HINTERLASSENSCHAFTEN
Die Dinge, von denen ich erzählen möchte – diejenigen, die sie hinterlassen haben -, tauchten im August 2002 in meiner Wohnung auf. Das weiß ich bestimmt, weil ich die meisten gefunden habe, kurz nachdem ich Paula Robeson bei ihrem Airconditioner behilflich gewesen bin. Das Gedächtnis braucht immer einen Anhaltspunkt, und das ist meiner. Sie war Kinderbuchillustratorin, sah gut aus (Teufel, sie sah klasse aus), der Ehemann im Import-Export-Geschäft. Als Mann hat man so seine Art, sich an Gelegenheiten zu erinnern, bei denen man tatsächlich einer gut aussehenden Lady in Not helfen konnte (selbst einer, die einem ständig versichert, sie sei »sehr verheiratet«); solche Gelegenheiten sind allzu selten. Heutzutage verschlimmbessert der Möchtegernkavalier meistens nur alles.
Sie stand frustriert in der Eingangshalle, als ich zu einem Nachmittagsspaziergang nach unten kam. Ich sagte: Hi, wie geht’s, wie man das zu Mitbewohnern seines Hauses eben sagt, und sie fragte mich in einem aufgebrachtem Ton, der fast schon an Verdrossenheit grenzte, weshalb der Hausmeister jetzt im Urlaub sein müsse. Ich wies darauf hin, dass sogar Tramperinnen ihre Schicksalsjahre haben und sogar Hausmeister Urlaub machen; außerdem sei der August ein äußerst sinnvoller Monat, um eine Zeit lang auszuspannen. Im August sind in New York (und in Paris, mon ami) Psychoanalytiker, im Trend liegende Künstler und Hausmeister ausgesprochen dünn gesät.
Sie lächelte nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob sie den Hinweis auf Tom Robbins überhaupt verstanden hatte (Indirektheit ist der Fluch der lesenden Klasse). Sie sagte, auch wenn es vielleicht stimme, dass der August ein guter Monat sei, um abzuhauen und aufs Cape oder nach Fire Island zu fahren, stehe ihre verdammte Wohnung praktisch in Flammen, und der verdammte Airconditioner gebe keinen Mucks von sich. Ich fragte sie, ob ich es mir ansehen solle, und ich erinnere mich gut an den Blick, mit dem sie mich daraufhin musterte – diese kühlen, abschätzenden grauen Augen. Ich weiß noch, dass ich dachte, dass solche Augen vermutlich ziemlich viel sahen. Und ich erinnere mich an mein Lächeln, als sie mich fragte: Sind Sie ungefährlich? Das erinnerte mich an diesen Film, nicht Lolita (das Nachdenken über Lolita, manchmal um zwei Uhr morgens, kam erst später), sondern an den, in dem Dustin Hoffman von Laurence Olivier eine improvisierte Zahnbehandlung verpasst wird und dieser ihn ständig fragt: Ist es sicher?
Ich bin ungefährlich, sagte ich. Hab seit über einem Jahr keine Frau mehr überfallen. Früher waren es zwei bis drei pro Woche, aber die Gruppentherapie hilft.
Eine alberne Antwort, aber ich war in ziemlich alberner Stimmung. In Sommerlaune. Sie musterte mich nochmals, dann lächelte sie. Streckte mir die Hand hin. Paula Robeson, sagte sie. Es war die Linke, die sie ausstreckte – nicht normal, aber die Hand mit dem schlichten Goldring. Ich glaube, das war vermutlich Absicht, oder nicht? Aber dass sie mir erzählte, ihr Mann sei im Import-Export-Geschäft, kam erst später. An jenem Tag, an dem ich an der Reihe war, sie um Hilfe zu bitten.
Im Aufzug warnte ich sie davor, zu viel zu erwarten. Hätte sie jedoch einen Mann gebraucht, der die wahren Ursachen der New Yorker Wehrpflichtigen-Unruhen ermittelt oder ein paar amüsante Anekdoten über die Entwicklung des Impfstoffs gegen Windpocken liefert oder sogar Zitate über die soziologischen Auswirkungen der TV-Fernbedienung ausgräbt (meiner bescheidenen Meinung nach die wichtigste Erfindung der letzten fünfzig Jahre), wäre ich ihr Mann gewesen.
Recherche ist Ihr Beruf, Mr. Staley?, fragte sie, als wir mit dem langsamen, klapprigen Aufzug hinauffuhren.
Ich bekannte mich dazu, ohne allerdings hinzuzufügen, dass ich in dieser Branche noch ziemlich neu war. Ich forderte sie auch nicht auf, mich Scott zu nennen – das hätte sie gleich wieder kopfscheu gemacht. Und ich erzählte ihr erst recht nicht, dass ich mich bemühte, alles zu vergessen, was ich einst über landwirtschaftliche Versicherungen wusste. Dass ich in Wahrheit versuchte, einen ganzen Haufen Dinge zu vergessen, darunter ungefähr zwei Dutzend Gesichter.
Wie man sieht, kann ich mich noch an ziemlich viel erinnern, auch wenn ich mich vielleicht zu vergessen bemühe. Ich glaube, das tun wir alle, wenn wir uns auf etwas konzentrieren (und manchmal, recht viel unangenehmer, wenn wir es nicht tun). Ich erinnere mich sogar an etwas, was einer dieser südamerikanischen Romanciers gesagt hat – also, einer dieser sogenannten Magischen Realisten, ja? Nicht an den Namen des Typen, der ist nicht wichtig, sondern an dieses Zitat: Im Säuglingsalter besteht unser erster Sieg darin, dass wir ein kleines Stück der Welt ergreifen, gewöhnlich die Finger unserer Mutter. Später entdecken wir, dass die Welt und die Dinge der Welt uns ergreifen, uns schon immer festgehalten haben. Borges? Ja, das könnte von Borges sein. Oder von Márquez. Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, dass ich ihren Airconditioner wieder zum Laufen brachte, und als die kühle Luft aus dem Konvektor zu strömen begann, strahlte sie übers ganze Gesicht. Ich weiß auch, dass das wahr ist, diese Sache mit der Umkehrung unserer Wahrnehmung, so dass wir erkennen, dass die Dinge, die wir erfasst zu haben glaubten, in Wirklichkeit uns erfasst halten. Uns vielleicht gefangen halten – Thoreau dachte das jedenfalls -, aber auch sicher an unserem Platz halten. Das ist der Ausgleich. Und unabhängig von Thoreaus Meinung glaube ich, dass dieser Tauschhandel meist fair verläuft. Oder habe es jedenfalls damals geglaubt; heute bin ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher.
Und ich weiß, dass diese Dinge Ende August 2002 passierten, nicht ganz ein Jahr nachdem ein Stück des Himmels herabgestürzt ist und sich alles für uns alle geändert hat.
Eines Nachmittags – ungefähr eine Woche nachdem Sir Scott Staley seine Barmherziger-Samariter-Rüstung angelegt und den schrecklichen Airconditioner besiegt hatte – machte ich meinen Nachmittagsspaziergang zu Staples in der 83rd Street, um eine Box Zip-Disketten und eine Packung Schreibpapier zu kaufen. Ich war einem Kerl vierzig Seiten Hintergrundinformationen über die Entwicklung der Polaroidkamera schuldig (die eine interessantere Geschichte ist, als man vielleicht glauben würde). Als ich in meine Wohnung zurückkam, lag auf dem kleinen Tisch in der Diele, auf dem ich Rechnungen, die bezahlt werden müssen, Abholscheine, Mahnungen wegen überfälliger Bibliotheksbücher und dergleichen Dinge aufbewahre, eine Sonnenbrille mit rotem Gestell und sehr charakteristischen Gläsern. Ich erkannte die Gläser augenblicklich und spürte, wie mich alle Kraft verließ. Ich kippte zwar nicht um, ließ aber meine Einkäufe zu Boden fallen, lehnte mich innen gegen die Wohnungstür und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während ich diese Sonnenbrille anstarrte. Hätte es nichts zum Anlehnen gegeben, wäre ich vermutlich so ohnmächtig niedergesunken wie eine Miss in einem jener viktorianischen Romane, in denen immer, wenn es Mitternacht schlägt, der lüsterne Vampir auftritt.
Zwei zusammenhängende, aber unterschiedliche emotionale Wellen brandeten über mich hinweg. Die erste war jenes entsetzte Schamgefühl, das man empfindet, wenn man weiß, dass man bei irgendeiner Handlung ertappt werden wird, die man niemals wird erklären können. Woran ich mich in dieser Beziehung erinnere, ist eine Sache, die mir einmal passiert ist – oder beinahe passiert ist -, als ich sechzehn war.
Meine Mutter und meine Schwester waren in Portland einkaufen, und ich hatte das Haus vermeintlich bis abends für mich. Ich lag nackt auf meinem Bett und hatte mir einen Slip meiner Schwester um den Schwanz gewickelt. Übers Bett verstreut lagen Fotos, die ich aus Zeitschriften ausgeschnitten hatte. Ich hatte sie im Nebenraum der Garage entdeckt – vermutlich das geheime Lager des vorigen Hausbesitzers mit Magazinen wie Penthouse und Gallery. Ich hörte ein Auto über den Kies der Einfahrt knirschen. Der Klang dieses Motors war unverkennbar; das waren meine Mutter und meine Schwester. Peggy hatte sich irgendein Grippevirus geholt und angefangen, aus dem Fenster zu spucken. Sie waren bis Poland Springs gekommen und dort umgekehrt.
Ich betrachtete die übers ganze Bett verstreuten Bilder, meine über den ganzen Fußboden verstreuten Klamotten und den Bausch rosa Viskose in meiner linken Hand. Ich weiß noch, wie alle Kraft aus mir hinausströmte, und erinnere mich an ein Gefühl schrecklicher Mattigkeit, das sie ersetzte. Meine Mutter rief nach mir – »Scott, Scott, komm runter, und hilf mir mit Peg, ihr geht’s ziemlich schlecht« -, und ich weiß noch, wie ich dachte: »Was soll’s? Sie haben dich erwischt. Damit musst du dich abfinden, sie haben dich erwischt, und dies ist das Erste, woran sie für den Rest ihres Lebens denken werden, wenn sie an dich denken: Scott der Wichskünstler.«
Aber meistens schaltet sich in solchen Augenblicken eine Art Überlebens-Overdrive zu. So war es auch bei mir. Ich würde zwar untergehen, überlegte ich mir, aber nicht, ohne wenigstens versucht zu haben, mir meine Würde zu bewahren. Ich wischte die Fotos und den Slip unters Bett. Dann zog ich mich blitzschnell an, arbeitete mit tauben, aber griffsicheren Fingern und musste dabei die ganze Zeit an die verrückte alte Gameshow denken, die ich mir früher oft angesehen hatte: Beat the Clock.
Ich weiß noch, wie meine Mutter mein gerötetes Gesicht berührte, als ich nach unten kam, und erinnere mich an die nachdenkliche Besorgnis in ihrem Blick. »Vielleicht wirst du ja auch krank«, sagte sie.
