1

 

Als sie das kleine Einkaufszentrum mitten in der Kleinstadt Bridgton erreichten – ein Supermarkt, eine Wäscherei und ein überraschend großer Drugstore –, spürten Roland und Eddie es gleichzeitig: nicht nur den Gesang, sondern auch die wachsende Kraft. Sie hob sie empor wie irgendein verrückter, wundervoller Aufzug. Eddie musste unwillkürlich an Glöckchens magischen Goldstaub und Dumbos magische Feder denken. Das Ganze hatte Ähnlichkeit mit einer Annäherung an die Rose und war doch ganz anders. Diese Kleinstadt in Neuengland verbreitete kein Gefühl von Heiligkeit oder Heiligung, aber hier geschah etwas, und es war machtvoll.

Auf der Fahrt von East Stoneham hierher, wobei er auf einer Nebenstraße nach der anderen Wegweisern nach Bridgton gefolgt war, hatte Eddie zudem noch etwas anderes gespürt: die unglaubliche Frische dieser Welt. Die sommergrünen Tiefen der Tannenwälder besaßen eine Wertigkeit, die er bisher nie kennen gelernt, deren Existenz er nicht einmal vermutet hatte. Beim Anblick von Vögeln, die durch den heiter blauen Himmel flogen, wollte ihm vor Staunen der Atem stillstehen, selbst wenn es nur ganz gewöhnliche Spatzen waren. Sogar die Schatten auf dem Erdboden wirkten samtig dicht, so als könnte man sich bücken, sie aufheben und wie eine Teppichrolle unter dem Arm wegtragen, wenn man das wollte.

Irgendwann fragte er Roland, ob denn auch er etwas von alledem spüre.

»Ja«, sagte Roland. »Ich spüre es, sehe es, höre es… Eddie, ich empfinde es.«

Eddie nickte. Ihm erging es ähnlich. Diese Welt war real über die Realität hinaus. Sie war eine… Anti-Flitzwelt. Besser konnte er es nicht ausdrücken. Und sie befanden sich hier genau auf der Mitte des Balkens. Eddie konnte spüren, dass er sie wie ein Fluss, der eine Schlucht zu einem Wasserfall hinabschoss, weitertrug.

»Aber ich habe Angst«, sagte Roland. »Mir kommt es vor, als würden wir uns dem Zentrum aller Dinge nähern – vielleicht sogar dem Turm selbst. Als wäre mir nach all diesen Jahren die Suche der Hauptzweck geworden, dessen bevorstehendes Ende mich jetzt ängstigt.«

Eddie nickte. Darein konnte er sich einfühlen. Natürlich hatte auch er Angst. Wenn diese gewaltige Kraft nicht vom Turm selbst kam, musste sie von etwas erschreckend Mächtigem nach Art der Rose stammen. Aber nicht ganz identisch. Ein Zwilling der Rose? Das konnte ungefähr hinkommen.

Roland blickte über den Parkplatz und die Menschen hinweg, die unter einem Sommerhimmel mit dicken, langsam treibenden Wolkenschiffen umherwuselten, ohne offenbar zu merken, dass die ganze Welt um sie herum von Kraft nur so summte und alle Wolken entlang dem gleichen uralten Himmelspfad segelten. Sie waren sich der Schönheit ihrer gewohnten Umgebung nicht bewusst.

»Früher habe ich immer gedacht«, sagte der Revolvermann, »das Schrecklichste müsste es sein, den Turm zu erreichen und den Raum im obersten Geschoss leer vorzufinden. Der Gott aller Universen tot oder von Anfang an nicht existent. Aber heute… wenn dort nun jemand ist, Eddie? Ein für alles Verantwortlicher, der…« Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen.

Eddie konnte es. »Jemand, der sich nur als weiterer Bumhug erweist? Meinst du das? Gott nicht tot, aber schwachsinnig und bösartig?«

Roland nickte. Das war nicht ganz genau das, was er befürchtete, aber er fand, dass Eddie der Wahrheit zumindest nahe gekommen war.

»Wie sollte das gehen, Roland? Wenn man mal bedenkt, was wir empfinden.«

Roland zuckte die Achseln, als wollte er sagen, dass alles möglich sei.

»Was könnten wir außerdem anderes machen?«

»Gar nichts«, sagte Roland trübselig. »Alle Dinge dienen dem Balken.«

Unabhängig davon, was diese große singende Kraft auch sein mochte, schien sie von der Straße zu kommen, die, vom Einkaufszentrum aus nach Westen verlaufend, in die Wälder zurückführte. Dem Straßenschild nach handelte es sich um die Kansas Road, was Eddie sofort an Dorothy und Toto und Blaine den Mono denken ließ.

Er stellte den Automatikhebel ihres geliehenen Fords auf D und fuhr an. In seiner Brust schlug das Herz mit langsamer, nachdrücklicher Kraft. Er fragte sich, ob Moses sich ähnlich gefühlt hatte, als er sich dem brennenden Dornbusch genähert hatte, in dem Gott sich verbarg. Er fragte sich, ob Jakob sich ähnlich gefühlt hatte, als er beim Erwachen in seinem Lager einen Unbekannten – strahlend und schön zugleich – vorgefunden hatte: den Engel, mit dem er ringen würde. Er glaubte zu wissen, dass bald eine weitere Etappe ihrer Reise enden würde – dass eine weitere Antwort vor ihnen lag.

Gott, der in der Kleinstadt Bridgton, Maine, in der Kansas Road lebte? Das hätte verrückt klingen sollen, tat es aber nicht.

Streck mich nur nicht tot nieder, dachte Eddie, als er nach Westen abbog. Ich muss zu meiner Liebsten zurück, also streck mich bitte nicht tot nieder, wer oder was du auch bist.

»Mann, ich hab echt Schiss«, sagte er.

Roland ergriff seine Hand und drückte sie kurz.

 

 

2

 

Drei Meilen vom Einkaufszentrum entfernt kamen sie zu einer unbefestigten Zufahrt, die nach links unter die Tannen wegführte. Es hatte schon vorher Abzweigungen gegeben, an denen Eddie aber vorbeigefahren war, ohne seine gleichmäßig eingehaltenen dreißig Meilen in der Stunde zu verringern, aber an dieser hier hielt er an.

Beide vorderen Fenster waren offen. Sie konnten den Wind in den Bäumen hören, den griesgrämigen Ruf einer Krähe, das nicht allzu weit entfernte Surren eines Motorboots und das Brummen des Motors ihres Fords. Bis auf hunderttausend Stimmen, die perfekt mehrstimmig sangen, waren dies die einzigen Geräusche. Auf dem Schild an der Abzweigung stand lediglich: PRIVATSTRASSE. Trotzdem nickte Eddie.

»Hier ist es.«

»Ja, ich weiß. Wie geht’s deinem Bein?«

»Tut weh. Mach dir deswegen aber keine Sorgen. Also – wollen wir die Sache durchziehen?«

»Das müssen wir«, sagte Roland. »Es war richtig, dass du uns hergebracht hast. Was hier ist, ist die andere Hälfte von diesem hier.« Er tippte auf das Papier in seiner Tasche, auf den Vertrag, der das unbebaute Grundstück auf die Tet Corporation übertrug.

»Du glaubst, dass dieser King-Typ der Zwilling der Rose ist.«

»Du sprichst wahrhaftig.« Roland lächelte über die eigene Wortwahl. Eddie fand, dass er noch selten ein derart trauriges Lächeln gesehen hatte. »Wir haben uns die Redeweise der Calla angewöhnt, oder? Erst Jake, dann wir alle. Aber sie wird sich bald wieder abschleifen.«

»Wir müssen noch weiter«, sagte Eddie. Das war nicht als Frage gemeint.

»Aye, und der Weg wird gefährlich sein. Trotzdem… vielleicht nicht so gefährlich wie das hier. Wollen wir weiterfahren?«

»Gleich. Roland, erinnerst du dich daran, dass Susannah einmal von einem namens Moses Carver gesprochen hat?«

»Ein Stem… ein Geschäftsmann, meine ich. Er hat die Firma ihres Vaters fortgeführt, nachdem Sai Holmes gestorben ist, habe ich Recht?«

»Yeah. Außerdem war er Susannahs Taufpate. Sie hat gesagt, dass er absolut zuverlässig ist. Weißt du noch, wie wütend sie war, als Jake und ich angedeutet haben, er könnte ihr Erbe unterschlagen haben?«

Roland nickte.

»Ich vertraue ihrem Urteil«, sagte Eddie. »Und du?«

»Ich auch.«

»Wenn dieser Carver also tatsächlich eine ehrliche Haut ist, könnten wir ihn ja vielleicht mit den Dingen beauftragen, die wir auf dieser Welt noch zu erledigen haben.«

Im Vergleich zu der Kraft, deren Wirken Eddie überall um sich herum spürte, schien das alles nicht schrecklich wichtig zu sein, aber er hielt es trotzdem für bedeutsam. Vielleicht hatten sie nur eine einzige Chance, die Rose jetzt zu schützen und ihr späteres Überleben zu sichern. Sie mussten das richtig anfangen, und Eddie wusste, dass das vor allem bedeutete, einfach dem Willen des Schicksals zu folgen.

Mit einem Wort: Ka.

»Suze behauptet, dass Holmes Dental acht bis zehn Millionen Dollar wert war, als du sie aus New York weggeholt hast, Roland. Wenn Carver so gut ist, wie ich hoffe, könnte die Firma inzwischen zwölf bis vierzehn Millionen wert sein.«

»Ist das viel?«

»Delah«, sagte Eddie mit einer wegwerfenden Bewegung mit offener Hand in Richtung Horizont, und Roland nickte. »Es klingt komisch, davon zu reden, die Gewinne aus irgendeinem Dentalverfahren zur Rettung des Universums zu verwenden, aber genau davon rede ich. Und das Geld, das die Zahnfee ihr hinterlassen hat, ist vielleicht erst der Anfang. Ich denke da beispielsweise an Microsoft. Du erinnerst dich doch, dass ich diesen Namen Tower gegenüber erwähnt habe, oder?«

Roland nickte. »Sprich langsamer, Eddie. Beruhige dich, ich bitte dich.«

»Entschuldigung«, sagte Eddie und holte tief Luft. »Das liegt an dieser Umgebung. Der Gesang. Die Gesichter… siehst du die Gesichter unter den Bäumen? In den Schatten?«

»Ich sehe sie sehr wohl.«

»Das alles verwirrt mich etwas. Hab also Geduld mit mir. Ich rede davon, die Firma Holmes Dental mit der Tet Corporation zu fusionieren, um sie dann mit unserem Wissen über die Zukunft zu einem der reichsten Konzerne der Weltgeschichte zu machen. Mit finanziellen Ressourcen, die denen der Sombra Corporation gleichen… vielleicht sogar selbst denen von North Central Positronics.«

Roland zuckte die Achseln, dann hob er eine Hand, als wollte er Eddie fragen, wie er jetzt über Geld reden könne, wo sie sich in Gegenwart der gewaltigen Kraft befanden, die entlang der Längsachse des Balkens und durch ihre Körper hindurchfloss, ihnen die Nackenhaare aufrichtete, ihre Nebenhöhlen kribbeln ließ und jeden Waldesschatten in ein sie beobachtendes Gesicht verwandelte… als ob sich dort ein zahlreiches Publikum versammelt hätte, um zuzusehen, wie sie eine Schlüsselszene ihres Dramas spielten.

»Ich weiß, wie dir zumute ist, aber das Ganze ist wichtig«, insistierte Eddie. »Glaub mir, es ist wichtig. Nehmen wir beispielsweise an, wir wüchsen schnell genug, um North Central Positronics aufzukaufen, bevor der Konzern in dieser Welt zu einer Großmacht werden kann. Roland, wir könnten ihn in eine andere Richtung lenken, wie man auch dem größten Fluss an seiner Quelle, wo er erst ein Rinnsal ist, mit einem einzigen Spatenstich eine andere Richtung geben kann.«

Das Beispiel ließ Rolands Augen glitzern. »Die Firma übernehmen«, sagte er. »Ihre Zwecke vom Scharlachroten König weg in unsere eigenen ummodeln. Ja, das müsste möglich sein.«

»Unabhängig davon, ob das möglich ist oder nicht, müssen wir daran denken, dass wir nicht nur um 1977 oder 1987, dem Jahr aus dem ich komme, oder 1999, in das Suze entführt worden ist, spielen.« In jener Welt, darüber war Eddie sich im Klaren, wäre Calvin Tower vielleicht schon tot, und Aaron Deepneau würde es bestimmt sein, weil ihr letzter Auftritt im Drama um den Dunklen Turm – Donald Callahans Rettung vor den Hitler Brothers – längst beendet war. Von der Bühne gefegt, alle beide. Auf die Lichtung am Ende des Pfades – mit Gasher und Hoots, Benny Slightman, Susan Delgado

(Calla, Callahan, Susan, Susannah)

und dem Ticktackmann, sogar Blaine und Patricia. Auch Roland und sein Ka-Tet würden früher oder später diese Lichtung erreichen. Zu guter Letzt – wenn sie phantastisch viel Glück hatten und selbstmörderisch tapfer waren – würde nur noch der Dunkle Turm stehen. Konnten sie den Aufstieg von North Central Positronics im Keim ersticken, konnten sie vielleicht auch alle Balken retten, die seither zerbrochen worden waren. Selbst wenn ihnen das nicht gelang, konnten zwei Balken ausreichen, um den Turm aufrecht zu halten: die Rose in New York und ein Mann namens Stephen King in Maine. Eddies Kopf hatte keinen Beweis dafür, dass das alles wirklich stimmte… aber sein Herz glaubte daran.

