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STIMMEN

Seit vierundzwanzig Stunden hatte er praktisch nichts mehr gegessen. Bevor er in den Anschlussbus nach Johannesburg umgestiegen war, hatte er in Upington ein paar Chicken Wings bestellt, doch nach dem ersten Bissen stehenlassen. Danach hatte er nur noch Wasser getrunken. Leitungswasser, das er sich abgefüllt hatte, denn Kohlensäure brannte ihm die Eingeweide aus dem Leib. Stilles Wasser war in Ordnung. Was brauchte man mehr? Hunger hatte er jedenfalls nicht. Nein, er fühlte sich gut, wach, leicht, wie eine Feder im Wind.

An der Central Bus Station in Jo’burg lieh er in einem Souvenirshop ein Telefonbuch aus, fand aber ihren Namen erwartungsgemäß nicht. Außer dass sie Mandisa Khawuta hieß, dass sie in Soweto wohnte und dass ihr Mann die Kassierer der Tankstellen, die er überfiel, zu erschießen pflegte, wusste er nichts über sie. Er fuhr trotzdem nach Soweto hinaus und stieg dort aus, wo die buntbemalten Kühltürme aufragen. An der Bahnstation sprach er ein paar herumlungernde Jugendliche an und bot ihnen tausend Rand, wenn sie ihn zu Mandisa Khawuta führten.

«Das ist Soweto, Mann», sagte der mit der schwarzen Wollmütze. «Hier wohnt eine Million Menschen.»

«Zweitausend Rand», antwortete er.

Sie brauchten drei Stunden. Er vergewisserte sich, dass es die richtige Mandisa Khawuta war, schickte dann ihre vier Kinder aus der Hütte und sagte, was er zu sagen hatte. Sie sah kaum von der Feuerstelle auf, über der sie ihren Maispapp kochte, und fragte: «Woher weiß ich, dass das kein Witz ist?»

Er hustete. Witze waren nun wirklich nicht seine Sache. Witze waren etwas für Leute, die am Leben hingen. Die gern vergessen wollten, dass der Tod um die nächste Ecke auf sie wartete. Der Tod lachte nicht über Witze, sondern über das, was den Leuten, die am Leben hingen, ernst war. Und es war ein wildes, höhnisches, erbarmungsloses Lachen, das sie alle begraben würde.

Er holte die Kalaschnikow aus der blauen Tasche, trat an die Tür der Blechhütte und fragte zurück: «Soll ich den Alten da drüben erschießen?»

Sie musterte ihn nun genau. Dann schüttelte sie den Kopf. «Ohne Vorschuss läuft gar nichts.»

Er zählte dreitausend Rand ab und ließ die Scheine auf den gestampften Boden fallen. Den Rest des Geldes steckte er weg. Er lud die AK-47 durch und sagte: «Ich habe dich einmal gefunden, und ich werde dich wieder finden, Mandisa Khawuta.»

Sie nickte. Anscheinend hatte sie begriffen, dass er nicht scherzte. Er schärfte ihr ein, dass sie keine Zeit verlieren solle. Für jede zwölf Stunden, die verstrichen, ziehe er zweitausend Rand ab.

«Klar?»

«Klar.»

Draußen strich er noch einem ihrer Jungen über den Kopf. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass sie ihn dabei beobachtete. Dann fuhr er ins Zentrum von Jo’burg zurück und nahm den nächsten Bus nach Süden. Obwohl die Temperaturen wesentlich niedriger als in Windhoek waren, schwitzte er. An irgendeiner Haltestelle stieg einer in den Bus und predigte. Über Kain und Abel, Genesis 4. Gott sprach zu Kain: «Vervloek is jy dan nou …» Verflucht solle er sein und verbannt von der Erde, die das Blut des Bruders aufgesogen hat. Und nichts solle Frucht bringen, wo er den Boden bestelle. Und sein Schicksal sei, ziellos auf der Erde umherzuirren. Kain, der Schwächling, hatte Angst, dass ihn jeder x-Beliebige umbringen würde. Und der Herr sagte: «Nein! Wer Kain ermordet, wird siebenmal gestraft werden.»

Da hätte er am liebsten laut aufgelacht, wenn das nicht so sehr in der Brust geschmerzt hätte. Gott, der Herr, machte auch nur halbe Sachen. Der hatte genauso wenig wie seine Geschöpfe begriffen, dass man durchziehen musste, was man einmal begonnen hatte. Bis zum bitteren Ende. Sterben würden alle, er und Gott und vorher noch ein paar andere.

Dann erreichten sie die Provinz KwaZulu-Natal. Er war noch nie hier gewesen, doch der Busbegleiter fühlte sich anscheinend zum Reiseführer berufen und plapperte unentwegt ins Mikrophon. So erfuhr er, dass in dieser Gegend alle möglichen Völker einander abgeschlachtet hatten. Deshalb gab es hier Städte, die Vryheid hießen, und Flüsse mit dem Namen Blood River. Irgendwie erschien ihm das ganz logisch.