»Schon möglich«, sagte ich, und das wäre mir nur recht gewesen. Erst eine halbe Stunde später entdeckte ich, dass ich vergessen hatte, den Reißverschluss meiner Hose hochzuziehen. Zum Glück merkten das weder Peg noch meine Mutter, obwohl bei jeder anderen Gelegenheit eine von ihnen oder beide mich gefragt hätten, ob ich eine Genehmigung als Hotdog-Verkäufer besäße (dergleichen galt in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, als witzig). An diesem Tag war eine von ihnen zu krank und die andere zu besorgt, um witzig zu sein. Also kam ich völlig ungeschoren davon.
Schwein gehabt.
 
Was an diesem Augusttag in meiner Wohnung auf die erste emotionale Welle folgte, war viel unkomplizierter: Ich glaubte, verrückt zu werden. Weil diese Brille nicht hier sein konnte. Absolut nicht. Unmöglich.
Dann hob ich den Kopf und sah noch etwas, das ganz sicher nicht in meiner Wohnung gewesen war, als ich eine halbe Stunde zuvor zu Staples aufgebrochen war (wobei ich wie immer die Tür hinter mir abgeschlossen hatte). In der Ecke zwischen Kochnische und Wohnzimmer lehnte ein Baseballschläger. Dem Etikett nach von Hillerich & Bradsby. Und obwohl ich die andere Seite nicht sehen konnte, wusste ich recht gut, was dort stand: SCHADENSREGULIERER, die Buchstaben mit einem Lötkolben ins Eschenholz gebrannt und dann dunkelblau eingefärbt.
Eine weitere Gefühlsregung durchflutete mich: eine dritte Welle. Das Ganze war eine Art surrealer Verzweiflung. Ich glaube nicht an Geister, aber in diesem Moment habe ich bestimmt ausgesehen, als hätte ich gerade einen erblickt.
So fühlte ich mich auch. Und wie! Diese Sonnenbrille musste nämlich schon lange hinüber sein – »Long-Time Gone«, wie die Dixie Chicks sagen. Ebenso Cleve Farrells Schadensregulierer. (»Besboll war serr gutt zu mir«, sagte Cleve manchmal, indem er an seinem Schreibtisch sitzend den Schläger über dem Kopf schwang. »Ver-SICH-erung war nix gutt.«)
Ich tat das Einzige, was mir einfiel: Ich schnappte mir Sonja D’Amicos Sonnenbrille, trabte damit zum Aufzug zurück und trug sie vor mir her, wie man etwas Unappetitliches tragen würde, das man nach einer einwöchigen Urlaubsreise auf dem Fußboden seiner Wohnung vorfindet: ein verdorbenes Stück Käse oder den Kadaver einer vergifteten Maus. Ich erinnerte mich unwillkürlich an ein Gespräch über Sonja, das ich mit einem Kerl namens Warren Anderson geführt habe. Sie muss ausgesehen haben, als wollte sie nochmal raufflitzen und fragen, ob jemand’ne Coca-Cola für sie hat, hatte ich gedacht, als Warren mir erzählte, was er gesehen hatte. Bei einem Drink im Blarney Stone Pub in der Third Avenue war das gewesen, ungefähr sechs Wochen nachdem der Himmel eingestürzt war. Nachdem wir darauf angestoßen hatten, dass wir nicht tot waren.
Solche Dinge haben eine eigene Art, sich einzuprägen, ob einem das gefällt oder nicht.Wie eine musikalische Phrase oder der Nonsensrefrain eines Popsongs, der einem einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Man wacht um drei Uhr morgens auf, weil man pinkeln muss, und während man mit dem Schwanz in der Hand und zu ungefähr zehn Prozent wach vor der Schüssel steht, fällt es einem plötzlich wieder ein: Als wollte sie nochmal raufflitzen. Raufflitzen und’ne Cola schnorren. Irgendwann im Verlauf dieses Gesprächs hatte Warren mich gefragt, ob ich mich an ihre komische Sonnenbrille erinnern könne, und ich hatte gesagt, das könne ich. Natürlich konnte ich das.
 
Vier Stockwerke tiefer stand Pedro, der Portier, im Schatten der Markise und unterhielt sich mit Rafe, dem FedEx-Mann. Pedro war unerbittlich, wenn es darum ging, wie lange Lieferwagen vor dem Gebäude halten durften – er hatte eine Siebenminutenregel, eine Taschenuhr, um ihre Einhaltung zu überwachen, und alle Streifenpolizisten waren seine Kumpel -, aber mit Rafe kam er gut aus, und manchmal standen die beiden da, steckten zwanzig Minuten oder noch länger die Köpfe zusammen und schwatzten nach alter New Yorker Art. Politik? Besboll? Das Evangelium des Henry David Thoreau? Ich wusste es nicht, und es war mir nie gleichgültiger als an jenem Tag. Sie waren da gewesen, als ich mit meinem Büromaterial nach oben gefahren war, und standen noch da, als ein weit weniger sorgenfreier Scott Staley wieder nach unten kam. Ein Scott Staley, der im Gefüge der Realität einen kleinen, aber deutlich wahrnehmbaren Riss entdeckt hatte. Allein dass die beiden da waren, genügte mir schon. Ich trat vor sie und streckte Pedro die rechte Hand hin, die mit der Sonnenbrille.
»Wie würden Sie das nennen?«, fragte ich, indem ich die beiden unterbrach, ohne mir die Mühe zu machen, mich zu entschuldigen oder sonst was.
Er musterte mich mit einem nachdenklichen Blick, der besagte: »Ihre Unhöflichkeit überrascht mich, Mr. Staley, wirklich wahr«, dann blickte er auf meine Hand hinunter. Als er sekundenlang nichts sagte, ergriff eine schreckliche Idee Besitz von mir: Er sah nichts, weil es nichts zu sehen gab. Bloß meine ausgestreckte Hand, als wäre heute Verkehrter Dienstag und ich erwartete ein Trinkgeld von ihm. Meine Hand war leer. Klar war sie das, sie musste leer sein, weil Sonja D’Amicos Sonnenbrille nicht mehr existierte. Sonjas Scherzbrille war echt long-time gone.
»Das nenne ich eine Sonnenbrille, Mr. Staley«, sagte Pedro schließlich. »Wie sollte ich’s sonst nennen? Oder ist das eine Art Fangfrage?«
Rafe, der FedEx-Mann, der eindeutig interessierter war, nahm sie mir aus der Hand. Meine Erleichterung darüber, ihn mit der Brille in der Hand dastehen und sie betrachten, sie fast studieren zu sehen, glich dem Gefühl, wie wenn jemand einem genau die Stelle zwischen den Schulterblättern kratzt, die grässlich juckt. Er trat unter der Markise hervor, hielt sie ins Tageslicht hoch und ließ von den herzförmigen Gläsern je einen Sonnenstern aufblitzen.
»Genau wie die, die das kleine Mädchen in diesem Pornofilm mit Jeremy Irons getragen hat«, sagte er schließlich.
Ich musste trotz meiner Sorge grinsen. In New York sind sogar die Ausfahrer Filmkritiker. Das gehört zu den Dingen, die ich an dieser Stadt liebe.
»Richtig, Lolita«, sagte ich und nahm die Brille wieder an mich. »Nur kommt die Sonnenbrille mit herzförmigen Gläsern in der Fassung vor, bei der Stanley Kubrick Regie geführt hat. Damals, als Jeremy Irons noch nichts anderes als ein Putter war.« Das war kaum verständlich (sogar für mich), aber mir war das scheißegal. Mir war wieder albern zumute … aber auf keine gute Art. Diesmal nicht.
»Wer hat in dem den Perversling gespielt?«, fragte Rafe.
Ich schüttelte den Kopf. »Hol mich der Teufel, wenn ich’s gerade weiß.«
»Nehmen Sie’s mir nicht übel«, sagte Pedro, »aber Sie sehen reichlich blass aus, Mr. Staley. Haben Sie sich irgendwas geholt? Vielleicht die Grippe?«
Nein, das war meine Schwester, hätte ich beinahe gesagt. An dem Tag, als ich nur etwa zwanzig Sekunden davon entfernt war, erwischt zu werden, wie ich mit dem Bild von Miss April vor Augen in ihren Slip masturbiere. Aber ich war nicht erwischt worden. Nicht damals und auch am 11. September nicht. Ätsch, reingelegt, wieder das Rennen gegen die Uhr gewonnen. Ich konnte nicht für Warren Anderson sprechen, der mir im Blarney Stone erzählt hatte, er habe an dem bewussten Morgen im zweiten Stock haltgemacht, um mit einem Freund über die Yankees zu reden, aber nicht erwischt zu werden, war regelrecht zu meiner Spezialität geworden.
»Mir fehlt nichts«, erklärte ich Pedro, und obwohl das nicht stimmte, bewirkte das Wissen, nicht der Einzige zu sein, der Sonjas Scherzbrille als einen tatsächlich auf der Welt existierenden Gegenstand wahrnahm, dass ich mich zumindest etwas besser fühlte. Wenn die Sonnenbrille existierte, galt das vermutlich auch für Cleve Farrells Hillerich & Bradsby-Schläger.
»Ist das die Brille?«, fragte Rafe plötzlich in respektvollem, fast ehrfürchtigem Ton. »Die aus dem ersten Lolita-Film?«
»Ach was«, sagte ich und klappte die Bügel hinter den herzförmigen Gläsern zusammen, und während ich das tat, kam mir plötzlich der Name des Mädchens in der Kubrick-Verfilmung in den Sinn: Sue Lyon. Wer den Perversling spielte, fiel mir immer noch nicht ein. »Bloß’ne Imitation.«
»Ist an der was Besonderes dran?«, wollte Rafe wissen. »Sind Sie deshalb hier runtergerannt gekommen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Irgendwer hat sie in meiner Wohnung zurückgelassen.«
Ich fuhr wieder hinauf, bevor sie weitere Fragen stellen konnten, und sah mich in der Hoffnung um, es gebe keine weiteren Dinge zu entdecken. Aber es gab welche. Außer der Sonnenbrille und dem Baseballschläger mit dem seitlich eingebrannten Wort SCHADENSREGULIERER fand ich ein Furzkissen der Marke Howie’s Laff-Riot, eine große Schneckenmuschel, ein in einem Plexiglaswürfel eingegossenes Centstück aus Stahl und einen Keramikpilz (rot mit weißen Punkten), auf dessen Hut eine Keramik-Alice saß. Das Furzkissen hatte Jimmy Eagleton gehört und war jedes Jahr auf der Weihnachtsfeier ein paarmal zum Einsatz gekommen. Die Keramik-Alice hatte auf Maureen Hannons Schreibtisch gestanden – ein Geschenk von ihrer Enkelin, hatte sie mir einmal erzählt. Maureen hatte wunderschönes weißes Haar, das sie sehr lang, sogar taillenlang trug. Das sieht man in einem geschäftlichen Umfeld selten, aber sie war seit fast vierzig Jahren bei der Firma und fand, sie könne ihr Haar tragen, wie es ihr passe. Auch an die Schneckenmuschel und das stählerne Centstück konnte ich mich erinnern, wusste aber nicht mehr, auf wessen Schreibtisch (oder in wessen Büro) ich die beiden Dinge gesehen hatte. Das konnte mir noch einfallen – oder auch nicht. Bei Light and Bell, Versicherungen, hatte es viele Schreibtische (und Büros) gegeben.