»Wir spielen hier um Äonen, Roland.«

Roland ballte eine Hand zur Faust, schlug damit leicht auf das staubige Armaturenbrett von John Cullums altem Ford und nickte.

»Auf dem Grundstück mit der Rose kann alles Mögliche errichtet werden, ist dir das klar? Alles. Ein Gebäude, ein Park, ein Denkmal, das National Gramophone Institute. Wenn nur die Rose dort bleibt. Dieser Carver kann die Tet Corporation rechtlich absichern, vielleicht in Zusammenarbeit mit Aaron Deepneau…«

»Ja«, sagte Roland. »Deepneau hat mir gefallen. Er hatte ein wahrhaftiges Angesicht.«

Das fand Eddie auch. »Jedenfalls können sie einen Vertrag ausarbeiten, der den Schutz der Rose garantiert – sie bleibt unter allen Umständen dort. Und ich habe das Gefühl, dass sie das tun wird. Im Jahre 2007, 2057, 2525, 3700… Teufel, sogar im Jahr 19000… Ich glaube, sie wird ewig dort stehen. Auch wenn sie vielleicht sehr verletzlich wirkt, glaube ich, dass sie unsterblich ist. Aber wir müssen für sie vorsorgen, so lange, wie wir die Gelegenheit dazu haben. Weil dies hier die Schlüsselwelt ist. Auf dieser bekommt man keine zweite Chance, noch ein wenig nachzuschnitzen, wenn der Schlüssel nicht passt. Auf dieser gibt es keine Wiederholungen, glaube ich.«

Roland dachte darüber nach, dann zeigte er auf die unbefestigte Zufahrt, die unter die Bäume davonführte. In einen Wald aus sie beobachtenden Gesichtern und singenden Stimmen hinein. In einen harmonischen Zusammenklang all dessen, was dem Leben Wert und Bedeutung verlieh, was die Wahrheit bewahrte, was sich zum Weißen bekannte. »Und was ist mit dem Menschen, der am Ende dieser Straße lebt, Eddie? Falls es ein Mensch ist.«

»Ich bin mir sicher, dass es einer ist – und das nicht nur wegen John Cullums Schilderung. Es liegt daran, was ich hier fühle.« Eddie klopfte sich mit der flachen Hand auf eine Stelle über seinem Herzen.

»So denke ich auch.«

»Sagst du das, Roland?«

»Aye, das tue ich. Glaubst du, dass er unsterblich ist? Ich habe in meiner Zeit viel gesehen und gerüchteweise noch viel mehr gehört, aber nie von einem Menschen, der das ewige Leben besitzt.«

»Ich glaube nicht, dass er unbedingt unsterblich sein muss. Ich glaube, dass er nur die richtige Geschichte schreiben muss. Manche Storys besitzen nämlich das ewige Leben.«

Verstehen ließ Rolands Blick aufleuchten. Endlich, dachte Eddie. Endlich sieht er’s auch.

Aber wie lange hatte er selbst gebraucht, um das alles zu erkennen und dann auch zu akzeptieren? Nach all den anderen Wundern, die er gesehen hatte, hätte er weiß Gott dazu imstande sein müssen, aber trotzdem hatte er diesen letzten Schritt lange nicht tun können. Selbst die Entdeckung, dass Pere Callahan scheinbar lebend und atmend einem Roman mit dem Titel Brennen muss Salem entstiegen war, hatte nicht ausgereicht, ihn diesen letzten entscheidenden Schritt tun zu lassen. Endgültig dazu gebracht hatte ihn die Entdeckung, dass die Co-Op City nicht in Brooklyn, sondern in der Bronx lag. Zumindest in dieser Welt. Der einzigen Welt, die wichtig war.

»Vielleicht ist er ja gar nicht zu Hause«, sagte Roland, während um sie herum die ganze Welt wartete. »Vielleicht ist dieser Mann, der uns geschaffen hat, nicht zu Hause.«

»Du weißt, dass er das ist.«

Roland nickte. Und in seinen Augen leuchtete das alte Licht, der Widerschein eines Feuers, das nie erloschen war, das seinen Weg entlang dem Balken seit seinem Fortgang aus Gilead erhellt hatte.

»Dann fahr zu!«, rief er heiser aus. »Fahr zu, um deines Vaters willen! Ist er ein Gott – unser Gott –, will ich ihm ins Auge blicken und ihn nach dem Weg zum Turm fragen!«

»Würdest du ihn nicht erst nach dem Weg zu Susannah fragen wollen?«

Sobald Eddie diese Frage gestellt hatte, bereute er sie auch schon wieder und hoffte, dass der Revolvermann nicht darauf antworten würde.

Das tat Roland auch nicht. Er machte lediglich eine kreisende Bewegung mit den verbliebenen Fingern seiner rechten Hand: Los, los.

Eddie stellte den Hebel wieder auf D und bog dann auf die unbefestigte Straße ab. Er fuhr sie in eine gewaltige singende Kraft hinein, die wie ein Sturmwind durch sie hindurchzugehen und in etwas zu verwandeln schien, das so substanzlos wie ein Gedanke oder ein Traum im Kopf irgendeines schlafenden Gottes war.

 

 

3

 

Nach einer Viertelmeile gabelte die Straße sich. Eddie nahm die linke Abzweigung, obwohl auf dem dorthin zeigenden Wegweiser nicht etwa KING, sondern ROWDEN stand. Der von ihrem Wagen aufgewirbelte Staub hing im Rückspiegel. Der sie umgebende Gesang war ein sanftes Getöse, das ihn wie ein flüssiges Arzneimittel durchdrang. Die Nackenhaare sträubten sich ihm noch immer, und seine Muskeln zitterten. Hätte er jetzt den Revolver ziehen müssen, wäre das verdammte Ding ihm wahrscheinlich aus der Hand gefallen, das wusste er. Selbst wenn er es geschafft hätte, ihn in der Hand zu behalten, hätte er unmöglich zielen können. Er begriff nicht, wie der Mann, zu dem sie wollten, inmitten dieses Gesangs leben und essen oder schlafen oder gar Storys schreiben konnte. Aber natürlich war King diesem Geräusch nicht nur nahe; lag Eddie richtig, war King der Quell dieses Geräuschs.

Aber was ist, wenn er eine Familie hat? Und falls nicht, was ist dann mit den Nachbarn?

Rechts vor ihnen lag eine Einfahrt, und er…

»Eddie, halt!« Es war Roland, dessen Stimme jedoch völlig anders als sonst klang. Die Sonnenbräune aus der Calla konnte nicht verdecken, dass er leichenblass war.

Eddie hielt an. Roland fummelte am Griff auf seiner Seite herum, bekam die Tür aber nicht auf und stemmte sich deshalb bis zur Hüfte aus dem Fenster (Eddie hörte das metallische Geräusch, mit dem Rolands Gürtelschnalle die verchromte Blende über dem Fenstergummi streifte) und übergab sich auf den gewalzten Straßenbelag. Als er sich wieder auf den Beifahrersitz zurücksinken ließ, wirkte er erschöpft und begeistert zugleich. Seine blauen Augen, die Eddies Blick erwiderten, wirkten uralt und glitzerten. »Fahr weiter.«

»Roland, willst du wirklich…«

Roland, der durch die staubige Windschutzscheibe des Fords geradeaus sah, machte nur die kreisende Bewegung mit der Rechten. Los, los! Um deines Vaters willen!

Eddie fuhr weiter.

 

 

4

 

Es war die Art von Haus, die Immobilienmakler als »Ranch« bezeichneten, was Eddie aber nicht sonderlich überraschte. Ihn überraschte vielmehr, wie bescheiden das Haus war. Dann erinnerte er sich daran, dass nicht jeder Schriftsteller ein reicher Autor war, was vermutlich erst recht für junge Schriftsteller galt. Irgendeine Art Druckfehler hatte seinen zweiten Roman anscheinend zu einem unter Bibliomanen sehr begehrten Objekt gemacht, aber Eddie bezweifelte, dass King für solche Dinge jemals eine Provision erhielt. Oder Tantiemen, falls das der richtige Ausdruck dafür war.

Trotzdem stand auf der Wendefläche vor dem Haus ein ziemlich neuer Jeep Cherokee, über dessen Flanke ein flotter Indianerstreifen verlief, und das ließ darauf schließen, dass Stephen King auch nicht gerade für seine Kunst hungerte. Auf dem Rasen vor dem Haus stand ein Klettergerüst, um das herum nicht wenig Plastikspielzeug verstreut war. Bei diesem Anblick sank Eddie der Mut. Eine Lektion, die ihn die Calla nachdrücklich gelehrt hatte, war die, dass Kinder alles komplizierten. Den Spielsachen nach lebten in diesem Haus kleine Kinder. Und dann kreuzten hier zwei Männer auf, die große Kaliber trugen. Männer, die gegenwärtig nicht unbedingt bei klarem Verstand waren.

Eddie stellte den Motor ab. Eine Krähe krächzte. Ein Motorboot – seinem Geräusch nach größer als das vorige – brummte vorbei. Jenseits des Hauses glitzerte helles Sonnenlicht auf blauem Wasser. Und die Stimmen sangen Come, come, come-come-commala.

Dann war ein gedämpftes Rumsen zu hören, mit dem Roland die Tür öffnete, um auszusteigen, wobei er sich schwerfällig zur Seite drehte: schmerzende Hüfte, Gelenkstarre. Eddie stieg mit Beinen aus, die steif wie Stöcke waren.

»Tabby? Bist du das?«

Das kam von der rechten Seite des Hauses. Und nun tauchte ein Schatten auf, der vor der Stimme und ihrem Besitzer herlief. Eddie hatte noch nie einen Schatten gesehen, der ihn so erschreckt und zugleich fasziniert hatte. Er dachte (und war sich dessen absolut sicher): Dort kommt mein Schöpfer. Das ist er, aye, gewisslich wahr. Und die Stimmen sangen: Commala-come-acht, er, der mich gemacht.

»Hast du was vergessen, Darling?« Jedoch klang das letzte Wort nach Neuengland-Art wie Daaa-lin, so wie John Cullum es ausgesprochen hätte. Und dann kam der Hausherr, dann kam er. Er sah sie und blieb stehen. Er sah Roland und blieb stehen. Zugleich verstummten die singenden Stimmen, und das Brummen des Motorboots schien ebenfalls aufzuhören. Einen Augenblick lang hing die gesamte Welt in der Schwebe. Dann machte der Mann kehrt und rannte davon. Jedoch nicht, bevor Eddie den schrecklichen, wie vom Donner gerührten Ausdruck des Wiedererkennens auf seinem Gesicht gesehen hatte.

Roland war blitzschnell hinter ihm her – wie eine Katze hinter einem Vogel.

 

 

5

 

Aber Sai King war ein Mensch, kein Vogel. Er konnte nicht fliegen, und es gab eigentlich keine Fluchtmöglichkeit für ihn. Die sanft abfallende Rasenfläche neben dem Haus wurde nur durch einen betonierten Weg unterbrochen, der zu etwas führte, was der Brunnen oder eine Art Abwasserpumpanlage sein konnte. An den Rasen schloss sich ein mit weiteren Spielsachen übersäter winziger Uferabschnitt an. Und dahinter kam der See. Der Mann erreichte das Ufer, platschte ins Wasser und drehte sich dann so unbeholfen um, dass er fast gestürzt wäre.

Roland kam im Sand schlitternd zum Stehen. Stephen King und er starrten sich an. Eddie, der ungefähr zehn Schritte hinter Roland stand, beobachtete die beiden. Der Gesang hatte ebenso wieder eingesetzt wie das gleichmäßige Brummen des Motorboots. Vielleicht hatten sie nie aufgehört, wenngleich Eddie glaubte, es besser zu wissen.

Der Mann im Wasser hielt sich wie ein Kind die Augen zu. »Ihr seid nicht da«, sagte er.

