Sechs
Es war schwierig genug, auf den ungleichmäßigen Treppenstufen weder aus den Schühchen zu rutschen noch auf den Saum des Schneeflockenkleides zu treten, so dass ich nicht noch auf viel mehr achten konnte. Dennoch entging mir nicht, dass mich jedermann anzustarren schien, nur um dann seinen Blick wieder zu senken. Es war wohl für alle ein großer Tag – außer für Arik, wie ich mir wünschte.
Weder von Jannis noch von Ravez war etwas zu sehen und ich konnte nur hoffen, dass das alles so seine Richtigkeit hatte.
Als wir diesmal die Halle erreichten, verstummten die Gespräche mit einem Schlag, und alle Blicke richteten sich auf mich. Die Tische waren mit Schüsseln und Krügen beladen und mir kam es vor, als säßen noch weitaus mehr fremdartige Gestalten daran als beim letzten Mal. Man hatte den Boden gesäubert und sich sichtlich Mühe gegeben, alles geordnet aussehen zu lassen.
Am Kopf der Tafel saß Arik mit unergründlich kalten Augen und erhob sich, als ich vor ihn hin geführt wurde. Er trug ein Gewand aus Silber und Schwarz und er hatte seine Haare zurückgebunden, sodass sich das Licht der Fackeln in seinem Ohrring spiegelte.
»Willkommen, Kyra«, intonierte er mit seiner falsch-samtenen Stimme. »Wir freuen uns, dass du uns so bald schon wieder Gesellschaft leistest. Und was für eine Augenweide du bist. Du wirst uns hoffentlich noch lange erfreuen.«
»Das soll, wie ich gehört habe, nicht von mir abhängen«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Verdammt, wo waren Ravez und Jannis?
Arik lächelte mit dem Mund, nicht mit den Augen. »Du musst nicht alles glauben, was die Leute so reden. Ich habe Feinde und Neider, weißt du. So ist es nun mal, wenn man an der Macht ist.« Er deutete auf den Platz neben sich. »Und nun setz dich und iss mit uns. Ich habe später noch eine Überraschung für dich.«
Hinter ihm in den Schatten der Wand erkannte ich eine vertraute Gestalt und erleichtert schritt ich um den Tisch herum zu dem freigehaltenen Stuhl. Ich ließ mich nieder, Arik ebenfalls, wobei ich so weit von ihm abrückte, wie ich nur konnte. Allerdings konnte ich nicht verhindern, dass Arik die Hand auf meinen Arm legte und dort provokant liegen ließ.
Während ich noch versuchte, sie abzuschütteln, winkte er mit der anderen Hand seinen Dienern. »Bringt uns zu trinken!«, befahl er. »Von dem Wein, den ich bestimmt habe!«
Ariks Finger verströmten eine Kälte, die mir mehr Unbehagen einflößte als all seine Feuerspielchen zusammen, doch ich bemühte mich, mir auch weiterhin nichts anmerken zu lassen.
Und dann ging auf einmal alles ganz schnell.
Ein ängstlicher Diener erschien mit einem Krug, aus dem es eigenartig duftete, und schenkte uns beiden in Gläser ein, die im Fackellicht blutrot funkelten. Gleichzeitig meinte ich für einen Moment, Ravez’ verhüllte Gestalt im Eingang gesehen zu haben, doch dann war er auch schon wieder verschwunden. Arik hob die Hand mit dem Kelch, als wollte er einen Toast aussprechen – und erstarrte mitten in der Bewegung.
Alles war plötzlich wie eingefroren. Die Diener, die Gefolgsleute, selbst die Flammen knisterten nicht mehr. Rasch zog ich meinen Arm unter Ariks erstarrter Hand hervor und blickte mich verwundert um. Die ganze Halle war zu einem Standbild geworden.
Alle, bis auf zwei Gestalten, die sich auf mich zu bewegten – die eine klein und verhüllt aus der Richtung der Tür, die andere groß von der Wand hinter mir.
»Ravez«, entfuhr es mir verblüfft. »Was ist hier gerade geschehen?«
Er blickte angestrengt vor sich hin. »Jannis wird es dir erklären. Nehmt die Tür nach hinten hinaus, ich werde versuchen, sie so lange aufzuhalten, wie ich kann. Na los, macht schon!«
Jemand griff nach meinem Arm und zog mich mit sich, und ich ließ mich durch den hinteren Teil der Halle zerren, wobei ich eine Sandalette verlor. »Warte«, keuchte ich und schüttelte auch die zweite ab. »So geht es bedeutend besser.«
Jannis achtete nicht darauf und öffnete eine Tür im Hintergrund, durch die er mich mit sich zog. Erst als sie hinter uns wieder ins Schloss fiel, blieb er stehen – so abrupt, dass ich fast in ihn hineingestolpert wäre.
