eine Schönheit verwandelt hat, würde bestimmt
einiges erklären müssen.
Im Bett zu liegen und an dieses Zeug zu denken –
mich ans Donnern der Brandung in Jones Beach und die unter dem
Himmel fliegenden Frisbees zu erinnern -, erfüllte mich mit
schrecklicher Traurigkeit, die sich zuletzt in Tränen Bahn brach.
Aber ich muss gestehen, dass das eine lehrreiche Erfahrung war.
Dies war die Nacht, in der ich verstehen lernte, dass Dinge
– sogar Kleinigkeiten wie ein Centstück in einem Plexiglaswürfel –
im Lauf der Zeit schwerer werden können. Aber weil dieses Gewicht
auf dem Verstand lastet, gibt es dafür keine mathematische Formel
von der Art, wie man sie in den Risikotabellen von Versicherungen
finden kann, nach denen die Prämien jemandes Lebensversicherung
sich um x erhöhen, wenn man Raucher ist, und die für
jemandes Ernteausfallversicherung um y, wenn die Farm
desjenigen in einer Tornadozone liegt. Ist es verständlich, was ich
damit meine?
Eine schwere Last auf dem Verstand.
Am folgenden Morgen sammelte ich wieder alle Dinge
ein und fand dabei ein siebtes, diesmal unter der Couch. Der Typ
einen Schreibtisch weiter, Misha Bryzinski, hatte zwei Puppen –
Punch und Judy – auf seinem Schreibtisch stehen gehabt. Die eine,
die ich unter meinem Sofa erspähte, war Punch. Judy war nirgends zu
finden, aber Punch genügte mir. Diese schwarzen Augen, die mich
zwischen den Wollmäusen hervor anstarrten, weckten in mir ein
schrecklich flaues Gefühl der Verzweiflung. Ich angelte die Puppe
heraus und hasste den Staubstreifen, den sie hinterließ. Ein Ding,
das eine Spur hinterlässt, ist ein reales Ding, ein Ding mit
Gewicht. Gar keine Frage.
Ich legte Punch und die restlichen Sachen in den
kleinen Besenschrank gleich neben der Kochnische, und dort blieben
sie. Anfangs war ich mir nicht sicher, ob sie das tun würden, aber
sie taten es.
Meine Mutter hat einmal behauptet, wenn ein Mann
sich den Hintern abwische und Blut am Klopapier sehe, würde er die
folgenden dreißig Tage lang im Dunkeln scheißen und das Beste
hoffen. Sie benutzte dieses Beispiel, um ihre Überzeugung zu
untermauern, der Eckstein männlicher Philosophie sei: »Ignoriert
man etwas, gibt es sich vielleicht von selbst.«
Ich ignorierte die Dinge, die ich in meiner Wohnung
gefunden hatte, ich hoffte aufs Beste, und die Situation besserte
sich tatsächlich etwas. Ich hörte die im Besenschrank flüsternden
Stimmen kaum noch (außer spätnachts), tendierte jedoch mehr und
mehr dazu, meine Recherchen außer Haus anzustellen. Bis Mitte
November verbrachte ich meine Tage meistens in der New York Public
Library. Ich bin mir sicher, dass die Löwen sich daran gewöhnten,
mich dort mit meinem PowerBook zu sehen.
Dann, kurz vor Thanksgiving, ging ich eines Tages
aus dem Haus und begegnete Paula Robeson – der holden Maid, die ich
durch Drücken des Neustartknopfs ihres Airconditioners gerettet
hatte -, als sie eben hereinkam.
Ohne die geringste vorherige Überlegung – hätte ich
Zeit gehabt, darüber nachzudenken, hätte ich bestimmt kein Wort
herausgebracht – fragte ich sie, ob ich sie zum Mittagessen
einladen und etwas mit ihr besprechen könne.
»In Wahrheit«, sagte ich, »habe ich ein Problem.
Vielleicht könnten Sie meinen Neustartknopf drücken.«
Wir standen in der Eingangshalle. Der Portier Pedro
saß in der Ecke und las die Post (und belauschte ganz sicher
jedes Wort – tagsüber lieferten seine Hausbewohner ihm die
interessantesten Dramen). Sie bedachte mich mit einem Lächeln, das
freundlich und nervös zugleich war. »Ich schulde Ihnen einen
Gefallen, glaube ich«, sagte sie, »aber … Sie wissen, dass ich
verheiratet bin, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich, ohne hinzuzufügen, dass sie mir
die falsche Hand gegeben hatte, damit mir der Ring kaum hatte
entgehen können.
Sie nickte. »Klar, Sie müssen uns ein paarmal
miteinander gesehen haben, aber er war in Europa, als ich all diese
Probleme mit dem Airconditioner hatte, und er ist jetzt wieder in
Europa. Edward, so heißt er. In den letzten zwei Jahren ist er mehr
in Europa als hier gewesen, und obwohl mir das nicht gefällt, bin
ich trotzdem sehr verheiratet.« Dann fügte sie hinzu, als wäre ihr
das nachträglich eingefallen: »Edward ist im
Import-Export-Geschäft.«
Ich war in der Versicherungsbranche, aber dann
ist die Firma eines Tages explodiert, lag es mir auf der Zunge.
Zuletzt brachte ich doch etwas heraus, das ein wenig vernünftiger
klang.
»Ich will nicht mit Ihnen anbändeln, Ms. Robeson.«
Genauso wenig, wie ich es darauf anlegte, dass wir uns mit Vornamen
ansprachen, und war das eine Spur von Enttäuschung, die ich in
ihrem Blick sah? Bei Gott, das glaubte ich wirklich. Aber
wenigstens überzeugte sie das. Ich war weiterhin
ungefährlich.