Die Schneckenmuschel, der Pilz und der Plexiglaswürfel bildeten einen ordentlichen kleinen Haufen auf dem Couchtisch in meinem Wohnzimmer. Das Furzkissen lag – völlig zu Recht, wie ich fand – auf dem Spülkasten meiner Toilette neben der neuesten Ausgabe von Spenck’s Rural Insurance Newsletter. Dass landwirtschaftlicheVersicherungen früher mein Fachgebiet waren, habe ich schon erwähnt, glaube ich. Ich kannte mich gut mit Wahrscheinlichkeitsrechnung aus.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit hierfür?
 
Wenn im Leben einmal etwas schiefgeht und man das Bedürfnis hat, darüber zu reden, dürfte die erste Regung den meisten Leuten eingeben, jemanden aus der Familie anzurufen. Für mich war das keine ernsthafte Option. Mein Vater hatte sich auf Französisch verabschiedet, als ich zwei war und meine Schwester vier. Meine Mutter, garantiert keine Drückebergerin, war allein durchgestartet und hatte uns zwei großgezogen, während sie von zu Hause aus die Verrechnungsstelle eines Versandhauses leitete. Meines Wissens hatte sie dieses Geschäft selbst aufgebaut und lebte nicht schlecht davon (nur das erste Jahr sei wirklich beängstigend gewesen, erzählte sie mir später). Aber sie qualmte wie ein Schlot und starb mit achtundvierzig an Lungenkrebs – sechs bis acht Jahre bevor das Internet sie zu einer Dot-Com-Millionärin gemacht hätte.
Meine Schwester Peg lebte zurzeit in Cleveland, wo sie Mary Kay Cosmetics, die Indianer und fundamentales Christentum in die Arme geschlossen hatte, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Hätte ich Peg angerufen und ihr von den Dingen erzählt, die ich in meiner Wohnung vorgefunden habe, hätte sie mir geraten, niederzuknien und Jesus zu bitten, in mein Leben zu kommen. Ob das nun richtig war oder nicht: Ich hatte nicht das Gefühl, dass Jesus mir bei meinem gegenwärtigen Problem helfen könnte.
Ich besaß die übliche Ausstattung an Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen, aber die meisten lebten westlich des Mississippi, und wir hatten uns schon jahrelang nicht mehr gesehen. Die Killians (meineVerwandten mütterlicherseits) haben nie viel von Familientreffen gehalten. Eine Karte zum Geburtstag und eine zu Weihnachten galten als ausreichend, um alle familiären Verpflichtungen zu erfüllen. Eine Karte zum Valentinstag oder zu Ostern war dann sozusagen eine Dreingabe. An Weihnachten rief ich meine Schwester an, oder sie rief mich an, wir murmelten den Standardscheiß, dass wir uns »demnächst mal« treffen müssten, und legten dann beide irgendwie erleichtert auf.
Die nächste Option, wenn man in der Klemme saß, bestand vermutlich darin, einen guten Freund zu einem Drink in einer Bar einzuladen, ihm die Lage zu schildern und dann seinen Rat zu erbitten. Aber ich war ein schüchterner Junge, der zu einem schüchternen Mann herangewachsen war, arbeite in meinem jetzigen Beruf als Rechercheur allein (weil mir das am liebsten ist) und habe also keine Kollegen, die sich zu Freunden entwickeln könnten. In meinem vorigen Beruf war ich mit ein paar Kollegen befreundet – mit Cleve Farrell und Sonja, um nur zwei zu nennen -, aber die sind jetzt natürlich tot.
 
Wenn ich schon keinen Freund hatte, überlegte ich mir, sei es das Nächstbeste, sich einen zu mieten. Eine kleine Therapie konnte ich mir durchaus leisten, und ich glaubte, ein paar Sitzungen (vier würden vielleicht genügen) auf der Couch irgendeines Psychiaters gäben mir ausreichend Gelegenheit, die Ereignisse zu schildern und zu artikulieren, was ich dabei empfand. Wie viel würde ich für vier Sitzungen berappen müssen? Sechshundert Dollar? Vielleicht achthundert? Das erschien mir als fairer Preis für etwas Erleichterung. Und ich hielt sogar einen Bonus für möglich. Vielleicht würde ein unbeteiligter Außenstehender eine unkomplizierte, vernünftige Erklärung sehen können, die mir einfach entging. Meiner Ansicht nach schien die abgesperrte Tür zwischen meiner Wohnung und der Außenwelt solche Erklärungen weitgehend auszuschließen, aber so dachte eben ich; war das nicht der springende Punkt? Und vielleicht das Problem?
Ich hatte mir schon alles zurechtgelegt. Bei der ersten Sitzung würde ich erklären, was passiert war. Zur zweiten würde ich die betreffenden Dinge mitbringen: Sonnenbrille, Plexiglaswürfel, Schneckenmuschel, Baseballschläger, Keramikpilz, das allseits beliebte Furzkissen. Ein bisschen Herzeigen und Erzählen, genau wie in der Grundschule. Danach blieben meinem Mietfreund und mir zwei weitere Sitzungen, in denen wir die Ursache dieser beängstigenden Schieflage meiner Lebensachse ergründen und die Dinge wieder ins Lot bringen konnten.
Ein einziger Nachmittag, den ich damit verbrachte, in den Gelben Seiten blätternd Telefonnummern zu wählen, genügte, um mir zu beweisen, dass meine Idee, zu einem Psychiater zu gehen, sich in der Praxis nicht verwirklichen ließ, so gut sie theoretisch auch klingen mochte. Einer tatsächlichen Terminvereinbarung am nächsten kam ich, als eine Sprechstundenhilfe mir erklärte, Dr. Jauss könne mich vielleicht im kommenden Januar einschieben. Selbst das werde noch raffiniertes Jonglieren mit Terminen erfordern, deutete sie an. Die anderen machten mir alle nicht die geringste Hoffnung. Ich versuchte es mit einem halben Dutzend Therapeuten in Newark und vier in White Plains, sogar mit einem Hypnotiseur im Stadtteil Queens, immer mit demselben Ergebnis. Mohammed Atta und seine Selbstmörderpatrouille mochten für die Stadt New York (von der Ver-SICH-erungs-Branche ganz zu schweigen) nix gutt gewesen sein, aber nach diesem einen erfolglos vertelefonierten Nachmittag war mir klar, dass sie für den Berufsstand der Psychiater ein Segen gewesen waren, auch wenn die Psychiater vielleicht darunter stöhnten. Wenn man im Sommer 2002 auf der Couch irgendeines Mannes vom Fach liegen wollte, musste man eine Nummer ziehen und sich anstellen.
 
Ich konnte mit diesen Dingen in meiner Wohnung schlafen, aber nicht gut. Sie flüsterten mir zu. Ich lag wach im Bett, manchmal bis zwei, und dachte über Maureen Hannon nach, die fand, sie habe ein Alter erreicht (von einem Grad an Unersetzlichkeit ganz zu schweigen), in dem sie ihr erstaunlich langes Haar auf jede verdammte Weise tragen konnte, die ihr beliebte. Oder ich erinnerte mich an die verschiedenen Leute, die auf der Weihnachtsfeier herumgelaufen waren und Jimmy Eagletons berühmtes Furzkissen geschwenkt hatten. Wie ich vielleicht schon erwähnt habe, war es sehr beliebt, sobald die Leute um zwei oder drei Drinks näher an Silvester herangerückt waren. Ich wusste noch, wie Bruce Mason mich gefragt hat, ob es nicht wie ein Klistierbeutel für Elfen – »für Elfm«, sagte er – aussehe, und durch irgendeinen Assoziationsprozess fiel mir ein, dass die Schneckenmuschel ihm gehört hatte. Natürlich. Bruce Mason, Herr der Fliegen. Und einen Schritt tiefer in der Assoziationskette fand ich Namen und Gesicht von James Mason, der damals Humbert Humbert gespielt hatte, als Jeremy Irons noch nichts anderes als ein Putter gewesen war. Der Verstand ist ein gerissener Affe – manchmal nimmt-a de Banana, manchmal nimmt-a se nich. Deshalb war ich mit der Sonnenbrille hinuntergegangen, obwohl ich mir zu diesem Zeitpunkt keines deduktiven Prozesses bewusst gewesen war. Ich wollte nur eine Bestätigung. Ein Gedicht von Giorgos Seferis fragt: Sind das die Stimmen deiner toten Freunde, oder ist das nur das Grammophon? Das ist manchmal eine gute Frage, die man anderen stellen muss. Oder... man höre sich Folgendes an.
In den späten achtziger Jahren, gegen Ende meiner bitteren zweijährigen Romanze mit dem Alkohol, wachte ich einmal in meinem Arbeitszimmer auf, nachdem ich mitten in der Nacht am Schreibtisch eingedöst war. Ich torkelte ins Schlafzimmer, in dem ich jemanden sich bewegen sah, als ich nach dem Lichtschalter griff. Ich hatte sofort die Vorstellung (praktisch die Gewissheit) von einem drogensüchtigen Einbrecher mit einem billigen.32er Revolver vom Pfandleiher in der zitternden Hand, und mein Herz hämmerte zum Zerspringen. Ich machte mit der einen Hand Licht und tastete mit der anderen nach etwas Schwerem auf der Kommode – alles, sogar der Silberrahmen mit dem Bild meiner Mutter wäre mir recht gewesen -, als ich merkte, dass der Eindringling ich selbst war. Mein Spiegelbild mit halb aus der Hose gerutschtem Hemd und am Hinterkopf hochstehendem Haar starrte mich mit wildem Blick aus dem Spiegel an der Wand gegenüber an. Ich war von mir selbst angewidert, aber auch erleichtert.
Ich wollte, dass es jetzt genauso wäre. Ich wünschte mir den Spiegel, das Grammophon, sogar jemanden, der mir einen üblen Streich spielte (vielleicht jemanden, der wusste, weshalb ich an jenem Tag im September nicht im Büro gewesen war). Aber ich wusste, dass nichts dergleichen infrage kam. Das Furzkissen war hier, ein wirklicher Gast in meiner Wohnung. Ich konnte mit dem Daumen über die Schnallen auf Alice’ Keramikschuhen fahren, mit der Fingerspitze den Scheitel ihrer gelben Keramikhaare nachziehen. Ich konnte das Prägejahr auf dem Centstück in dem Plexiglaswürfel lesen.
