Onkel Ottos Lastwagen
Das alles aufzuschreiben, ist eine große Erleichterung.
Ich habe nicht mehr gut geschlafen, seit ich meinen Onkel Otto tot auffand, und es hat Zeiten gegeben, als ich mich wirklich gefragt habe, ob ich wahnsinnig geworden war – oder wurde. Irgendwie wäre alles erträglicher gewesen, wenn ich den Gegenstand nicht hier leibhaftig in meinem Arbeitszimmer hätte, wo ich ihn ansehen oder, wenn ich es will, aufheben kann, um ihn in der Hand zu wiegen. Ich will das nicht tun; ich will dieses Ding da nicht berühren. Aber manchmal mache ich es.
Wenn ich es nicht mitgenommen hätte, als ich aus dem einzigen Zimmer seines kleinen Hauses floh, könnte ich mir einreden, dass alles nur eine Halluzination ist – eine Einbildung eines überarbeiteten und überreizten Gehirns. Aber da ist es. Es hat Gewicht. Es kann in die Hand genommen werden.
Es ist alles geschehen, verstehen Sie.
Die meisten von Ihnen werden mir das nicht glauben, wenn sie diese Memoiren lesen, es sei denn, Ihnen ist schon etwas Ähnliches zugestoßen. Aber ich bin überzeugt, dass sich Ihre Gutgläubigkeit und meine Erleichterung gegenseitig ausschließen, und daher werde ich die Geschichte trotzdem mit Freude erzählen. Glauben Sie, was Sie wollen.
Jede schaurige Geschichte sollte einen Ursprung oder ein Geheimnis haben. Meine hat beides. Lassen Sie mich mit dem Ursprung anfangen, indem ich Ihnen kurz erzähle, wie mein Onkel Otto, der nach den Maßstäben von Castle County reich war, dazu kam, die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in einem Haus mit einem Zimmer und ohne Wasseranschluss in einer abgelegenen Nebenstraße einer Kleinstadt zu verbringen.
Otto wurde 1905 als ältestes von fünf Schenck-Kindern geboren. Mein Vater, 1920 geboren, war das jüngste. Ich war das jüngste Kind meines Vaters, 1955 geboren, und so erschien mir mein Onkel Otto immer als sehr alt.
Wie viele strebsame Deutsche kamen meine Großeltern mit etwas Geld nach Amerika. Mein Großvater ließ sich wegen der Holzindustrie, von der er einiges verstand, in Derry nieder. Er hatte Erfolg, und seine Kinder kamen in angenehmen Verhältnissen zur Welt.
Mein Großvater starb 1925. Onkel Otto, damals zwanzig, erhielt als einziges Kind seinen vollen Erbteil. Er zog nach Castle Rock und begann mit Immobilien zu spekulieren. In den folgenden fünf Jahren brachte das Geschäft mit Holz und Land ihm einen Haufen Geld ein. Er kaufte ein großes Haus auf dem Castle Hill, hatte Dienstboten und genoss das Ansehen eines jungen, verhältnismäßig hübschen (die Einschränkung »verhältnismäßig«, weil er eine Brille trug) und höchst begehrenswerten Junggesellen. Niemand hielt ihn für verschroben. Das kam später.
Der Börsenkrach von 1929 spielte ihm übel mit – nicht so schlimm wie manchem anderen, aber dennoch. Er behielt das große Haus auf dem Castle Hill bis 1933 und verkaufte es dann, weil ein riesiges Waldgebiet, das er um jeden Preis haben wollte, zum Verkauf angeboten wurde. Das Land gehörte der New England Paper Company.
New England Paper existiert heute noch, und falls Sie vorhaben, Aktien zu erwerben, kann ich Ihnen das nur raten. Aber 1933 bot die Gesellschaft gewaltige Landstücke zu Schleuderpreisen an, um in einer letzten verzweifelten Anstrengung die Pleite zu verhindern.
Um wie viel Land es bei dem Geschäft ging, hinter dem mein Onkel her war? Das legendäre Original des Vertrags ist verlorengegangen, und die Meinungen darüber gehen auseinander … aber auf alle Fälle waren es mehr als viertausend Morgen. Der größte Teil lag in Castle Rock, doch es erstreckte sich auch nach Waterford und Harlow. Als die Einzelheiten des Vertrags ausgehandelt wurden, bot New England Paper das Land für ungefähr zwei Dollar fünfzig den Morgen an … falls der Käufer es im Ganzen abnehmen würde.
Die Gesamtsumme machte also rund zehntausend Dollar aus. Onkel Otto hatte nicht so viel, und daher nahm er sich einen Partner – einen Yankee namens George McCutcheon. Sie kennen die Namen Schenck und McCutcheon wahrscheinlich, wenn Sie in Neuengland leben; die Gesellschaft wurde vor langer Zeit aufgekauft, doch unter den Namen Schenck und McCutcheon werden noch in vierzig Städten Neuenglands Eisenwarenhandlungen geführt, und Schenck und McCutcheon Holzlager von Central Falls bis Derry.
McCutcheon war ein stämmiger Mann mit schwarzem Vollbart. Er trug wie mein Onkel Otto eine Brille. Und wie Onkel Otto, hatte er Geld geerbt. Es muss eine stattliche Summe gewesen sein, denn er und Onkel Otto wickelten den Kauf problemlos ab. Beide waren im Innersten Halunken und kamen gut miteinander aus. Ihre Partnerschaft dauerte zweiundzwanzig Jahre – genaugenommen bis zum Jahr meiner Geburt –, und sie kannten nur Erfolg.
Doch alles fing mit dem Kauf dieser viertausend Morgen Land an, die sie mit McCutcheons Lastwagen auf Waldwegen erkundeten, die manchmal nur aus den Wagenspuren der Holzarbeiter bestanden, quälten sich die meiste Zeit im ersten Gang voran, holperten über ausgefahrene, zerfurchte Wege und fuhren spritzend durch Wasserlöcher; zeitweise saß McCutcheon am Steuer sonst mein Onkel Otto, zwei junge Männer, die in den düsteren Zeiten der großen Depression Großgrundbesitzer in Neuengland geworden waren.