»Doch, Sai.« Rolands Stimme war sanft und ehrfürchtig zugleich. »Nehmt die Hände von den Augen, Stephen von Bridgton. Lasst sie sinken und seht mich sehr wohl an.«

»Vielleicht ein Nervenzusammenbruch«, sagte der Mann im Wasser, aber er ließ langsam die Hände sinken. Er trug eine Brille mit starken Gläsern in einem strengen schwarzen Gestell. Einer der Bügel war mit einem Stück Klebeband geflickt. Sein Haar war entweder schwarz oder tiefbraun. Der Bart war eindeutig schwarz, und die ersten weißen Fäden darin überraschten durch ihre Leuchtkraft. Zu den Jeans trug er ein T-Shirt, auf dem THE RAMONES und ROCKET TO RUSSIA und GABBA-GABBA-HEY stand. Er sah aus, als finge er an, in mittlerem Alter Speck anzusetzen, aber er war noch nicht richtig als dick zu bezeichnen. Er war groß und so aschfahl wie Roland. Ohne wirklich überrascht zu sein, stellte Eddie fest, dass Stephen King wie Roland aussah. Wegen des Altersunterschieds konnte man sie unmöglich für Zwillinge halten, aber Vater und Sohn? Ja. Ohne weiteres.

Roland tippte sich dreimal an die Kehle, dann schüttelte er den Kopf. Das genügte nicht. Das reichte nicht aus. Eddie beobachtete erschrocken und fasziniert zugleich, wie der Revolvermann inmitten der herumliegenden bunten Plastikspielsachen auf die Knie sank und die zur Faust geballte Rechte an die Stirn legte.

»Heil, Wörterschmied«, sagte er. »Es kommen zu Euch Roland Deschain von Gilead, das einst war, und Eddie Dean von New York. Werdet Ihr Euch uns öffnen, wenn wir uns Euch öffnen?«

King lachte. Angesichts der Bedeutung von Rolands Worten fand Eddie diesen Laut schockierend. »Ich… Mann, das kann nicht wirklich passieren.« Und dann zu sich selbst: »Oder etwa doch?«

Roland, weiterhin auf den Knien, fuhr fort, als hätte der Mann im Wasser weder gelacht noch gesprochen. »Seht Ihr uns als das, was wir sind, und billigt Ihr, was wir tun?«

»Wärt ihr real, wärt ihr Revolvermänner.« King starrte Roland durch dicke Brillengläser an. »Revolvermänner auf der Suche nach dem Dunklen Turm.«

Das war’s, dachte Eddie, während die Stimmen auf einmal lauter klangen und das Sonnenlicht auf dem blauen Wasser glitzerte. Das ist der endgültige Beweis.

»Ihr sprecht wahrhaftig, Sai. Wir suchen Hilfe und Beistand, Stephen von Bridgton. Werdet Ihr sie uns gewähren?«

»Mister, ich weiß nicht, wer Ihr Freund ist, aber was Sie betrifft… Mann, ich habe dich geschaffen. Du kannst einfach nicht dort stehen, der einzige Ort nämlich, an dem du existierst, ist hier!« Er schlug sich mit der Faust an die Stirnmitte, als wollte er Roland parodieren. Dann deutete er auf sein Haus. Auf sein Haus im Ranchstil. »Und dort drinnen. Du bist auch dort drinnen, glaube ich. In einer Schreibtischschublade oder vielleicht in einer Kiste in der Garage. Du bist ein unerledigter Vorgang. Ich habe nicht mehr an dich gedacht, seit… seit…«

Seine Stimme war dünn geworden. Nun begann er wie jemand zu schwanken, der leise, aber köstliche Musik hörte, und seine Knie gaben nach. Er sackte zusammen.

»Roland!«, schrie Eddie und stürzte endlich nach vorn. »Scheiße, der Mann hat einen Herzanfall!« Dabei wusste er es schon besser (oder hoffte es zumindest). Weil der Gesang unverändert laut blieb. Weil die Gesichter in den Bäumen und Schatten unverändert klar blieben.

Der Revolvermann bückte sich und packte King – der schon angefangen hatte, schwach um sich zu schlagen – unter den Armen. »Er ist nur ohnmächtig geworden. Wer könnte ihm das verübeln. Hilf mir, ihn ins Haus zu schaffen.«

 

 

6

 

Das Elternschlafzimmer zeichnete sich durch einen herrlichen Blick auf den See und einen scheußlichen purpurroten Teppich aus. Eddie saß auf dem Bett und beobachtete durch die Badezimmertür, wie King seine nassen Turnschuhe, Socken, Jeans und auch das T-Shirt auszog und dann kurz zwischen Tür und gekachelte Wand trat, um seine nasse Unterhose gegen eine trockene zu vertauschen. Er hatte keine Einwände erhoben, als Eddie ihm ins Schlafzimmer gefolgt war. Seit er wieder zu sich gekommen war – und er war nicht länger als dreißig Sekunden ohnmächtig gewesen –, hatte er eine fast unheimliche Ruhe an den Tag gelegt.

Jetzt kam er aus dem Bad und ging zur Kommode hinüber. »Will mir jemand einen Streich spielen?«, sagte er, während er nach trockenen Jeans und einem frischen T-Shirt wühlte. Eddie fand, dass Kings Haus von Geld sprach – zumindest von einigem. Der Teufel mochte wissen, wovon seine Klamotten sprachen. »Ist es etwas, was Mac McCutcheon und Floyd Calderwood sich ausgedacht haben?«

»Diese beiden Männer kenne ich nicht, aber es ist kein Streich.«

»Mag sein, aber der Mann kann auch nicht real sein.« King stieg in die Jeans. Er sprach in vernünftigem Ton mit Eddie. »Das heißt, ich habe immerhin über ihn geschrieben!«

Eddie nickte. »Das ist mir inzwischen auch klar. Aber er ist trotzdem real. Ich bin seit…« Seit wann? Eddie wusste es nicht mehr. »… seit längerem mit ihm zusammen«, sagte er. »Sie haben also über ihn geschrieben, aber nicht über mich?«

»Fühlen Sie sich übergangen?«

Eddie lachte, aber ehrlich gesagt fühlte er sich tatsächlich übergangen. Zumindest ein bisschen. Vielleicht war King ja nur noch nicht zu ihm gekommen. Und wenn das stimmte, konnte er sich keineswegs in Sicherheit wiegen, oder?

»Irgendwie fühlt sich das Ganze nicht wie ein Nervenzusammenbruch an«, sagte King, »aber das tun sie wohl nie.«

»Sie haben keinen Nervenzusammenbruch, aber ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, Sai. Dieser Mann…«

»Roland. Roland von… Gilead?«

»Ihr sprecht wahrhaftig.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich den Namen Gilead überhaupt verwendet habe«, sagte King. »Ich müsste mal im Manuskript nachsehen, wenn ich’s finden kann. Aber er klingt gut. Wie in: ›Es gibt keine Salbe in Gilead.‹«

»Das verstehe ich nicht.«

»Schon okay, ich auch nicht.« King klaubte Zigaretten, Pall Malls, von der Kommode und zündete sich eine an. »Bitte weiter.«

»Er hat mich durch eine Tür zwischen dieser Welt und seiner Welt gezerrt. Da dachte ich auch, ich hätte einen Nervenzusammenbruch.« Es war nicht diese Welt gewesen, aus der Eddie gezerrt worden war – dicht dran, aber knapp daneben –, und er hatte damals an Entzugserscheinungen, schweren Entzugserscheinungen gelitten, weil er kein Heroin mehr bekam, aber die Situation war kompliziert genug, auch ohne dass er dieses Zeug erwähnte. Trotzdem musste er noch eine Frage stellen, bevor sie sich wieder zu Roland gesellten und das eigentliche Palaver begannen.

»Verraten Sie mir eines, Sai King – wissen Sie, wo die Co-Op City ist?«

King war gerade dabei, Kleingeld und Schlüssel aus seinen nassen Jeans in die trockenen zu stecken, wobei er das rechte Auge wegen des Rauchs zukniff, der von der in den Mundwinkel geklemmten Zigarette aufstieg. Jetzt hielt er inne und sah Eddie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist das eine Fangfrage?«

»Nein.«

»Und Sie erschießen mich auch nicht mit der Kanone, die Sie da tragen, wenn ich die falsche Antwort gebe?«

Eddie lächelte schwach. Für einen Gott war King gar kein so übler Kerl. Dann fiel ihm ein, dass Gott ja Eddies kleine Schwester umgebracht hatte, indem er einen betrunkenen Autofahrer als Werkzeug benutzt hatte, und seinen Bruder Henry ebenfalls. Gott hatte Enrico Balazar geschaffen und Susan Delgado auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Sein Lächeln verblasste. Aber er sagte: »Hier wird niemand erschossen, Sai.«

»In diesem Fall glaube ich, dass die Co-Op City in Brooklyn liegt. Wo Sie Ihrem Akzent nach ja auch herkommen. Also, hab ich die Jahrmarktsgans jetzt gewonnen?«

Eddie fuhr hoch, als hätte ihn jemand mit einer Nadel gestochen. »Was?«

»Ach, nur so eine Redensart meiner Mutter. Wenn mein Bruder Dave und ich alle Aufträge erledigt und alles beim ersten Mal richtig gemacht haben, hat sie immer gesagt: ›Ihr gewinnt die Jahrmarktsgans, Jungs.‹ Es war als Scherz gedacht. Also, gewinne ich den Preis?«

»Ja«, sagte Eddie. »Klar.«

King nickte und drückte dann die Zigarette aus. »Sie sind okay, glaube ich. Aber aus Ihrem Kumpel mache ich mir nicht allzu viel. Hab ich noch nie getan. Wahrscheinlich gehört das mit zu den Gründen, weshalb ich die Story aufgegeben habe.«

Dieses Eingeständnis überraschte Eddie einmal mehr, und er stand vom Bett auf, um seine Bestürzung zu tarnen. »Sie haben sie aufgegeben?«

»Yeah. Der Dunkle Turm, so hat sie geheißen. Sie sollte mein Herr der Ringe, mein Gormenghast, mein Ich-weiß-nicht-was sein. Zweiundzwanzig zu sein hat den Vorteil, dass man garantiert nie zu wenig Ehrgeiz hat. Aber ich habe nicht lange gebraucht, um zu erkennen, dass diese Geschichte einfach zu groß für mein kleines Gehirn war. Zu… ich weiß nicht… ausgefallen? Na ja, dieses Wort passt so gut wie jedes andere, finde ich. Außerdem«, fügte er trocken hinzu, »habe ich das gesamte niedergeschriebene Grundgerüst verloren.«

»Was haben Sie?«

»Klingt verrückt, nicht? Aber die Schriftstellerei kann eben ziemlich verrückt sein. Wissen Sie, dass Ernest Hemingway einmal ein ganzes Buch mit Kurzgeschichten im Zug verloren hat?«

»Wirklich?«

»Wirklich. Er hatte keine Zweitschrift, keine Durchschläge. Einfach poff, weg. So ähnlich ist’s mir auch ergangen. In einer ziemlich feuchten Nacht – vielleicht war ich auch mit Meskalin zugedröhnt, das weiß ich nicht mehr –, habe ich ein vollständiges Grundgerüst für dieses fünf- bis zehntausend Seiten starke Fantasy-Epos geschrieben. Es war ein gutes Exposé, glaube ich. Hat dem Ganzen etwas Form gegeben. Etwas Stil. Und dann habe ich’s verloren. Wahrscheinlich ist es hinten von meinem Motorrad runtergeflogen, als ich aus irgendeiner gottverdammten Bar zurückgekommen bin. So was war mir noch nie passiert. Im Allgemeinen gehe ich mit meiner Arbeit ziemlich sorgfältig um.«

»Mhm«, sagte Eddie und überlegte, ob er fragen sollte: Sind Ihnen ungefähr zu der Zeit, als Sie das Exposé verloren haben, irgendwelche Kerle in grellen Klamotten aufgefallen – Kerle von der Art, die protzige Wagen fahren? Niedere Männer, um es auf den Punkt zu bringen? Irgendjemand mit einem roten Mal in der Stirnmitte? Das wie ein kleiner Kreis aus Blut aussieht? Kurz gesagt, irgendwelche Anzeichen dafür, dass Ihnen jemand Ihr Exposé entwendet haben könnte? Irgendjemand, der Interesse daran haben könnte, dafür zu sorgen, dass Der Dunkle Turm nie zu Ende geschrieben wird?

»Kommen Sie, gehen wir in die Küche rüber. Wir müssen palavern.« Eddie wünschte sich nur, er wüsste, worüber sie palavern sollten. Jedenfalls mussten sie es hinkriegen, was immer es war, weil das hier die reale Welt war, in der es keine zweiten Chancen gab.

 

 

7

 

Roland hatte keine Ahnung, wie man die komplizierte Kaffeemaschine auf der Küchentheke befüllte und danach anstellte, aber auf einem der Regale fand er eine verbeulte Kaffeekanne, die sich nicht sonderlich von der unterschied, die Alain Johns einst, als die drei Jungen nach Mejis gekommen waren, um dort Vieh zu zählen, bei seinen Gunna gehabt hatte. Sai Kings Herd funktionierte elektrisch, aber jedes Kind hätte herausbekommen können, wie man die Kochplatten einschaltete. Als Eddie und King in die Küche kamen, begann das Wasser bereits zu kochen.