Im Juli nahm Bruce Mason, alias der Schneckenmuschelmann, alias der Herr der Fliegen, seine große rosa Schneckenmuschel zum Betriebsausflug nach Jones Beach mit und blies dort darauf wie auf einem Horn, um die Leute zu einem fröhlichen Mittagspicknick mit Hotdogs und Hamburgern zu rufen. Anschließend versuchte er, Freddy Lounds beizubringen, wie man darauf blies. Das Beste, was Freddy herausgebracht hatte, war eine Serie von schwachen Huptönen gewesen, die wie … nun, wie Jimmy Eagletons Furzkissen geklungen hatten. So schließt sich der Kreis. Letztlich bildet jede assoziative Kette ein Halsband.
 
Ende September hatte ich einen genialen Einfall, eine dieser Ideen, die so einfach sind, dass man kaum glauben kann, dass man nicht schon früher darauf gekommen ist.Weshalb behielt ich diesen unwillkommenen Scheiß überhaupt bei mir? Wieso beseitigte ich ihn nicht einfach? Schließlich war es nicht so, als hätte ich diese Sachen in Verwahrung genommen; die Leute, denen sie gehörten, würden nicht irgendwann später aufkreuzen und ihre Rückgabe verlangen. Cleve Farrells Gesicht habe ich zuletzt auf einem Poster gesehen, und die letzten dieser Plakate waren bis November 2001 abgenommen worden. Das allgemeine (wenn auch unausgesprochene) Gefühl war, solche selbst gestalteten ehrenden Nachrufe vergraulten die Touristen, die in dünnen Rinnsalen in die Fun City zurückzukehren begannen. Was passiert war, war schrecklich, fanden die meisten New Yorker, aber Amerika war noch da, und Matthew Broderick würde nicht unbegrenzt lange in The Producers mitspielen.
An diesem Abend hatte ich mir chinesisches Essen aus einem zwei Blocks entfernten Lokal geholt, das ich mochte. Ich hatte vor, mein Abendessen wie gewohnt einzunehmen: während ich zusah und hörte, wie Chuck Scarborough mir die Welt erklärte. Ich stellte gerade den Fernseher an, als mir die Erleuchtung kam. Sie waren mir nicht anvertraut worden, diese unwillkommenen Erinnerungsstücke an den letzten sicheren Tag, noch waren sie Beweismittel. Ein Verbrechen war verübt worden, ja – darüber waren sich alle einig -, aber die Täter waren tot, und ihre Hintermänner, die sie auf ihren verrückten Weg gebracht hatten, befanden sich auf der Flucht. Vielleicht würde es später Prozesse geben, aber Scott Staley würde niemals in den Zeugenstand gerufen, Jimmy Eagletons Furzkissen niemals als Beweisstück A gekennzeichnet werden.
Ich ließ mein General Tso’s Chicken mit noch ungeöffneter Aluschale auf der Küchentheke stehen, holte einen Wäschesack aus dem Regal über meiner selten benutzten Waschmaschine, legte die Dinge hinein (als ich sie einsackte, konnte ich kaum glauben, wie leicht sie waren oder wie lange ich gewartet hatte, um etwas so Einfaches zu tun) und fuhr mit dem zwischen meinen Füßen stehenden Sack mit dem Aufzug hinunter. Ich ging zur Ecke 75th Street und Park Avenue, vergewisserte mich mit einem Blick in die Runde, dass ich nicht beobachtet wurde (weiß der Teufel, weshalb ich mich so schuldbewusst fühlte, aber so war das nun mal), und stopfte dann den Abfall in den dafür vorgesehenen Behälter. Als ich wegging, sah ich mich nochmals um. Der Schlägergriff ragte einladend aus dem Abfallkorb. Jemand würde vorbeikommen und ihn mitnehmen, das bezweifelte ich nicht. Wahrscheinlich bevor Chuck Scarborough an John Seigenthaler – oder wer sonst an diesem Abend Tom Brokaw vertrat – übergab.
Auf dem Heimweg kehrte ich im Fun Choy ein, um eine frische Portion von General Tso’s Chicken mitzunehmen. »Letzte nicht gut?«, fragte Rose Ming an der Kasse. Das klang leicht besorgt. »Sie sagen, warum.«
»Nein, die letzte war in Ordnung«, sagte ich. »Ich hatte heute Abend nur Lust auf zwei.«
Sie lachte, als wäre dies das Komischste, was sie je gehört hätte, und ich lachte mit. Schallend laut. Die Art Lachen, die weit über Albernheit hinausgeht. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich zuletzt so gelacht hatte, so laut und so natürlich. Bestimmt nicht mehr, seit Light and Bell,Versicherungen, auf die West Street gestürzt war.
Ich fuhr mit dem Aufzug in mein Stockwerk hinauf und ging die zwölf Schritte zu 4-B. Ich fühlte mich, wie Schwerkranke sich fühlen müssen, wenn sie eines Morgens erwachen, sich im nüchternen Licht des Tages begutachten und entdecken, dass das Fieber überstanden ist. Ich klemmte mir die Essenstüte unter den linken Arm (eine linkische Haltung, aber für kurze Zeit praktikabel) und sperrte dann die Tür auf. Ich machte Licht. Dort, auf dem Tisch mit Rechnungen, die bezahlt werden mussten, Abholscheinen und Mahnungen für überfällige Bibliotheksbücher, lag Sonja D’Amicos Scherzsonnenbrille, die mit dem roten Gestell und den herzförmigen Lolita-Gläsern. Sonja D’Amico, von der Warren Anderson (der meines Wissens einzige weitere überlebende Angestellte aus dem Hauptsitz von Light and Bell) mir erzählt hat, sie sei aus dem hundertzehnten Stock des brennenden Gebäudes gesprungen.
Er behauptete, ein Foto gesehen zu haben, das ihren Sturz festhielt: Sonja, deren Hände sittsam ihren Rock festhielten, damit er nicht über die Schenkel hochgeweht wurde, ihr Haar vor dem Rauch und dem blauen Himmel jenes Tages zu Berge stehend, ihre Schuhspitzen nach unten zeigend. Bei dieser Beschreibung musste ich an das Gedicht Falling denken, das James Dickey über eine Stewardess geschrieben hat, die mit ihrem wie ein Stein fallenden Körper irgendwo Wasser zu treffen versucht, als könnte sie lächelnd daraus auftauchen, sich Wasserperlen aus dem Haar schütteln und eine Coca-Cola verlangen.
»Ich hab mich übergeben müssen«, hatte Warren mir damals im Blarney Stone erzählt. »Ich will niemals mehr ein Foto dieser Art sehen, Scott, aber ich weiß, dass ich’s nie vergessen werde. Man konnte ihr Gesicht erkennen, und ich denke, sie hat geglaubt, irgendwie … jawohl, irgendwie werde alles gut ausgehen.«
 
Ich habe als Erwachsener nie laut gekreischt, aber nun tat ich es beinahe, als ich von Sonjas Sonnenbrille zu Cleve Farrells Schadensregulierer hinübersah, Letzterer lehnte wieder nonchalant in der Ecke am Durchgang zum Wohnzimmer. Irgendein Teil meines Verstands muss sich daran erinnert haben, dass die Tür zum Flur offen stand und beide Nachbarn im vierten Stock mich hören würden, wenn ich kreischte; dann wären ein paar Erklärungen fällig gewesen, wie man so schön sagt.
Ich schlug mir eine Hand vor den Mund, um den Aufschrei zurückzuhalten. Die Tüte mit General Tso’s Chicken fiel auf den Hartholzboden der Diele und platzte auf. Ich konnte mich kaum dazu überwinden, die Schweinerei vor meinen Füßen anzusehen. Diese dunklen Klumpen aus gekochtem Fleisch hätten alles Mögliche sein können.
Ich ließ mich auf den einzelnen Stuhl fallen, den ich in der Diele stehen habe, und verbarg das Gesicht in den Händen. Ich kreischte nicht und ich weinte nicht, und nach einiger Zeit war ich imstande, die Schweinerei aufzuwischen. Mein Verstand wollte ständig zu den Dingen zurück, die mich auf dem Heimweg von der Ecke 75th Street und Park Avenue überholt hatten, aber das ließ ich nicht zu. Immer wenn er versuchte, in diese Richtung auszubrechen, riss ich ihn an der Leine zurück.
In dieser Nacht hörte ich, während ich im Bett lag, Gesprächen zu. Erst sprachen die Dinge (mit leisen Stimmen), und dann antworteten die Leute, denen sie gehört haben (mit etwas lauteren Stimmen). Manchmal sprachen sie über das Picknick in Jones Beach – über den Kokosnussduft von Sonnenmilch und wie aus Misha Bryzinskis Lautsprecher immer wieder Lou Begas »Mambo No. 5« gekommen war. Oder sie sprachen über Frisbees, die unter dem Himmel segelten, während sie von Hunden gejagt wurden. Manchmal diskutierten sie auch über Kinder, die in Shorts und Badeanzügen mit herabhängendem Hosenboden im nassen Sand buddelten. Mütter in Badeanzügen, die sie aus dem Katalog von Land’s End bestellt hatten, gingen mit weißen Klecksen Sonnencreme auf der Nase neben ihnen her. Wie viele Kinder jenes Tages hatten eine sie behütende Mama oder einen frisbeewerfenden Dad verloren? Mann, das war eine Rechenaufgabe, die ich nicht zu lösen versuchen wollte. Aber die Stimmen, die ich in meiner Wohnung hörte, wollten sie lösen. Sie versuchten es immer wieder.
Ich erinnerte mich, wie Bruce Mason auf seiner Schneckenmuschel geblasen und sich zum Herrn der Fliegen ausgerufen hatte. Ich erinnerte mich, wie Maureen Hannon mir einmal erklärt hat (nicht in Jones Beach, nicht bei dieser Gelegenheit), Alice im Wunderland sei der erste psychedelische Roman gewesen. Und wie Jimmy Eagleton mir eines Nachmittags erzählt hat, sein Sohn sei nicht nur Stotterer, sondern leide auch an Lernschwäche, zwei zum Preis von einem, und der Junge werde einen Nachhilfelehrer für Mathe und einen weiteren für Französisch brauchen, um in absehbarer Zukunft die Highschool absolvieren zu können. »Bevor er Anspruch auf den Seniorenrabatt für Schulbücher hat«, wie Jimmy es ausgedrückt hatte. Seine Wangen waren in der schrägen Nachmittagssonne blass und ein wenig stoppelig, als wäre sein Rasierer an diesem Morgen stumpf gewesen.
Ich war allmählich in Schlaf abgedriftet, aber das ließ mich schlagartig wieder hellwach werden, weil mir klarwurde, dass dieses Gespräch nicht lange vor dem 11. September stattgefunden haben musste.Vielleicht nur wenige Tage davor.Vielleicht sogar am Freitag davor, das heißt am allerletzten Tag, an dem ich Jimmy lebend gesehen habe. Und der kleine Scheißer, der stotterte und lernschwach war: Hatte er tatsächlich Jeremy geheißen, wie Jeremy Irons? Bestimmt nicht, sicher war das nur mein Verstand (manchmal nimmt-a de Banana), der seine Spielchen trieb, aber sein Name hat bei Gott ähnlich geklungen. Vielleicht Jason. Oder Justin. In den ersten Morgenstunden wirkt alles übersteigert, und ich weiß noch, wie ich mir überlegte, dass ich wahrscheinlich überschnappen würde, wenn sich herausstellte, dass der Junge tatsächlich Jeremy hieß. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat, Baby.