Ich habe keine Ahnung, woher McCutcheon diesen Lastwagen hatte. Es war ein Cresswell, falls das wichtig ist, eine Marke, die nicht mehr hergestellt wird. Er hatte ein riesiges, knallrot gespritztes Fahrerhaus, breite Trittbretter und einen elektrischen Anlasser, aber falls der Anlasser einmal versagen sollte, konnte er angekurbelt werden – obwohl die Kurbel leicht zurückschlagen und einem die Schulter brechen konnte, wenn man beim Anwerfen nicht aufpasste. Die Ladefläche war siebeneinhalb Meter lang und hatte Holzstangen an den Seiten, aber am besten erinnere ich mich an die Schnauze des Lasters. Wie das Fahrerhaus war sie blutrot. Um an den Motor zu kommen, musste man zwei Stahlplatten hochheben, auf jeder Seite eine. Der Kühler war so hoch wie die Brust eines erwachsenen Mannes. Er war ein hässliches, monströses Ding.
McCutcheons Lastwagen hatte eine Panne und wurde repariert, hatte wieder eine Panne und wurde wieder repariert. Als der Cresswell endgültig seinen Geist aufgab, geschah es auf spektakuläre Weise. Es spielte sich wie bei dem wundervollen Einspänner in dem Gedicht von Holmes ab.
McCutcheon und Onkel Otto fuhren eines Tages im Jahr 1953 die Black Henry Road hinauf, und sie waren beide, wie Onkel Otto selbst zugab, »stockbesoffen«. Onkel Otto schaltete in den ersten Gang hinunter, um den Trinity Hill hochzukommen. Das klappte problemlos, aber, betrunken wie er war, vergaß er vollkommen, wieder hochzuschalten, als sie die andere Seite hinunterkamen. Der alte, ausgediente Motor des Cresswell lief heiß. Weder McCutcheon noch Onkel Otto merkten, wie der Zeiger über die rote Marke auf der rechten Seite der Temperaturanzeige hinausging. Am Fuß des Hügels kam es zu einer Explosion, deren Wucht die Motorklappen an den Seiten wie rote Drachenflügel aufstellte. Die Kühlerkappe schoss senkrecht in den Sommerhimmel. Eine Dampffontäne zischte hoch wie bei Old Faithful. Ein Schwall Öl ergoss sich über die Windschutzscheibe. Onkel Otto trat mit aller Gewalt auf die Bremse, aber der Cresswell hatte ungefähr seit einem Jahr die schlechte Angewohnheit, Bremsflüssigkeit zu verlieren, und das Pedal sank bis auf die Fußmatte. Er konnte nicht sehen, wohin er steuerte, und kam von der Straße ab, zuerst in den Graben und dann wieder hinaus. Wenn der Motor des Cresswell ausgesetzt hätte, wäre es vielleicht noch einmal gutgegangen. Aber der Motor lief weiter, und zuerst flog ein Kolben in die Luft, und dann folgten zwei weitere, wie Schwärmer am vierten Juli. Einer, so erzählte Onkel Otto, zischte auf seiner Seite geradewegs durch die Tür, die aufgesprungen war. Das Loch war groß genug, um eine Faust hindurchzustecken. In einer Wiese voller Goldruten kamen sie zum Stillstand. Sie hätten eine wunderbare Aussicht auf die White Mountains gehabt, wenn die Windschutzscheibe nicht mit Diamond-Gem-Öl verschmiert gewesen wäre.
Das war das Ende für McCutcheons Cresswell; er kam nie wieder weg von dieser Wiese. Nicht dass es Probleme mit dem Besitzer gegeben hätte; sie gehörte selbstverständlich den beiden. Ziemlich ernüchtert von diesem Erlebnis, stiegen die beiden Männer aus, um den Schaden zu überprüfen. Keiner war Mechaniker, aber man musste auch keiner sein, um zu sehen, dass der Schaden tödlich war. Onkel Otto war bestürzt – das hatte er jedenfalls meinem Vater gesagt – und bot an, den Laster zu bezahlen. George McCutcheon sagte ihm, er solle kein Narr sein. McCutcheon war, um die Wahrheit zu sagen, in einer Art Verzückung. Er hatte einen Blick auf die Wiese und das Bergpanorama geworfen und beschlossen, dass das der Ort war, wo er das Haus für seinen Ruhestand bauen würde. Genau das sagte er Onkel Otto in einem Ton, den man normalerweise bei einer religiösen Bekehrung anschlägt. Sie gingen zusammen zur Straße zurück und ließen sich von dem Lieferwagen der Cushman Bäckerei, der gerade zufällig vorbeikam, mitnehmen. McCutcheon erzählte meinem Vater, dass Gottes Hand im Spiel gewesen sein musste – er hatte den vollkommenen Standort gesucht, und da war er die ganze Zeit gewesen, auf dieser Wiese, an der sie drei- oder viermal die Woche vorbeigefahren waren, ohne sie einmal eines Blickes zu würdigen. Die Hand Gottes, rezitierte er, ohne zu wissen, dass er zwei Jahre später auf dieser Wiese sterben würde, zerquetscht unter der Vorderfront seines eigenen Lastwagens – des Lastwagens, der Onkel Ottos Lastwagen wurde, als George starb.
McCutcheon ließ Billy Dodd kommen, damit er seinen Abschleppwagen an den Cresswell hängte und ihn so herumdrehte, dass er zur Straße blickte. Damit er ihn jedes Mal, wenn er vorbeikam, mit der Gewissheit betrachten konnte, dass die Bauarbeiter kommen könnten, um seinen Keller auszuheben, sobald Dodd wieder den Haken anhängen und ihn endgültig abschleppen würde. Er hatte etwas von einem Träumer an sich, war aber nicht der Mann, der sich von einer Gefühlsduselei davon abhalten ließ, einen Dollar zu verdienen. Als ein Holzarbeiter namens Baker ein Jahr später auftauchte und die Felgen des Cresswell samt den Reifen kaufen wollte, weil sie die richtige Größe für seinen Wagen hatten, nahm McCutcheon die zwanzig Dollar des Mannes ohne langes Federlesen. Vergessen Sie nicht, diesem Mann gehörten damals eine Million Dollar. Er befahl Baker auch, den Laster ordentlich aufzubocken. Er sagte, er wollte nicht vorbeikommen und ihn dort hüfthoch verdeckt von Heu, Timotheusgras und Goldruten liegen sehen wie ein Wrack. Baker machte es. Ein Jahr später rutschte der Cresswell von den Blöcken herunter und zerquetschte McCutcheon. Die alten Männer erzählten die Geschichte mit sichtlichem Vergnügen, und zum Schluss sagten sie immer, dass der alte Georgie McCutcheon hoffentlich seinen Spaß an den zwanzig Dollar gehabt hätte.
