»AUF DER UNTERSEITE IHRES STUHLS KLEBT EINE BOMBE!«
Hauptkommissar Ernest Reemund schaute langsam von seinem Laptop auf. In dem Café saßen außer ihm neunzehn andere Gäste. Jeder wie er allein, samt Frühstück, die meisten mit eigenem Computer.
Auf dem Bildschirm entstanden wie von Geisterhand neue Wörter.
»BENEHMEN SIE SICH GANZ NORMAL!«
Wie Reemund diesen Satz hasste! Einmal wollte jemand für eine Fernsehen-hilft-Polizei-Sendung ein Interview mit ihm machen, in einem dreckigen Studio am Arsch der Welt. Der Stuhl war zu hart, das Licht zu grell und die Praktikanten, die fortwährend an ihm herum fummelten, machten ihn wahnsinnig. Doch am schlimmsten war der Moderator. Er kam kurz vor Sendungsbeginn, setzte sich vor aller Augen ein strahlendes Lächeln auf, legte dem Hauptkommissar die Hand auf die Schulter und riet ihm mit sonorer Stimme, sich ganz normal zu benehmen, er solle einfach er selbst bleiben. Kaum zehn Minuten später beschloss Reemund, genau das mal zu versuchen. Die Folge war eine Anzeige wegen tätlichen Angriffs mit einem Lampenstativ.
»NEHMEN SIE IHR TELEFON HERAUS! ICH WILL ES SEHEN!«
Die sich selbst schreibenden Wörter irritierten Reemund beträchtlich. Er kam so schon kaum mit Befehlen zurecht, aber dass sein Computer ihm welche gab, war, als würde es der Teufel selbst tun, an den er nicht glaubte. Das Mistding, es war sein erstes, hatte er sich vor ein paar Wochen erst gekauft. Die Kollegen hatten ihm ständig mit Sätzen über das einundzwanzigste Jahrhundert in den Ohren gelegen und schließlich war Reemund weich geworden, doch der Scheißkasten – so der Zweitname des Gerätes – und er wurden einfach nicht warm miteinander. Die Alpträume über automatische Polizisten, die ihn seit einiger Zeit plagten, endeten regelmäßig damit, dass er seinen Computer ersäufte. Und jetzt sowas!
»WENN SIE JEMANDEM EINE EMAIL SCHREIBEN, MERKE ICH DAS!«
Reemund schnaubte wütend. Als ob er das so spontan hätte bewerkstelligen können!
Der Kommissar hielt die ganze Sache für einen dämlichen Witz, ausgeheckt von einem der Gäste. Als einer der besten Mordermittler Berlins konnte er es kaum vermeiden, dass sein Bild gelegentlich in schlechteren Zeitungen auftauchte, auch wenn er inzwischen den Reflex entwickelt hatte, sich bei jedem Kameraklicken ruckartig wegzudrehen. Das war ihm so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass er niemals in Touristenzentren Urlaub machte. Das Lokal besuchte er nun auch schon seit mehreren Wochen regelmäßig zum Frühstücken und Emails lesen, vor allem deshalb, weil er beschlossen hatte, den Computer zu Hause nicht anzuschalten.
Reemund beschloss, obwohl er fast sicher war, dass ihn irgend jemand hier im Raum dafür auslachen würde, unter seinem Stuhl nachzufühlen. In seinen dreißig Jahren bei der Polizei waren ihm bereits merkwürdigere Dinge untergekommen. Mit der einen Hand griff er betont lässig nach seiner Kaffeetasse, während er die andere vorsichtig unter die Sitzfläche schob. Da war tatsächlich etwas! Glatt, kalt, scharfkantig, eine Metallbox. Erschrocken zog Reemund die Hand zurück.
»ÜBERZEUGT, HERR HAUPTKOMMISSAR? WOLLTEN SIE NICHT IHR TELEFON HERAUSHOLEN? WERFEN SIE ES AUS DEM OFFENEN FENSTER HINTER IHNEN. STEHEN SIE DABEI NICHT AUF. EINER DER BEIDEN ZÜNDER REAGIERT, SOBALD SIE AUFSTEHEN. DEN ANDEREN HABE ICH.
Reemunds einziger Trost, als er mit spitzen Fingern sein Telefon aus der Hemdtasche angelte und durch den Fensterspalt warf, war, dass er das Ding auch nicht leiden konnte. Er überlegte einen Moment lang, ob er den Computer kurzerhand hinterher schmeißen sollte, aber er widerstand dem Impuls. Dann hob er den Kopf und sah sich die Gäste genauer an, zum ersten Mal, wie er verblüfft feststellte. Normalerweise war das erste, was der Kommissar tat, wenn er in einen Raum voller Menschen kam, sich jeden kurz aber genau anzusehen, einzuprägen und abzuschätzen. Die meisten Leute kamen dabei, Reemunds Menschen-Ekel entsprechend, schlecht weg, aber immerhin hatte er von allen ein Bild. Hier jedoch: nichts. Seit Wochen. Er konnte nicht einmal sagen, ob es außer ihm noch andere regelmäßige Gäste gab. Es war, als weigere sich sein Gehirn einfach, Menschen vor Computern als etwas anderes als als Teil eines aufgeblähten Netzwerkes aus Nullen zu betrachten.