 

Fourie war verreist. Nach Südafrika. Seine Haushälterin wusste nicht genau, wann er zurückkommen würde, doch viel Gepäck hatte er anscheinend nicht mitgenommen. Clemencia fragte, wie es ihren Kindern gehe.

«Der Junge will jetzt Polizist werden», sagte die Frau am Telefon.

«Das gibt sich wieder», sagte Clemencia und bat um Rückruf, sobald Fourie wieder da sei. Dann setzte sie sich an den Schreibtisch, um die Pressekonferenz vorzubereiten. Mit Oshivelo hatte sie die Generallinie abgesprochen. Man ermittle in alle Richtungen, aber für Spekulationen sei es zu früh. Die zu erwartende Unzufriedenheit der Pressevertreter wollten sie besänftigen, indem sie um Mithilfe baten. Vielleicht hatte ja doch jemand gesehen, wer Chappies Maree am Flughafen abgeholt hatte.

Robinson kam herein, um Bericht zu erstatten. Er grinste bis über beide Ohren, sodass man vermuten konnte, der Killer habe sich soeben ihm persönlich gestellt. Was er und die anderen wirklich herausgefunden hatten, war allerdings wenig spektakulär. Van Zyl hatte in seiner Firma für eine Woche Urlaub genommen, und zwar ab dem Tag, als Chappies Maree in Windhoek angekommen war. Eine Arbeitskollegin hatte ausgesagt, dass van Zyl mit einem Freund auf die Jagd gehen wollte. Irgendwo in der Kalahari. Van Zyls Witwe hatte das grundsätzlich bestätigt, aber eine Jagdfarm in einer ganz anderen Richtung, nämlich beim Erongo-Gebirge, als Ziel des geplanten Männerausflugs genannt.

«Und?», fragte Clemencia.

Robinson lehnte sich zurück und legte ein Bein übers andere. Erstens sei für das meiste Wild Schonzeit, zweitens habe er am Hosea-Kutako-Flughafen nachprüfen lassen, dass Maree keine Jagdwaffen eingeführt hatte, und drittens habe sich auf der betreffenden Jagdfarm weder ein van Zyl noch ein Maree angesagt.

«Ein Jagdausflug», sagte Robinson tief befriedigt. «So etwas würde ich auch vorschieben, wenn ich Frau und Kind zu Hause lassen wollte und niemand wissen sollte, dass ich kriminelle Geschäfte zu erledigen habe.»

Der Rest war wilde Spekulation. Robinson tippte tatsächlich auf illegalen Diamantenhandel. Er hatte schon begonnen, die Voranmeldungen in den Hotels von Lüderitz, Klein-Aus und rund ums Sperrgebiet zu überprüfen. Bisher allerdings ohne Ergebnis. Jetzt hatte er vor, an die Protected Resources Unit, die für die Sicherung der Diamantenminen zuständig war, heranzutreten. Wenn in letzter Zeit ein paar Handvoll Klunker abhandengekommen wären, könne man die Sache vielleicht von der anderen Seite her aufrollen. Clemencia hielt das für Zeitverschwendung, doch da Oshivelo anscheinend schon zugestimmt hatte, nickte sie nur. Als Robinson laut über die Notwendigkeit eines Dienstflugs ins Sperrgebiet nachzudenken begann, scheuchte sie ihn hinaus.

Zur Pressekonferenz kamen die üblichen Verdächtigen. NBC Radio, The Namibian, The Sun, Die Republikein. Bei der Dame vom Windhoek Observer musste man auf der Hut sein. Sie beherrschte die Kunst, Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen, perfekt. Auch der junge Reporter der deutschsprachigen Allgemeinen Zeitung war da. Er war der Einzige, der Clemencia nicht mit «Detective Inspector» oder «Ma’am», sondern als «Miss Garises» ansprach. Aus irgendwelchen Gründen schien er Clemencia gewogen zu sein. Jedenfalls hatte er bei früheren Gelegenheiten so höflich und wohlwollend nachgefragt, wie es sonst unter seinesgleichen nicht üblich war. Fast hatte Clemencia das Gefühl gehabt, er wolle ihr gerade in heiklen Situationen goldene Brücken bauen.

Oshivelo sprach ein paar Begrüßungsworte und übergab an Clemencia. Sie blieb kurz und sachlich. Zwei Morde, eine Waffe, ein Täter. Ein paar Details zu den Tatumständen. Die Bestätigung, dass beide Opfer früher dem CCB angehört hatten. Die Einschränkung, dass man auch anderen Spuren folge, über die man aber aus ermittlungstaktischen Gründen nichts verlauten lassen könne. Dann der Honig für die Presse: Bitte um Hilfe. Mitarbeit der Öffentlichkeit. Verantwortung. Zivilgesellschaft. Kooperation zwischen Bürger und Staat. Das Übliche eben. Dazu verteilte Clemencia die vorbereiteten Fotos von Chappies Maree. Die wenigen Fragen, die auf Versäumnisse der Polizei oder politische Hintergründe abzielten, wimmelte sie souverän ab. Nach nicht einmal einer halben Stunde war alles vorbei. Oshivelo nickte Clemencia anerkennend zu.