Ich wuchs in Castle Rock auf. Als ich zur Welt kam, arbeitete mein Vater seit fast zehn Jahren für Schenck und McCutcheon, und der Lastwagen, der George McCutcheon gehört hatte und dann meinem Onkel Otto (zusammen mit allem, was McCutcheon besaß, war ein Markstein in meinem Leben. Meine Mutter kaufte bei Warren in Bridgton ein, und die Black Road Henry war der Weg dorthin. Darum sahen wir jedes Mal, auf dem Weg dorthin den Laster auf der Wiese mit den White Mountains im Hintergrund. Er war nicht mehr aufgebockt – Onkel Otto sagte, ein Unfall wäre genug –, aber der bloße Gedanke an das, was passiert war, reichte aus, dass es einem kleinen Jungen in kurzen Hosen eiskalt den Rücken hinunterlief.
Er war da im Sommer; im Herbst, wenn Eichen und Ulmen an den drei Wiesenrainen wie Fackeln leuchteten; im Winter, wenn Schneeverwehungen manchmal bis über die Scheinwerfer reichten, die wie Insektenaugen aussahen, sodass er den Eindruck eines gegen weißen Treibsand kämpfenden Mastodons erweckte; und im Frühling, wenn die aufgeweichte Märzwiese ein Morast war und man sich wunderte, dass er nicht einfach in der Erde versank. Das hätte auch leicht passieren können, wenn er nicht Halt auf dem guten Felsgestein von Maine darunter gehabt hätte. In allen Jahreszeiten und Jahren war er da.
Einmal war ich sogar drinnen. Mein Vater fuhr eines Tages an die Straßenseite, als wir unterwegs zum Jahrmarkt in Fryeburg waren, nahm mich an der Hand und führte mich auf die Wiese. Ich glaube, es muss 1960 oder 1961 gewesen sein. Der Lastwagen machte mir Angst. Ich kannte die Geschichten, wie er unbemerkt nach vorn gerutscht war wie ein verschlagenes, aber gefährliches Tier und den Partner meines Onkels zerquetscht hatte. Ich hatte diese Geschichten beim Friseur gehört, während ich mucksmäuschenstill hinter einem Life-Magazin saß, das ich nicht lesen konnte, und den Männern zuhörte, als sie darüber sprachen, wie er zerquetscht worden war, und dass er hoffentlich seinen Spaß an den zwanzig Dollar für die Räder gehabt hätte. Einer von ihnen – es könnte Billy Dodd gewesen sein, der Vater des irren Frank – meinte, dass McCutcheon ausgesehen hätte wie »ein Kürbis, der von einem Traktorreifen zu Brei zermanscht worden ist«. Das spukte monatelang in meinem Kopf herum … aber mein Vater hatte natürlich keine Ahnung davon.
Mein Vater dachte nur, es würde mir vielleicht Spaß machen, im Fahrerhaus des alten Lastwagens zu sitzen; er hatte gesehen, wie ich ihn jedes Mal ansah, wenn wir vorbeifuhren, und hatte, glaube ich, meine Angst fälschlicherweise für Bewunderung gehalten.
Ich erinnere mich an die Goldruten, deren leuchtendes Gelb von der Oktoberkälte gedämpft wurde. Ich erinnere mich an den faden Geschmack der Luft, ein bisschen bitter, ein bisschen scharf. Ich erinnere mich an die Silberfarbe des abgestorbenen Grases und an das Schtscht unserer Schritte. Doch am besten erinnere ich mich an den drohend aufragenden Lastwagen, der mit jedem Schritt größer wurde – an das boshafte Zähnefletschen des Kühlergrills, die blutrote Farbe und den starren Blick der verschmierten Windschutzscheibe. Ich erinnere mich, wie eine Welle von Angst, die kälter und beklemmender war als die Stimmung in der Luft, über mir zusammenschlug, als mein Vater mir unter die Achselhöhlen griff, mich zum Fahrerhaus hochhob und sagte: »Fahr ihn nach Portland, Quentin … Los!« Ich erinnere mich, wie die Luft an meinem Gesicht vorbeistrich, als es immer höher hinaufging, und der frische Geschmack dem Geruch von altem Diamond-Gem-Öl, rissig gewordenem Leder, Mäusedreck und – ich schwöre es – Blut wich. Ich erinnere mich, wie ich versuchte, nicht zu weinen, während mein Vater zu mir hinaufgrinste und überzeugt war, dass er mir ein tolles Abenteuer bot (es war auch eins, nur nicht so, wie er es sich vorstellte). Mir wurde mit absoluter Sicherheit klar, dass er weggehen oder mir zumindest den Rücken zudrehen und der Lastwagen mich dann verschlingen würde – bei lebendigem Leib verschlingen. Und was er ausspucken würde, würde wie zerkaut und zerfetzt und … wie zerplatzt aussehen. Wie ein Kürbis, der von einem Traktorreifen zu Brei zermanscht worden ist.
Ich fing an zu weinen und mein Vater, der eine Seele von Mensch war, nahm mich herunter, beruhigte mich und trug mich zum Wagen zurück. Er hielt mich an seine Brust gedrückt, und über seine Schulter beobachtete ich den Lastwagen, der auf der Wiese zurückblieb – blutrot, mit seinem riesigen, bedrohlich aufragenden Kühler und mit dem schwarzen, runden Loch, in das die Kurbel gehörte, und das wie eine Augenhöhle aussah, die auf grausige Weise an die falsche Stelle geraten war. Ich wollte ihm erzählen, dass ich Blut gerochen und deswegen geweint hatte. Ich hatte keinen Schimmer, wie ich das anstellen sollte. Ich denke, er hätte mir ohnehin nicht geglaubt.
Als Fünfjähriger, der noch an den Weihnachtsmann, den Osterhasen und den schwarzen Mann glaubte, glaubte ich auch, dass mir der Lastwagen mit Absicht den bösen Schrecken eingejagt hatte, als mich mein Vater ins Fahrerhaus hochgehoben hatte. Ich brauchte zwanzig Jahre, um herauszufinden, dass es nicht der Cresswell gewesen war, der George McCutcheon umgebracht hatte; mein Onkel Otto hatte das getan.