»Nun schau sich einer das an«, sagte er.
Ich blickte mich verwirrt um, sah aber nichts weiter als einen leeren Raum mit einem ausrangierten Stuhl an der Wand und einem weiteren Ausgang am anderen Ende.
»Was?«, fragte ich. »Was ist los, Jannis? Und was hat Ravez gerade gemacht?«
Er blinzelte und schüttelte den Kopf. »Ravez kann die Zeit anhalten, um sich dazwischen zu bewegen. Das schafft er nicht lange, aber es reicht, um unbemerkt irgendwohin zu kommen. Für die anderen ist es so, als wäre nichts geschehen, wenn die Zeit danach wieder weiterläuft.« Er musterte seine Umgebung noch immer mit Erstaunen und ich begann mich langsam zu fragen, ob dieses Zeitanhalten vielleicht auch Nebenwirkungen hatte.
»Aber liegt diese Burg nicht außerhalb der Zeit? Und was, verdammt noch mal, findest du eigentlich so spannend daran, hier in dieser Rumpelkammer zu stehen, anstatt zu machen, dass wir fort kommen?«
Jannis drehte sich zu mir um, als würde er mich erst jetzt wirklich wahrnehmen. »Ja, wir bewegen uns außerhalb der Zeit, und deshalb ist sie auch manipulierbar. Ravez kann es jedenfalls. Kyra, du kannst es nicht sehen, nicht wahr? Du kannst all das hier nicht erkennen, weil es durch Magie erschaffen wurde?«
»Nein«, bestätigte ich und schaute mich noch einmal um. »Hier ist nichts, wirklich. Sollten wir nicht …«
»Aber das musst du gesehen haben!« Er ließ sich einfach nicht aufhalten. »Komm, versuch es durch meine Augen. Du hast das schon einmal geschafft.«
»Ich habe geschlafen!«, protestierte ich. »In wachem Zustand geht das nicht!«
»Doch«, drängte er, »ich weiß, dass du es kannst, wenn du es wirklich willst und entspannt genug bist. Du hast auch im Zuber gemerkt, dass ich da war.«
»Im …« Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Dann war das keine Einbildung? Was hast du dir dabei gedacht, mich einfach …«
»Ich hab doch gesagt, dass ich wiederkomme. Ich konnte doch nicht wissen, dass du gerade badest.«
Dazu fiel mir jetzt auch nichts mehr ein. »Komm, versuch es einmal«, bettelte er. »Entspann dich und schließ deine Augen. Nur für einen kurzen Moment.«
Es kam mir immer noch unpassend vor, aber da er keine Ruhe gab, bevor ich ihm den Gefallen nicht tat, hoffte ich inständig, dass Ravez noch eine Weile durchhalten würde, während ich tief durchatmete und meine Lider schloss.
Dunkelheit umgab mich, Stille – und noch etwas anderes, Diffuses, das ich um mich herum wahrnahm, ohne es wirklich greifen zu können. Es war wabernd und mächtig und schmeichelnd, doch es konnte nicht an mich heran. Unbehaglich suchte ich nach anderen Eindrücken, nach etwas, das von Jannis kam.
Langsam atmen, ein und aus. Versuchen, alles auszublenden, alles andere abzustreifen. Etwas Warmes näherte sich mir, erst nur ein kaum wahrnehmbarer Funke, dann immer deutlicher zu erkennen. Ich spürte, wie es sich hinter mir zusammenballte, die schmeichelnden Schatten zum Verstummen brachte. Geborgenheit und Zuversicht waren darin, in die ich mich gern hineingleiten ließ – und auch noch etwas anderes, weitaus Sinnlicheres, das ich fasziniert betrachtete. Ich hatte keine Angst oder Unruhe mehr, meine Gedanken trieben weit fort und machten Platz für bloßes Empfinden.
Wärme. Hitze. Sie umschloss mich und ich versuchte, in ihr erste Bilder zu erkennen, die die Flammen für mich formten. Blumen …?
Schau dich um, Kyra, so etwas Schönes. Ich wusste gar nicht mehr, dass es so etwas gibt.
Plötzlich waren sie da, rings um mich her, ich konnte sehen, was er meinte. Wir standen auf einer taufeuchten Wiese, in alten Bäumen rauschte der Wind, und überall um uns blühten Büsche, Sträucher und Blumen, üppig und betörend. Ihr Farbenspiel war überwältigend, doch noch berauschender war ihr Duft, der über allem lag. Ich konnte ihn selber nicht riechen, aber ich fühlte, was er bei Jannis bewirkte. Er wirkte völlig gelöst und glücklich und er drehte seinen Blick ein wenig, so dass ich in eine andere Richtung schauen konnte. Dort gab es einen Bach, der einen Teich speiste, von rosenartigen Gewächsen umgeben.
Er ist wie der Teich bei uns daheim. Meinst du, wir könnten darin baden?