Draußen passte sie der Reporter der Allgemeinen Zeitung ab. Ob er sie mal sprechen könne. Er war einen Kopf größer als sie, schlaksig, und hatte eine Haut, die so weiß war, dass er wahrscheinlich sogar in der Nacht Sonnenschutzcreme auftragen musste. Er stellte sich als Claus Tiedtke vor, fuhr sich einmal mit der Hand durch die blonden Haare und kam schnell zur Sache: «Vor ein paar Monaten meldete sich ein älterer Deutschsprachiger bei mir in der Redaktion und behauptete, mitten in Windhoek Donald Acheson gesehen zu haben.»

«Acheson, den Cleaner?», fragte Clemencia ungläubig. Der war 1991 untergetaucht, nachdem er von den Südafrikanern nach London deportiert worden war. Inzwischen konnte er sich in Australien, Südamerika oder irgendeinem anderen weit entfernten Teil der Welt befinden. Immer angenommen, dass er überhaupt noch lebte.

«Ich habe dem Mann geraten, zur Polizei zu gehen, aber da war er schon gewesen. Ihre Kollegen hatten ihn eine Weile warten lassen und ihm dann mitgeteilt, dass gegen einen Donald Acheson nichts vorliege. Er hatte zu debattieren begonnen, hatte ihnen zu erklären versucht, dass Acheson einer der berüchtigtsten Killer des CCB gewesen war, aber sie hatten ihn weggeschickt. Wutentbrannt kam er zu uns in die Redaktion und stänkerte herum, dieser Skandal müsse in die Zeitung. Da ging es ihm wohl schon weniger um Acheson und mehr darum, die Unfähigkeit der namibischen Polizei zu entlarven.»

«Was Sie natürlich abgelehnt haben», sagte Clemencia. Sie las die deutschsprachige Zeitung nicht, konnte sich aber gut vorstellen, wie dort die Effektivität der Polizei beurteilt wurde.

«In der Tat, Miss Garises.» Claus Tiedtke lächelte. «Dafür gibt es genügend andere und bessere Anlässe. Jedenfalls, mir war die Sache zu unsicher und – ehrlich gesagt – nicht aktuell genug, um sie in die Zeitung zu bringen. Noch dazu wollte der Mann seinen Namen nicht genannt wissen. Ich sagte ihm, dass ich ohne eine Bestätigung aus anderer Quelle nichts machen könne, und hatte den Vorfall bald vergessen.»

«Bis van Zyl und Maree ermordet wurden», sagte Clemencia. Sie fragte sich, warum eigentlich keiner der Polizisten, die den Zeugen weggeschickt hatten, auf die Idee gekommen war, sie zu benachrichtigen.

«Vielleicht ist es ja auch gar nicht wichtig», sagte Claus Tiedtke.

«Doch, doch, vielen Dank! Wie der Zeuge hieß, wissen Sie wohl nicht mehr?»

Tiedtke schüttelte den Kopf. «Nur, dass der Mann Acheson in einem Waffengeschäft gesehen haben wollte, als er Munition kaufte. Bei Rosenthal Guns.»

Ein untergetauchter Killer wird ausgerechnet in einem Waffenladen erkannt. Das passte zu gut, um wahr zu sein. Wahrscheinlich war alles Unsinn und der angebliche Zeuge ein Besserwisser, der den lieben langen Tag nichts anderes zu tun hatte, als seine fixen Ideen zu verbreiten. Außerdem müsste er Acheson schon sehr gut gekannt haben, um ihn nach neunzehn Jahren bei einem zufälligen Treffen sofort wiederzuerkennen. Andererseits tauchten solche Wichtigtuer gemeinhin auf, nachdem ein Fall Schlagzeilen gemacht hatte. Wenn sich der Mann gestern oder heute gemeldet hätte, würde Clemencia keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, aber vor ein paar Monaten? Kein Mensch hatte damals von Lubowski, dem CCB oder Acheson gesprochen.

«Ich kümmere mich um die Sache», versprach Clemencia. Sie nickte Claus Tiedtke zu, ließ ihn stehen und schaute kurz bei ihren Leuten vorbei. Angula saß zwischen Bergen von Akten, in denen er verbissen hin und her blätterte. Auf die Frage, wie er vorankomme, antwortete er etwas kryptisch, das Problem seien die Querverbindungen. Mehr könne er noch nicht sagen. Robinson ereiferte sich gegenüber van Wyk, wieso zum Teufel sich die Diamantenheinis eigentlich für etwas Besseres hielten. Tjikundu telefonierte. Er gab sich so betont Mühe, dienstlich zu wirken, dass es sich mit hundertprozentiger Sicherheit um ein Privatgespräch handelte.