Sie stemmte die Arme in die Hüften und musterte
mich mit gespielter Verzweiflung. Oder vielleicht mit nicht so sehr
gespielter. »Schön, was wollen Sie also?«
»Nur jemanden, mit dem ich reden kann. Ich hab’s
bei mehreren Seelenklempnern versucht, aber die sind …
ausgebucht.«
»Alle?«
»Scheint so.«
»Falls Sie Probleme mit Ihrem Sexleben haben oder
den Drang verspüren, durch die Stadt zu rennen und Männer mit
Turbanen zu ermorden, will ich nichts davon hören.«
»Es geht um nichts dergleichen. Ich werde Sie nicht
erröten lassen, Ehrenwort.« Was nicht ganz dasselbe war, wie wenn
ich gesagt hätte: Ich verspreche, Sie nicht zu schockieren
oder Sie werden mich nicht für verrückt halten. »Nur Lunch
und einen guten Rat, mehr will ich nicht. Also, was sagen Sie
dazu?«
Ich staunte – war geradezu platt – über die eigene
Überzeugungskraft. Hätte ich dieses Gespräch im Voraus geplant,
hätte ich das Ganze vermurkst. Ich nehme an, sie war neugierig, und
bin mir sicher, dass sie eine gewisse Aufrichtigkeit in meiner
Stimme hörte.Außerdem hatte sie sich bestimmt schon gesagt, wenn
ich einer dieser Männer wäre, die sich einen Spaß daraus machen,
Frauen aufzureißen, hätte ich es wohl an jenem Augusttag versucht,
an dem ich in ihrer Wohnung mit ihr allein gewesen war – der schwer
zu fassende Edward aber in Frankreich oder Deutschland. Und ich
fragte mich natürlich, wie viel echte Verzweiflung sie in meinem
Gesicht sah.
Jedenfalls erklärte sie sich einverstanden, am
Freitag mit mir in Donald’s Grill in unserer Straße zu Mittag zu
essen. Donald’s ist vermutlich das unromantischste Restaurant in
ganz Manhattan – gutes Essen, Neonröhren und Kellner, die einem zu
verstehen geben, dass man sich gefälligst beeilen soll. Das tat sie
mit der Miene einer Frau, die eine überfällige Schuld begleicht,
die sie fast vergessen hat. Das war nicht gerade schmeichelhaft,
aber mir genügte es. Mittag sei ihr recht, sagte sie.Wenn ich in
der Eingangshalle auf sie wartete, könnten wir miteinander
hingehen. Ich erklärte ihr, das sei auch mir recht.
Die folgende Nacht war für mich eine gute. Ich
schlief fast sofort ein, und es gab keine Träume von Sonja D’Amico,
die mit den Händen an ihren Schenkeln wie eine Stewardess auf der
Suche nach Wasser an dem brennenden Gebäude vorbei in die Tiefe
stürzte.
Als wir am folgenden Tag die 86th Street
hinunterschlenderten, fragte ich Paula, wo sie gewesen sei, als sie
es gehört habe.
»San Francisco«, sagte sie. »Habe fest in einer
Suite im Hotel Wradling mit Edward neben mir geschlafen, der
zweifellos wie üblich geschnarcht hat. Ich wollte am zwölften
September hierher zurückfliegen, und Edward musste zu Besprechungen
nach Los Angeles. Die Hoteldirektion hat doch tatsächlich
Feueralarm ausgelöst.«
»Das muss ein Mordsschreck für Sie gewesen
sein.«
»Allerdings, obwohl ich im ersten Augenblick nicht
an einen Brand, sondern an ein Erdbeben gedacht habe. Dann ist
diese körperlose Stimme aus den Lautsprechern gekommen und hat uns
mitgeteilt, dass es im Hotel kein Feuer gibt, aber dafür ein
verdammt großes in New York.«
»Jesus.«
»Die Nachricht so zu hören, im Bett in einem
fremden Zimmer … sie von der Decke herab zu hören, als würde Gottes
Stimme sprechen …« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte die Lippen so
fest zusammengepresst, dass ihr Lippenstift fast verschwand. »Das
war sehr beängstigend. Ich verstehe irgendwie den Drang, eine
Nachricht dieser Art sofort weiterzugeben, aber ich habe der
Direktion des Wradling noch immer nicht ganz verziehen, dass sie
diese Methode gewählt hat. Ich glaube nicht, dass ich dort nochmal
übernachten werde.«
»Ist Ihr Mann zu seinen Besprechungen
gereist?«
»Die wurden abgesagt.An diesem Tag sind viele
Besprechungen abgesagt worden, vermute ich mal.Wir sind bei
laufendem Fernseher bis Sonnenaufgang im Bett geblieben und haben
versucht, das Geschehene zu begreifen. Sie verstehen, was ich
meine?«
»Ja.«
»Wir haben auch darüber gesprochen, wer dort
gewesen sein könnte, den wir kennen. Ich vermute, dass wir nicht
die Einzigen waren, die das getan haben.«
»Ist Ihnen jemand eingefallen?«
»Ein Makler von Shearson Lehman und der zweite
Geschäftsführer der Buchhandlung Borders im Einkaufszentrum«, sagte
sie. »Einer der beiden ist heil davongekommen. Einer der beiden …
nun, Sie wissen schon, einer hatte Pech. Und wie war’s bei
Ihnen?«
Also musste ich mich dem Thema doch nicht auf
Umwegen annähern. Wir waren noch nicht einmal im Restaurant, und
schon war es aufs Tapet gekommen.