Gegen drei Uhr morgens fiel mir ein, wem der Plexiglaswürfel mit dem eingegossenen Centstück gehört hatte: Roland Abelson aus der Haftpflichtabteilung. Er nannte es seinen Pensionsfonds. Es war Roland gewesen, der oft gesagt hatte: »Lucy, jetzt sind ein paar Erklärungen fällig.« Eines Abends im Herbst 2001 hatte ich seine Witwe in den 18-Uhr-Nachrichten im Fernsehen gesehen. Ich hatte mich bei einem der Firmenpicknicks (sehr wahrscheinlich bei dem in Jones Beach) mit ihr unterhalten und sie hübsch gefunden, aber die Witwenschaft hatte diese Hübschheit verfeinert, sie in wirkliche Schönheit verwandelt. In der Nachrichtensendung bezeichnete sie ihren Mann stets nur als »vermisst«; sie weigerte sich, ihn als »tot« zu bezeichnen. Und wenn er überlebt hatte – wenn er jemals wieder auftauchte -, würden ein paar Erklärungen fällig sein. Garantiert. Aber natürlich auch von ihrer Seite. Eine hübsche Frau, die sich als Ergebnis eines Massenmords in eine Schönheit verwandelt hat, würde bestimmt einiges erklären müssen.
Im Bett zu liegen und an dieses Zeug zu denken – mich ans Donnern der Brandung in Jones Beach und die unter dem Himmel fliegenden Frisbees zu erinnern -, erfüllte mich mit schrecklicher Traurigkeit, die sich zuletzt in Tränen Bahn brach. Aber ich muss gestehen, dass das eine lehrreiche Erfahrung war. Dies war die Nacht, in der ich verstehen lernte, dass Dinge – sogar Kleinigkeiten wie ein Centstück in einem Plexiglaswürfel – im Lauf der Zeit schwerer werden können. Aber weil dieses Gewicht auf dem Verstand lastet, gibt es dafür keine mathematische Formel von der Art, wie man sie in den Risikotabellen von Versicherungen finden kann, nach denen die Prämien jemandes Lebensversicherung sich um x erhöhen, wenn man Raucher ist, und die für jemandes Ernteausfallversicherung um y, wenn die Farm desjenigen in einer Tornadozone liegt. Ist es verständlich, was ich damit meine?
Eine schwere Last auf dem Verstand.
 
Am folgenden Morgen sammelte ich wieder alle Dinge ein und fand dabei ein siebtes, diesmal unter der Couch. Der Typ einen Schreibtisch weiter, Misha Bryzinski, hatte zwei Puppen – Punch und Judy – auf seinem Schreibtisch stehen gehabt. Die eine, die ich unter meinem Sofa erspähte, war Punch. Judy war nirgends zu finden, aber Punch genügte mir. Diese schwarzen Augen, die mich zwischen den Wollmäusen hervor anstarrten, weckten in mir ein schrecklich flaues Gefühl der Verzweiflung. Ich angelte die Puppe heraus und hasste den Staubstreifen, den sie hinterließ. Ein Ding, das eine Spur hinterlässt, ist ein reales Ding, ein Ding mit Gewicht. Gar keine Frage.
Ich legte Punch und die restlichen Sachen in den kleinen Besenschrank gleich neben der Kochnische, und dort blieben sie. Anfangs war ich mir nicht sicher, ob sie das tun würden, aber sie taten es.
 
Meine Mutter hat einmal behauptet, wenn ein Mann sich den Hintern abwische und Blut am Klopapier sehe, würde er die folgenden dreißig Tage lang im Dunkeln scheißen und das Beste hoffen. Sie benutzte dieses Beispiel, um ihre Überzeugung zu untermauern, der Eckstein männlicher Philosophie sei: »Ignoriert man etwas, gibt es sich vielleicht von selbst.«
Ich ignorierte die Dinge, die ich in meiner Wohnung gefunden hatte, ich hoffte aufs Beste, und die Situation besserte sich tatsächlich etwas. Ich hörte die im Besenschrank flüsternden Stimmen kaum noch (außer spätnachts), tendierte jedoch mehr und mehr dazu, meine Recherchen außer Haus anzustellen. Bis Mitte November verbrachte ich meine Tage meistens in der New York Public Library. Ich bin mir sicher, dass die Löwen sich daran gewöhnten, mich dort mit meinem PowerBook zu sehen.
Dann, kurz vor Thanksgiving, ging ich eines Tages aus dem Haus und begegnete Paula Robeson – der holden Maid, die ich durch Drücken des Neustartknopfs ihres Airconditioners gerettet hatte -, als sie eben hereinkam.
Ohne die geringste vorherige Überlegung – hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken, hätte ich bestimmt kein Wort herausgebracht – fragte ich sie, ob ich sie zum Mittagessen einladen und etwas mit ihr besprechen könne.
»In Wahrheit«, sagte ich, »habe ich ein Problem. Vielleicht könnten Sie meinen Neustartknopf drücken.«
Wir standen in der Eingangshalle. Der Portier Pedro saß in der Ecke und las die Post (und belauschte ganz sicher jedes Wort – tagsüber lieferten seine Hausbewohner ihm die interessantesten Dramen). Sie bedachte mich mit einem Lächeln, das freundlich und nervös zugleich war. »Ich schulde Ihnen einen Gefallen, glaube ich«, sagte sie, »aber … Sie wissen, dass ich verheiratet bin, nicht wahr?«
»Ja«, sagte ich, ohne hinzuzufügen, dass sie mir die falsche Hand gegeben hatte, damit mir der Ring kaum hatte entgehen können.
Sie nickte. »Klar, Sie müssen uns ein paarmal miteinander gesehen haben, aber er war in Europa, als ich all diese Probleme mit dem Airconditioner hatte, und er ist jetzt wieder in Europa. Edward, so heißt er. In den letzten zwei Jahren ist er mehr in Europa als hier gewesen, und obwohl mir das nicht gefällt, bin ich trotzdem sehr verheiratet.« Dann fügte sie hinzu, als wäre ihr das nachträglich eingefallen: »Edward ist im Import-Export-Geschäft.«
Ich war in der Versicherungsbranche, aber dann ist die Firma eines Tages explodiert, lag es mir auf der Zunge. Zuletzt brachte ich doch etwas heraus, das ein wenig vernünftiger klang.
»Ich will nicht mit Ihnen anbändeln, Ms. Robeson.« Genauso wenig, wie ich es darauf anlegte, dass wir uns mit Vornamen ansprachen, und war das eine Spur von Enttäuschung, die ich in ihrem Blick sah? Bei Gott, das glaubte ich wirklich. Aber wenigstens überzeugte sie das. Ich war weiterhin ungefährlich.
Sie stemmte die Arme in die Hüften und musterte mich mit gespielter Verzweiflung. Oder vielleicht mit nicht so sehr gespielter. »Schön, was wollen Sie also?«
»Nur jemanden, mit dem ich reden kann. Ich hab’s bei mehreren Seelenklempnern versucht, aber die sind … ausgebucht.«
»Alle?«
»Scheint so.«
»Falls Sie Probleme mit Ihrem Sexleben haben oder den Drang verspüren, durch die Stadt zu rennen und Männer mit Turbanen zu ermorden, will ich nichts davon hören.«
»Es geht um nichts dergleichen. Ich werde Sie nicht erröten lassen, Ehrenwort.« Was nicht ganz dasselbe war, wie wenn ich gesagt hätte: Ich verspreche, Sie nicht zu schockieren oder Sie werden mich nicht für verrückt halten. »Nur Lunch und einen guten Rat, mehr will ich nicht. Also, was sagen Sie dazu?«
Ich staunte – war geradezu platt – über die eigene Überzeugungskraft. Hätte ich dieses Gespräch im Voraus geplant, hätte ich das Ganze vermurkst. Ich nehme an, sie war neugierig, und bin mir sicher, dass sie eine gewisse Aufrichtigkeit in meiner Stimme hörte.Außerdem hatte sie sich bestimmt schon gesagt, wenn ich einer dieser Männer wäre, die sich einen Spaß daraus machen, Frauen aufzureißen, hätte ich es wohl an jenem Augusttag versucht, an dem ich in ihrer Wohnung mit ihr allein gewesen war – der schwer zu fassende Edward aber in Frankreich oder Deutschland. Und ich fragte mich natürlich, wie viel echte Verzweiflung sie in meinem Gesicht sah.
Jedenfalls erklärte sie sich einverstanden, am Freitag mit mir in Donald’s Grill in unserer Straße zu Mittag zu essen. Donald’s ist vermutlich das unromantischste Restaurant in ganz Manhattan – gutes Essen, Neonröhren und Kellner, die einem zu verstehen geben, dass man sich gefälligst beeilen soll. Das tat sie mit der Miene einer Frau, die eine überfällige Schuld begleicht, die sie fast vergessen hat. Das war nicht gerade schmeichelhaft, aber mir genügte es. Mittag sei ihr recht, sagte sie.Wenn ich in der Eingangshalle auf sie wartete, könnten wir miteinander hingehen. Ich erklärte ihr, das sei auch mir recht.
Die folgende Nacht war für mich eine gute. Ich schlief fast sofort ein, und es gab keine Träume von Sonja D’Amico, die mit den Händen an ihren Schenkeln wie eine Stewardess auf der Suche nach Wasser an dem brennenden Gebäude vorbei in die Tiefe stürzte.
 
Als wir am folgenden Tag die 86th Street hinunterschlenderten, fragte ich Paula, wo sie gewesen sei, als sie es gehört habe.