«Einfach auflegen!», flüsterte Clemencia ihm zu, bevor sie das Präsidium verließ. Obwohl die Mittagssonne herabbrannte, ging sie zu Fuß. In der Zeit, die sie benötigen würde, um den Papierkram für einen Wagen zu erledigen, wäre sie schon da. So konnte sie wenigstens in Ruhe überlegen. Falls Acheson tatsächlich wieder im Land war, musste er gefunden werden. Und zwar möglichst, bevor auch er einer Salve aus einer AK-47 zum Opfer fiel. Zumindest beim zweiten Mord hatte sich der Killer gut informiert gezeigt. Ob er auch wusste, wo Acheson untergekrochen war?

Acheson, der ehemalige Söldner im kolonialen Rhodesien, der Polizist im Dienste des südafrikanischen Apartheidregimes und später – weil ihm das wohl nicht blutig genug war – ein Killer des CCB. Ein Mann, der regelmäßig auf der Seite der historischen Verlierer gestanden hatte, der wieder und wieder gefallen, doch letztlich immer auf die Beine gekommen war. Ein Mann, der wohl keine Skrupel kannte.

Und wenn er gar kein potenzielles Opfer war? Vielleicht hatten van Zyl und Maree aus irgendwelchen Gründen beschlossen, nun doch auszusagen. Wenn sie an dem Attentat gegen Lubowski nur indirekt beteiligt gewesen waren, waren ihre Vergehen inzwischen verjährt. Nicht jedoch die des Mannes, der den Finger krumm gemacht hatte. Seine Komplizen konnten Acheson erpresst haben! War Maree nach Windhoek geflogen, um mit van Zyl die letzten Details der Geldübergabe zu besprechen und dann seinen Teil abzukassieren? Vielleicht ging es wirklich nicht um Vergeltung. Vielleicht wollte der Haupttäter von damals die Mitwisser loswerden, die ihm gefährlich werden konnten. Einmal Killer, immer Killer?

Clemencia überquerte die Kreuzung, ging am Kudu-Denkmal vorbei. Sie hielt sich dicht an den Hauswänden der Independence Avenue, obwohl auch dort nur ein paar überdachte Ladeneingänge vor der Sonne schützten. Handyshops, Fotogeschäfte, Juweliere, Reisebüros. Bei Kentucky Fried Chicken streckte ihr ein Losverkäufer ein paar Lotteriescheine entgegen. Die Zeitungsjungen waren schon abgezogen, doch vor dem Telecom-Gebäude hockte wie immer der Rastafari mit seinen aus Draht und billigen Glasperlen angefertigten Tierfiguren. Die Fußgängerampel zur Post Street Mall hinüber leuchtete rot. Eine Herero-Mutter zerrte ihr Kind trotzdem hinüber. Ein Parkplatzwächter mit verblichener Schutzweste warf eine Münze in eine abgelaufene Parkuhr, obwohl nirgends eine Politesse zu sehen war. Wahrscheinlich würde er dem Besitzer des nagelneuen Isuzu vorrechnen, dass dieser immer noch ein gutes Geschäft mache, wenn er ihm zehn Dollar gebe, da er ja dreißig Dollar an Strafzettelgebühr gespart habe.

Clemencia tauchte in den Schatten des riesigen Gummibaums vor dem Zoopark-Café ein. In der Grünanlage, die sich anschloss, saßen Rentner auf den Bänken und lasen Zeitung. Ein Kleinkind krabbelte über den Rasen. Unter den Bäumen verschliefen ein paar Angestellte aus den umliegenden Büros ihre Mittagspause. Der Park wirkte wie eine Idylle, in der allerdings irgendetwas nicht stimmte. Es lag nicht an den Plastiktüten, die in dem kleinen Teich dümpelten. Es lag an dem satten, frischen Grün des Rasens, den es nur gab, weil er täglich gewässert wurde. Der in dieser Hitze eigentlich keine Existenzberechtigung hatte und gerade deshalb schmerzlich daran erinnerte, dass Schöneres, Weicheres, Lebendigeres möglich war. Irgendwo anders zumindest. In einem Land, in dem es regelmäßig regnete. In dem man nicht nach monatelanger Dürre das erste Gewitter herbeisehnte wie …

Clemencia schüttelte den Kopf. An der Kreuzung zur Fidel-Castro-Straße querte sie auf die andere Straßenseite und hielt sich unter den Arkaden. Am Geldautomaten der Nedbank standen Touristen in Safarihemden Schlange. Ein paar Meter weiter parkte ein Group-4-Securicor-Wagen. Clemencia ging bis zur Venning Street vor und bog rechts ein. Nach dreißig Metern war das Gebäude von Rosenthal Guns schon zu sehen. Die fensterlose Fassade zur Talstraße hin erinnerte an einen Bunker. Um die Ecke saß ein Wachmann am Rand des Bürgersteigs. Sein Gewehr hatte er senkrecht zwischen seinen Beinen stehen. Ein paar Meter weiter parkte ein Citi Golf. An der Fahrertür lehnte der Reporter Claus Tiedtke und schwitzte vor sich hin.