»Ich wäre dort gewesen«, sagte ich. »Ich
hätte dort sein sollen. Ich habe dort gearbeitet. Bei einer
Versicherung im hundertzehnten Stock.«
Sie blieb auf dem Gehsteig abrupt stehen und sah
mit weit aufgerissenen Augen zu mir auf. Für die Leute, die einen
Bogen um uns machen mussten, sahen wir vermutlich wie ein
Liebespaar aus. »Scott, nein!«
»Scott, ja«, sagte ich. Und erzählte endlich
jemandem, wie ich am 11. September aufgewacht war und damit
gerechnet hatte, alles das zu tun, was ich normalerweise an
Werktagen tat: von der Tasse schwarzen Kaffee beim Rasieren bis zum
Becher Kakao vor der Nachrichtenrundschau auf Channel Thirteen. Ein
Tag wie jeder andere, an mehr dachte ich nicht. Das hatten wir
Amerikaner uns angewöhnt, für unser gutes Recht zu halten, glaube
ich. Aber sieh nur! Das ist ein Flugzeug! Es fliegt gegen einen
Wolkenkratzer! Haha, Arschloch, der Spaß geht auf deine Kosten, und
die halbe gottverdammte Welt lacht!
Ich erzählte ihr, wie ich bei einem Blick aus
meinem Fenster gesehen habe, dass der Morgenhimmel um sieben Uhr
völlig wolkenlos war: von der Art Blau, die so tief ist, dass man
sich fast einbilden kann, die Sterne dahinter zu sehen. Dann
erzählte ich ihr von der Stimme. Jeder von uns hat verschiedene
Stimmen im Kopf, glaube ich, und wir gewöhnen uns an sie. Als ich
sechzehn war, meldete sich eine von ihnen und flüsterte mir, es
könnte echt geil sein, in einen Slip meiner Schwester zu
masturbieren. Sie hat ungefähr tausend Stück und merkt bestimmt
nicht, wenn einer fehlt, Mann, behauptete die Stimme. (Von
diesem speziellen Jugendabenteuer erzählte ich Paula Robeson
nichts.) Ich würde sie als die Stimme völliger
Verantwortungslosigkeit bezeichnen müssen – besser bekannt als Mr.
Yow, Git Down.
»Mr. Yow, Git Down?«, sagte Paula
zweifelnd.
»Zu Ehren von James Brown, dem King of Soul.«
»Wenn Sie’s sagen.«
Mr. Yow, Git Down hatte mir immer weniger zu
sagen gehabt, vor allem seit ich das Trinken so ziemlich aufgegeben
hatte, und an diesem Tag erwachte er nur lange genug aus seinem
Dämmerschlaf, um vierzehn Wörter zu sprechen, die jedoch mein Leben
veränderten. Mir das Leben retteten.
Die ersten sieben (während ich auf der Bettkante
sitze): Yow, ruf an und meld dich krank! Die nächsten sieben
(während ich in Richtung Dusche schlurfe und mir dabei die linke
Arschbacke kratze): Yow, verbring den Tag im Central Park!
Hier ging es um keine Vorahnung. Das war eindeutig Mr. Yow, Git
Down, nicht die Stimme Gottes. Mit anderen Worten: Das Ganze
war lediglich eine Version meiner ganz persönlichen Stimme (das
sind sie alle), die mich zum Blaumachen aufforderte. Tu dir mal
was Gutes, großer Gott! Meiner Erinnerung nach habe ich
dieseVersion meiner Stimme zuletzt gehört, als es um einen
Karaoke-Wettbewerb in einer Bar an der Amsterdam Avenue gegangen
war: Yow, sing bei Neil Diamond mit, Blödmann – rauf auf die
Bühne, und mach, dass du wieder runterkommst!
»Ich weiß, was Sie meinen, glaube ich«, sagte sie
mit einem kleinen Lächeln.
»Wirklich?«
»Nun … ich habe mal in einer Bar in Key West meine
Bluse ausgezogen und zehn Dollar damit gewonnen, dass ich zu ›Honky
Tonk Women‹ getanzt habe.« Sie hielt inne. »Edward weiß nichts
davon, und wenn Sie’s ihm jemals erzählen, müsste ich Ihnen eine
seiner Krawattennadeln ins Auge stechen.«
»Yow, klasse gemacht, Girl«, sagte ich, und ihr
Lächeln wurde zu einem ziemlich wehmütigen Grinsen. Es ließ sie
jünger aussehen. Ich begann zu hoffen, dass diese Sache klappen
könnte.
Wir betraten das Donald’s.An der Eingangstür hing
ein Truthahn aus Pappe, an den grünen Kacheln über dem
Warmhaltetisch hingen Pilgerväter aus Pappe.
»Ich habe auf Mr. Yow, Git Down gehört,
deshalb bin ich hier«, sagte ich. »Aber leider sind auch ein paar
andere Dinge hier, bei denen er mir nicht helfen kann. Es sind
Dinge, die ich anscheinend nicht loswerden kann. Über die möchte
ich mit Ihnen reden.«
»Ich möchte gern wiederholen, dass ich keine
Psychiaterin bin«, sagte sie mit mehr als nur einer Spur von
Unbehagen. Das Grinsen war verschwunden. »Ich habe Deutsch als
Hauptfach und europäische Geschichte als Nebenfach studiert.«
Sie und Ihr Mann haben bestimmt reichlich
Gesprächsstoff, dachte ich. Laut sagte ich jedoch, ich müsse
nicht unbedingt mit ihr reden, nur mit jemandem.