Der Cresswell war ein Markstein in meinem Leben, aber er gehörte auch zum Bewusstsein der ganzen Gegend. Wenn man jemand den Weg von Bridgton nach Castle Rock erklärte, sagte man ihm, dass er auf der richtigen Straße war, wenn er auf der linken Seite einen großen, alten, roten Laster sah, der abseits auf einer Heuwiese ungefähr drei Meilen nach der Abzweigung von der 11 steht. Oft konnte man Touristen sehen, die auf der weichen Böschung parkten (und manchmal dort steckenblieben, was immer für Gelächter sorgte), um die White Mountains zu fotografieren, wobei Onkel Ottos Lastwagen den Vordergrund für die malerische Perspektive abgab – lange Zeit nannte mein Vater den Cresswell »Trinity Hill Touristen-Lastwagengedenkstätte«, aber nach einer Weile ließ er es bleiben. Inzwischen war Onkel Otto nämlich so besessen von dem Lastwagen, dass es nicht mehr komisch war.
So viel zum Ursprung. Nun zum Geheimnis.
Dass er McCutcheon umgebracht hat, ist das Einzige, dessen ich mir wirklich sicher bin. »Zermanschte ihn wie einen Kürbis zu Brei«, sagten die Feierabendphilosophen im Friseursalon. Einer von ihnen fügte hinzu: »Ich wette, der kniete da vor dem Laster und betete zu Arlah wie ein schmieriger Ar-raber. Kann ich mir richtig gut vorstellen. Die hatten einen Sprung in der Schüssel, alle beide. Seht euch doch an, wo Otto Schenck landete, wenn ihr mir nicht glaubt. Genau auf der anderen Straßenseite in dieser Hütte und glaubte glatt, die Stadt würde sie als Schule nehmen, so verrückt wie eine Scheißhausratte.«
Das wurde mit Kopfnicken und vielsagenden Blicken aufgenommen, denn da waren sie schon überzeugt, dass Onkel Otto verschroben war – oh, jawoll! –, aber keiner der Feierabendphilosophen aus dem Friseursalon kam auf den Gedanken, dass diese Vorstellung – McCutcheon, der »wie ein schmieriger Ar-raber« direkt vor dem Laster mit seinen verrotteten Blöcken kniete – genauso abwegig wie übertrieben war.
Tratsch ist immer ein heißes Thema in einer Kleinstadt; Leute werden auf Grund von völlig fadenscheinigen Beweisen und wildesten Spekulationen als Diebe, Ehebrecher, Wilderer und Betrüger gebrandmarkt. Häufig, glaube ich, wird Tratsch aus reiner Langeweile in Umlauf gebracht. Ich glaube, dass er nur deshalb nicht ganz und gar bösartig wird – wie Romanciers von Nathaniel Hawthorne bis Grace Metalious Kleinstädte beschrieben haben –, weil der landläufige Tratsch in Lebensmittelgeschäften und Friseursalons meistens merkwürdig naiv ist – man könnte meinen, dass diese Leute Gemeinheit und Liederlichkeit erwarten, ja, sie sogar erfinden, wenn es sie nicht gibt, aber dass das wirkliche und bewusste Böse ihre Vorstellungskraft übersteigt, selbst wenn es genau vor ihren Augen schwebt wie ein böser Zauberteppich aus einem Märchen von diesen schmierigen Ar-rabern.
Woher ich es weiß? Nur weil er an jenem Tag mit McCutcheon zusammen war? Nein. Wegen dem Lastwagen Cresswell. Als die Besessenheit Onkel Otto allmählich völlig beherrschte, kam er auf die Idee, direkt gegenüber in dem winzigen Haus zu wohnen … obwohl er in seinen letzten Lebensjahren eine Todesangst vor dem Lastwagen hatte, der auf der anderen Straßenseite gestrandet war.
Ich glaube, McCutcheon ging mit Onkel Otto auf die Wiese, wo der Cresswell aufgebockt war, weil Onkel Otto ihn dazu brachte, über seine Hauspläne zu sprechen. McCutcheon war immer erpicht, über sein Haus und seinen künftigen Ruhestand zu reden. Die beiden Geschäftspartner hatten ein gutes Angebot von einer viel größeren Gesellschaft erhalten – ich werde keinen Namen nennen, aber wenn, würden Sie ihn kennen –, und McCutcheon wollte es annehmen. Onkel Otto nicht. Sie hatten sich seit dem Frühling im stillen über das Angebot gestritten. Ich nehme an, dass diese Meinungsverschiedenheit der Hauptgrund war, warum sich Onkel Otto entschloss, seinen Partner loszuwerden.
Ich glaube, mein Onkel muss zwei Vorbereitungen für den Zeitpunkt getroffen haben: Als Erstes untergrub er die Blöcke, auf denen der Laster stand, und als zweites legte er den Köder aus, indem er etwas direkt vor den Laster, wo es McCutcheon sehen würde, auf den Boden legte oder vielleicht eingrub.
Was das war? Keine Ahnung. Etwas Glänzendes. Ein Diamant? Nichts weiter als ein Glassplitter? Spielt auch keine Rolle. Es funkelt und glitzert in der Sonne. Vielleicht sieht McCutcheon es. Wenn nicht, dann können Sie sich sicher sein, dass Onkel Otto ihn darauf aufmerksam macht. Was ist das?, fragt er und deutet darauf. Weiß nicht, sagt McCutcheon und läuft hin, um lookie-lookie zu machen.
McCutcheon kniet sich vor den Cresswell hin, genau wie ein schmieriger Ar-raber, der zu Arlah beten will, und versucht, den Gegenstand aus der Erde herauszuklauben, während mein Onkel wie zufällig zur Rückseite des Lasters schlendert. Ein kräftiger Stoß und schon kam dieser herunter und zerquetschte McCutcheon. Zermanschte ihn zu Brei wie einen Kürbis.
Ich vermute, in ihm steckte zu viel von einem Halunken, als dass er leicht gestorben wäre. In meiner Fantasie sehe ich ihn eingeklemmt unter der Schnauze des Cresswell liegen, Blut strömt ihm aus der Nase, dem Mund und den Ohren, das Gesicht ist kreidebleich, die Augen glanzlos, und er fleht meinen Onkel an, Hilfe zu holen, schnell Hilfe zu holen. Er bittet und bettelt und schließlich verflucht er meinen Onkel, schwört ihm, dass er ihn kriegen, ihn umbringen, ihn kaltmachen würde – und mein Onkel steht da und sieht zu, bis es vorbei ist.
Nicht lange nach McCutcheons Tod begann mein Onkel Dinge zu tun, die die Freizeitphilosophen im Friseursalon zunächst als komisch, dann als seltsam und schließlich als »verdammt verschroben« einstuften. Die Dinge, die letzten Endes dazu führten, dass man ihn im beißenden Jargon des Friseursalons für »so verrückt wie eine Scheißhausratte« erklärte, folgten im Laufe der Zeit. Das Meisterstück unter ihnen war, dass er zuerst das kleine Haus auf der dem Cresswell gegenüberliegenden Straßenseite baute und dann auch noch darin wohnte. Aber kaum jemand zweifelte daran, dass sein sonderbares Verhalten ziemlich genau zu der Zeit anfing, als George McCutcheon umkam.