»Ich selbst trinke keinen Kaffee«, sagte King und ging an den Eisschrank (wobei er einen weiten Bogen um Roland machte). »Ich trinke sonst auch vor fünf Uhr abends kein Bier, aber ich glaube, heute werde ich eine Ausnahme machen. Mr. Dean?«

»Kaffee genügt mir.«

»Mr. Gilead?«

»Ich heiße Deschain, Sai King. Ich trinke ebenfalls Kaffee, sage Euch meinen Dank.«

Der Schriftsteller öffnete eine Bierdose, indem er sie mit dem oben angebrachten Ring aufriss (eine Erfindung, die Roland oberflächlich clever und fast schwachsinnig verschwenderisch erschien). Die Bierdose zischte kurz, dann breitete sich der angenehme Duft

(commala-come-come)

von Hefe und Hopfen aus. King leerte mindestens die halbe Dose mit einem einzigen Schluck, wischte sich Schaum aus dem Schnurrbart und stellte die Dose dann auf die Theke. Er wirkte weiterhin blass, war aber anscheinend gefasst und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Der Revolvermann fand, dass sich der Mann recht gut hielt, zumindest vorläufig. War es möglich, dass King im hintersten Winkel von Kopf und Herz mit ihrem Besuch gerechnet hatte? Hatte er auf sie gewartet?

»Ihr habt eine Frau und Kinder«, sagte Roland. »Wo sind sie jetzt?«

»Tabbys Eltern leben nördlich von hier in der Nähe von Bangor. Meine Tochter hat die letzte Woche bei Nanna und Poppa verbracht. Tabby ist vor einer Stunde mit unserem Jüngsten – Owen, er ist noch ein Baby – dorthin aufgebrochen. Meinen zweiten Sohn Joe soll ich in…« Er sah auf seine Uhr. »… in ungefähr einer Stunde abholen. Ich wollte noch etwas fertig schreiben, deshalb benutzen wir heute beide Autos.«

Roland dachte darüber nach. Das alles konnte stimmen. Und es war fast sicher Kings Art, ihnen mitzuteilen, falls ihm etwas zustoße, werde er sehr bald vermisst werden.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles wirklich passiert. Habe ich das schon oft genug gesagt, um lästig zu sein? Jedenfalls gleicht es zu sehr einer meiner Storys, um real sein zu können.«

»Zum Beispiel Brennen muss Salem«, schlug Eddie vor.

King zog die Augenbrauen hoch. »Den Roman kennen Sie also? Gibt es da, wo immer Sie herkommen, etwa Bücherclubs?« Er kippte sein restliches Bier. Er trinkt, dachte Roland, wie ein Mann, der ein Talent dafür besitzt. »Vor ein paar Stunden hat’s ganz weit drüben jenseits des Sees Sirenengeheul und eine riesige Rauchsäule gegeben. Die konnte ich von meinem Arbeitszimmer aus sehen. Ursprünglich dachte ich, das ist bestimmt nur ein Grasbrand, vielleicht in Harrison oder Stoneham, aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Hat das irgendwas mit euch zu tun gehabt, Jungs? Das hat es, oder nicht?«

»Er schreibt darüber, Roland«, sagte Eddie. »Oder hat’s jedenfalls getan und ein vollständiges Grundgerüst dafür entwickelt. Er sagt, dass er damit aufgehört hat. Aber der Roman heißt Der Dunkle Turm. Also weiß er Bescheid.«

King lächelte, aber Roland fand, dass der Mann zum ersten Mal wahrhaft und zutiefst erschrocken aussah. Das heißt, wenn man von dem ersten Augenblick absah, in dem er um die Hausecke gekommen war und sie gesehen hatte. Als er seine Schöpfung vor sich gesehen hatte.

Bin ich das wirklich? Seine Schöpfung?

Das Ganze fühlte sich ebenso falsch wie richtig an. Das Nachdenken darüber bewirkte aber nur, dass Roland der Kopf schmerzte und der Magen erneut rebellieren wollte.

»›Er weiß Bescheid‹«, sagte King. »Mir gefällt nicht, wie das klingt, Jungs. Wenn in einer Story jemand Er weiß Bescheid sagt, lautet die nächste Zeile meistens Wir müssen ihn umlegen.«

»Glaubt mir, wenn ich Euch etwas versichere«, sagte Roland. Er sprach mit großem Nachdruck. »Euch umzubringen wäre das Letzte, was wir tun wollten, Sai King. Eure Feinde sind unsere Feinde, und alle, die Euch auf Eurem Weg weiterzuhelfen bereit sind, sind unsere Freunde.«

»Amen«, sagte Eddie.

King öffnete den Eisschrank und nahm sich ein weiteres Bier. Roland sah in dem Kasten sehr viele Dosen, die in frostiger Habtachtstellung dastanden. Mehr Bierdosen als sonst etwas. »In diesem Fall«, sagte er, »sollten Sie mich lieber Steve nennen.«

 

 

8

 

»Erzählt uns die Geschichte, in der ich vorkomme«, forderte Roland ihn auf.

King lehnte so an der Küchentheke, dass sein Kopf von einem Sonnenstrahl beschienen wurde. Er trank einen Schluck Bier und dachte offenbar über Rolands Aufforderung nach. Dabei sah Eddie es zum ersten Mal ganz schwach – vielleicht als Kontrast zum Sonnenlicht. Einen staubigen schwarzen Schatten, der den gesamten Mann einhüllte. Undeutlich. Kaum sichtbar. Aber vorhanden. Wie das Dunkel, das man hinter Dingen versteckt sah, wenn man flitzen ging. War das die Erklärung dafür? Eddie glaubte es nicht.

Kaum zu sehen.

Aber da.

»Also«, sagte King, »ich kann eigentlich nicht besonders gut Geschichten erzählen. Das klingt vielleicht paradox, ist es aber nicht, aus diesem Grund schreibe ich sie nämlich nieder.«

Redet er wie Roland oder wie ich?, fragte Eddie sich. Er konnte es nicht genau sagen. Erst viel später erkannte er, daß King wie sie alle redete – sogar wie Rosalita Munoz, Pere Callahans Haushälterin in der Calla.

Auf einmal hellte sich die Miene des Schriftstellers auf. »Was haltet ihr davon, wenn ich mal nachsehe, ob ich das Manuskript finden kann? Im Keller habe ich vier oder fünf Kartons mit geplatzten Storys. Der Dunkle Turm müsste eigentlich dabei sein.« Geplatzt. Geplatzte Storys. Eddie gefiel überhaupt nicht, wie das klang. »Ihr könntet dann ein bisschen darin herumlesen, während ich meinen Kleinen abhole.« Er grinste und ließ dabei große, schiefe Zähne sehen. »Vielleicht seid ihr ja nicht mehr da, wenn ich zurückkomme, und ich kann dann daran arbeiten, mir einzureden, euch nie gesehen zu haben.«

Eddie sah zu Roland hinüber, der kaum merklich den Kopf schüttelte. Auf dem Herd blinkte der erste Tropfen Kaffee am Glasdeckel der Kaffeekanne.

»Sai King…«, begann Eddie.

»Steve.«

»Gut, also Steve. Wir sollten diese Sache rasch zu Ende bringen. Lassen wir Vertrauensfragen einmal beiseite, haben wir’s verdammt eilig.«

»Klar, klar, natürlich, im Wettlauf mit der Zeit«, sagte King und lachte. Das klang reizend dämlich. Eddie hatte den Verdacht, dass das Bier zu wirken begann, und fragte sich, ob der Mann etwa ein ausgemachter Trinker war. Nach so kurzer Bekanntschaft ließ sich das unmöglich mit Bestimmtheit sagen, aber Eddie glaubte, einige Anzeichen dafür erkennen zu können. Er konnte sich nicht an allzu viel aus dem Englischunterricht an der Highschool erinnern, aber er wusste noch, dass irgendein Lehrer einmal erzählt hatte, Schriftsteller tränken wirklich gern. Hemingway, Faulkner, Fitzgerald und der Kerl, der »Der Rabe« geschrieben hatte. Schriftsteller tranken einfach gern.

»Ich lache nicht über euch, Jungs«, sagte King. »Tatsächlich verstößt es sogar gegen meinen Glauben, Männer auszulachen, die mit Revolvern bewaffnet sind. Ich lache nur, weil in Büchern, wie ich sie schreibe, fast immer Leute im Wettlauf mit der Zeit vorkommen. Möchtet ihr mal die erste Zeile von Der Dunkle Turm hören?«

»Klar, wenn Sie sich daran erinnern können«, sagte Eddie.

Roland sagte nichts, aber seine Augen leuchteten hell unter Brauen, die mittlerweile von einzelnen weißen Fäden durchzogen waren.

»Ach, an die erinnere ich mich gut. Sie war vielleicht die beste Eröffnungszeile, die ich je geschrieben habe.« King stellte sein Bier beiseite und hob dann die Hände mit jeweils zu einer Art Fragezeichen gekrümmten Zeige- und Mittelfingern. »›Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm.‹ Der Rest mag aufgeblasen und schwammig gewesen sein, aber das war echt sauber, o Mann.« Er ließ die Hände sinken und griff wieder nach dem Bier. »Zum dreiundvierzigsten Mal – passiert das alles hier wirklich?«

»Hieß der Mann in Schwarz etwa Walter?«, fragte Roland.

Die Bierdose erreichte nicht ganz Kings Lippen, und er verschüttete etwas von ihrem Inhalt auf sein frisches Hemd. Roland nickte, als wäre dieses Missgeschick Antwort genug.

»Werden Sie uns bloß nicht wieder ohnmächtig«, sagte Eddie in leicht spitzem Ton. »Für mich war einmal überzeugend genug.«

King nickte, trank einen weiteren Schluck Bier und schien sich dabei mit aller Kraft zusammenzureißen. Er sah wieder auf die Uhr. »Haben Sie wirklich die Absicht, mich meinen kleinen Sohn abholen zu lassen, Gentlemen?«

»Ja«, sagte Roland.

»Sie…« King machte eine nachdenkliche Pause, dann lächelte er. »Setzen Sie Uhr und Urkunde darauf?«

Ohne dieses Lächeln zu erwidern, sagte Roland: »Das tue ich.«

»Okay, dann also Der Dunkle Turm in der Kurzfassung von Reader’s Digest. Auch wenn Geschichtenerzählen nicht meine Stärke ist, werde ich mein Bestes tun.«

 

 

9

 

Roland hörte zu, als hingen davon Welten ab, weil er sich ganz sicher war, dass sie das auch taten. King hatte seine Version von Rolands Leben mit den Lagerfeuern begonnen, was dem Revolvermann gefiel, weil sie bestätigten, dass Walter im Kern seines Wesens menschlich war. Von dort aus, sagte King, ging die Story zu Rolands Begegnung mit einem einfachen Farmer am Rand der Wüste zurück. Brown, so hatte er geheißen.

Leben für deine Saat, hörte Roland wie ein Echo über die Jahre hinweg, dann Leben für deine eigene. Er hatte Brown und Browns zahmen Raben Zoltan schon längst vergessen, nicht aber dieser Fremde.

»Am besten hat mir gefallen«, sagte King, »wie die Story sozusagen rückwärts ging. Vom rein technischen Standpunkt aus gesehen, war das sehr interessant. Ich fange mit Ihnen in der Wüste an, dann gleite ich eine Raste weit zurück zu Ihrer Begegnung mit Brown und Zoltan. Zoltan war übrigens der Name eines Folk-Sängers und Gitarristen, den ich mal an der University of Maine gekannt habe. Jedenfalls gleitet die Story von der Hütte des Kleinfarmers aus eine weitere Raste rückwärts zu Ihrer Ankunft in der Kleinstadt Tull – die nach einer Rockgruppe benannt ist…«

»Jethro Tull«, sagte Eddie. »Klar, verdammt noch mal! Ich hab’s gewusst, dass ich den Namen irgendwoher kenne. Was ist mit ZZ Top, Steve? Kennen Sie die auch?« Eddie beobachtete King, sah seine Verständnislosigkeit und lächelte. »Vermutlich liegt das noch nicht ganz in Ihrem Wann. Möglicherweise haben Sie auch nur noch nichts von denen gehört.«

Roland ließ die Finger kreisen: Weiter, weiter. Und er forderte Eddie mit einem Blick auf, King nicht wieder zu unterbrechen.

»Jedenfalls gleitet die Story von Roland, der nach Tull kommt, eine weitere Raste zurück, um zu erzählen, wie Nort der Grasesser starb und von Walter wieder zum Leben erweckt wurde. Sie sehen langsam, was mich daran gekitzelt hat, nicht?

Der erste Teil der Geschichte wurde praktisch im Rückwärtsgang erzählt. Sozusagen ärschlings.«

Roland hatte kein Interesse an den technischen Aspekten, die King so zu faszinieren schienen; schließlich sprachen sie hier über sein Leben, sein Leben, und für ihn war es immer vorangeschritten. Zumindest bis er das Westliche Meer und die Türen erreicht hatte, durch die er seine Reisegefährten in seine Welt gezogen hatte.

Aber Stephen King schien nichts von diesen Türen zu wissen. Er hatte über die Zwischenstation und Rolands Begegnung mit Jake Chambers geschrieben; er hatte von ihrem ersten Zug in die Berge und dann durch sie hindurch geschrieben; er hatte darüber geschrieben, wie Jake von dem Mann, dem er vertraute und den er lieben gelernt hatte, verraten worden war.