»Also gut. Sie sollten nur Bescheid wissen.«
Ein Kellner nahm unsere Getränkebestellung auf,
koffeinfrei für sie, normal für mich. Als er wieder gegangen war,
fragte sie mich, welche Dinge ich meinte.
»Das hier ist eins davon.« Ich zog den
Plexiglaswürfel mit dem darin eingegossenen stählernen Centstück
aus der Tasche und stellte ihn auf den Tisch. Dann erzählte ich ihr
von den anderen Dingen und wem sie gehört hatten. Cleve »Besboll
war serr gutt zu mir« Farrell. Maureen Hannon, die ihr Haar als
äußeres Zeichen ihrer Unentbehrlichkeit in der Firma taillenlang
trug. Jimmy Eagleton, der eine göttliche Nase für versuchten
Versicherungsbetrug, einen lernbehinderten Sohn und ein Furzkissen
hatte, das er sicher in seinem Schreibtisch verwahrt hielt, bis die
alljährliche Weihnachtsfeier stieg. Sonja D’Amico, die beste
Buchhalterin bei Light and Bell, die ihre Lolita-Sonnenbrille als
boshaftes Scheidungsgeschenk von ihrem ersten Mann bekommen hatte.
Bruce »Herr der Fliegen« Mason, der vor meinem inneren Auge stets
mit nacktem Oberkörper in Jones Beach am Strand stehend auf seiner
Schneckenmuschel blasen würde, während die Wellen sich im Sand
brachen und seine nackten Füße umspielten. Und zuletzt Misha
Bryzinski, mit dem ich zu mindestens einem Dutzend Spiele der Mets
gegangen bin. Ich erzählte ihr, wie ich alles außer Mishas
Punch-Puppe in einen Abfallkorb an der Ecke 75th Street und Park
Avenue gestopft hätte und wie es schneller als ich wieder in meiner
Wohnung gewesen sei, vielleicht weil ich noch eine zweite Portion
von General Tso’s Chicken mitgenommen habe. Während ich sprach,
stand die ganze Zeit der Plexiglaswürfel zwischen uns auf dem
Tisch.Trotz seines strengen Profils schafften wir es, unseren Lunch
wenigstens teilweise zu essen.
Als ich ausgesprochen hatte, fühlte ich mich
besser, als ich zu hoffen gewagt hatte. Aber auf ihrer Seite des
Tischs herrschte ein Schweigen, das mir bedrückend schwer
vorkam.
»Also«, sagte ich, um es zu brechen. »Was denken
Sie?«
Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, um zu
überlegen, was ich ihr nicht verübeln konnte. »Ich denke, dass wir
nicht mehr die Fremden sind, die wir waren«, sagte sie zuletzt,
»und einen neuen Freund zu gewinnen, ist nie eine schlechte Sache.
Ich denke, ich bin froh, dass ich von Mr. Yow, Git Down weiß
und Ihnen erzählt habe, was ich getan habe.«
»Ich auch.« Und das stimmte.
»Darf ich Ihnen jetzt zwei Fragen stellen?«
»Natürlich.«
»Wie stark empfinden Sie das sogenannte
›Schuldgefühl der Überlebenden‹?«
»Und ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie keine
Psychiaterin sind.«
»Ich bin keine, aber ich lese die
Nachrichtenmagazine und bin sogar dafür bekannt, dass ich mir
manchmal Oprah ansehe. Das weiß mein Mann, obwohl ich
es vorziehe, ihm das nicht unter die Nase zu reiben.Also … wie
stark, Scott?«
Ich dachte darüber nach. Das war eine gute Frage –
und natürlich eine, die ich mir in mehr als einer dieser
schlaflosen Nächte selbst gestellt habe. »Ziemlich stark«, sagte
ich. »Und ziemlich große Erleichterung, das gebe ich ehrlich zu.
Gäbe es Mr. Yow, Git Down in Person, brauchte er sein Leben
lang in keiner Bar mehr zu bezahlen. Zumindest in meiner
Anwesenheit nicht.« Ich hielt inne. »Schockiert Sie das?«
Sie griff über den Tisch und berührte kurz meine
Hand. »Nicht im Geringsten.«
Als ich sie das sagen hörte, fühlte ich mich
besser, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich drückte ihre
Hand und ließ sie gleich wieder los. »Wie lautet Ihre andere
Frage?«
»Wie wichtig ist es für Sie, dass ich Ihre
Geschichte von den zurückkommenden Dingen glaube?«
Ich hielt das für eine ausgezeichnete Frage, obwohl
der Plexiglaswürfel vor uns auf dem Tisch neben der Zuckerdose
stand. Solche Dinge sind schließlich nicht gerade rar. Und
hätte sie im Hauptfach Psychologie statt Deutsch studiert,
überlegte ich mir, hätte sie vermutlich auch nicht schlecht
abgeschnitten.
»Nicht so wichtig, wie ich vor einer Stunde gedacht
habe«, sagte ich. »Allein das Erzählen hat geholfen.«
Sie nickte lächelnd. »Gut. Nun also meine cleverste
Vermutung: Sehr wahrscheinlich spielt jemand ein Spiel mit Ihnen.