1965 ließ Onkel Otto gegenüber von dem Lastwagen ein kleines Haus mit einem einzigen Zimmer bauen. Es wurde viel darüber geredet, was der alte Otto Schenck wohl dort draußen auf der Black Henry am Trinity Hill vorhatte, aber die Überraschung war perfekt, als Onkel Otto dem kleinen Bau den letzten Schliff gab, indem er ihm von Chuckie Barger einen knallroten Anstrich verpassen ließ, und dann verkündete, dass er ein Geschenk an die Stadt wäre – ein prächtiges neues Schulhaus, sagte er, und er wollte dafür nur, dass sie es nach seinem verstorbenen Partner benannten.
Die Stadträte von Castle Rock fielen aus allen Wolken. Und keinem in der Stadt erging es da anders. Fast alle Bewohner von Castle Rock hatten so eine Zwergschule mit einem Raum besucht (oder glaubten es, was auf das gleiche hinausläuft). Aber 1965 waren alle Zwergschulen aus Castle Rock verschwunden. Die allerletzte, die Castle Ridge School, war im Jahr zuvor geschlossen worden. Darin ist jetzt Steves Pizzahütte an der Route 117. Damals hatte die Stadt eine Volksschule aus Glas und Hohlziegeln auf der anderen Seite des Stadtparks und ein schönes, neues Gymnasium in der Carbine Street. Das Resultat dieses absonderlichen Angebots war, dass es Onkel Otto mit einem Schlag von »komisch« zu »verdammt verschroben« brachte.
Die Stadträte schickten einen Brief (keiner traute sich so recht, ihm persönlich gegenüberzutreten), bedankten sich höflich und gaben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass er in Zukunft auch an die Stadt denken werde, aber das kleine Schulhaus wiesen sie mit der Begründung zurück, dass für die Unterrichtsbedürfnisse der Stadtkinder schon ausreichend gesorgt sei. Onkel Otto platzte fast vor Wut. In Zukunft an die Stadt denken? In Ordnung, er würde an sie denken, aber nicht so, wie sie wollten. Er kam nicht auf der Brennsuppe dahergeschwommen. Er ließ sich kein X für ein U vormachen. Und wenn sie mit ihm um die Wette pissen wollten, sagte er, würden sie bald merken, dass er wie ein Stinktier pissen konnte, das gerade ein Fass Bier ausgetrunken hat.
»Und was jetzt?«, fragte mein Vater ihn. Sie saßen bei uns daheim am Küchentisch. Meine Mutter hatte ihr Nähzeug mit nach oben genommen. Sie sagte, sie könnte Onkel Otto nicht leiden; sie sagte, er roch wie ein Mann, der einmal im Monat ein Bad nahm, ob er es nötig hatte oder nicht – »gerade er, ein reicher Mann«, fügte sie stets hinzu und rümpfte die Nase. Ich glaube, sein Geruch war ihr wirklich zuwider, aber ich glaube auch, dass sie Angst vor ihm hatte. 1965 war Onkel Ottos Aussehen genauso verdammt verschroben geworden wie sein Verhalten. Er trug grüne Arbeitshosen mit Hosenträgern, ein warmes Unterhemd und große, gelbe Arbeitsschuhe. Und seine Augen drehten sich beim Reden in seltsame Richtungen.
»Hm?«
»Was wirst du jetzt mit dem Haus machen?«
»In dem Scheißkasten wohnen«, schnappte Onkel Otto, und genau das tat er dann auch.
Die Geschichte seiner letzten Jahre ist schnell erzählt. Er litt an dieser tristen Art Wahnsinn, von der man oft in billigen Revolverblättern liest. Millionär verhungert in Mietswohnung. Bankauszüge beweisen: Landstreicherin war reich. Vergessener Großbanker stirbt vereinsamt.
Schon in der nächsten Woche zog er in das kleine rote Haus – in späteren Jahren verblasste es zu einem matten, ausgewaschenen Rosa. Kein Einwand meines Vaters konnte ihn davon abhalten. Ein Jahr darauf verkaufte er das Geschäft, für das er nach meiner Überzeugung zum Mörder geworden war. Sein exzentrisches Verhalten war schlimmer geworden, aber sein Geschäftssinn hatte ihn nicht verlassen, und so erzielte er einen hübschen Gewinn – fantastisch wäre eigentlich der treffendere Ausdruck.
Da lebte also mein Onkel Otto, möglicherweise sieben Millionen Dollar schwer, in diesem winzigen Häuschen in der Black Street Henry. Sein Haus in der Stadt war verschlossen, die Fensterläden zu. Inzwischen war er von »verdammt verschroben« auf »so verrückt wie eine Scheißhausratte« vorgerückt. Der nächste Schritt wird etwas platter, weniger farbig, aber dafür unheilverkündender in Worte gekleidet: »Vielleicht gemeingefährlich.« Darauf folgt dann oft die Einweisung.
Auf seine Weise wurde Onkel Otto genau so eine Institution wie der Lastwagen auf der anderen Straßenseite, obwohl ich bezweifle, dass jemals ein Tourist ein Foto von ihm machen wollte. Er hatte sich einen Bart wachsen lassen, der eher gelblich als weiß wurde, als würde ihn das Nikotin seiner Zigaretten einfärben. Er war richtig fett geworden. Die schlaffe Haut seiner Wangen hing lose in runzeligen Falten voller Schmutz herunter. Die Leute sahen ihn oft im Eingang seines merkwürdigen Häuschens stehen, wo er bewegungslos auf die Straße und hinüber sah.
Zum Lastwagen – seinem Lastwagen.
Als Onkel Otto nicht mehr in die Stadt fuhr, sorgte mein Vater dafür, dass er nicht verhungerte. Er brachte ihm jede Woche Lebensmittel und bezahlte sie aus der eigenen Tasche, denn Onkel Otto gab ihm das Geld nie zurück – dachte einfach nicht daran, nehme ich an. Dad starb zwei Jahre vor Onkel Otto, dessen Geld schließlich im forstwissenschaftlichen Institut der Universität von Maine landete. Wie ich hörte, waren sie hocherfreut. In Anbetracht der Summe sollte man das auch meinen.