Reemund konzentrierte sich genauer auf die Gäste, doch nirgends gab es einen verstohlenen Blick in seine Richtung, kein zuckendes Bein, kein Fingertrommeln, irgendwas, das vielleicht ein kleines bisschen Nervosität verriet. Statt dessen meldete sich sein Computer zurück.
»SUCHEN SIE MICH? HIER BIN ICH! HIER!«
Der Kommissar rollte mit den Augen.
»DAS HABE ICH GESEHEN.«
Reemund stützte betont gelangweilt seinen Kopf auf einer Hand ab, während er den Blick so unauffällig, wie möglich über die Leute gleiten lies. Die andere Hand ballte er zur Faust, hob sie über den Monitor und streckte den Mittelfinger. Keine erkennbare Reaktion. Der Typ war gut. Statt dessen fing der Computer wieder an zu schreiben.
»SIE VERSTEHEN NICHT VIEL VON TÄTERPSYCHOLOGIE?«
Gehirnwichse, dachte Reemund und teilte durch eine entsprechende Geste dem Raum als Ganzes zumindest den zweiten Teil des Wortes mit. Das gelang ihm mit einer Lässigkeit, die ihn selbst verblüffte, denn eigentlich war ihm eher danach, seinen Laptop voll zu kotzen oder zu schreien.
»SIE FRAGEN SICH, WAS ICH EIGENTLICH WILL?«
Der Kommissar zuckte mit den Schultern.
»WILL ICH AUF MICH AUFMERKSAM MACHEN? POLITISCHE GEFANGENE FREIPRESSEN? IST DAS ALLES HIER EIN STATEMENT? WILL ICH GELD? ODER WILL ICH EINFACH, DASS SIE ZU SPÄT KOMMEN?«
Reemund deutete ein Gähnen an.
»ES IST GANZ EINFACH. SIE SOLLEN BLEIBEN, WO SIE SIND, UND MIR NICHT IN DIE QUERE KOMMEN. ICH DENKE, ICH WERDE BALD VERSCHWINDEN. UND SIE MÜSSEN DANN NUR NOCH AUF DAS ENTSCHÄRFUNGSKOMMANDO WARTEN, UND ALLES GEHT WEITER WIE IMMER! ODER VIELLEICHT NICHT! FRÜHSTÜCKEN SIE DOCH WEITER. SIND DAS PFERDEBULETTEN? IST JA EKELHAFT!«
Der Hauptkommissar zwang sich dazu, seine Gabel zu nehmen, und sie demonstrativ in einen der kalten Fleischklöße zu rammen. Dann hob er ihn hoch und biss ab, den Schweiß, der ihm von der Nase herab auf die Gabel tropfte, tapfer ignorierend. Die Buletten schmeckten ihm nicht mal besonders, aber Reemund hatte auf dem Hinweg ein großes Werbeplakat für einen Reiterhof entdeckt, auf dem eine Schar Kinder mit vor unsagbaren Glück feuchten Augen ein Pony bürstete, das obendrein so aussah, als würde es lächeln. Der Kommissar bekam sofort Appetit auf Pferdefleisch.
Ein Mann stand auf und ging in Richtung der Toiletten davon. An einem Tisch weiter hinten erhob sich langsam ein anderer, ein Mann mit einer wilden Lockenmähne. Er tippte im Stehen noch ein paar Worte in seinen Laptop. Reemund starrte zwischen ihm und seinem eigenen Computer hin und her.
»ICH MUSS JETZT LOS! ES HAT MICH GEFREUT, SIE KENNEN ZU LERNEN, HERR HAUPTKOMMISSAR.«
Der Mann trank noch einen Schluck Kaffee, schüttelte lässig seine Locken und ging ebenfalls zu den Toiletten.