«Ich hätte Sie herfahren können, wenn Sie etwas gesagt hätten, Miss Garises», sagte er.

«Soll das ein Test sein?», fragte Clemencia.

«Man macht so seine Erfahrungen mit den Behörden», sagte Tiedtke, «aber ich habe geahnt, dass Sie von anderem Schlag sind.»

«Wenn Sie vorhaben, noch länger hier herumzustehen, sollten Sie sich besser eincremen», sagte Clemencia.

«Black is beautiful», sagte Tiedtke.

«Sie werden aber nur krebsrot», sagte Clemencia. Sie stieg die Stufen zu Rosenthal Guns hoch, klingelte und zog die Gittertür auf, als der Summer tönte. Dem Angestellten an der Theke zeigte sie wortlos ihren Ausweis. Der Mann sagte: «Lassen Sie mich raten, Ma’am. Sie wollen auf unserem Indoor-Schießstand üben, weil der Polizei die Munition ausgegangen ist?»

«Ich will den Geschäftsführer sprechen», sagte Clemencia.

«War doch nur ein Witz», sagte der Angestellte, aber er führte sie zu seinem Chef. Die vom Gesetz vorgeschriebenen Listen waren bei Rosenthal computerisiert und wurden – wie der Mann versicherte – so akkurat geführt wie sonst in Namibia höchstens noch die Regenmessungen. Ein Donald Acheson hatte in den letzten Jahren hier nicht eingekauft. Das musste nichts bedeuten. Wer untertauchte, legte sich gemeinhin eine falsche Identität samt der dazugehörigen Papiere zu.

«Können Sie feststellen, wer in den letzten Monaten Patronen vom Kaliber 7,62 Millimeter gekauft hat?», fragte Clemencia. Man konnte. Allerdings war die Munition weit verbreitet und wurde beileibe nicht nur für die AK-47 gebraucht. Die Liste der Käufer war entsprechend lang. Clemencia ließ sie ins Präsidium mailen. Dann rief sie Tjikundu an. Er sollte mit allen Kunden, die englische Namen hatten, Kontakt aufnehmen. Ein gebürtiger Ire wie Acheson würde sich wohl kaum eine afrikaanse oder deutsche Identität zulegen. Es war zumindest einen Versuch wert.

«Und wie soll ich am Telefon erkennen, ob einer von denen unser Mann ist?», fragte Tjikundu. Er sprach eher schlecht als recht Englisch. Einen irischen Akzent würde er schwerlich heraushören.

«Sprich Afrikaans!», sagte Clemencia. «Wer das nicht beherrscht, hat nie beim südafrikanischen Geheimdienst gearbeitet. Frag erst nach den persönlichen Daten und streiche alle unter Sechzigjährigen! Acheson müsste jetzt neunundsechzig sein, und so viel jünger wird er sich nicht gemacht haben. Auch die, deren Schusswaffenlizenz vor 1991 ausgestellt wurde, kommen nicht in Frage. Und dann lass dir sagen, wo sich der Betreffende zum Zeitpunkt der beiden Morde aufgehalten hat.»

«Ein Haufen Holz», brummte Tjikundu.

Clemencia verkniff sich die Bemerkung, dass er doch gern telefonierte, und sagte nur, sie würde nachmittags wieder vorbeischauen. Als sie das Waffengeschäft verließ, stand Claus Tiedtke immer noch draußen, auch wenn er sich in den spärlichen Schatten eines Straßenschilds zurückgezogen hatte. Er sah Clemencia erwartungsvoll entgegen.

«Wenn Sie sonst nichts vorhaben, können Sie mich nach Hause bringen», sagte sie. Auf dem Weg nach Katutura versuchte er sie auszufragen, doch Clemencia antwortete nur einsilbig. Man müsse die Geschichte erst überprüfen. In der Frans Hoesenab Straat angekommen, stellte Tiedtke den Motor ab und stieg mit aus.

Der Gemüsestand vor dem Haus war abgeräumt und verlassen, aus der Mshasho Bar dröhnte laute Musik, der Nachbar schräg gegenüber schraubte an seinem Taxi herum, und Miki Matilda regte sich über den Gartenzaun hinweg auf, dass der Arzt im Katutura Hospital ihren Patienten Joseph Tjironda einfach mit Antibiotika behandelte, ohne sich oder – besser noch – Miki Matilda zu fragen, wieso ein sonst so gesunder Mensch sich plötzlich eine Lungenentzündung eingefangen habe. Clemencia fragte Tiedtke, ob er hereinkommen wolle. Ein Glas Wasser würde ihm sicher nicht schaden. Er schloss den Wagen ab und folgte ihr.

Melvin war zu Hause und sogar wieder so nüchtern, dass er Jessica und Timothy irgendwelche selbstausgedachten Kung-Fu-Techniken beibrachte. Die Kleinen waren begeistert, Miki Selma meinte, sie sollten nur aufpassen, dass sie die frischgewaschene Wäsche nicht herunterrissen, und auch Constancia hatte nichts gegen die Nahkampfausbildung ihrer Kinder einzuwenden. Freilich sei das keine Lösung, aber schaden würde es auch nicht, wenn man sich in Katutura zu verteidigen wisse.