Kein sehr nettes.«
»Spielt mir Streiche«, sagte ich. Ich bemühte mich,
mir nichts anmerken zu lassen, aber ich war enttäuscht wie selten
zuvor in meinem Leben.Vielleicht setzt sich auf Menschen unter
bestimmten Umständen eine Schicht Ungläubigkeit ab, die sie
schützt. Oder vielleicht – wahrscheinlich – war es mir nicht
gelungen, mein eigenes Gefühl zu vermitteln, dass diese Sache
einfach … geschah. Weiter passierte.Wie es Lawinen
tun.
»Spielt Ihnen Streiche«, bestätigte sie, dann:
»Aber das glauben Sie nicht.«
Zusätzliche Punkte für Scharfblick. Ich nickte.
»Ich habe die Tür abgesperrt, als ich weggegangen bin, und sie war
abgeschlossen, als ich von Staples zurückgekommen bin. Ich habe das
Klicken der Schlossstifte gehört. Sie sind laut.
Unüberhörbar.«
»Trotzdem … die Schuldgefühle von Überlebenden sind
eine komische Sache. Und mächtig, jedenfalls wenn man den
Nachrichtenmagazinen glauben will.«
»Das …« Das hier ist kein Schuldgefühl eines
Überlebenden, hatte ich sagen wollen, aber das wäre der falsche
Zungenschlag gewesen. Ich hatte eine reelle Chance, hier eine neue
Freundin zu gewinnen, und eine neue Freundin zu haben, war
unabhängig vom Ausgang dieser Sache immer gut. Deshalb änderte ich
den Satz ab. »Ich glaube nicht, dass dies hier das Schuldgefühl
eines Überlebenden ist.« Ich zeigte auf den Plexiglaswürfel. »Er
ist eindeutig vorhanden, oder? Wie Sonjas Sonnenbrille. Sie sehen
ihn. Ich sehe ihn auch. Ich könnte ihn natürlich selbst gekauft
haben, aber …« Ich zuckte die Achseln und versuchte damit
auszudrücken, was wir beide sicherlich wussten: Alles ist
möglich.
»Ich glaube nicht, dass Sie das getan haben.Aber
ebenso wenig kann ich die Vorstellung akzeptieren, zwischen der
Wirklichkeit und der Schattenwelt habe sich eine Falltür geöffnet,
und diese Dinge seien herausgefallen.«
Ja, das war das Problem. Für Paula war die
Vorstellung, der Plexiglaswürfel und die übrigen Dinge, die in
meiner Wohnung aufgetaucht waren, könnten irgendwie übernatürlichen
Ursprungs sein, automatisch tabu, so sehr die Tatsachen auch dafür
zu sprechen schienen. Ich musste nun entscheiden, ob es wichtiger
war, über diesen Punkt zu diskutieren, als eine Freundin zu
gewinnen.
Ich entschied mich gegen eine Diskussion.
»Also gut«, sagte ich. Ich fing einen Blick des
Kellners auf und machte eine Bewegung in der Luft, als schriebe ich
einen Scheck aus. »Ich kann akzeptieren, dass Sie nicht fähig sind,
das zu akzeptieren.«
»Können Sie das?«, fragte sie und musterte mich
prüfend.
»Ja.« Und ich glaubte, das sei wahr. »Das heißt,
wenn wir ab und zu eine Tasse Kaffee miteinander trinken können.
Oder bloß Hi sagen, wenn wir uns in der Eingangshalle
begegnen.«
»Klar doch.« Aber das klang geistesabwesend, als
wäre sie nicht bei der Sache. Sie betrachtete den Plexiglaswürfel
mit dem eingegossenen stählernen Centstück. Dann blickte sie zu mir
auf. Fast wie in einem Cartoon konnte ich eine Glühbirne über ihrem
Kopf aufflammen sehen. Sie streckte eine Hand aus und griff nach
dem Würfel. Ich hätte nie ausdrücken können, welch namenloses
Grauen mich erfasste, als sie das tat, aber was hätte ich sagen
sollen? Wir waren New Yorker in einem sauberen, gut beleuchteten
Restaurant. Was Paula betraf, hatte sie bereits ihre Prinzipien
dargelegt, die das Übernatürliche ziemlich rigoros ausschlossen.
Das Übernatürliche war eine Sperrzone. Ein Ball, der darin liegen
blieb, musste noch einmal gespielt werden.
Und in Paulas Augen glänzte etwas. Ein Funkeln, das
darauf schließen ließ, Ms. Yow, Git Down sei im Haus, und
ich wusste aus persönlicher Erfahrung, wie schwer dieser Stimme zu
widerstehen war.
»Geben Sie ihn mir«, schlug sie vor und sah mir
lächelnd in die Augen. Dabei konnte ich – eigentlich zum ersten Mal
– sehen, dass sie ebenso sexy wie hübsch war.
»Wozu?« Als ob ich das nicht wüsste.
»Nennen wir’s mein Honorar dafür, dass ich mir Ihre
Geschichte angehört habe.«
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute …«
»Doch, das ist eine gute Idee«, sagte sie. Sie fing
an, sich für ihre Eingebung zu erwärmen, und wenn Leute das tun,
sind sie meistens unbelehrbar. »Das ist eine großartige
Idee. Ich sorge dafür, dass zumindest dieses eine Andenken nicht
wieder schwanzwedelnd zu Ihnen zurückkehrt.Wir haben in unserer
Wohnung einen Safe.« Sie spielte mir eine reizende kleine Pantomime
vor, wie sie eine Safetür schloss, das Zahlenschloss verstellte und
zuletzt den Schlüssel über die Schulter wegwarf.