Jannis? Wir können nicht …
Kyra, hier sind wir sicher, ich fühle es. Es ist so ein schöner Ort. Und er liegt außerhalb der Zeit, niemand würde uns vermissen. Wir könnten zurückkehren, wann immer wir wollen, und keiner hätte es mitbekommen.
Die Wärme um mich her verstärkte sich noch, hielt mich umschlungen, so dass ich mich nicht bewegen konnte.
Ich würde gern mit dir hierbleiben, Kyra. Du bist so wunderschön. Du hast gefragt, warum ich ausgerechnet dich entführt habe. Das war, weil du mir schon von oben als Falke aufgefallen bist. Ich musste eine Frau finden, die hübsch genug für Arik war und gleichzeitig auch mutig genug, um ihn für uns zu bekämpfen. Ich habe nach meinem Geschmack ausgesucht.
Ich war verwirrt. Was geschah hier? Etwas in mir wollte sich melden, aber die Wärme ließ es nicht durch. Sie intensivierte sich an meiner Halsbeuge. Es fühlte sich an wie ein sanfter Kuss.
Ich habe dich gern in der Wanne betrachtet, ich könnte dich immerzu anschauen. Und noch lieber möchte ich dich berühren, mit deinen schönen Haaren spielen, deine Haut an meiner spüren, erkunden, wie du riechst und schmeckst …
Der Kuss wanderte meinen Hals hinauf, erreichte die Schläfen und die Stirn, glitt dann langsam die Nasenwurzel hinunter. In meinen Adern pulsierte es, doch ich konnte mich noch immer nicht rühren.
Wir sollten nicht hier sein, flüsterte ich hilflos und wusste selbst nicht genau, was das bedeutete. Wir sollten das alles nicht tun. Oder?
Doch, genau hier sollst du sein, Kyra. Ich halte dich fest, spürst du das? Ich möchte dich nicht mehr loslassen. Und wenn ich dir gleichgültig wäre, würde es dir nicht gelingen, in meine Gedanken zu kriechen, wie du es tun kannst. Das passiert nur, weil du es willst, und weil es eine eigene, ganz besondere kleine Magie zwischen uns beiden ist.
Der Kuss war auf meiner Oberlippe angelangt und hielt kurz und abwartend inne, bevor er sich weiter vorarbeitete. Etwas ganz, ganz tief in mir wollte mich noch an etwas erinnern, das es wohl für wichtig hielt, doch es wurde endgültig durch eine Woge aus Emotionen überrollt und erstickt, bei denen nicht mehr auszumachen war, von wem von uns welche Anteile stammten. Mein gesamter Körper glühte, mein Mund öffnete sich wie von allein und drängte sich dem Kuss entgegen, der kam wie ein reinigender Gewittersturm. Ich verlor mich vollkommen darin und wollte nie wieder daraus auftauchen. Ich wollte in dieser Wärme bleiben, in diesem Kuss gefangen, für immer, wenn es sein musste, und ich wollte mehr, mehr … Heiß pochte es in meinem Unterleibund ich keuchte unter der Wildheit meiner Gefühle.
Als eine blitzende Axt den Sturm zerteilte, riss es mich hart auf den Boden zurück, und ich krümmte mich in körperlichem Schmerz.
Was um alles in der Welt …
Mühsam öffnete ich die Augen und begriff zunächst nicht, was ich sah. Ich lag in einem weißen Kleid auf dem Boden eines leeren Raums, vor mir Jannis, der sich wand wie ich selbst, und zwischen uns eine weitere Gestalt, der roter Zorn ins Gesicht geschrieben stand. Eine Gestalt in einem Umhang mit zurückgeschleuderter Kapuze, die zwischen den Zähnen hindurch zischte: »Verflucht noch mal, ich dachte, ihr wärt schon längst fort! Dafür hab ich die Zeit ganz sicher nicht angehalten. Hoch mit euch und nichts wie raus hier, sie kommen in der Halle gerade zu sich!«
Immer noch benommen, taumelte ich in den Stand und vermied es dabei, Jannis anzusehen. Einzelne Haarsträhnen hatten sich aus meiner Frisur gelöst und ich tastete erschrocken nach dem Schlüssel darin – Glück gehabt, er steckte noch dort. Was war mit uns passiert, was hatten wir getan?
Jannis wich meinem Blick ebenfalls aus, griff aber nach meinem Arm und zog mich ohne ein weiteres Wort hinter dem wütenden Ravez her auf den Hinterausgang des Raumes zu. Barfuß eilte ich über den Boden und rannte um mein Leben und ich war so durcheinander, dass ich es kaum schaffte, einen Fuß vor den anderen und nicht in den Saum meines Kleides zu setzen.
Ich konnte nur hoffen, dass jetzt nicht alles für immer zerstört und verdorben war.