Tiedtke stand etwas verloren im Vorhof herum, bis ihm Clemencia sagte, er solle sich neben ihren Vater auf die Bank setzen. Als sie mit einem Glas Wasser zurückkam, hatte sich der Rest der Familie an der Hauswand aufgereiht und starrte auf den schwitzenden Weißen. Claus Tiedtke blinzelte Timothy zu und fragte nach seinem Namen. Der Junge drückte sich an Miki Matilda und reagierte auch dann nicht, als sie ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab. «Nun sag dem Meneer schon, wie du heißt!»

Clemencia reichte Tiedtke das Glas Wasser. Ihre Verwandten sahen ihm beim Trinken zu, als hätte keiner von ihnen je vermutet, dass auch Weiße Flüssigkeit benötigten. Tiedtke stellte das Glas neben sich auf der Bank ab. Er sagte: «Das tut gut.»

«Weil es heute heiß ist», sagte Miki Matilda.

«Unerträglich», sagte Tiedtke.

«Das liegt am Sommer», sagte Miki Selma.

«Hoffentlich regnet es bald», sagte Tiedtke.

«Hoffentlich», sagte Miki Matilda. Damit versandete das Gespräch.

«Habt ihr eigentlich nichts zu tun?», fragte Clemencia.

«Doch», sagte Miki Selma.

«Jede Menge», sagte Miki Matilda. Sie rührte sich genauso wenig vom Fleck wie alle anderen.

«Ja, dann …», sagte Tiedtke und stand auf. Clemencia begleitete ihn zum Wagen hinaus. Die anderen stellten sich nebeneinander am Zaun auf.

«Nette Familie», sagte Tiedtke. Es klang nicht im mindesten ironisch. Clemencia dachte noch über eine Antwort nach, als ihr Handy klingelte. Es war die Zentrale. Man hatte Staal Burger in Südafrika ausfindig gemacht. Er lebte jetzt als Zuckerrohrfarmer in der Provinz KwaZulu-Natal. Ob Clemencia ihn persönlich anrufen wolle?

Tiedtke saß schon in seinem Citi Golf. Clemencia beugte sich zum offenen Fenster hinab und fragte: «Können Sie mich vielleicht im Präsidium absetzen?»

 

Das Haus lag außerhalb von Hluhluwe. Er musste über eine Stunde zu Fuß marschieren, erst auf einer Teerstraße, dann auf einem Feldweg, aber das machte ihm nichts aus. Ganz im Gegenteil, er hatte lange genug im Bus gesessen. Seine Wasserflasche hatte er aufgefüllt. Wenn der Schmerz durch seine Eingeweide stach, nahm er einen Schluck. Dann ging es wieder. Die gelegentlichen Anfälle von Schüttelfrost waren in der sengenden Sonne sogar ganz angenehm. Nur sein Husten klang jetzt anders. Hohler, tiefer? Ein Arzt würde ihn wahrscheinlich für krank erklären, doch er wusste es besser. Er war nicht krank und würde es auch nie werden. Er wäre gesund bis zum Ende. Dann würde er sterben, einfach so.

Erst hatte er eine Ananasplantage passiert, jetzt Zuckerrohrfelder. Links und rechts standen die Pflanzen in dichten Reihen, übermannshoch. Die Spitzen neigten sich unter dem warmen Wind. Ihr Rauschen erinnerte an ein fernes Meer.

Er war im Krankenhaus gewesen. Er wusste, wie das war. Um einen herum verreckten die Leute langsam, in diesen klapprigen Betten, in diesem Mief aus Schweiß, Verzweiflung und Desinfektionsmittel. Sterben mussten alle, aber nicht so! Er war abgehauen und hatte sich geschworen, nie mehr einen Fuß in ein Krankenhaus zu setzen. Wieso sollte er auch? Er würde nicht krank werden. Er würde einfach sterben. Er hustete.

Als das Haus am Ende der Wegschneise sichtbar wurde, blieb er stehen. Er trank ein wenig Wasser, warf sich die blaue Sporttasche über die Schulter und schlug sich seitwärts in die Plantage. Vorsichtig schob er sich durch den Urwald aus dicken Rohren, trat gleichzeitig fest auf. Wo Zuckerrohr wuchs, gab es Mäuse, und wo Mäuse lebten, waren Schlangen nicht weit. Vor Schlangen hatte er Respekt. Im Ovamboland hatte er mal gesehen, wie eine Schwarze Mamba zugestoßen hatte. Drei-, viermal. Der Kamerad war am Schreck gestorben, nicht an ihrem Gift, davon war er damals überzeugt gewesen. Nun war er derjenige, der Schrecken brachte. Und Tod. Er fragte sich, ob die Schlangen auch vor ihm Respekt hatten.