»San Francisco«, sagte sie. »Habe fest in einer Suite im Hotel Wradling mit Edward neben mir geschlafen, der zweifellos wie üblich geschnarcht hat. Ich wollte am zwölften September hierher zurückfliegen, und Edward musste zu Besprechungen nach Los Angeles. Die Hoteldirektion hat doch tatsächlich Feueralarm ausgelöst.«
»Das muss ein Mordsschreck für Sie gewesen sein.«
»Allerdings, obwohl ich im ersten Augenblick nicht an einen Brand, sondern an ein Erdbeben gedacht habe. Dann ist diese körperlose Stimme aus den Lautsprechern gekommen und hat uns mitgeteilt, dass es im Hotel kein Feuer gibt, aber dafür ein verdammt großes in New York.«
»Jesus.«
»Die Nachricht so zu hören, im Bett in einem fremden Zimmer … sie von der Decke herab zu hören, als würde Gottes Stimme sprechen …« Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte die Lippen so fest zusammengepresst, dass ihr Lippenstift fast verschwand. »Das war sehr beängstigend. Ich verstehe irgendwie den Drang, eine Nachricht dieser Art sofort weiterzugeben, aber ich habe der Direktion des Wradling noch immer nicht ganz verziehen, dass sie diese Methode gewählt hat. Ich glaube nicht, dass ich dort nochmal übernachten werde.«
»Ist Ihr Mann zu seinen Besprechungen gereist?«
»Die wurden abgesagt.An diesem Tag sind viele Besprechungen abgesagt worden, vermute ich mal.Wir sind bei laufendem Fernseher bis Sonnenaufgang im Bett geblieben und haben versucht, das Geschehene zu begreifen. Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja.«
»Wir haben auch darüber gesprochen, wer dort gewesen sein könnte, den wir kennen. Ich vermute, dass wir nicht die Einzigen waren, die das getan haben.«
»Ist Ihnen jemand eingefallen?«
»Ein Makler von Shearson Lehman und der zweite Geschäftsführer der Buchhandlung Borders im Einkaufszentrum«, sagte sie. »Einer der beiden ist heil davongekommen. Einer der beiden … nun, Sie wissen schon, einer hatte Pech. Und wie war’s bei Ihnen?«
Also musste ich mich dem Thema doch nicht auf Umwegen annähern. Wir waren noch nicht einmal im Restaurant, und schon war es aufs Tapet gekommen.
»Ich wäre dort gewesen«, sagte ich. »Ich hätte dort sein sollen. Ich habe dort gearbeitet. Bei einer Versicherung im hundertzehnten Stock.«
Sie blieb auf dem Gehsteig abrupt stehen und sah mit weit aufgerissenen Augen zu mir auf. Für die Leute, die einen Bogen um uns machen mussten, sahen wir vermutlich wie ein Liebespaar aus. »Scott, nein!«
»Scott, ja«, sagte ich. Und erzählte endlich jemandem, wie ich am 11. September aufgewacht war und damit gerechnet hatte, alles das zu tun, was ich normalerweise an Werktagen tat: von der Tasse schwarzen Kaffee beim Rasieren bis zum Becher Kakao vor der Nachrichtenrundschau auf Channel Thirteen. Ein Tag wie jeder andere, an mehr dachte ich nicht. Das hatten wir Amerikaner uns angewöhnt, für unser gutes Recht zu halten, glaube ich. Aber sieh nur! Das ist ein Flugzeug! Es fliegt gegen einen Wolkenkratzer! Haha, Arschloch, der Spaß geht auf deine Kosten, und die halbe gottverdammte Welt lacht!
Ich erzählte ihr, wie ich bei einem Blick aus meinem Fenster gesehen habe, dass der Morgenhimmel um sieben Uhr völlig wolkenlos war: von der Art Blau, die so tief ist, dass man sich fast einbilden kann, die Sterne dahinter zu sehen. Dann erzählte ich ihr von der Stimme. Jeder von uns hat verschiedene Stimmen im Kopf, glaube ich, und wir gewöhnen uns an sie. Als ich sechzehn war, meldete sich eine von ihnen und flüsterte mir, es könnte echt geil sein, in einen Slip meiner Schwester zu masturbieren. Sie hat ungefähr tausend Stück und merkt bestimmt nicht, wenn einer fehlt, Mann, behauptete die Stimme. (Von diesem speziellen Jugendabenteuer erzählte ich Paula Robeson nichts.) Ich würde sie als die Stimme völliger Verantwortungslosigkeit bezeichnen müssen – besser bekannt als Mr. Yow, Git Down.
»Mr. Yow, Git Down?«, sagte Paula zweifelnd.
»Zu Ehren von James Brown, dem King of Soul.«
»Wenn Sie’s sagen.«
Mr. Yow, Git Down hatte mir immer weniger zu sagen gehabt, vor allem seit ich das Trinken so ziemlich aufgegeben hatte, und an diesem Tag erwachte er nur lange genug aus seinem Dämmerschlaf, um vierzehn Wörter zu sprechen, die jedoch mein Leben veränderten. Mir das Leben retteten.
Die ersten sieben (während ich auf der Bettkante sitze): Yow, ruf an und meld dich krank! Die nächsten sieben (während ich in Richtung Dusche schlurfe und mir dabei die linke Arschbacke kratze): Yow, verbring den Tag im Central Park! Hier ging es um keine Vorahnung. Das war eindeutig Mr. Yow, Git Down, nicht die Stimme Gottes. Mit anderen Worten: Das Ganze war lediglich eine Version meiner ganz persönlichen Stimme (das sind sie alle), die mich zum Blaumachen aufforderte. Tu dir mal was Gutes, großer Gott! Meiner Erinnerung nach habe ich dieseVersion meiner Stimme zuletzt gehört, als es um einen Karaoke-Wettbewerb in einer Bar an der Amsterdam Avenue gegangen war: Yow, sing bei Neil Diamond mit, Blödmann – rauf auf die Bühne, und mach, dass du wieder runterkommst!
»Ich weiß, was Sie meinen, glaube ich«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
»Wirklich?«
»Nun … ich habe mal in einer Bar in Key West meine Bluse ausgezogen und zehn Dollar damit gewonnen, dass ich zu ›Honky Tonk Women‹ getanzt habe.« Sie hielt inne. »Edward weiß nichts davon, und wenn Sie’s ihm jemals erzählen, müsste ich Ihnen eine seiner Krawattennadeln ins Auge stechen.«
»Yow, klasse gemacht, Girl«, sagte ich, und ihr Lächeln wurde zu einem ziemlich wehmütigen Grinsen. Es ließ sie jünger aussehen. Ich begann zu hoffen, dass diese Sache klappen könnte.
Wir betraten das Donald’s.An der Eingangstür hing ein Truthahn aus Pappe, an den grünen Kacheln über dem Warmhaltetisch hingen Pilgerväter aus Pappe.
»Ich habe auf Mr. Yow, Git Down gehört, deshalb bin ich hier«, sagte ich. »Aber leider sind auch ein paar andere Dinge hier, bei denen er mir nicht helfen kann. Es sind Dinge, die ich anscheinend nicht loswerden kann. Über die möchte ich mit Ihnen reden.«
»Ich möchte gern wiederholen, dass ich keine Psychiaterin bin«, sagte sie mit mehr als nur einer Spur von Unbehagen. Das Grinsen war verschwunden. »Ich habe Deutsch als Hauptfach und europäische Geschichte als Nebenfach studiert.«
Sie und Ihr Mann haben bestimmt reichlich Gesprächsstoff, dachte ich. Laut sagte ich jedoch, ich müsse nicht unbedingt mit ihr reden, nur mit jemandem.
»Also gut. Sie sollten nur Bescheid wissen.«
Ein Kellner nahm unsere Getränkebestellung auf, koffeinfrei für sie, normal für mich. Als er wieder gegangen war, fragte sie mich, welche Dinge ich meinte.
»Das hier ist eins davon.« Ich zog den Plexiglaswürfel mit dem darin eingegossenen stählernen Centstück aus der Tasche und stellte ihn auf den Tisch. Dann erzählte ich ihr von den anderen Dingen und wem sie gehört hatten. Cleve »Besboll war serr gutt zu mir« Farrell. Maureen Hannon, die ihr Haar als äußeres Zeichen ihrer Unentbehrlichkeit in der Firma taillenlang trug. Jimmy Eagleton, der eine göttliche Nase für versuchten Versicherungsbetrug, einen lernbehinderten Sohn und ein Furzkissen hatte, das er sicher in seinem Schreibtisch verwahrt hielt, bis die alljährliche Weihnachtsfeier stieg. Sonja D’Amico, die beste Buchhalterin bei Light and Bell, die ihre Lolita-Sonnenbrille als boshaftes Scheidungsgeschenk von ihrem ersten Mann bekommen hatte. Bruce »Herr der Fliegen« Mason, der vor meinem inneren Auge stets mit nacktem Oberkörper in Jones Beach am Strand stehend auf seiner Schneckenmuschel blasen würde, während die Wellen sich im Sand brachen und seine nackten Füße umspielten. Und zuletzt Misha Bryzinski, mit dem ich zu mindestens einem Dutzend Spiele der Mets gegangen bin. Ich erzählte ihr, wie ich alles außer Mishas Punch-Puppe in einen Abfallkorb an der Ecke 75th Street und Park Avenue gestopft hätte und wie es schneller als ich wieder in meiner Wohnung gewesen sei, vielleicht weil ich noch eine zweite Portion von General Tso’s Chicken mitgenommen habe. Während ich sprach, stand die ganze Zeit der Plexiglaswürfel zwischen uns auf dem Tisch.Trotz seines strengen Profils schafften wir es, unseren Lunch wenigstens teilweise zu essen.
Als ich ausgesprochen hatte, fühlte ich mich besser, als ich zu hoffen gewagt hatte. Aber auf ihrer Seite des Tischs herrschte ein Schweigen, das mir bedrückend schwer vorkam.
»Also«, sagte ich, um es zu brechen. »Was denken Sie?«
Sie ließ sich einen Augenblick Zeit, um zu überlegen, was ich ihr nicht verübeln konnte. »Ich denke, dass wir nicht mehr die Fremden sind, die wir waren«, sagte sie zuletzt, »und einen neuen Freund zu gewinnen, ist nie eine schlechte Sache. Ich denke, ich bin froh, dass ich von Mr. Yow, Git Down weiß und Ihnen erzählt habe, was ich getan habe.«
»Ich auch.« Und das stimmte.
»Darf ich Ihnen jetzt zwei Fragen stellen?«
»Natürlich.«
»Wie stark empfinden Sie das sogenannte ›Schuldgefühl der Überlebenden‹?«
»Und ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Sie keine Psychiaterin sind.«
»Ich bin keine, aber ich lese die Nachrichtenmagazine und bin sogar dafür bekannt, dass ich mir manchmal Oprah ansehe. Das weiß mein Mann, obwohl ich es vorziehe, ihm das nicht unter die Nase zu reiben.Also … wie stark, Scott?«
Ich dachte darüber nach. Das war eine gute Frage – und natürlich eine, die ich mir in mehr als einer dieser schlaflosen Nächte selbst gestellt habe. »Ziemlich stark«, sagte ich. »Und ziemlich große Erleichterung, das gebe ich ehrlich zu. Gäbe es Mr. Yow, Git Down in Person, brauchte er sein Leben lang in keiner Bar mehr zu bezahlen. Zumindest in meiner Anwesenheit nicht.« Ich hielt inne. »Schockiert Sie das?«
Sie griff über den Tisch und berührte kurz meine Hand. »Nicht im Geringsten.«
Als ich sie das sagen hörte, fühlte ich mich besser, als ich es je für möglich gehalten hätte. Ich drückte ihre Hand und ließ sie gleich wieder los. »Wie lautet Ihre andere Frage?«
»Wie wichtig ist es für Sie, dass ich Ihre Geschichte von den zurückkommenden Dingen glaube?«
Ich hielt das für eine ausgezeichnete Frage, obwohl der Plexiglaswürfel vor uns auf dem Tisch neben der Zuckerdose stand. Solche Dinge sind schließlich nicht gerade rar. Und hätte sie im Hauptfach Psychologie statt Deutsch studiert, überlegte ich mir, hätte sie vermutlich auch nicht schlecht abgeschnitten.