»Also gut«, sagte ich. »Das ist mein Geschenk für
Sie.« Und ich empfand etwas, das boshafte Befriedigung hätte sein
können. Nennen wir es die Stimme von Mr. Yow, du wirst’s schon
merken. Anscheinend hatte es doch nicht genügt, sich alles nur
von der Seele reden zu können. Sie hatte mir nicht geglaubt, und
zumindest ein Teil meines Selbst wollte, dass man ihm
glaubte, und nahm es Paula übel, dass es nicht bekam, was es sich
wünschte. Dieser Teil wusste, dass es eine absolut schreckliche
Idee war, sie den Plexiglaswürfel mitnehmen zu lassen, war aber
trotzdem froh, ihn in ihrer Umhängetasche verschwinden zu
sehen.
»Da!«, sagte sie lebhaft. »Mama sagt bye-bye, lässt
alles verschwinden. Wenn er in einer Woche nicht zurückkommt – oder
in zweien, was davon abhängen dürfte, wie hartnäckig Ihr
Unterbewusstsein sein will -, können Sie vielleicht anfangen, die
übrigen Dinge zu verschenken.« Und diese Äußerung war an jenem Tag
ihr wirkliches Geschenk für mich, obwohl ich es nicht gleich
erkannte.
»Vielleicht«, sagte ich und lächelte. Breites
Lächeln für die neue Freundin. Strahlendes Lächeln für Pretty
Mama.Während ich die ganze Zeit dachte: Du wirst schon sehen.
Yow.
So war es dann auch.
Drei Abende später, als ich zusah und hörte, wie
Chuck Scarborough in den 18-Uhr-Nachrichten die jüngste New Yorker
Nahverkehrsmisere erläuterte, wurde an meiner Tür geklingelt. Da
niemand angemeldet worden war, vermutete ich, dass es ein Zusteller
war, vielleicht sogar Rafe mit etwas von Federal Express. Ich
öffnete die Wohnungstür, und da stand Paula Robeson.
Dies war nicht die Frau, mit der ich zu Mittag
gegessen hatte.
DieseVersion von Paula hätte Ms. Yow, ist
Chemotherapie nicht fies heißen können. Sie hatte etwas
Lippenstift aufgelegt, trug aber sonst keinerlei Make-up, und ihr
Teint war ungesund gelblich weiß. Unter den Augen hatte sie dunkle,
bräunlich purpurne Bogen. Bevor sie aus dem fünften Stock
heruntergekommen war, hatte sie ihrem Haar vielleicht einen
symbolischen Bürstenstrich verpasst, der aber nicht viel geholfen
hatte. Es sah wie Stroh aus und stand auf beiden Seiten auf eine
Art und Weise von ihrem Kopf ab, die unter anderen Umständen, zum
Beispiel in einem Comicstrip, komisch gewesen wäre. Sie hielt den
Plexiglaswürfel vor ihrem Busen, so dass ich feststellen konnte,
dass die gepflegten Fingernägel dieser Hand verschwunden waren. Sie
hatte sie abgekaut, bis aufs Fleisch abgekaut. Und mein erster
Gedanke, Gott sei mir gnädig, war: Ja, sie hat es
gesehen.
Sie hielt ihn mir hin. »Nehmen Sie ihn zurück«,
sagte sie.
Das tat ich wortlos.
»Er hat Roland Abelson geheißen«, sagte sie. »Das
stimmt doch?«
»Ja.«
»Er war rothaarig.«
»Ja.«
»Ledig, aber er hat einer Frau in Rahway Alimente
für ein Kind gezahlt.«
Das hatte ich nicht gewusst – wahrscheinlich hatte
das bei Light and Bell niemand gewusst -, aber ich nickte
nochmals, und nicht bloß, damit sie weitersprach. Ich war davon
überzeugt, dass sie Recht hatte. »Wie hat sie geheißen, Paula?«
Ohne zu wissen, weshalb ich das fragte, noch nicht – nur aus dem
Wissen, dass ich es wissen musste.
»Tonya Gregson.« Das klang wie in Trance. In ihren
Augen stand jedoch etwas, das so schrecklich war, dass ich es kaum
ertragen konnte, es anzusehen. Trotzdem speicherte ich diesen
Namen. Tonya Gregson, Rahway. Und dann wie ein Lagerist bei
der Inventur: ein Plexiglaswürfel mit darin eingegossenem
Centstück.
»Er hat versucht, unter seinen Schreibtisch zu
kriechen, wussten Sie das? Nein, ich sehe, dass Sie’s nicht gewusst
haben. Sein Haar hat in Flammen gestanden, und er hat geweint.Weil
er in diesem Augenblick begriffen hat, dass er niemals einen
Katamaran besitzen oder auch nur noch einmal seinen Rasen mähen
würde.« Sie streckte eine Hand aus und legte sie mir auf die Wange:
eine so intime Geste, dass sie hätte schockieren müssen, wäre ihre
Hand nicht eiskalt gewesen. »Zuletzt hätte er jeden Cent, den er
besaß, und jede Aktienoption, über die er verfügte, dafür
hergegeben, nur noch einmal seinen Rasen mähen zu dürfen. Glauben
Sie das?«
»Ja.«
»Das Büro hallte wider von Schreien, er konnte
Kerosin riechen, und ihm war bewusst, dass dies seine
Todesstunde war. Verstehen Sie das? Begreifen Sie die
Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache?«
Ich nickte. Ich konnte nicht sprechen. Man hätte
mir eine Pistole an den Kopf drücken können – ich hätte trotzdem
kein Wort herausgebracht.