Reemund sah ihm entgeistert nach und versuchte zugleich, sich zu konzentrieren. Wenn das der Bombenleger war, schwebte der Mann, der vor ihm aufs Klo gegangen war, in erheblicher Gefahr. Jemandem, der Bomben unter Stühle klebt, nur um einen Polizisten, der zufällig im selben Raum ist, in Schach zu halten, war alles zuzutrauen. Am ehesten wohl ein Mord. Das wäre leicht. Er könnte den anderen töten und durch den hinteren Notausgang verschwinden. Und wie elegant das alles war. Reemund saß auf der Bombe fest. Er konnte niemanden zu den Toiletten schicken, denn keiner hier hatte das nötige Training oder eine Waffe. Nichtmal er selbst hatte seine Glock dabei. Außerdem konnte der Lockenkopf noch immer die Bombe fern zünden, sobald er merkte, dass ihm jemand hinterher geschickt worden war. Wenn die Sprengkraft nicht zu groß war, würde ihm da hinten nicht mal was passieren. Was aber, wenn der Lockenkopf nicht der Böse war? Reemund überlegte fieberhaft. Immerhin gab es eine drastische Möglichkeit, das herauszufinden. Er klappte seinen Laptop zu und wartete. Wenn der Täter noch hier war, musste jetzt irgendwas passieren. Doch nichts geschah.
Also doch die Toiletten.Reemund seufzte leise und fasste einen Entschluss.
Der Erste Polizeihauptkommissar Ernest Reemund, Leiter der Mordkommission Nummer drei des Berliner Landeskriminalamtes umfasste mit beiden Händen fest seine Stuhlkante, presste sich die Sitzgelegenheit mit aller Kraft gegen das Hinterteil, stellte sich wankend auf und rannte mit ganz kleinen Schritten, brüllend auf die anderen Gäste zu.
»Eine Bombe! Ich habe eine Bombe! Alle Raus! Raus! Raus!«
Wann immer Reemund sich später an diesen Moment erinnerte, blieb es ihm unerklärlich, wie er die Leute dazu gebracht hatte, ihm zu glauben. Er selbst hätte an ihrer Stelle den Verrückten kurzerhand unschädlich gemacht und dann die nächste Psychiatrie angerufen. Wahrscheinlich sahen das die Gäste nicht viel anders, aber Reemund stieß Tische und Stühle um, brüllte jedem ins Gesicht, rammte dem zeternden Wirt seinen Kopf in die Magengrube und machte soviel Radau, dass er binnen einer halben Minute eine veritable Massenpanik erzeugt hatte und die Leute auf dem Weg nach draußen den Türrahmen verstopften.
Der Kommissar nahm sich nicht die Zeit, sein Werk näher zu betrachten, sondern stürmte, so schnell es seine gebückte Haltung erlaubte, auf die Tür zum Toilettenflur ein, die er mit Kopf und Kragen aufbrach. Dann wandte er sich in gleicher Absicht dem Herrenklo zu. Da hatte er jedoch weniger Glück, denn genau in diesem Moment öffnete sich die Tür und der Mann, den er als vermeintliches Opfer betrachtet hatte, kam seelenruhig heraus spaziert. Reemund konnte seinen Schwung nicht mehr bremsen, schleuderte den Mann im Vorbeirennen gegen die Wand, flog selbst durch die offene Tür, nur um am anderen Ende des Raumes gegen die Fliesen zu prallen. Durch den Rückstoß kam er wieder einen kurzen Moment lang auf dem Stuhl zu sitzen, bevor der mit ihm nach hinten umkippte. Er schlug hart mit dem Kopf auf, verlor den Halt um die explosive Sitzgelegenheit und rollte einen Meter weit weg.
»In Deckung! Eine Bombe!«, schrie er entsetzt, rollte sich blitzschnell auf den Bauch, hielt die Hände über den Kopf und wartete.
Eine halbe Minute lang herrschte Stille, sah man vom Plätschern des Urinstrahls ab, den der Lockenkopf, der vermeintliche Mörder, den entsetzten Blick auf den Polizisten hinter sich gerichtet, gegen die Fliesenwand setzte.
Reemund hob langsam den Kopf und starrte den Stuhl an. Dann stand er auf, ging hin und drehte ihn um. Es war eine Keksdose, mit Paketklebeband unter dem Stuhl befestigt. Völlig leer. Reemund riss sie ab, feuerte den Stuhl in die eine Ecke, die Dose in die andere. Die beiden Männer, der eine am Boden, der andere weiterhin am vorbei pinkeln, zuckten zusammen. Der Kommissar schaute von einem zum anderen. Wie immer, wenn er sich schämte, war er stocksauer.
»Sie pissen vorbei«, knurrte er noch. Dann ging er so schnell wie es die Restwürde erlaubte hinaus.
»Ein beschissener Witz«, fluchte Reemund weitab von jeder Erleichterung, »ein dämliches Spiel. Ha, ha!«
Dann öffnete er die Tür zum Gastraum und erstarrte.
»Kein Spiel«, entfuhr es ihm leise.
Draußen, direkt vor der Tür standen im Halbkreis der Wirt und die Gäste. Sie alle starrten auf einen toten Mann, der im Eingang des Lokals lag, ein Messer im Rücken.