»Nicht so wichtig, wie ich vor einer Stunde gedacht habe«, sagte ich. »Allein das Erzählen hat geholfen.«
Sie nickte lächelnd. »Gut. Nun also meine cleverste Vermutung: Sehr wahrscheinlich spielt jemand ein Spiel mit Ihnen. Kein sehr nettes.«
»Spielt mir Streiche«, sagte ich. Ich bemühte mich, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich war enttäuscht wie selten zuvor in meinem Leben.Vielleicht setzt sich auf Menschen unter bestimmten Umständen eine Schicht Ungläubigkeit ab, die sie schützt. Oder vielleicht – wahrscheinlich – war es mir nicht gelungen, mein eigenes Gefühl zu vermitteln, dass diese Sache einfach … geschah. Weiter passierte.Wie es Lawinen tun.
»Spielt Ihnen Streiche«, bestätigte sie, dann: »Aber das glauben Sie nicht.«
Zusätzliche Punkte für Scharfblick. Ich nickte. »Ich habe die Tür abgesperrt, als ich weggegangen bin, und sie war abgeschlossen, als ich von Staples zurückgekommen bin. Ich habe das Klicken der Schlossstifte gehört. Sie sind laut. Unüberhörbar.«
»Trotzdem … die Schuldgefühle von Überlebenden sind eine komische Sache. Und mächtig, jedenfalls wenn man den Nachrichtenmagazinen glauben will.«
»Das …« Das hier ist kein Schuldgefühl eines Überlebenden, hatte ich sagen wollen, aber das wäre der falsche Zungenschlag gewesen. Ich hatte eine reelle Chance, hier eine neue Freundin zu gewinnen, und eine neue Freundin zu haben, war unabhängig vom Ausgang dieser Sache immer gut. Deshalb änderte ich den Satz ab. »Ich glaube nicht, dass dies hier das Schuldgefühl eines Überlebenden ist.« Ich zeigte auf den Plexiglaswürfel. »Er ist eindeutig vorhanden, oder? Wie Sonjas Sonnenbrille. Sie sehen ihn. Ich sehe ihn auch. Ich könnte ihn natürlich selbst gekauft haben, aber …« Ich zuckte die Achseln und versuchte damit auszudrücken, was wir beide sicherlich wussten: Alles ist möglich.
»Ich glaube nicht, dass Sie das getan haben.Aber ebenso wenig kann ich die Vorstellung akzeptieren, zwischen der Wirklichkeit und der Schattenwelt habe sich eine Falltür geöffnet, und diese Dinge seien herausgefallen.«
Ja, das war das Problem. Für Paula war die Vorstellung, der Plexiglaswürfel und die übrigen Dinge, die in meiner Wohnung aufgetaucht waren, könnten irgendwie übernatürlichen Ursprungs sein, automatisch tabu, so sehr die Tatsachen auch dafür zu sprechen schienen. Ich musste nun entscheiden, ob es wichtiger war, über diesen Punkt zu diskutieren, als eine Freundin zu gewinnen.
Ich entschied mich gegen eine Diskussion.
»Also gut«, sagte ich. Ich fing einen Blick des Kellners auf und machte eine Bewegung in der Luft, als schriebe ich einen Scheck aus. »Ich kann akzeptieren, dass Sie nicht fähig sind, das zu akzeptieren.«
»Können Sie das?«, fragte sie und musterte mich prüfend.
»Ja.« Und ich glaubte, das sei wahr. »Das heißt, wenn wir ab und zu eine Tasse Kaffee miteinander trinken können. Oder bloß Hi sagen, wenn wir uns in der Eingangshalle begegnen.«
»Klar doch.« Aber das klang geistesabwesend, als wäre sie nicht bei der Sache. Sie betrachtete den Plexiglaswürfel mit dem eingegossenen stählernen Centstück. Dann blickte sie zu mir auf. Fast wie in einem Cartoon konnte ich eine Glühbirne über ihrem Kopf aufflammen sehen. Sie streckte eine Hand aus und griff nach dem Würfel. Ich hätte nie ausdrücken können, welch namenloses Grauen mich erfasste, als sie das tat, aber was hätte ich sagen sollen? Wir waren New Yorker in einem sauberen, gut beleuchteten Restaurant. Was Paula betraf, hatte sie bereits ihre Prinzipien dargelegt, die das Übernatürliche ziemlich rigoros ausschlossen. Das Übernatürliche war eine Sperrzone. Ein Ball, der darin liegen blieb, musste noch einmal gespielt werden.
Und in Paulas Augen glänzte etwas. Ein Funkeln, das darauf schließen ließ, Ms. Yow, Git Down sei im Haus, und ich wusste aus persönlicher Erfahrung, wie schwer dieser Stimme zu widerstehen war.
»Geben Sie ihn mir«, schlug sie vor und sah mir lächelnd in die Augen. Dabei konnte ich – eigentlich zum ersten Mal – sehen, dass sie ebenso sexy wie hübsch war.
»Wozu?« Als ob ich das nicht wüsste.
»Nennen wir’s mein Honorar dafür, dass ich mir Ihre Geschichte angehört habe.«
»Ich weiß nicht, ob das eine so gute …«
»Doch, das ist eine gute Idee«, sagte sie. Sie fing an, sich für ihre Eingebung zu erwärmen, und wenn Leute das tun, sind sie meistens unbelehrbar. »Das ist eine großartige Idee. Ich sorge dafür, dass zumindest dieses eine Andenken nicht wieder schwanzwedelnd zu Ihnen zurückkehrt.Wir haben in unserer Wohnung einen Safe.« Sie spielte mir eine reizende kleine Pantomime vor, wie sie eine Safetür schloss, das Zahlenschloss verstellte und zuletzt den Schlüssel über die Schulter wegwarf.
»Also gut«, sagte ich. »Das ist mein Geschenk für Sie.« Und ich empfand etwas, das boshafte Befriedigung hätte sein können. Nennen wir es die Stimme von Mr. Yow, du wirst’s schon merken. Anscheinend hatte es doch nicht genügt, sich alles nur von der Seele reden zu können. Sie hatte mir nicht geglaubt, und zumindest ein Teil meines Selbst wollte, dass man ihm glaubte, und nahm es Paula übel, dass es nicht bekam, was es sich wünschte. Dieser Teil wusste, dass es eine absolut schreckliche Idee war, sie den Plexiglaswürfel mitnehmen zu lassen, war aber trotzdem froh, ihn in ihrer Umhängetasche verschwinden zu sehen.
»Da!«, sagte sie lebhaft. »Mama sagt bye-bye, lässt alles verschwinden. Wenn er in einer Woche nicht zurückkommt – oder in zweien, was davon abhängen dürfte, wie hartnäckig Ihr Unterbewusstsein sein will -, können Sie vielleicht anfangen, die übrigen Dinge zu verschenken.« Und diese Äußerung war an jenem Tag ihr wirkliches Geschenk für mich, obwohl ich es nicht gleich erkannte.
»Vielleicht«, sagte ich und lächelte. Breites Lächeln für die neue Freundin. Strahlendes Lächeln für Pretty Mama.Während ich die ganze Zeit dachte: Du wirst schon sehen.
Yow.
 
So war es dann auch.
Drei Abende später, als ich zusah und hörte, wie Chuck Scarborough in den 18-Uhr-Nachrichten die jüngste New Yorker Nahverkehrsmisere erläuterte, wurde an meiner Tür geklingelt. Da niemand angemeldet worden war, vermutete ich, dass es ein Zusteller war, vielleicht sogar Rafe mit etwas von Federal Express. Ich öffnete die Wohnungstür, und da stand Paula Robeson.
Dies war nicht die Frau, mit der ich zu Mittag gegessen hatte.
DieseVersion von Paula hätte Ms. Yow, ist Chemotherapie nicht fies heißen können. Sie hatte etwas Lippenstift aufgelegt, trug aber sonst keinerlei Make-up, und ihr Teint war ungesund gelblich weiß. Unter den Augen hatte sie dunkle, bräunlich purpurne Bogen. Bevor sie aus dem fünften Stock heruntergekommen war, hatte sie ihrem Haar vielleicht einen symbolischen Bürstenstrich verpasst, der aber nicht viel geholfen hatte. Es sah wie Stroh aus und stand auf beiden Seiten auf eine Art und Weise von ihrem Kopf ab, die unter anderen Umständen, zum Beispiel in einem Comicstrip, komisch gewesen wäre. Sie hielt den Plexiglaswürfel vor ihrem Busen, so dass ich feststellen konnte, dass die gepflegten Fingernägel dieser Hand verschwunden waren. Sie hatte sie abgekaut, bis aufs Fleisch abgekaut. Und mein erster Gedanke, Gott sei mir gnädig, war: Ja, sie hat es gesehen.
Sie hielt ihn mir hin. »Nehmen Sie ihn zurück«, sagte sie.
Das tat ich wortlos.
»Er hat Roland Abelson geheißen«, sagte sie. »Das stimmt doch?«
»Ja.«
»Er war rothaarig.«
»Ja.«
»Ledig, aber er hat einer Frau in Rahway Alimente für ein Kind gezahlt.«
Das hatte ich nicht gewusst – wahrscheinlich hatte das bei Light and Bell niemand gewusst -, aber ich nickte nochmals, und nicht bloß, damit sie weitersprach. Ich war davon überzeugt, dass sie Recht hatte. »Wie hat sie geheißen, Paula?« Ohne zu wissen, weshalb ich das fragte, noch nicht – nur aus dem Wissen, dass ich es wissen musste.
»Tonya Gregson.« Das klang wie in Trance. In ihren Augen stand jedoch etwas, das so schrecklich war, dass ich es kaum ertragen konnte, es anzusehen. Trotzdem speicherte ich diesen Namen. Tonya Gregson, Rahway. Und dann wie ein Lagerist bei der Inventur: ein Plexiglaswürfel mit darin eingegossenem Centstück.
»Er hat versucht, unter seinen Schreibtisch zu kriechen, wussten Sie das? Nein, ich sehe, dass Sie’s nicht gewusst haben. Sein Haar hat in Flammen gestanden, und er hat geweint.Weil er in diesem Augenblick begriffen hat, dass er niemals einen Katamaran besitzen oder auch nur noch einmal seinen Rasen mähen würde.« Sie streckte eine Hand aus und legte sie mir auf die Wange: eine so intime Geste, dass sie hätte schockieren müssen, wäre ihre Hand nicht eiskalt gewesen. »Zuletzt hätte er jeden Cent, den er besaß, und jede Aktienoption, über die er verfügte, dafür hergegeben, nur noch einmal seinen Rasen mähen zu dürfen. Glauben Sie das?«
»Ja.«
»Das Büro hallte wider von Schreien, er konnte Kerosin riechen, und ihm war bewusst, dass dies seine Todesstunde war. Verstehen Sie das? Begreifen Sie die Ungeheuerlichkeit dieser Tatsache?«
Ich nickte. Ich konnte nicht sprechen. Man hätte mir eine Pistole an den Kopf drücken können – ich hätte trotzdem kein Wort herausgebracht.