Nachdem ich 1972 den Führerschein gemacht hatte, brachte ich oft die wöchentliche Lebensmittelration hinaus. Anfangs begegnete mir Onkel Otto voller Misstrauen, aber nach einer Weile taute er auf. Es war drei Jahre später, 1975, als er mir zum ersten Mal erzählte, dass der Lastwagen auf das Haus zukroch.
Ich besuchte inzwischen die Universität von Maine, aber im Sommer war ich daheim und nahm meine alte Gewohnheit wieder auf, Onkel Otto die wöchentliche Lebensmittelration zu bringen. Er saß rauchend am Tisch, sah mir zu, wie ich die Konserven aufräumte, und hörte sich mein Geschwätz an. Ich glaubte, er wusste nicht mehr, wer ich war; manchmal vergaß er das – oder tat so. Einmal hatte er mir das Blut in den Adern gefrieren lassen, als er »Bist du es, George?« aus dem Fenster rief, während ich auf das Haus zuging.
An diesem besonderen Tag im Juli 1975 unterbrach er plötzlich mein belangloses Plappern und fragte mit barscher Stimme: »Was hältst du von dem Lastwagen dort drüben, Quentin?«
Diese unerwartete Frage überrumpelte mich so, dass ich eine ehrliche Antwort gab. »Ich habe im Fahrerhaus des Lasters in die Hosen gemacht, als ich fünf war«, sagte ich. »Ich glaube, wenn ich jetzt reinklettern würde, würde ich es wieder machen.«
Onkel Otto schüttelte sich vor Lachen. Ich drehte mich um und sah ihn verblüfft an. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn schon einmal lachen gehört zu haben. Es hörte mit einem Hustenanfall auf, der seine Wangen rot anlaufen ließ. Dann sah er mich mit glänzenden Augen an.
»Kommt näher, Quent«, sagte er.
»Was, Onkel Otto?«, fragte ich. Ich glaubte, er hätte einen seiner verwirrenden Sprünge von einem Thema zum anderen gemacht. Vielleicht meinte er, dass Weihnachten näher rückte, die Jahrtausendwende oder die Wiederkunft Christi.
»Dieser Scheißlastwagen«, sagte er und sah mir gelassen und verschwörerisch in die Augen, was mir nicht besonders gefiel. »Kommt jedes Jahr näher.«
»Tatsächlich?«, sagte ich vorsichtig und dachte mir, dass das eine neue und besonders unangenehme Wahnvorstellung sei. Ich warf einen Blick hinaus auf den Cresswell, der inmitten von Heu, mit den White Mountains als Hintergrund, auf der anderen Straßenseite stand … und eine verrückte Minute lang schien er tatsächlich näher zu sein. Dann blinzelte ich, und die Illusion war verschwunden. Der Laster stand natürlich da, wo er immer gewesen war.
»Oh, jawoll«, sagte er. »Kommt jedes Jahr ein bisschen näher.«
»Herrje, vielleicht brauchst du eine Brille. Ich kann überhaupt keinen Unterschied sehen, Onkel Otto.«
»Natürlich nicht!«, schnauzte er mich an. »Kannst auch nicht sehen, wie sich der Stundenzeiger auf deiner Armbanduhr bewegt, oder? Das verdammte Ding bewegt sich so langsam, dass man nichts sieht, außer man lässt es die ganze Zeit nicht aus den Augen. So wie ich den Laster dort im Auge behalte.« Er zwinkerte mir zu, und ich erschauerte.
»Warum sollte er sich bewegen?«, fragte ich.
»Er ist hinter mir her, darum«, sagte er. »Denkt die ganze Zeit an mich und an nichts anderes, dieser Lastwagen. Eines Tages wird er hier hereinbrechen, und das ist das Ende. Er wird mich wie Mac über den Haufen rennen, und das ist das Ende.«
Das jagte mir einen ganz schönen Schrecken ein – am meisten, denke ich, sein gelassener Ton. Und gewöhnlich reagieren junge Leute auf Angst, indem sie einen Witz reißen oder vorlaut werden. »Solltest in dein Haus in der Stadt zurückziehen, wenn dir das keine Ruhe lässt, Onkel Otto«, sagte ich, und niemand hätte am Klang meiner Stimme gemerkt, dass ich die Hosen gestrichen voll hatte.
Er sah mich an … und dann den Lastwagen auf der anderen Straßenseite. »Kann nicht, Quentin«, sagte er. »Manchmal muss ein Mann einfach aushalten, bis es ihn holt.«
»Was denn, Onkel Otto?«, fragte ich, obwohl ich mir sicher war, dass er den Lastwagen meinte.
»Das Schicksal«, sagte er und zwinkerte mir wieder zu … aber die Angst stand ihm deutlich im Gesicht geschrieben.
Mein Vater holte sich 1979 die Nierenkrankheit, die ein paar Tage vor seinem Tod noch abzuklingen schien. Während einer Reihe von Krankenhausbesuchen im Herbst jenes Jahres, sprachen mein Vater und ich über Onkel Otto. Mein Dad ahnte, was 1955 wirklich passiert sein könnte – sein harmloser Verdacht begründete meinen schwerwiegenden. Mein Vater hatte keinen Schimmer davon, wie ernst und tiefgreifend Onkel Ottos Besessenheit von dem Lastwagen geworden war. Ich schon. Er stand beinahe den ganzen Tag in seinem Hauseingang und sah ihn an. Sah ihn an wie ein Mann, der seine Uhr nicht aus den Augen lässt, um zu sehen, wie sich der Stundenzeiger bewegt.
Bis 1981 hatte Onkel Otto den letzten Funken Verstand verloren. Ein ärmerer Mann wäre schon längst eingewiesen worden, aber mit Millionen auf der Bank kann man sich in einer Kleinstadt eine Menge Verrücktheiten leisten, ganz besonders wenn genug Leute glauben, dass der Verrückte die Gemeinde in seinem Testament bedacht hat. Trotzdem redeten 1981 die Leute ernsthaft darüber, dass Onkel Otto zu seinem eigenen Besten eingeliefert werden sollte. Der platte, unheilvolle Ausdruck »vielleicht gemeingefährlich« trat gerade an die Stelle von »so verrückt wie eine Scheißhausratte«. Er hatte sich angewöhnt, zum Urinieren an den Straßenrand hinauszuschlurfen, anstatt nach hinten in den Wald zu gehen, wo sein Abort war. Manchmal schüttelte er, während er sich erleichterte, drohend die Faust gegen den Cresswell, und mehr als ein Autofahrer glaubte, dass Onkel Otto die Faust gegen ihn schüttelte.