»Die Politiker reden von Gedenkstätten und
Heldenmut und Krieg gegen den Terrorismus, aber brennendes Haar ist
unpolitisch.« Sie fletschte die Zähne zu einem unbeschreiblichen
Grinsen. Im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden. »Er hat
versucht, mit in Flammen stehenden Haaren unter seinen Schreibtisch
zu kriechen. Unter dem Schreibtisch hat ein Plastikding gelegen,
eine Wie-sagt-man-gleich-wieder …«
»Bodenschutzmatte …«
»Ja, eine Matte, eine Kunststoffmatte, seine Hände
haben darauf gelegen, und er konnte ihre Plastikriefen spüren und
das eigene brennende Haar riechen.Verstehen Sie das?«
Ich nickte. Ich begann zu weinen. Es war Roland
Abelson, von dem wir hier sprachen, dieser Typ, der mein
Arbeitskollege gewesen war. Er war in der Haftpflichtabteilung
gewesen, und ich hatte ihn nicht sehr gut gekannt.Wir hatten
Hi zueinander gesagt, das war alles; woher hätte ich wissen
sollen, dass er ein Kind in Rahway hatte? Und hätte ich an jenem
Tag nicht blaugemacht, hätte mein Haar vermutlich auch gebrannt.
Das hatte ich bisher nie wirklich begriffen.
»Ich will Sie nie wieder sehen«, sagte sie. Sie
bedachte mich nochmals mit ihrem schauerlichen Grinsen, aber jetzt
weinte auch sie. »Ich will nichts von Ihren Problemen wissen. Ich
will nichts von diesem Scheiß wissen, den Sie gefunden haben. Wir
sind quitt. In Zukunft lassen Sie mich in Ruhe.« Sie wollte sich
schon abwenden, drehte sich dann aber noch einmal zu mir um. »Sie
haben es im Namen Gottes getan«, sagte sie, »aber es gibt keinen
Gott. Gäbe es einen Gott, Mr. Staley, hätte er alle achtzehn in
ihren Warteräumen auf den Flughäfen mit ihren Bordkarten in den
Händen erschlagen, aber das hat kein Gott getan. Die Passagiere
wurden zum Einsteigen aufgerufen, und diese Scheißkerle sind
einfach mit eingestiegen.«
Ich sah ihr nach, als sie zum Aufzug davonging. Sie
hielt sich sehr gerade. Ihr Haar stand auf beiden Seiten des Kopfes
ab, so dass sie wie ein Mädchen aus einem Cartoon in der
Sonntagsbeilage aussah. Sie wollte mich nie mehr sehen, und ich
konnte ihr das nicht verübeln. Ich schloss die Tür und betrachtete
den stählernen Abe Lincoln in dem Plexiglaswürfel. Ich betrachtete
ihn ziemlich lange. Ich dachte darüber nach, wie sein Barthaar
gerochen hätte, wenn U.S. Grant eine seiner unvermeidlichen
Zigarren hineingesteckt hätte. Dieser unangenehme Gestank nach
verbranntem Haar. Im Fernsehen sagte jemand, bei Sleepy’s finde ein
großer Matratzenräumungsverkauf statt. Danach erschien Len Berman
auf dem Bildschirm und sprach über die Jets.
In dieser Nacht wachte ich gegen zwei Uhr morgens
auf und horchte auf die flüsternden Stimmen. Ich hatte keine Träume
oder Visionen von den Leuten gehabt, denen die Gegenstände
gehörten, hatte niemanden gesehen, dessen Haar brannte oder der auf
der Flucht vor dem brennenden Treibstoff aus einem Fenster sprang,
aber wie sollte ich denn auch? Ich wusste, wer sie waren, und die
Dinge, die sie zurückgelassen hatten, hatten sie mir hinterlassen.
Paula Robeson den Plexiglaswürfel an sich nehmen zu lassen war
falsch gewesen, aber nur weil sie die falsche Empfängerin gewesen
war.
Und weil wir gerade bei Paula sind: Eine der
Stimmen war ihre. Sie könnten anfangen, die übrigen Dinge zu
verschenken, sagte sie. Und sie sagte: Vermutlich hängt es
davon ab, wie hartnäckig Ihr Unterbewusstsein sein will.
Ich ließ mich zurücksinken und konnte nach einiger
Zeit wieder einschlafen. Ich träumte, ich sei im Central Park, wo
ich die Enten fütterte, als plötzlich ein lauter Krach wie ein
Überschallknall zu hören war und dunkler Rauch den Himmel
verfinsterte. In meinem Traum roch der Rauch nach brennendem
Haar.
Ich dachte über Tonya Gregson in Rahway nach –
Tonya und das Kind, das vielleicht Roland Abelsons Augen hatte oder
auch nicht -, und sagte mir, dass ich mich darauf erst würde
vorbereiten müssen. Ich beschloss, mit Bruce Masons Witwe
anzufangen.
Ich fuhr mit dem Zug nach Dobbs Ferry und bestellte
mir am Bahnhof ein Taxi. Der Taxifahrer brachte mich zu einem
Cape-Cod-Haus in einer ruhigen Wohnstraße. Ich drückte ihm etwas
Geld in die Hand, bat ihn zu warten – mein Besuch würde nicht lange
dauern – und klingelte an der Haustür. Unter dem Arm trug ich eine
Schachtel. Sie sah wie eine Kuchenschachtel aus der Bäckerei
aus.