Er hörte Gelächter, blieb stehen und spähte durch die Rohre. Vor ihm lagen ein Querweg, eine niedrige Hecke und dahinter grüner Rasen, der bis fast zu der alten Landvilla reichte. Über deren ganze Breite zog sich eine überdachte Veranda, auf der eine lange Tafel eingedeckt war. Etwa zwei Dutzend Menschen saßen daran, Kinder, Frauen, Männer, nur am Kopfende stand einer und hielt eine Rede. Er musterte die Gesichtszüge des Mannes. Ja, kein Zweifel. Er stellte die blaue Tasche ab und hockte sich auf seine Fersen. Vierzig Meter. Mehr nicht. Eine Salve, und bevor die Gäste überhaupt begriffen hätten, dass sie noch lebten, wäre er längst im Zuckerrohrdickicht verschwunden. Es wäre so einfach. Doch er durfte nichts überstürzen.

Die Verandatür stand sperrangelweit auf. Auch die Fenster waren geöffnet. Vielleicht war das auf den abgewandten Seiten des Landhauses genauso. Er arbeitete sich nach rechts durch die Pflanzung voran, vermied so gut wie möglich, die Blätter zum Rascheln zu bringen, und achtete darauf, dass er die Rohre nicht gegen die Windrichtung beugte. Wo die Gartenhecke im rechten Winkel nach Westen abknickte, ging er aus der Deckung, querte geduckt den Feldweg und tauchte im Schutz der Hecke ab. Auf allen vieren kroch er voran, bis er die Veranda gerade noch von der Seite einsehen konnte. Längs der Querfront des Hauses standen Obstbäume, deren Schatten er ausnutzen würde. Er wählte das Fenster, durch das er klettern wollte. Zehn schnelle Schritte, über die Brüstung flanken und rein. Er schloss die Augen und führte in Gedanken jede der nötigen Bewegungen aus. Es hätte finsterste Nacht werden können, und er wäre trotzdem mit traumwandlerischer Sicherheit durchgekommen. Mit schnellen Griffen setzte er die Kalaschnikow zusammen. Dann wartete er. Auf eine Gelegenheit. Wenn man Geduld hatte, kam immer eine Gelegenheit. Man musste nur bereit sein, sie zu nutzen.

Der Mann am Tisch beendete seine Rede. Man klatschte Beifall. Eine Stimme rief, dass man nie wieder so jung zusammenkommen werde. Er fuhr mit der Hand über den Lauf der Kalaschnikow. Stimmengewirr, Geplauder. Jemand, der ihn nicht interessierte, erzählte Geschichten, die ihn nicht interessierten, über jemanden, der ihm herzlich egal war. Keine Lügen mehr, hatte er sich geschworen. Der Tod war die Wahrheit, und angesichts dessen war es keine Geschichte wert, angehört zu werden.

Wie viel Zeit vergangen war, als im Haus das Telefon läutete, wusste er nicht, doch er wusste, dass es seine Gelegenheit war, denn das Klingeln kam aus dem offenen Fenster, durch das er einzusteigen beschlossen hatte. Auf der Veranda rief jemand: «Telefon!» Als der Mann, der die Rede gehalten hatte, aufstand und Richtung Terrassentür ging, setzte auch er sich in Bewegung. Er huschte an der Hecke entlang, bis sich die Hausecke zwischen ihn und die Tischgesellschaft geschoben hatte. Er sprang über die Hecke, lief gebückt bis zum Fenster vor. Als das Klingeln aufhörte und eine tiefe Stimme drinnen «Ja?» sagte, schob er den Kopf über die Brüstung. Der Mann im Zimmer wandte ihm den Rücken zu und blickte durch die offene Tür Richtung Veranda. Das Telefon stand auf einem hüfthohen Schränkchen nahe der Tür. Es war ein altertümliches schwarzes Gerät, dessen Hörer an einer dicken, spiralförmig gedrehten Schnur hing.

«Ja, Daniel du Toit Burger», sagte der Mann. «Mit wem spreche ich?»

Die Kalaschnikow musste er einen Moment lang auf dem Fensterbrett ablegen. Er stützte sich mit beiden Händen ab, stemmte den Oberkörper hoch und schob sich geräuschlos nach innen.

«Serious Crime Unit Windhoek?», fragte der Mann ins Telefon und griff mit der linken Hand nach der Klinke, um die Zimmertür zu schließen.

 

Daniel du Toit Burger. Früher besser bekannt als ‹Staal Burger›. Es hatte mal eine südafrikanische Radioserie gegeben, die so hieß, aber wahrscheinlich bezog sich der Spitzname doch eher darauf, dass er seine Jobs im Dienste der Apartheidsverbrecher wie ein Mann aus Stahl erledigt hatte. Knallhart und so sehr ohne jeden Anflug von Skrupel, dass man keinen Menschen aus Fleisch und Blut in ihm vermutete.

«Sie kannten Chappies Maree und Slang van Zyl?», fragte Clemencia ins Telefon.