Der Hauptkommissar begann zu zittern. Der Täter hatte ihn in die Enge getrieben, ihm eine falsche Fährte vorgesetzt und bei allem genau gewusst, wie Reemund handeln würde: Das eigentliche Ziel war die Massenpanik gewesen, während der der Mord niemandem auffiel. Und der Einzige, der dem Täter hätte gefährlich werden können, rannte sich zur Tatzeit auf der Toilette den Schädel ein.
Reemunds Zittern wurde stärker, als sich die Wut mit Bewunderung für den Kopf hinter diesem genialen Plan vermischte, doch solcherlei Mischgefühle störten jetzt nur. Er zählte die Gäste durch und stutzte. Einer fehlte. Er schloss die Augen und rief sich die Bilder der Gäste von vorhin ins Gedächtnis. Da war eine Frau gewesen, die jetzt nicht mehr da war. Reemund öffnete die Augen und suchte durch die breite Fensterfront die Straße ab. Auf der anderen Seite fuhr in aller Ruhe ein Wagen aus einer Parklücke, klein, dunkel, immerhin ein offenes Verdeck. Da war sie. Eine schöne Frau eigentlich. Sie lächelte.
Reemund setzte sich in Bewegung. Wie in Trance ging er langsam Schritt für Schritt vorwärts, den Blick immer auf das Auto gerichtet, das nun wendete, um auf die Straße einzubiegen. Er kam an seinem Tisch vorbei und ohne wirklich zu bemerken, was er da tat, griff er seinen Laptop, und ging weiter zum Ausgang. Er trat über die Leiche hinweg, ohne sie eines Blickes zu würdigen, die Augen weiterhin auf die Frau in dem Auto gerichtet.
»Weg da«, blaffte er die Leute vor der Tür an, die dem vermeintlich Verrückten sofort aus dem Weg sprangen. Eine Gasse öffnete sich vor Reemund und machte den Blick auf die Straße frei. Da kam das Auto, langsam, und die Frau erblickte den Polizisten. Binnen einer Sekunde gefror das Lächeln auf ihrem Gesicht und sie drückte aufs Gaspedal.
Reemund stieß einen wütenden Schrei aus und rannte ein paar Schritte nach vorn. Dann packte er seinen Laptop wie einen Diskus und schleuderte ihn nach einer gekonnten Drehung der Frau hinterher.
Das Mistding traf sie am Hinterkopf, flog über die Windschutzscheibe, landete an der Straßenkante und wurde von dem Cabrio, das von der Straße abkam, sachgerecht überfahren. Dann prallte der Wagen gegen eine Litfaßsäule und blieb stehen.
Als Reemund bei ihr ankam, war die Frau noch wach, doch sie stöhnte und hielt sich die Hand vor die beträchtlich blutende Nase. Offenbar hatte das Wurfgeschoss ihren Kopf gegen das Lenkrad geschleudert. Der Kommissar holte seinen Dienstausweis aus der Hosentasche.
»Hauptkommissar Reemund, Mordkommission«, sagte er trocken, »Sie sind festgenommen, wegen Mordes und noch eine Reihe anderer Sachen, von denen ich gerade nicht weiß, wie sie heißen.«
Die Frau schnaubte verächtlich.
»Haben Sie ein Taschentuch?«
»Nein«, antwortete der Hauptkommissar, und es stimmte.
»Und?«, setzte er hinzu, »Wer war der Kerl, den Sie da umgebracht haben?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung. Das war nur ein Job.«
»Sie sind Profi?«, fragte er, nur, um sich selbst zu antworten.
»Ja, sind Sie. Aber warum so? Hätten Sie ihn nicht einfach auf dem Weg nach Hause, vom Dach runter...?«
»Das ist öde«, fiel sie ihm ins Wort, »was nützt es schließlich, wenn man hoch intelligent ist, und man fängt nichts damit an?
Sagen Sie nicht, Ihnen hätte mein kleines Blitzschachspiel nicht gefallen!«
»Ich hasse Schach«, sagte Reemund abweisend.
Die Frau nickte und lachte.
»Das habe ich gemerkt.«
Sie sackte zur Seite weg und fiel in Ohnmacht.
Der Kommissar stand einen Moment lang da, dann nickte er gedankenverloren und trat ein paar Schritte zurück. Es knirschte unter seinen Füßen, und er sah an sich herab. Die Überreste seines Laptops! Er stellte sich mit beiden Beinen fest darauf und wippte ein wenig vor und zurück. Es knirschte wieder. Dann machte er einen kleinen Sprung auf der Stelle. Dann noch einen, schon etwas höher. Dann noch einen und noch einen – und noch einen.
Der Tag hatte eindeutig noch Potential.
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