Ich brauchte nur ein Mal zu klingeln, denn ich
hatte zuvor angerufen, und Janice Mason erwartete mich. Ich hatte
meine Story sorgfältig ausgearbeitet und erzählte sie entsprechend
selbstsicher, weil ich wusste, dass das mit laufendem Taxameter in
der Einfahrt stehende Taxi jedes ins Detail gehende Kreuzverhör
verhindern würde.
Am siebten September, sagte ich – am Freitag davor
– hatte ich versucht, auf der Schneckenmuschel, die Bruce auf
seinem Schreibtisch liegen hatte, zu blasen, wie ich es von Bruce
beim Firmenpicknick in Jones Beach gehört hatte. (Janice, Mrs.
Herr der Fliegen, nickte; sie war natürlich ebenfalls dort
gewesen.) Nun, sagte ich, um es kurz zu machen, ich hatte Bruce
dazu überredet, mir die Schneckenmuschel übers Wochenende zu
leihen, damit ich üben konnte. Aber am Montagmorgen war ich mit
einer tobenden Stirnhöhlenentzündung und grässlichen Kopfschmerzen
aufgewacht. (Das war eine Geschichte, die ich schon mehreren Leuten
erzählt hatte.) Ich war dabei gewesen, eine Tasse Tee zu trinken,
als ich den Knall hörte und den Rauch aufsteigen sah. An die
Schneckenmuschel hatte ich erst diese Woche wieder gedacht. Ich
hatte meinen kleinen Dielenschrank ausgeräumt, und hol’s der
Teufel, da hatte das Ding gelegen. Und ich dachte bloß … na ja, sie
ist kein besonderes Andenken, aber ich dachte, Sie würden sie
vielleicht … Sie wissen schon …
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, genau wie meine
es getan hatten, als Paula mir Roland Abelsons »Pensionsfonds«
zurückgebracht hatte, nur waren diese nicht von dem angstvollen
Ausdruck begleitet, der bestimmt auf meinem Gesicht gelegen hatte,
als Paula mit ihren auf beiden Seiten steif vom Kopf abstehenden
Haaren vor mir gestanden hatte. Janice versicherte mir, sie freue
sich sehr über jedes Andenken an Bruce.
»Ich komme nicht darüber hinweg, wie wir uns
verabschiedet haben«, sagte sie mit der Schachtel in ihren Armen.
»Er ist immer sehr früh aus dem Haus gegangen, weil er mit dem Zug
gefahren ist. Er hat mich auf die Wange geküsst, und ich habe ein
Auge aufgemacht und ihn gebeten, Kaffeesahne mitzubringen. Er hat
gesagt, er würde es tun. Das war das Letzte, was er jemals zu mir
gesagt hat. Als er um meine Hand angehalten hat, habe ich mich wie
Helena von Troja gefühlt – dumm, aber absolut wahr -, und ich
wollte, ich hätte was Besseres gesagt als: ›Bring bitte Kaffeesahne
mit.‹ Aber wir waren schon lange verheiratet, und mir ist dieser
Tag wie jeder andere vorgekommen, und... Wir wissen es einfach
nicht, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ja. Jeder Abschied könnte für immer sein, und wir
wissen es nicht. Ich danke Ihnen, Mr. Staley. Dass Sie
herausgekommen sind und mir dies gebracht haben. Das war sehr
freundlich von Ihnen.« Dann lächelte sie schwach. »Erinnern Sie
sich, wie er mit nacktem Oberkörper am Strand gestanden und darauf
geblasen hat?«
»Ja«, sagte ich und beobachtete, wie sie die
Schachtel an sich gedrückt hielt. Später würde sie sich hinsetzen
und die Schneckenmuschel herausnehmen und sie auf ihrem Schoß
halten und weinen. Ich wusste, dass zumindest diese
Schneckenmuschel nie mehr in meine Wohnung zurückkommen würde. Sie
war daheim.
Ich ließ mich zum Bahnhof fahren und nahm den
nächsten Zug nach New York zurück. Um diese Tageszeit, am frühen
Nachmittag, waren die Abteile fast leer, und ich saß an einem von
Regen und Schmutz streifigen Fenster und blickte auf den Fluss und
die näher kommende Skyline hinaus. An wolkigen, regnerischen Tagen
scheint man diese Skyline Stück für Stück fast aus der eigenen
Fantasie zu erschaffen.
Morgen würde ich mit dem Centstück in dem
Plexiglaswürfel nach Rahway fahren. Vielleicht würde der oder die
Kleine ihn in die Patschhände nehmen und neugierig betrachten.
Jedenfalls würde der Würfel so aus meinem Leben verschwinden. Das
einzige Stück, das schwierig loszuwerden sein würde, vermutete ich,
würde Jimmy Eagletons Furzkissen sein – ich konnte Mrs. Eagleton
kaum erzählen, ich hätte es übers Wochenende mit nach Hause
genommen, um damit zu üben, oder? Aber Not macht erfinderisch, und
ich war zuversichtlich, dass mir irgendwann eine halbwegs plausible
Story einfallen würde.
Mir kam der Gedanke, dass im Lauf der Zeit weitere
Dinge auftauchen könnten. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten
würde, ich fände diese Möglichkeit gänzlich unangenehm. Wenn man
Dinge zurückbringt, die Leute für immer verloren glaubten – Dinge,
die Gewicht haben -, dann gibt es eine Entschädigung dafür.
Auch wenn es nur kleine Dinge wie eine Scherzsonnenbrille oder ein
stählernes Centstück in einem Plexiglaswürfel sind … Jawohl. Ich
würde sagen, es gibt eine Entschädigung.
AUS DEM AMERIKANISCHEN VON WULF BERGNER