Der Lastwagen mit den malerischen White Mountains im Hintergrund war eines, aber Onkel Otto, der am Straßenrand pinkelte, während seine Hosenträger an den Knien herunterbaumelten, war etwas anderes. Das war keine Touristenattraktion.
Ich trug mittlerweile öfter einen Anzug als die Jeans, die mich durch das College begleitet hatten, wenn ich Onkel Otto seine wöchentliche Lebensmittellieferung brachte – aber ich brachte sie ihm noch. Ich versuchte auch, ihm auszureden, dass er sein Bedürfnis am Straßenrand verrichtete, wenigstens im Sommer, wenn jeder x-beliebige Tourist aus Michigan, Missouri oder Florida, der gerade vorbeikam, ihn sehen konnte.
Ich konnte ihm das nicht klarmachen. Der Lastwagen ging ihm zu sehr an die Nieren, als dass er sich um solche Nebensächlichkeiten kümmern konnte. Seine Beschäftigung mit dem Cresswell war zur Manie geworden. Er behauptete felsenfest, dass der Lastwagen auf seiner Seite der Straße war – direkt in seinem Vorgarten.
»Ich bin heute Nacht um drei aufgewacht, und da war er, genau vor dem Fenster«, sagte er. »Ich habe ihn dort gesehen, das Mondlicht hat sich in der Windschutzscheibe gespiegelt, keine drei Meter von mir entfernt, und das Herz ist mir fast stehen geblieben. Fast stehen geblieben, Quentin.«
Ich nahm ihn mit nach draußen und zeigte ihm, dass der Cresswell genau dort stand, wo er immer gestanden hatte, jenseits der Straße auf der Wiese, wo McCutcheon vorgehabt hatte zu bauen. Es half nichts.
»Das ist nur das, was du siehst, Junge«, sagte er in einem Ton unendlicher Verachtung, während die Zigarette in seiner Hand zitterte, und er mit den Augen rollte. »Das ist nur das, was du siehst.«
»Onkel Otto«, sagte ich und versuchte, witzig zu sein. »Man bekommt, was man sieht.«
Er schien es gar nicht gehört zu haben.
»Das Miststück hätte mich fast erwischt«, flüsterte er. Mich überlief ein Schauder. Er sah nicht verrückt aus. Miserabel, ja, und ganz sicher erschrocken … aber nicht verrückt. Einen Moment erinnerte ich mich, wie mein Vater mich in das Fahrerhaus des Lastwagens hob. Erinnerte mich an den Geruch von Öl und Leder … und Blut. »Hätte mich fast erwischt!«, wiederholte er.
Und drei Wochen später erwischte er ihn.
Ich fand ihn. Es war Mittwochabend, und ich war mit zwei Tüten voll Lebensmitteln auf dem Rücksitz hinausgefahren, wie beinahe an jedem Mittwochabend.
Es war ein heißer, schwüler Abend. Ab und zu grollte Donner in der Ferne. Ich erinnere mich an meine Nervosität, als ich meinen Pontiac die Black Road Henry entlangfuhr; ich war mir irgendwie sicher, dass etwas passieren würde, versuchte aber mir einzureden, dass es an dem niedrigen Luftdruck lag.
Ich fuhr um die letzte Ecke, und einen Moment hatte ich, gerade als Onkel Ottos kleines Haus in Sicht kam, eine höchst merkwürdige Halluzination – einen Augenblick glaubte ich, dass der verdammte Laster wirklich in seinem Vorgarten wäre, groß und unförmig, mit seiner roten Farbe und den morschen Seitenstangen. Ich wollte auf die Bremse treten, aber noch bevor mein Fuß auf dem Pedal aufsetzte, blinzelte ich, und die Sinnestäuschung war verschwunden. Aber ich wusste, dass Onkel Otto tot war. Keine Fanfaren, keine Blitzlichter; nur dieses Wissen, wie man weiß, wo in einem vertrauten Zimmer die Möbel stehen.
Ich fuhr, so schnell ich konnte die auf Einfahrt, stieg aus und rannte zum Haus, ohne mich um die Lebensmittel zu kümmern.
Die Tür war offen – er sperrte sie nie ab. Ich hatte ihn einmal danach gefragt, und er hatte mir geduldig erklärt, wie man einem Einfaltspinsel eine völlig offensichtliche Tatsache erklären würde, dass eine abgesperrte Tür den Cresswell nicht aufhalten würde. Er lag auf seinem Bett, das auf der linken Seite des Zimmers stand, gegenüber der Kochnische. Er hatte die grünen Hosen und das warme Unterhemd an, und seine glasigen Augen waren offen. Ich glaube nicht, dass er mehr als zwei Stunden tot war. Keine Fliegen und kein Verwesungsgeruch, obwohl an dem Tag eine Bullenhitze geherrscht hatte.
»Onkel Otto?« Ich sprach leise, ohne eine Antwort zu erwarten. Mit so weitgeöffneten und hervorquellenden Augen liegt man nicht einfach zum Spaß im Bett. Wenn ich etwas fühlte, dann war es Erleichterung. Es war vorbei.
»Onkel Otto?« Ich ging näher hin. »Onkel …«
Ich hielt inne, als mir zum ersten Mal auffiel, wie seltsam entstellt seine untere Gesichtshälfte war – wie geschwollen und verzerrt. Ich bemerkte zum ersten Mal, wie seine Augen nicht nur starrten, sondern regelrecht aus den Höhlen glotzten. Doch sie waren weder zur Tür noch zur Decke gerichtet. Sie waren auf das kleine Fenster über dem Bett verdreht.
Ich bin heute Nacht um drei aufgewacht, und da war er genau vor dem Fenster, Quentin. Hätte mich fast erwischt.
Zu Brei zermanscht wie ein Kürbis, hörte ich einen der Freizeitphilosophen aus dem Friseursalon sagen, während ich dasaß, die Düfte von Vitalis und Wildroot Cream-Haaröl einatmete und so tat, als würde ich ein Live -Magazin lesen.
Hätte mich fast erwischt, Quentin.
Ein Geruch herrschte hier drinnen – nicht nach Friseursalon, und nicht nur der Gestank eines schmutzigen alten Mannes.
Es roch nach Öl, wie in einer Garage.