»Die Politiker reden von Gedenkstätten und Heldenmut und Krieg gegen den Terrorismus, aber brennendes Haar ist unpolitisch.« Sie fletschte die Zähne zu einem unbeschreiblichen Grinsen. Im nächsten Augenblick war es wieder verschwunden. »Er hat versucht, mit in Flammen stehenden Haaren unter seinen Schreibtisch zu kriechen. Unter dem Schreibtisch hat ein Plastikding gelegen, eine Wie-sagt-man-gleich-wieder …«
»Bodenschutzmatte …«
»Ja, eine Matte, eine Kunststoffmatte, seine Hände haben darauf gelegen, und er konnte ihre Plastikriefen spüren und das eigene brennende Haar riechen.Verstehen Sie das?«
Ich nickte. Ich begann zu weinen. Es war Roland Abelson, von dem wir hier sprachen, dieser Typ, der mein Arbeitskollege gewesen war. Er war in der Haftpflichtabteilung gewesen, und ich hatte ihn nicht sehr gut gekannt.Wir hatten Hi zueinander gesagt, das war alles; woher hätte ich wissen sollen, dass er ein Kind in Rahway hatte? Und hätte ich an jenem Tag nicht blaugemacht, hätte mein Haar vermutlich auch gebrannt. Das hatte ich bisher nie wirklich begriffen.
»Ich will Sie nie wieder sehen«, sagte sie. Sie bedachte mich nochmals mit ihrem schauerlichen Grinsen, aber jetzt weinte auch sie. »Ich will nichts von Ihren Problemen wissen. Ich will nichts von diesem Scheiß wissen, den Sie gefunden haben. Wir sind quitt. In Zukunft lassen Sie mich in Ruhe.« Sie wollte sich schon abwenden, drehte sich dann aber noch einmal zu mir um. »Sie haben es im Namen Gottes getan«, sagte sie, »aber es gibt keinen Gott. Gäbe es einen Gott, Mr. Staley, hätte er alle achtzehn in ihren Warteräumen auf den Flughäfen mit ihren Bordkarten in den Händen erschlagen, aber das hat kein Gott getan. Die Passagiere wurden zum Einsteigen aufgerufen, und diese Scheißkerle sind einfach mit eingestiegen.«
Ich sah ihr nach, als sie zum Aufzug davonging. Sie hielt sich sehr gerade. Ihr Haar stand auf beiden Seiten des Kopfes ab, so dass sie wie ein Mädchen aus einem Cartoon in der Sonntagsbeilage aussah. Sie wollte mich nie mehr sehen, und ich konnte ihr das nicht verübeln. Ich schloss die Tür und betrachtete den stählernen Abe Lincoln in dem Plexiglaswürfel. Ich betrachtete ihn ziemlich lange. Ich dachte darüber nach, wie sein Barthaar gerochen hätte, wenn U.S. Grant eine seiner unvermeidlichen Zigarren hineingesteckt hätte. Dieser unangenehme Gestank nach verbranntem Haar. Im Fernsehen sagte jemand, bei Sleepy’s finde ein großer Matratzenräumungsverkauf statt. Danach erschien Len Berman auf dem Bildschirm und sprach über die Jets.
 
In dieser Nacht wachte ich gegen zwei Uhr morgens auf und horchte auf die flüsternden Stimmen. Ich hatte keine Träume oder Visionen von den Leuten gehabt, denen die Gegenstände gehörten, hatte niemanden gesehen, dessen Haar brannte oder der auf der Flucht vor dem brennenden Treibstoff aus einem Fenster sprang, aber wie sollte ich denn auch? Ich wusste, wer sie waren, und die Dinge, die sie zurückgelassen hatten, hatten sie mir hinterlassen. Paula Robeson den Plexiglaswürfel an sich nehmen zu lassen war falsch gewesen, aber nur weil sie die falsche Empfängerin gewesen war.
Und weil wir gerade bei Paula sind: Eine der Stimmen war ihre. Sie könnten anfangen, die übrigen Dinge zu verschenken, sagte sie. Und sie sagte: Vermutlich hängt es davon ab, wie hartnäckig Ihr Unterbewusstsein sein will.
Ich ließ mich zurücksinken und konnte nach einiger Zeit wieder einschlafen. Ich träumte, ich sei im Central Park, wo ich die Enten fütterte, als plötzlich ein lauter Krach wie ein Überschallknall zu hören war und dunkler Rauch den Himmel verfinsterte. In meinem Traum roch der Rauch nach brennendem Haar.
Ich dachte über Tonya Gregson in Rahway nach – Tonya und das Kind, das vielleicht Roland Abelsons Augen hatte oder auch nicht -, und sagte mir, dass ich mich darauf erst würde vorbereiten müssen. Ich beschloss, mit Bruce Masons Witwe anzufangen.
Ich fuhr mit dem Zug nach Dobbs Ferry und bestellte mir am Bahnhof ein Taxi. Der Taxifahrer brachte mich zu einem Cape-Cod-Haus in einer ruhigen Wohnstraße. Ich drückte ihm etwas Geld in die Hand, bat ihn zu warten – mein Besuch würde nicht lange dauern – und klingelte an der Haustür. Unter dem Arm trug ich eine Schachtel. Sie sah wie eine Kuchenschachtel aus der Bäckerei aus.
Ich brauchte nur ein Mal zu klingeln, denn ich hatte zuvor angerufen, und Janice Mason erwartete mich. Ich hatte meine Story sorgfältig ausgearbeitet und erzählte sie entsprechend selbstsicher, weil ich wusste, dass das mit laufendem Taxameter in der Einfahrt stehende Taxi jedes ins Detail gehende Kreuzverhör verhindern würde.
Am siebten September, sagte ich – am Freitag davor – hatte ich versucht, auf der Schneckenmuschel, die Bruce auf seinem Schreibtisch liegen hatte, zu blasen, wie ich es von Bruce beim Firmenpicknick in Jones Beach gehört hatte. (Janice, Mrs. Herr der Fliegen, nickte; sie war natürlich ebenfalls dort gewesen.) Nun, sagte ich, um es kurz zu machen, ich hatte Bruce dazu überredet, mir die Schneckenmuschel übers Wochenende zu leihen, damit ich üben konnte. Aber am Montagmorgen war ich mit einer tobenden Stirnhöhlenentzündung und grässlichen Kopfschmerzen aufgewacht. (Das war eine Geschichte, die ich schon mehreren Leuten erzählt hatte.) Ich war dabei gewesen, eine Tasse Tee zu trinken, als ich den Knall hörte und den Rauch aufsteigen sah. An die Schneckenmuschel hatte ich erst diese Woche wieder gedacht. Ich hatte meinen kleinen Dielenschrank ausgeräumt, und hol’s der Teufel, da hatte das Ding gelegen. Und ich dachte bloß … na ja, sie ist kein besonderes Andenken, aber ich dachte, Sie würden sie vielleicht … Sie wissen schon …
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, genau wie meine es getan hatten, als Paula mir Roland Abelsons »Pensionsfonds« zurückgebracht hatte, nur waren diese nicht von dem angstvollen Ausdruck begleitet, der bestimmt auf meinem Gesicht gelegen hatte, als Paula mit ihren auf beiden Seiten steif vom Kopf abstehenden Haaren vor mir gestanden hatte. Janice versicherte mir, sie freue sich sehr über jedes Andenken an Bruce.
»Ich komme nicht darüber hinweg, wie wir uns verabschiedet haben«, sagte sie mit der Schachtel in ihren Armen. »Er ist immer sehr früh aus dem Haus gegangen, weil er mit dem Zug gefahren ist. Er hat mich auf die Wange geküsst, und ich habe ein Auge aufgemacht und ihn gebeten, Kaffeesahne mitzubringen. Er hat gesagt, er würde es tun. Das war das Letzte, was er jemals zu mir gesagt hat. Als er um meine Hand angehalten hat, habe ich mich wie Helena von Troja gefühlt – dumm, aber absolut wahr -, und ich wollte, ich hätte was Besseres gesagt als: ›Bring bitte Kaffeesahne mit.‹ Aber wir waren schon lange verheiratet, und mir ist dieser Tag wie jeder andere vorgekommen, und... Wir wissen es einfach nicht, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ja. Jeder Abschied könnte für immer sein, und wir wissen es nicht. Ich danke Ihnen, Mr. Staley. Dass Sie herausgekommen sind und mir dies gebracht haben. Das war sehr freundlich von Ihnen.« Dann lächelte sie schwach. »Erinnern Sie sich, wie er mit nacktem Oberkörper am Strand gestanden und darauf geblasen hat?«
»Ja«, sagte ich und beobachtete, wie sie die Schachtel an sich gedrückt hielt. Später würde sie sich hinsetzen und die Schneckenmuschel herausnehmen und sie auf ihrem Schoß halten und weinen. Ich wusste, dass zumindest diese Schneckenmuschel nie mehr in meine Wohnung zurückkommen würde. Sie war daheim.
 
Ich ließ mich zum Bahnhof fahren und nahm den nächsten Zug nach New York zurück. Um diese Tageszeit, am frühen Nachmittag, waren die Abteile fast leer, und ich saß an einem von Regen und Schmutz streifigen Fenster und blickte auf den Fluss und die näher kommende Skyline hinaus. An wolkigen, regnerischen Tagen scheint man diese Skyline Stück für Stück fast aus der eigenen Fantasie zu erschaffen.
Morgen würde ich mit dem Centstück in dem Plexiglaswürfel nach Rahway fahren. Vielleicht würde der oder die Kleine ihn in die Patschhände nehmen und neugierig betrachten. Jedenfalls würde der Würfel so aus meinem Leben verschwinden. Das einzige Stück, das schwierig loszuwerden sein würde, vermutete ich, würde Jimmy Eagletons Furzkissen sein – ich konnte Mrs. Eagleton kaum erzählen, ich hätte es übers Wochenende mit nach Hause genommen, um damit zu üben, oder? Aber Not macht erfinderisch, und ich war zuversichtlich, dass mir irgendwann eine halbwegs plausible Story einfallen würde.
Mir kam der Gedanke, dass im Lauf der Zeit weitere Dinge auftauchen könnten. Und ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, ich fände diese Möglichkeit gänzlich unangenehm. Wenn man Dinge zurückbringt, die Leute für immer verloren glaubten – Dinge, die Gewicht haben -, dann gibt es eine Entschädigung dafür. Auch wenn es nur kleine Dinge wie eine Scherzsonnenbrille oder ein stählernes Centstück in einem Plexiglaswürfel sind … Jawohl. Ich würde sagen, es gibt eine Entschädigung.
 
AUS DEM AMERIKANISCHEN VON WULF BERGNER