King beobachtete, wie Roland bei diesem Teil der Erzählung den Kopf hängen ließ, und sprach ihn eigenartig sanft an. »Kein Grund, so beschämt dreinzublicken, Mr. Deschain. Schließlich habe ich Sie zu all dem veranlasst.«

Aber Roland musste sich erneut fragen, ob das auch wirklich stimmte.

King hatte Rolands Palaver mit Walter auf dem staubigen Golgatha, die Weissagung aus den Tarotkarten und Rolands schreckliche Vision geschildert, geradewegs durchs Dach des Universums zu wachsen. Zuletzt, sagte King, habe er darüber geschrieben, dass Roland ans Wasser gegangen sei und sich dort hingesetzt habe. »Sie haben gesagt: ›Ich habe dich geliebt, Jake.‹«

Roland nickte sachlich. »Ich liebe ihn noch immer.«

»Sie sprechen da von ihm, als würde er wirklich existieren.«

Roland sah ihn nüchtern an. »Existiere ich? Oder Ihr?«

King schwieg.

»Was ist dann passiert?«, fragte Eddie.

»Dann, Señor, ist mir die Story ausgegangen – oder ich bin eingeschüchtert worden, wenn Ihnen das besser gefällt, und habe damit aufgehört.«

Eddie wollte jetzt ebenfalls aufhören. Er konnte sehen, wie die Schatten in der Küche länger zu werden begannen, und wollte sich endlich auf die Suche nach Susannah machen, bevor es zu spät war. Er war der Überzeugung, dass Roland und er ziemlich gut wussten, wie man die hiesige Welt verließ, Stephen King würde ihnen nur den Weg zur Turtleback Lane in Lovell erklären müssen, dem Ort, wo die Realität dünn war und – zumindest nach John Cullums Darstellung – in letzter Zeit häufig Wiedergänger aufgetreten waren. Und King würde ihnen den Weg bereitwillig erklären. Würde froh sein, sie auf diese Weise loszuwerden. Aber sie konnten nicht schon jetzt gleich gehen, darüber war Eddie sich trotz seiner Ungeduld im Klaren.

»Ihr habt aufgehört, weil Ihr Euren Gerüstgrund verloren hattet«, sagte Roland.

»Grundgerüst. Und nein, eigentlich nicht.« King war jetzt bei seinem dritten Bier, und Eddie fand, es sei kein Wunder, dass der Mann um die Mitte herum Fett ansetzte; vom Kaloriengehalt her hatte er schon einen Laib Brot zu sich genommen und fing jetzt mit Laib Nr. 2 an. »Ich arbeite fast nie auf der Grundlage eines Exposés. Tatsächlich… nageln Sie mich nicht darauf fest, aber das könnte damals das einzige Mal gewesen sein. Und dann ist mir alles zu groß geworden. Zu fremdartig. Und auch Sie sind ein Problem geworden, Sir oder Sai oder wie immer Sie sich nennen.« King verzog das Gesicht. »Diese Form der Anrede habe jedenfalls nicht ich mir ausgedacht.«

»Zumindest noch nicht«, bemerkte Roland.

»Sie sind als eine Version von Sergio Leones ›Mann ohne Namen‹ ins Leben getreten.«

»In einem Italowestern«, sagte Eddie. »Mann, natürlich! Als mein Bruder Henry noch bei uns zu Hause war, habe ich mir gemeinsam mit ihm hundert von denen im Majestic angesehen. Und als Henry dann in Vietnam war, bin ich allein oder mit meinem Freund Chuggy Coter ins Kino gegangen. Das waren Filme für Kerle.«

King grinste. »Yeah«, sagte er, »aber meine Frau hat auch auf die gestanden, das muss man sich mal vorstellen.«

»Coole Frau!«, rief Eddie aus.

»Yeah, Tab ist ‘ne coole Mieze.« King sah wieder zu Roland hinüber. »Als der Mann ohne Namen – so eine Phantasieversion von Clint Eastwood – waren Sie okay. Hat wirklich Spaß gemacht, Sie zum Partner zu haben.«

»Ist das Eure Auffassung davon?«

»Ja. Aber dann haben Sie sich verändert. Praktisch unter meinen Händen. So sehr, dass ich nicht mehr wusste, ob Sie der Held, der Antiheld oder überhaupt kein Held waren. Und als Sie den Jungen haben fallen lassen… das hat mir den Rest gegeben.«

»Ihr habt gesagt, Ihr hättet mich dazu veranlasst.«

King sah Roland in die Augen – Blau begegnete Blau inmitten des nie verstummenden Chors – und sagte: »Das war gelogen, Bruder.«

 

 

10

 

Nun folgte eine kleine Pause, während sie alle darüber nachdachten. Schließlich sagte King: »Sie haben angefangen, mich zu ängstigen, deshalb habe ich aufgehört, über Sie zu schreiben. Ich habe Sie in einen Karton gelegt und in eine Schublade weggesperrt; anschließend habe ich eine Reihe von Kurzgeschichten geschrieben, die ich an verschiedene Herrenmagazine verkauft habe.« Er überlegte, dann nickte er. »Meine Umstände haben sich verändert, nachdem ich Sie weggesperrt hatte, mein Freund, und zwar zum Besseren. Ich habe angefangen, mein Zeug an den Mann zu bringen. Habe Tabby einen Heiratsantrag gemacht. Wenig später habe ich dann ein Buch mit dem Titel Carrie angefangen. Das war zwar nicht mein erster Roman, aber der erste, den ich verkauft habe, und damit war ich etabliert. Alles das, nachdem ich mich von Roland verabschiedet hatte, also wünsche ich ihm lange, glückliche Trails. Und was passiert dann? Sechs, sieben Jahre später komme ich um eine Ecke meines Hauses und sehe Sie in der verdammten Einfahrt stehen – lebensgroß wie der Gottseibeiuns, wie meine Mutter immer gesagt hat. Und ich kann jetzt nur sagen, dass die optimistischste Schlussfolgerung, die ich ziehen kann, auf eine durch Überarbeitung verursachte Halluzination hinausläuft. Nur glaube ich nicht daran. Wie denn auch?« Kings Stimme wurde höher, klang jetzt dünn. Eddie verwechselte das aber nicht mit Angst; aus dieser Stimme sprach Empörung. »Wie sollte ich das, wo ich doch die Schatten sehe, die ihr werft, das Blut an Ihrem Bein…« Dabei zeigte er auf Eddie. »Und den Staub auf Ihrem Gesicht.« Das galt Roland. »Ihr habt mir die ganze gottverdammte Entscheidungsfreiheit geraubt, und ich kann spüren, wie mein Verstand… ich weiß nicht recht… kippt? Ist das der richtige Ausdruck? Irgendwie schon. Also: kippt.«

»Ihr habt nicht einfach aufgehört«, sagte Roland, indem er dieses Lamento völlig als den schwächlichen Unsinn ignorierte, der es vermutlich war.

»Nein?«

»Ich vermute, dass man beim Geschichtenschreiben Druck ausüben muss. Vielleicht gegen die Un-Schöpfung andrücken. Und während Ihr eines Tages dabei wart, habt Ihr Gegendruck verspürt.«

Nach Eddies Empfinden dachte King sehr lange darüber nach. Dann nickte der Schriftsteller. »Damit könnten Sie Recht haben. Es war jedenfalls mehr als das übliche Gefühl, ausgelaugt zu sein. Daran bin ich gewöhnt, obwohl es sich nicht mehr so häufig einstellt wie früher. Es ist… ich weiß nicht, eines Tages macht’s einem plötzlich weniger Spaß, dazusitzen und auf die Tasten einzuhacken. Man sieht die Dinge weniger klar. Es ist weniger spannend, sich selbst eine Geschichte zu erzählen. Und dann, damit alles noch schlimmer wird, hat man eine neue Idee, die noch blitzblank ist, frisch aus dem Ausstellungsraum, ohne einen einzigen Kratzer. Von einem selbst völlig unversaut, zumindest vorläufig. Und… na ja…«

»Ihr habt also Gegendruck verspürt.« Roland hatte in demselben völlig ausdruckslosen Ton wie zuvor weitergesprochen.

»Yeah.« King wurde plötzlich so leise, dass Eddie ihn kaum verstehen konnte. »BETRETEN VERBOTEN. KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE. VORSICHT HOCHSPANNUNG.« Er hielt inne. »Vielleicht sogar LEBENSGEFAHR.«

Dieser schwache Schatten, den ich um dich züngeln sehe, würde dir nicht gefallen, dachte Eddie. Dieser schwarze Nimbus. Nein, Sai, der würde dir gewiss nicht gefallen, und was sehe ich da? Die Zigaretten? Das Bier? Vielleicht ein anderes Suchtmittel, für das du eine Vorliebe hast? Einen tödlichen Unfall bei einer nächtlichen Trunkenheitsfahrt? Und wie weit in der Zukunft? Wie viele Jahre?

Er sah auf die Uhr über der Küchenanrichte und stellte erschrocken fest, dass es schon Viertel vor vier war. »Roland, es wird spät. Dieser Mann muss seinen Jungen abholen.« Und wir müssen meine Frau finden, bevor Mia das Baby bekommt, das sie sich zu teilen scheinen, und der Scharlachrote König keine Verwendung mehr für den Susannah-Teil ihres Ichs hat.

»Nur noch ein bisschen«, sagte Roland und senkte wieder den Kopf, ohne etwas zu sagen. Dachte nach. Versuchte zu entscheiden, welche Fragen die richtigen Fragen waren. Vielleicht durfte es nur die eine richtige Frage sein. Und die war wichtig, das wusste Eddie, weil sie nie imstande sein würden, zu diesem neunten Tag des Julis 1977 zurückzukehren. Sie konnten diesen Tag vielleicht in einer anderen Welt erneut besuchen, aber nicht in dieser hier. Und würde Stephen King in irgendeiner dieser anderen Welten existieren? Das hielt Eddie für eher unwahrscheinlich. Vermutlich nicht.

Während Roland nachdachte, fragte Eddie den Schriftsteller, ob der Name Blaine ihm etwas Spezielles sage.

»Nein. Eigentlich nicht.«

»Wie steht’s mit Lud?«

»Wie in ›Ludditen‹? Das war doch irgendeine Sekte von Maschinenstürmern, nicht? Neunzehntes Jahrhundert, glaube ich, aber die Anfänge können noch weiter zurückreichen. Wenn ich mich recht erinnere, sind sie im neunzehnten Jahrhundert in Fabriken eingedrungen und haben die Maschinen zertrümmert.« Er grinste und ließ dabei wieder seine schiefen Zähne sehen. »Ich glaube, sie waren so was wie die Greenpeace-Organisation der damaligen Zeit.«

»Beryl Evans? Kommt Ihnen dieser Name bekannt vor?«

»Nein.«

»Henchick? Henchick von den Manni?«

»Nein. Wer sind die Manni?«

»Zu kompliziert, um hier erörtert zu werden. Was ist mit Claudia y Inez Bachman? Sagt Ihnen dieser…«

King brach in Lachen aus, was Eddie nicht wenig verblüffte. Aber auch der Schriftsteller wirkte verblüfft. »Dickys Frau!«, rief er aus. »Wie zum Teufel haben Sie von ihr erfahren?«

»Überhaupt nicht. Wer ist Dicky?«

»Richard Bachman. Einige meiner ersten Romane habe ich unter einem Pseudonym als Taschenbücher veröffentlicht. Als Richard Bachman. Eines Abends, als ich ziemlich betrunken war, habe ich eine ganze Autorenvita für ihn erfunden – bis hin zu seinem Sieg über die Leukämie, die ihn als Erwachsenen befallen hatte, ein Hurra für Dicky. Jedenfalls ist Claudia seine Frau. Claudia Inez Bachman. Wie das ›y‹ dort reingekommen ist, weiß ich allerdings nicht.«

Eddie fühlte sich, als wäre jäh ein riesiger unsichtbarer Stein von seiner Brust und aus seinem Leben gerollt. Claudia Inez Bachman hatte nur achtzehn Buchstaben. Also hatte jemand das ›y‹ eingefügt – und wozu? Damit es neunzehn wurden, versteht sich. Claudia Bachman war nur ein Name. Aber Claudia y Inez Bachmann… sie gehörte zu ihrem Ka-Tet.

Eddie glaubte, dass sie soeben eines der Dinge erhalten hatten, um deretwillen sie hergekommen waren. Ja. Stephen King hatte sie erschaffen. Zumindest hatte er Roland, Jake und Father Callahan erschaffen. Zu den restlichen Personen war er noch nicht gekommen. Und er hatte Roland wie eine Figur auf dem Schachbrett bewegt: Geh nach Tull, Roland, schlaf mit Allie, Roland, verfolge Walter durch die Wüste, Roland. Aber selbst während er seine Hauptfigur übers Brett bewegt hatte, war King seinerseits bewegt worden. Darauf bestand dieser eine in den Namen der Frau seines Pseudonyms eingefügte Buchstabe. Irgendetwas hatte Claudia Bachman neunzehn machen wollen. Deshalb…

»Steve.«

»Ja, Eddie von New York.« King lächelte unsicher.