»Onkel Otto?«, flüsterte ich, und als ich auf das Bett zuging, wo er lag, hatte ich das Gefühl, als ob ich schrumpfen würde, nicht nur an Größe, sondern auch an Jahren … als ob ich wieder zwanzig werden würde, fünfzehn, zehn, acht, sechs … und schließlich fünf. Ich sah, wie sich meine kleine zitternde Hand nach seinem geschwollenen Gesicht ausstreckte. Als meine Hand ihn berührte und sich auf sein Kinn legte, sah ich auf, und da war der Cresswell, seine gespenstisch leuchtende Windschutzscheibe füllte das ganze Fenster aus – und obwohl es nur einen Augenblick dauerte, würde ich auf die Bibel schwören, dass es keine Halluzination war. Der Cresswell war dort gewesen, im Fenster, keine drei Meter von mir entfernt.
Ich hatte die Finger auf eine von Onkel Ottos Wangen gelegt und den Daumen auf die andere und wollte, nehme ich an, diese merkwürdige Schwellung untersuchen. Als ich den Lastwagen im Fenster sah, verkrampfte sich meine Hand zur Faust, ich dachte nicht daran, dass sie locker um die untere Gesichtshälfte des Toten gelegt war.
In diesem Moment verschwand der Lastwagen vor dem Fenster wie Rauch – wie das Spukwesen, für das ich ihn jetzt halte. Und im selben Moment hörte ich ein ekliges, schmatzendes Geräusch. Meine Hand füllte sich mit einer heißen Flüssigkeit. Ich beugte den Kopf und spürte nicht nur weiches Fleisch und Feuchtigkeit sondern auch etwas Hartes und Eckiges. Ich beugte den Kopf und sah es, und dann fing ich an zu schreien. Öl strömte aus Onkel Ottos Mund und Nase. Wie Tränen sickerten Öltropfen aus seinen Augenwinkeln. Diamond-Gem-Öl – das wiederauf bereitete Zeug, das man in Zwanzig-Liter-Plastikkanistern kaufen kann, das Zeug, das McCutcheon immer für den Cresswell benützt hatte.
Aber es war nicht nur Öl; etwas steckte in seinem Mund.
Ich schrie immer noch und eine Zeit lang war ich unfähig, mich zu bewegen, unfähig, die ölverschmierten Hände von seinem Gesicht zu nehmen, unfähig, meine Augen von diesem großen, klebrigen Ding abzuwenden, das aus seinem Mund ragte – diesem Ding, das die Form seines Gesichts so schrecklich entstellt hatte.
Schließlich löste sich meine Lähmung, und ich floh, immer noch schreiend, aus dem Haus. Ich rannte über die Einfahrt zu meinem Pontiac, stürzte hinein und raste los. Die Lebensmittel für Onkel Otto purzelten vom Rücksitz auf den Boden. Die Eier gingen zu Bruch.
Es grenzte an ein Wunder, dass ich auf den ersten drei Kilometern nicht in den Tod raste – ich warf einen Blick auf den Tachometer und merkte, dass ich schneller als siebzig Meilen fuhr. Ich hielt am Straßenrand und holte ein paarmal tief Luft, bis ich mich wieder einigermaßen in der Hand hatte. Mir wurde langsam klar, dass ich Onkel Otto nicht einfach so liegen lassen konnte, wie ich ihn gefunden hatte; das würde zu viele Fragen nach sich ziehen. Ich musste zurückfahren.
Und, das muss ich zugeben, eine teuflische Neugier hatte mich gepackt. Ich wollte, sie hätte mich nicht gepackt, oder ich hätte ihr widerstanden; ich wünschte, ich hätte sie einfach ihre Fragen stellen lassen. Aber ich fuhr zurück. Ich stand etwa fünf Minuten vor seiner Tür – ungefähr an der Stelle, an der er so oft und so lange gestanden hatte, um den Lastwagen zu beobachten. Ich stand dort und kam zu diesem Schluss: Der Lastwagen auf der anderen Straßenseite hatte seinen Standort verändert, wenn auch nur ein klein wenig.
Dann trat ich ein.
Die ersten Fliegen schwirrten um sein Gesicht. Nervös sah ich zum Fenster, wo ich den drohend aufragenden Cresswell gesehen hatte … dann ging ich zum Bett. Ich nahm ein Taschentuch und wischte meine Fingerabdrücke ab. Dann streckte ich die Hand aus und öffnete Onkel Ottos Mund.
Was herausfiel war eine Zündkerze Marke Champion – eine der alten Maxi-Duty-Sorte, fast so groß wie die Faust eines Kraftmeiers im Zirkus.
Ich nahm sie mit. Jetzt wäre mir wohler, wenn ich das nicht getan hätte, aber natürlich stand ich unter Schock. Es wäre alles erträglicher, wenn ich den Gegenstand hier nicht leibhaftig in meinem Arbeitszimmer hätte, wo ich ihn anschauen oder, wenn ich will, aufheben kann, um ihn in der Hand zu wiegen, diese Zündkerze, die aus Onkel Ottos Mund gefallen war.
Wenn sie nicht da wäre, wenn ich sie nicht mitgenommen hätte, als ich das zweite Mal aus dem einzigen Zimmer seines kleinen Hauses floh, dann könnte ich mich vielleicht jetzt daranmachen mir einzureden, dass alles – nicht nur die Sache mit dem Cresswell, als ich um die Kurve bog und sah, wie er sich wie ein großer, roter Hund an die Wand des kleinen Hauses drückte, sondern wirklich alles – nur eine Halluzination war. Aber da ist die Zündkerze. Das Licht spiegelt sich darauf. Sie hat Gewicht. Der Lastwagen kommt jedes Jahr näher, hatte Onkel Otto gesagt, und jetzt scheint es, als hätte er recht gehabt, aber nicht einmal Onkel Otto konnte ahnen, wie nahe der Cresswell kommen würde.
In der Stadt ging das Gerücht um, dass Onkel Otto Selbstmord begangen hatte, indem er Öl schluckte, und das war eine Zeit lang das Tagesgespräch in Castle Rock. Carl Durkin, der städtische Leichenbestatter und nicht der Schweigsamsten einer, erzählte, dass die Ärzte, als sie ihn zur Autopsie öffneten, fast drei Liter Öl in ihm fanden und … nicht nur in seinem Magen. Es hatte den ganzen Organismus überschwemmt. Was die ganze Stadt interessierte, war: Was hatte er mit dem Plastikkanister gemacht? Kein einziger wurde je gefunden.
Wie ich schon sagte, die meisten unter Ihnen werden mir nicht glauben, wenn sie diese Memoiren lesen … es sei denn, Ihnen ist schon etwas Ähnliches zugestoßen. Aber der Lastwagen steht immer noch dort draußen auf der Wiese … und ob Sie mir glauben oder nicht, es ist tatsächlich geschehen.