Eddie konnte spüren, wie sein Herz laut pochte. »Was bedeutet Ihnen die Zahl Neunzehn?«

King überlegte. Draußen seufzte der Wind in den Bäumen, die Motorboote brummten, und die Krähe – oder eine andere – krächzte. Entlang diesem See würde bald die Stunde des abendlichen Grillens anbrechen, wonach vielleicht eine Fahrt in die Stadt zum Konzert einer Blaskapelle auf dem Hauptplatz folgen würde, alles in dieser besten aller möglichen Welten. Oder vielleicht der einzig realen.

Schließlich schüttelte King den Kopf, und Eddie atmete frustriert seufzend aus.

»Sorry. Neunzehn ist eine Primzahl, aber mehr fällt mir dazu nicht ein. Primzahlen faszinieren mich irgendwie, haben es mir seit Mr. Soychaks Mathe-Unterricht an der Lisbon High angetan. Und ich glaube, dass ich neunzehn war, als ich meine spätere Frau kennen gelernt habe, aber dem würde sie vielleicht widersprechen. Sie ist von Natur aus streitlustig.«

»Was ist mit neunundneunzig?«

King dachte darüber nach, dann zählte er die Punkte an den Fingern ab. »Ein beschissenes Alter, wenn Sie mich fragen. ›Ninety-nine years on the old rock pile.‹ Ein Song, der – glaube ich – ›The Wreck of Old Ninety-Nine‹ heißt. Nur denke ich in Wirklichkeit vielleicht an ›The Wreck of the Hesperus‹. ›Neunundneunzig Flaschen Bier an der Wand, wir nahmen eine runter und ließen sie rumgehen, da waren’s achtundneunzig Flaschen Bier.‹ Darüber hinaus, nada.«

Diesmal war King mit einem Blick auf die Küchenuhr an der Reihe.

»Wenn ich nicht bald losfahre, ruft Betty Jones an, um sich zu erkundigen, ob ich etwa vergessen habe, dass ich einen Sohn habe. Und sobald ich Joe abgeholt habe, soll ich noch hundertdreißig Meilen weit nach Norden fahren, das kommt dazu. Was vermutlich einfacher wäre, wenn ich mit dem Bier aufhören würde. Und das wäre wiederum einfacher, wenn ich nicht ein paar bewaffnete Spuke bei mir in der Küche sitzen hätte.«

Roland nickte. Er griff nach seinem Waffengurt, zog eine Patrone heraus und begann geistesabwesend, sie zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand zu rollen. »Nur noch eine Frage, wenn’s beliebt. Dann ziehen wir unseres Weges und lassen Euch Euren gehen.«

King nickte ebenfalls. »Fragen Sie also.« Er betrachtete seine dritte Dose Bier, dann leerte er sie mit Bedauern im Blick in den Ausguss.

»Habt Ihr Der Dunkle Turm geschrieben?«

Eddie erschien diese Frage unsinnig, aber Kings Augen leuchteten auf, und er lächelte strahlend. »Nein!«, sagte er. »Und falls ich je ein Buch über Schriftstellerei schreibe – und das könnte ich vermutlich, schließlich habe ich das unterrichtet, bevor ich’s aufgegeben habe, um mich selbst der Schreiberei zu widmen –, werde ich das genau so sagen. Nicht diesen Roman, auch keinen der anderen, nicht richtig. Ich weiß, dass es Schriftsteller gibt, die wirklich schreiben, aber zu denen gehöre ich nicht. Wenn ich versuche, die Handlung selbst voranzubringen, weil die Eingebung einmal ausbleibt, wird die Story, an der ich gerade arbeite, meistens echt Scheiße.«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, wovon Sie da reden«, sagte Eddie.

»Das ist, als ob… he, das ist Klasse!«

Die Patrone, die zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her gerollt war, war mühelos auf Rolands Fingerrücken gesprungen und schien dort über dessen sich kräuselnde Fingerknöchel zu wandern.

»Ja«, stimmte Roland zu, »das ist’s, nicht wahr?«

»So haben Sie Jake an der Zwischenstation hypnotisiert. Damit er sich daran erinnert, wie er umgekommen ist.«

Und Susan, dachte Eddie. Er hat Susan mit derselben Methode hypnotisiert, nur weißt du das noch nicht, Sai King. Oder vielleicht weißt du’s doch. Vielleicht weißt du irgendwo in deinem Innersten bereits alles.

»Ich hab’s schon mal mit Hypnose versucht«, sagte King. »Als ich noch ein Junge war, hat mich irgend so ein Kerl auf dem Jahrmarkt in Topham auf die Bühne geholt und wollte mich dazu bringen, wie eine Henne zu gackern. Das hat aber nicht funktioniert. Das war ungefähr zur selben Zeit, als Buddy Holly gestorben ist. Und der Big Bopper. Und Ritchie Valens. Todana! Ach, Discordia!«

Er schüttelte plötzlich den Kopf, als wollte er ihn klar bekommen, und sah von der tanzenden Patrone zu Rolands Gesicht auf. »Habe ich gerade was gesagt?«

»Nein, Sai.« Roland sah auf die tanzende Patrone hinunter – sie wanderte vor und zurück, vor und zurück –, und Kings Blick wurde natürlich ebenfalls wieder von ihr angezogen.

»Was geschieht, wenn Ihr eine Geschichte macht?«, erkundigte Roland sich. »Zum Beispiel meine Geschichte?«

»Sie kommt einfach«, sagte King. Seine Stimme war leise geworden. Gedankenverloren. »Sie weht in mich hinein – das ist das Gute daran – und kommt dann heraus, wenn ich die Finger bewege. Nie aus dem Kopf. Kommt aus dem Nabel oder irgendwo aus der Bauchgegend. Es hat mal einen Herausgeber gegeben… ich glaube, es war Maxwell Perkins… der gesagt hat, Thomas Wolfe sei…«

Eddie wusste, was Roland da tat, und wusste auch, dass eine Unterbrechung vielleicht schaden würde, aber er konnte sich nicht zurückhalten. »Eine Rose«, sagte er. »Eine Rose, ein Stein, eine nichtgefundene Tür.«

Kings Gesicht leuchtete vor Freude auf, aber sein Blick blieb unverwandt auf die Patrone gerichtet, die weiter über die Grate der Fingerknöchel des Revolvermanns tanzte. »Tatsächlich sind’s ein Stein, ein Blatt, eine Tür«, sagte er. »Aber mir gefällt Rose sogar noch besser.«

Er war völlig eingefangen. Eddie bildete sich ein, fast das Gluckern hören zu können, mit dem das wache Bewusstsein des Mannes ablief. Ihm fiel ein, dass etwas so Prosaisches wie ein in diesem Augenblick klingelndes Telefon den Lauf der gesamten Existenz beeinflussen konnte. Er stand auf, bewegte sich trotz seines steifen schmerzenden Beins lautlos und ging zum Wandtelefon hinüber. Er verdrehte die Telefonschnur zwischen den Fingern und drückte sie zusammen, bis sie brach.

»Eine Rose, ein Stein, eine nichtgefundene Tür«, wiederholte King. »Ja, das könnte Wolfe sein. Maxwell Perkins hat ihn ›eine göttliche Äolsharfe‹ genannt. O Verlorener und vom Wind Betrauerter! All die vergessenen Gesichter! O Discordia!«

»Wie kommt eine Geschichte zu Euch, Sai?«, fragte Roland ruhig.

»Ich mag diese New Ager nicht… die Kristallschwenker… all diese Egal-Hauptsache-es-liest-sich-gut-Schreiberlinge… aber sie nennen es Channeling, und das… so fühlt es sich an… wie etwas in einem Kanal…«

»Oder entlang einem Balken?«, fragte Roland.

»Alle Dinge dienen dem Balken«, sagte der Schriftsteller und seufzte. Es war ein in seiner Traurigkeit schrecklicher Laut. Eddie spürte seinen ganzen Rücken in hilflosen Wellen von Gänsehaut prickeln.

 

 

11

 

Stephen King stand in einem Strahl staubiger Nachmittagssonne. Sie beleuchtete seine Wange, die Kurve der linken Augenhöhle, das Grübchen in seinem Mundwinkel. Sie verwandelte jedes weiße Haar in der linken Hälfte seines Barts in eine Linie aus Licht. Er stand in Licht, und das ließ die schwache Dunkelheit, die ihn umgab, noch stärker hervortreten. Seine Atmung hatte sich schätzungsweise auf drei bis vier Atemzüge pro Minute verlangsamt.

»Stephen King«, sagte Roland. »Siehst du mich?«

»Heil, Revolvermann, ich sehe dich sehr wohl.«

»Wann hast du mich das erste Mal gesehen?«

»Erst heute.«

Roland wirkte jetzt überrascht und leicht frustriert. Das war offensichtlich nicht die Antwort, die er erwartet hatte. Dann sprach King weiter.

»Ich habe Cuthbert gesehen, nicht dich.« Eine Pause. »Er hat mit dir Brot gebrochen und unter dem Galgen verstreut. Das steht in dem Teil, der schon fertig ist.«

»Aye, das haben wir getan. Als Hax der Koch baumeln musste. Damals waren wir ziemlich junge Burschen. Hat Bert dir diese Geschichte erzählt?«

King gab keine Antwort darauf. »Ich habe Eddie gesehen. Ich habe ihn sehr wohl gesehen.« Eine Pause. »Cuthbert und Eddie sind Zwillinge.«

»Roland…«, begann Eddie halblaut. Roland brachte ihn mit nachdrücklichem Kopfschütteln zum Schweigen und legte die Patrone, mit der er King hypnotisiert hatte, auf den Küchentisch. King starrte weiter Rolands Handrücken an, als würde er sie noch dort sehen. Vermutlich tat er das auch. Sonnenstäubchen tanzten um sein dunkles, zottiges Haupt.

»Wo warst du, als du Cuthbert und Eddie gesehen hast?«

»In der Scheune.« Kings Stimme wurde leiser. Seine Lippen hatten zu zittern angefangen. »Tantchen hat mich hinausgeschickt, weil wir versucht haben wegzulaufen.«

»Wer ist wir?«

»Mein Bruder Dave und ich. Sie haben uns geschnappt und zurückgebracht. Sie haben gesagt, dass wir ganz, ganz böse Jungen sind.«

»Und ihr musstet in die Scheune.«

»Ja, und Holz sägen.«

»Das war eure Strafe.«

»Ja.« Aus Kings rechtem Augenwinkel quoll eine Träne. Sie kullerte über die Wange in den Bart. »Die Hühner sind alle tot.«

»Die Hühner in der Scheune?«

»Ja, die.« Weitere Tränen folgten der ersten.

»Woran sind sie gestorben?«

»Onkel Oren sagt, dass es die Geflügelpest war. Ihre Augen stehen offen. Sie sind… ein bisschen unheimlich.«

Oder vielleicht auch mehr als nur ein bisschen, dachte Eddie, wenn man Kings Tränen und die Blässe seiner Wangen berücksichtigte.

»Du darfst die Scheune nicht verlassen?«

»Nicht, bevor ich meinen Teil des Holzes gesägt habe. David ist mit seinem fertig. Jetzt bin ich dran. In den Hühnern sind Spinnen. In ihren Eingeweiden, kleine rote Spinnen. Wie rote Pfefferkörner. Wenn sie sich auf mich setzen, bekomme ich die Pest und sterbe. Nur kehre ich dann zurück.«

»Wie das?«

»Dann bin ich ein Vampir. Ich bin sein Sklave. Vielleicht sein Schreiber. Sein Hofschreiber.«

»Wem würdest du dann dienen?«

»Dem Herrn der Spinnen. Dem Scharlachroten König, im Turm gefangen.«

»O Gott, Roland«, flüsterte Eddie. Ihm schauderte. Worauf waren sie hier gestoßen? In welchem Wespennest hatten sie gestochert? »Sai King, Steve, wie alt waren Sie… bist du?«

»Ich bin sieben.« Eine Pause. »Ich habe mir in die Hose gemacht. Ich will nicht, dass die Spinnen mich beißen. Die roten Spinnen. Aber dann bist du gekommen, Eddie, und ich war frei.« Er lächelte strahlend, aber seine Wangen glänzten tränenfeucht.

»Schläfst du, Stephen?«, fragte Roland.

»Aye.«

»Geh tiefer.«

»Wird gemacht.«

»Ich zähle bis drei. Bei drei gehst du so tief hinunter, wie du nur kannst.«

»Wird gemacht.«

»Eins… zwei… drei.« Bei drei sank Kings Kopf nach vorn. Das Kinn ruhte auf der Brust. Ein silbriger Speichelfaden hing ihm aus dem Mundwinkel und schwang wie ein Pendel hin und her.

»Jetzt wissen wir also etwas«, sagte Roland zu Eddie. »Vielleicht etwas entscheidend Wichtiges. Er ist vom Scharlachroten König berührt worden, als er noch ein kleiner Junge war, aber wir haben ihn anscheinend auf unsere Seite gezogen. Oder vielmehr hast du das getan, Eddie. Du und mein Jugendfreund Bert. Jedenfalls macht ihn das zu etwas ziemlich Besonderem.«

»Mir wäre bei meinem Heldentum wohler, wenn ich mich daran erinnern könnte«, sagte Eddie. Dann: »Ist dir eigentlich klar, dass ich noch gar nicht auf der Welt war, als dieser Kerl sieben war?«

Roland lächelte. »Ka ist ein Rad. Du hast dich seit langer Zeit unter verschiedenen Namen darauf gedreht. Cuthbert scheint nur einer davon zu sein.«

»Was soll das mit dem Scharlachroten König, der ›im Turm gefangen‹ ist?«

»Dafür weiß ich keine Erklärung.«

Roland wandte sich wieder an Stephen King. »Wie viele Male, glaubt Ihr, hat der Herrscher von Discordia schon versucht, Euch zu ermorden, Stephen? Euch zu töten, um Euch so die Feder aus der Hand zu schlagen? Euer lästiges Mundwerk zum Schweigen zu bringen? Seit jenem ersten Mal in der Scheune Eures Onkels und Eurer Tante?«

King schien angestrengt zu zählen, schüttelte dann aber den Kopf. »Delah«, sagte er. Viele Male.

Eddie und Roland wechselten einen Blick.

»Und greift immer jemand ein, um Euch zu retten?«, fragte Roland.

»Nay, Sai, das dürfen Sie nicht glauben. Ich bin nicht hilflos. Manchmal trete ich einfach zur Seite.«

Darüber lachte Roland – ein trockener Laut, so als zerbräche jemand einen Stock über dem Knie. »Wisst Ihr, was Ihr seid?«

King schüttelte den Kopf. Die Unterlippe hatte er jetzt vorgestreckt wie die eines schmollenden Kindes.

»Wisst Ihr, was Ihr seid?«

»Erstens der Vater. Zweitens der Ehemann. Drittens der Schriftsteller. Dann der Bruder. Nach dem Brudersein schweige ich. Okay?«

»Nein. Nicht oh-kay. Wisst Ihr, was Ihr seid?«

Eine lange Pause. »Nein. Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Hören Sie auf, mich zu bedrängen.«

»Ich höre auf, sobald Ihr wahrhaftig sprecht. Wisst Ihr, was…«

»Ja, schon gut, ich weiß, worauf Sie hinauswollen. Zufrieden?«

»Noch nicht. Sagt mir, was…«

»Ich bin Gan oder von Gan besessen, ich weiß nicht, was von beiden, vielleicht gibt es da keinen Unterschied.« King begann zu weinen. Seine Tränen waren stumm und schrecklich. »Aber es ist nicht Dis, ich habe mich von Dis abgewandt, ich verstoße Dis, und das müsste eigentlich genügen, aber das tut’s nicht, das Ka ist nie zufrieden, das gierige alte Ka, das war’s, was sie gesagt hat, nicht wahr? Das hat Susan Delgado gesagt, bevor Sie sie getötet haben oder ich sie getötet habe oder Gan sie getötet hat. ›Gieriges altes Ka, wie ich es hasse.‹ Ganz gleich, wer sie getötet hat, ich habe sie das sagen lassen, ich, weil nämlich ich es hasse, das tue ich. Ich locke wider Kas Stachel, und das werde ich tun, bis ich zur Lichtung am Ende des Pfades gehe.«

Roland saß am Tisch und war bei der Erwähnung von Susans Namen kreidebleich geworden.

»Und trotzdem kommt das Ka zu mir, kommt aus mir, ich übersetze es, werde dazu gezwungen, es zu übersetzen, Ka fließt aus meinem Nabel wie ein Band. Ich bin nicht das Ka, ich bin nicht das Band, es kommt nur aus mir hervor, und ich hasse es, ich hasse es! Die Hühner waren voller Spinnen, versteht ihr das, voller Spinnen!«

»Lasst Euer Greinen«, sagte Roland (nach Eddies Einschätzung mit bemerkenswertem Mangel an Mitgefühl), worauf King verstummte.

Der Revolvermann saß da und überlegte, dann hob er den Kopf.

»Warum habt Ihr aufgehört, die Geschichte weiterzuschreiben, nachdem ich das Westliche Meer erreicht hatte?«

»Sind Sie blöd? Weil ich nicht Gan sein will! Ich habe mich von Dis abgewandt, also müsste ich mich auch von Gan lossagen können. Ich liebe meine Frau. Ich liebe meine Kinder. Ich liebe es, Geschichten zu schreiben, aber ich will nicht Ihre Geschichte schreiben. Ich habe immer Angst. Es hält nach mir Ausschau. Das Auge des Königs.«

»Aber nicht mehr, seit Ihr damit aufgehört habt«, sagte Roland.

»Nein, seither sucht er mich nicht und sieht mich nicht.«

»Trotzdem müsst Ihr weitermachen.«

Kings Gesicht verzog sich, als würde er Schmerzen leiden, dann wirkte es wieder wie friedlich schlafend.

Roland hob die verstümmelte Rechte. »Wenn Ihr das tut, beginnt Ihr damit, wie ich meine Finger verloren habe. Wisst Ihr das noch?«

»Monsterhummer«, sagte King. »Haben sie abgebissen.«

»Und woher wisst Ihr das?«

King lächelte schwach und machte einen sanften Huiiiii-Laut. »Der Wind bläst«, sagte er.

»Gan hat die Welt getragen und ist weitergezogen«, antwortete Roland. »Wolltet Ihr das sagen?«

»Aye, und die Welt wäre in den Abgrund gestürzt, wenn die Riesenschildkröte nicht gewesen wäre. Statt zu fallen, ist sie auf ihrem Rücken gelandet.«

»So wird es überliefert, und wir sagen alle unseren Dank. Fangt also damit an, wie die Monsterhummer mir die Finger abbeißen.«

»Dad-a-jum, dad-a-jinger, Hummer beißen ab die Finger«, sagte King und lachte dabei sogar.

»Ja.«

»Wären Sie gestorben, hätten Sie mir viel Unannehmlichkeiten erspart, Roland, Sohn des Steven.«

»Ich weiß. Eddie und meinen anderen Freunden ebenfalls.« Um die Mundwinkel des Revolvermanns herum lag die Andeutung eines Lächelns. »Und dann, nach den Monsterhummern…«

»Dann kommt Eddie, dann kommt Eddie«, unterbrach King ihn und winkte mit einer verträumten kleinen Handbewegung ab, als wollte er damit sagen, das wisse er doch alles, Roland solle seine Zeit nicht vergeuden. »Der Gefangene der Schubser die Herrin der Schatten. ›Bürger Bauer Bittelmann.‹« Er lächelte. »Das sagt mein kleiner Sohn Joe immer statt ›Bettelmann‹. Wann?«

Roland blinzelte überrascht.

»Wann, wann, wann?« King hob die Hände, und Eddie sah erstaunt, wie der Toaster, das Waffeleisen und das Abtropfgestell mit sauberem Geschirr sich erhoben und auf einmal im Sonnenschein schwebten.

»Fragt Ihr mich, wann Ihr weitermachen sollt?«

»Ja, ja, ja!« Ein Tranchiermesser stieg aus dem schwebenden Abtropfgestell auf und flog quer durch die Küche. In der gegenüberliegenden Wand blieb es zitternd stecken. Dann sank alles wieder an seinen Platz zurück.

»Hört aufs Lied der Schildkröte«, sagte Roland, »den Schrei des Bären.«

»Lied der Schildkröte, Schrei des Bären. Maturin aus den Romanen von Patrick O’Brian. Shardik aus dem Roman von Richard Adams.«

»Ja. Wenn Ihr das sagt.«

»Wächter des Balkens.«

»Ja.«

»Meines Balkens.«

Roland starrte ihn durchdringend an. »Sagt Ihr das?«

»Ja.«

»Dann sei es so. Hört Ihr das Lied der Schildkröte oder den Schrei des Bären, müsst Ihr wieder anfangen.«

»Wenn ich mein Auge eurer Welt öffne, sieht er mich.« Eine Pause. »Es.«

»Ja, ich weiß. Wir werden versuchen, Euch bei solchen Gelegenheiten zu beschützen, genau wie wir vorhaben, die Rose zu beschützen.«

King lächelte. »Ich liebe die Rose.«

»Haben Sie sie gesehen?«, fragte Eddie.

»Das habe ich, in New York. In der Nähe des Hotels U.N. Plaza. Früher hat sie in einem Delikatessengeschäft gestanden. Tom und Jerrys. Hinter dem Laden. Jetzt steht sie auf dem unbebauten Grundstück, auf dem früher das Delikatessengeschäft war.«

»Ihr werdet Eure Geschichte erzählen, bis Ihr müde werdet«, sagte Roland. »Wenn ihr nicht weitermachen könnt, wenn das Lied der Schildkröte und der Schrei des Bären schwach in Euren Ohren klingen, dann ruht Euch aus. Und sobald Ihr weitermachen könnt, werdet Ihr es tun. Ihr…«

»Roland?«

»Sai King?«

»Ich tue, was Sie verlangen. Ich werde aufs Lied der Schildkröte horchen und jedes Mal weitererzählen, wenn ich es höre. Aber auch Sie müssen horchen. Auf ihr Lied.«

»Wessen?«

»Susannahs. Das Baby bringt ihr den Tod, wenn ihr nicht schnell seid. Und eure Ohren müssen scharf sein.«

Eddie starrte Roland erschrocken an. Roland nickte. Sie mussten weiter.

»Hört mir zu, Sai King. Unsere Begegnung in Bridgton war eine glückliche, aber jetzt müssen wir Euch verlassen.«

»Gut«, sagte King, und er sprach mit so unverfälschter Erleichterung, dass Eddie beinahe aufgelacht hätte.

»Ihr bleibt noch zehn Minuten, wo Ihr jetzt seid, hier in der Küche. Habt Ihr verstanden?«

»Ja.«

»Danach wacht Ihr auf. Ihr fühlt Euch sehr wohl. Ihr erinnert Euch nicht an unseren Besuch – außer in den tiefsten Tiefen Eures Verstands.«

»In den Schlammlöchern.«

»In den Schlammlöchern, wenn’s beliebt. An der Oberfläche glaubt Ihr, ein Nickerchen gemacht zu haben. Ein wundervolles, erfrischendes Schläfchen. Ihr holt Euren Sohn ab und fahrt dorthin, wo man Euch erwartet. Ihr fühlt euch wohl. Ihr lebt Euer Leben weiter. Ihr schreibt noch viele Geschichten, aber jede hängt mehr oder weniger mit dieser Geschichte zusammen. Habt Ihr verstanden?«

»Yar«, sagte King mit einer Stimme, die so sehr wie Rolands klang, wenn dieser barsch wurde oder müde war, dass Eddie wieder einmal ein kalter Schauder über den Rücken lief. »Was man nämlich gesehen hat, lässt sich nicht ungesehen machen. Und was man kennt, nicht ungekannt.« Er hielt inne. »Außer vielleicht durch den Tod.«

»Aye, vielleicht. Immer wenn Ihr das Lied der Schildkröte hört – wenn es Euch als das erscheint –, schreibt Ihr diese Geschichte weiter. Die einzige wirkliche Geschichte, die Ihr zu erzählen habt. Und wir werden versuchen, Euch zu schützen.«

»Ich habe Angst.«

»Ich weiß, aber wir werden versuchen…«

»Nicht deshalb. Ich habe Angst, dass ich sie nicht zu Ende erzählen kann.« Er senkte die Stimme. »Ich habe Angst, dass der Turm fallen und man mich dafür verantwortlich machen wird.«

»Das entscheidet das Ka, nicht Ihr«, sagte Roland. »Noch ich. In diesem Punkt hege ich keine Zweifel. Und nun…« Er nickte Eddie zu und stand auf.

»Wartet«, sagte King.

Roland sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ich darf einen Brief schreiben, aber nur einen.«

Klingt wie ein Kerl in einem Kriegsgefangenenlager, dachte Eddie und sagte dann laut: »Wer lässt Sie diesen Brief schreiben, Steve-O?«

King runzelte die Stirn. »Gan?«, sagte er. »Ist es Gan?« Dann glättete seine Stirn sich, als bräche an einem Nebelmorgen die Sonne durch, und er lächelte. »Ich glaube, ich bin’s!«, sagte er. »Ich kann mir selbst einen Brief schicken… vielleicht sogar ein Päckchen… aber nur einmal.« Sein Lächeln wurde breiter, wurde zu einem einnehmenden Grinsen. »Das alles ist… irgendwie märchenhaft, oder?«

»Allerdings«, sagte Eddie und musste an den die Interstate überspannenden Glaspalast denken, zu dem sie in Kansas gekommen waren.

»Was würdet Ihr tun?«, fragte Roland. »Wem würdet Ihr Post schicken?«

»Jake«, sagte King prompt.

»Und was würdet Ihr ihm mitteilen?«

Kings Stimme verwandelte sich in die von Eddie Dean. Sie war ihr nicht nur ähnlich; sie klang exakt gleich. Der Klang verursachte Eddie wieder eine Gänsehaut.

»Dad-a-chum, dad-a-cha«, trällerte King, »keine Sorge, der Schlüssel ist schon da!«

Sie warteten, ob da noch mehr kam, aber das schien alles gewesen zu sein. Eddie sah zu Roland hinüber, und diesmal war der Jüngere damit an der Reihe, die kreisende Bewegung mit den Fingern zu machen, die Los, los! bedeutete. Roland nickte, und sie gingen zur Tür.

»Scheiße, das war verdammt unheimlich«, sagte Eddie.

Roland gab keine Antwort.

Eddie hielt ihn an, indem er ihm eine Hand auf den Arm legte. »Da fällt mir noch was ein, Roland. Solange er noch hypnotisiert ist, solltest du ihn vielleicht anweisen, das Trinken und Rauchen aufzugeben. Vor allem die Glimmstängel. Er qualmt viel zu viel. Hast du dir sein Haus mal genauer angeguckt? Überall diese beschissenen Aschenbecher.«

Roland wirkte amüsiert. »Eddie, wenn man wartet, bis die Lunge voll ausgebildet ist, verlängert Tabak einem das Leben, statt es zu verkürzen. Deshalb hat in Gilead auch jedermann geraucht, bis auf die Allerärmsten – und selbst die hatten wenigstens noch ihre Maishülsen. Zum einen hält Tabak krank machende Dämpfe ab. Zum anderen viele gefährliche Insekten. Das weiß doch jeder.«

»Der Gesundheitsminister der Vereinigten Staaten wäre bestimmt fasziniert, wenn er hören würde, was in Gilead jeder weiß«, sagte Eddie trocken. »Wie wär’s dann mit der Sauferei? Was ist, wenn er sich eines Nachts betrunken mit seinem Jeep überschlägt oder als Geisterfahrer auf der Interstate einen Frontalzusammenstoß verursacht?«

Roland überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf. »Ich will mich nicht noch mehr an seinem Verstand – und dem Ka selbst – zu schaffen machen. Ich wage es nicht. Wir werden die dazwischen liegenden Jahre überprüfen müssen, ob… was schüttelst du den Kopf? Die Geschichte geht aus ihm hervor!«

»Schon möglich, aber wir können nur zweiundzwanzig Jahre lang auf ihn aufpassen, wenn wir uns entschließen, Susannah aufzugeben… und das täte ich nie. Sobald wir ins Jahr 1999 springen, können wir nicht mehr hierher zurückkehren. Nicht in diese Welt.«

Roland schwieg einen Augenblick lang und sah nur zu dem Mann hinüber, der mit seinem Hintern an der Küchentheke lehnte, mit offenen Augen und in die Stirn fallendem Haar im Stehen schlief. In sieben oder acht Minuten würde King aufwachen, ohne sich an Roland und Eddie erinnern zu können… aber nur, wenn sie bis dahin verschwunden waren. Eddie glaubte doch nicht im Ernst, der Revolvermann werde Suze im Stich lassen… obwohl, immerhin hatte er auch Jake fallen lassen, oder nicht? Hatte Jake einst in den Abgrund fallen lassen.

»Dann wird er’s allein schaffen müssen«, sagte Roland, und Eddie atmete erleichtert auf. »Sai King.«

»Ja, Roland.«

»Denkt daran – wenn Ihr das Lied der Schildkröte hört, müsst Ihr alles andere beiseite legen und diese Geschichte erzählen.«

»Das werde ich tun. Ich werd’s zumindest versuchen.«

»Gut.«

Dann sagte der Schriftsteller: »Die Kugel muss aus dem Spiel genommen und zerbrochen werden.«

Roland runzelte die Stirn. »Welche Kugel? Die Schwarze Dreizehn?«

»Wenn sie erwacht, wird sie das gefährlichste Objekt im gesamten Universum. Und sie ist dabei, zu erwachen. An irgendeinem anderen Ort. In irgendeinem anderen Wo und Wann.«

»Danke für Eure Prophezeiung, Sai King.«

»Dad-a-shim, dad-a-shum. Bringt die Kugel zum Doppelturm.«

Roland schüttelte in stummer Verwirrung den Kopf darüber.

Eddie legte die rechte Faust an die Stirn und verbeugte sich leicht. »Heil, Wörterschmied.«

King grinste schwach, als wäre das ein lächerlicher Spruch, sagte aber nichts.

»Lange Tage und angenehme Nächte«, wünschte Roland ihm. »An die Hühner braucht Ihr nicht mehr zu denken.«

Auf Stephen Kings bärtigem Gesicht breitete sich ein fast herzzerreißend hoffnungsvoller Ausdruck aus. »Sagen Sie das wirklich?«

»Das sage ich wirklich. Und mögen wir uns alle nochmals auf dem Pfad begegnen, bevor wir uns auf der Lichtung wiedersehen.« Der Revolvermann machte auf einem Stiefelabsatz kehrt und verließ das Haus des Schriftstellers.

Eddie warf einen letzten Blick auf den großen, ziemlich gebeugt dastehenden Mann, der mit seinem schmalen Hintern an der Küchentheke lehnte. Er dachte: Wenn ich dich das nächsten Mal sehe, Stevie – falls ich es überhaupt tue –, ist dein Bart überwiegend weiß, und du hast Falten im Gesicht… und ich bin noch immer jung. Wie steht’s mit deinem Blutdruck, Sai? Für die nächsten fünfundzwanzig Jahre in Ordnung?

Hoffentlich. Wie steht’s mit deiner Pumpe? Tritt in deiner Familie Krebs auf, und falls ja, wie häufig?

Natürlich reichte die Zeit für keine dieser Fragen aus. Oder für irgendwelche anderen. Der Schriftsteller würde sehr bald wieder aufwachen und sein Leben weiterleben. Eddie folgte seinem Dinh in den später werdenden Nachmittag hinaus und schloss die Tür hinter ihnen. Ihm dämmerte, dass das Ka letztlich doch gewusst hatte, was es tat, indem es ihn statt nach New York hierher geschickt hatte.

 

 

12

 

Eddie blieb auf der Fahrerseite von John Cullums Ford stehen und sah übers Dach zum Revolvermann hinüber. »Hast du das Ding um ihn herum gesehen? Diesen schwarzen Schimmer?«

»Die Todana, ja. Danke deinem Vater, dass sie noch sehr schwach ist.«

»Was ist eine Todana? Klingt nicht sehr beruhigend.«

Roland nickte. »Die wörtliche Bedeutung ist Leichensack. Er ist gezeichnet.«

»O Mann«, sagte Eddie.

»Sie ist schwach, sage ich dir.«

»Aber vorhanden.«

Roland öffnete die Beifahrertür. »Das können wir nicht ändern. Das Ka bestimmt die Zeit jedes Mannes, jeder Frau. Wir müssen weiter, Eddie.«

Aber als sie nun tatsächlich so weit waren, dass sie losfahren konnten, widerstrebte es Eddie seltsamerweise, schon zu fahren. Er hatte das Gefühl, in Bezug auf Sai King nicht alles erledigt zu haben. Und ihm war unwohl, wenn er an diese schwarze Aura dachte.

»Was ist mit der Turtleback Lane und den Wiedergängern? Ich wollte ihn fragen…«

»Wir finden sie auch so.«

»Weißt du das bestimmt? Ich glaube nämlich, dass wir dort hinmüssen.«

»Das glaube ich auch. Komm jetzt! Vor uns liegt eine Menge Arbeit.«

 

 

13

 

Die Heckleuchten des alten Fords hatten das andere Ende der Zufahrt kaum verlassen, da öffnete Stephen King die Augen. Als Erstes sah er auf die Wanduhr. Fast vier. Er hätte eigentlich schon vor zehn Minuten losfahren sollen, um Joe abzuholen, aber das Nickerchen, das er gemacht hatte, hatte ihm gut getan. Er fühlte sich wunderbar. Erfrischt. Auf verrückte Weise innerlich gereinigt. Er dachte: Könnte jedes Nickerchen das bewirken, wären sie gesetzlich vorgeschrieben.

Schon möglich, aber Betty Jones würde sich ernstlich Sorgen machen, wenn sie den Cherokee nicht um halb fünf vor ihrem Haus vorfahren sah. King griff nach dem Telefonhörer, um sie kurz anzurufen, und dabei fiel sein Blick auf den Notizblock auf dem Tischchen darunter. Die Blätter trugen den Aufdruck AN ALLE ANGEBER. Ein Mitbringsel von einer seiner Schwägerinnen.

King, dessen Gesicht wieder ausdruckslos wirkte, griff nach dem Block und dem Kugelschreiber daneben. Übers Papier gebeugt, schrieb er:

 

Dad-a-chum, dad-a-cha, keine Sorge, der Schlüssel ist schon da.

 

Er hielt inne, starrte die Zeile unverwandt an und schrieb dann:

 

Dad-a-chud, dad-a-chod, sieh nur, Jake, der Schlüssel, der ist rot!

 

Er machte nochmals eine Pause, dann schrieb er:

 

Dad-a-chum, dad-a-chik, gib dem Jungen einen Schlüssel aus Plastik.

 

Er betrachtete, was er geschrieben hatte, mit tiefer Zuneigung. Fast mit Liebe. Allmächtiger Gott, fühlte sich das gut an! Diese Zeilen bedeuteten überhaupt nichts, aber sie niederzuschreiben brachte eine Befriedigung, die so tief war, dass sie fast an Ekstase grenzte.

King riss das Blatt ab.

Knüllte es zusammen.

Aß es auf.

Es blieb ihm einen Augenblick lang in der Kehle stecken, und dann – ulp! – rutschte es hinunter. Klasse gemacht! Er riss den

(dad-a-cha)

Jeepschlüssel vom hölzernen Schlüsselbrett (das selbst Schlüsselform hatte) und hastete hinaus. Er würde Joe abholen, sie würden hierher zurückkommen und packen, sie würden unterwegs bei Mickey Kee’s in South Paris etwas zu Abend essen. Verbesserung, Mickey-Dee’s. Er hatte das Gefühl, ganz allein ein paar Viertelpfünder verschlingen zu können. Mit Fritten. Verdammt, er fühlte sich echt gut!

Als er die Kansas Road erreichte und in Richtung Stadt abbog, stellte er das Radio an und erwischte gerade die McCoys, die »Hang On, Sloopy« sangen – das war immer ausgezeichnet. Seine Gedanken schweiften ab, wie sie es beim Radiohören oft taten, und er dachte aus irgendeinem Zufall an die Personen der Handlung in der alten Story Der Dunkle Turm. Nicht, dass es noch allzu viele gegeben hätte; soweit er sich erinnerte, hatte er die meisten von ihnen bereits eliminiert, sogar den Jungen. Wahrscheinlich hatte er nicht gewusst, was er mit ihnen anfangen sollte. Das war meistens der Grund, aus dem man Figuren eliminierte: weil man nicht wusste, was man sonst mit ihnen anfangen sollte. Wie hatte er geheißen, Jack? Nein, das war der gehetzte Dad in Shining gewesen. Der Junge in Der Dunkle Turm hatte Jake geheißen. Eine ausgezeichnete Wahl für eine Story mit einem Westernmotiv, geradewegs aus einem Roman von Wayne D. Overholser oder Ray Hogan. Könnte Jake nicht irgendwie in die Story zurückkehren, vielleicht als Gespenst? Natürlich konnte er das. Das Hübsche an übernatürlichen Geschichten war ja, überlegte King sich, dass niemand wirklich zu sterben brauchte. Sie konnten immer zurückkehren wie dieser Kerl Barnabas in der Fernsehserie Dark Shadows. Barnabas Collins war ein Vampir gewesen.

»Vielleicht kehrt der Junge als Vampir zurück«, sagte King und lachte. »Vorsicht, Roland, das Abendessen ist aufgetragen, und das Abendessen bist du!« Aber das fühlte sich nicht richtig an. Was dann? Ihm fiel nichts ein, was aber in Ordnung war. Irgendwann würde ihm schon etwas einfallen. Meistens war das sowieso der Fall, wenn er es am wenigsten erwartete: während er die Katze fütterte oder Babywindeln wechselte oder nur so bedrückt einherschlich, wie Auden in seinem Gedicht übers Leiden geschrieben hatte.

Aber heute litt er nicht. Heute fühlte er sich großartig.

Yar, nennt mich einfach Tony den Tiger.

Im Radio wurden die McCoys von Troy Shondell mit dem Song »This Time« abgelöst.

Eigentlich war diese Dunkler-Turm-Sache ja irgendwie interessant gewesen. Vielleicht sollte ich sie ausgraben, wenn ich aus dem Norden zurück bin, dachte King. Mal wieder ansehen.

Keine schlechte Idee.

 

 

 

 

 

VORSÄNGER: Commala-come-call

We hail the One who made us all,

Who made the men and made the maids,

Who made the great and small.

 

CHOR: Commala-come-call!

He made the great and small!

And yet how great the hand of fate

That rules us one and all.