Der Mann am anderen Ende schien einen Moment zu überlegen. Dann sagte er: «Das ist lange her.»

Clemencia hatte das Telefon laut gestellt, sodass Robinson und van Wyk mithören konnten. Robinson deutete auf Clemencia und formte mit den Lippen lautlos das Wort «Diamanten». Clemencia sagte: «Ihre beiden CCB-Kollegen sind in Windhoek erschossen worden, Herr Burger.»

«Unmöglich», sagte Staal Burger.

«Unmöglich?»

«Zumindest mit Maree habe ich doch erst telefoniert. Am Montagvormittag gegen 10 Uhr. Und da war er in Südafrika. In Upington.»

Upington lag achthundert Kilometer von Windhoek entfernt. Und noch ein paar Kilometer weiter von der Heja-Lodge, wo Maree am Montagvormittag ermordet worden war. Clemencia sagte: «Ich dachte, es sei lange her, dass Sie Kontakt hatten.»

«Maree hat mich angerufen. Jahre hatte ich nichts von ihm gehört und war keineswegs unglücklich darüber. Ich habe ein neues Leben angefangen und nicht die geringste Lust, alte Geschichten aufzuwärmen.»

«Sind Sie sicher, dass Sie mit Maree persönlich gesprochen haben?»

«Natürlich.» Nach einem kurzen Zögern ergänzte Burger: «Ich hatte eine Zeitlang ziemlich viel mit ihm zu tun.»

Wegen des Zustands von Marees Leiche war der Todeszeitpunkt nicht genau zu bestimmen gewesen. Clemencia war eigentlich davon ausgegangen, dass der Killer nicht stundenlang Konversation mit seinem Opfer betrieben hatte. Jedenfalls hatte sich Maree um 10 Uhr in seiner Gewalt befunden. Es war kaum anzunehmen, dass er selbst entschieden hatte, seinen alten Geheimdienstkumpel anzurufen. Clemencia fragte: «Maree wollte sich in Upington mit Ihnen treffen, richtig?»

«Woher wissen Sie das?», fragte Burger.

«Es war nicht Marees Idee. Ihm wurde eine AK-47 an die Brust gedrückt. Der Mann, der ihn kurz darauf umbrachte, wollte auch Sie in eine Falle locken.»

Wenn Burger abgereist wäre, hätte man ihn nicht so leicht erreichen können. Er wäre seinem Mörder entgegengefahren. Wahrscheinlich wäre er jetzt schon tot. Clemencia vermutete, dass Burger gerade klar wurde, in welcher Gefahr er schwebte. Vielleicht war das die Gelegenheit, ein paar Informationen aus ihm herauszubringen, die er später nicht mehr preisgeben würde. Sie fragte: «Was wollte Maree von Ihnen? Wenn er Ihnen vorschlug, sich wegen eines Treffens einen Tag lang ins Auto zu setzen, dann doch sicher nicht, um in Upington bei einer Tasse Kaffee über alte Zeiten zu plaudern.»

Burger schwieg ein paar Sekunden. Dann sagte er: «Angeblich ging es um ein Geschäft.»

«Was für ein Geschäft?»

«Keine Ahnung. Ich habe ihm gesagt, ich sei an nichts interessiert, was er vorzuschlagen habe.»

Robinson kritzelte in Druckbuchstaben das Wort «Diamanten» auf ein Blatt Papier. Dann setzte er drei Ausrufezeichen dahinter.

«Und damit soll Maree zufrieden gewesen sein?», fragte Clemencia. «Würden Sie sich nicht ein wenig mehr Mühe geben, wenn Ihnen jemand eine Kalaschnikow vor die Nase hielte? Marees Leben hing davon ab, ob er Sie zu einem Treffen überreden konnte.»

«Ich kann Ihnen nicht helfen», sagte Burger.

«Könnte es sein, dass der Name Anton Lubowski erwähnt wurde?», fragte Clemencia. Robinson griff nach dem Blatt mit der Aufschrift «Diamanten!!!». Er schien zu überlegen, ob er es zerknüllen sollte, strich dann aber nur mit der Handfläche darüber.

«Was zum Teufel …?», fragte Burger am Telefon.

«Sie sollten mit der Wahrheit herausrücken», sagte Clemencia. «In Ihrem eigenen Interesse. Nach Marees Anruf ist es höchst wahrscheinlich, dass der Killer versuchen wird …»

«Er ist da», sagte Burger nur.

«Was?», fragte Clemencia. «Wer ist da? Herr Burger?»

 

Das Zimmer wirkte wie aus einer anderen Zeit. Die gerahmten Bilder zwischen den Fenstern zeigten Ochsenwagenszenen und Missionarsstationen. Im Regal an der Stirnwand standen Zinnbecher zwischen ledergebundenen Büchern. Auf einem Sekretär aus poliertem rötlichen Holz lag ein Brieföffner neben einem Tintenfass mit Feder. Der Schaukelstuhl in der Ecke würde wahrscheinlich knarren, wenn er sich hineinsetzte, aber das machte nichts. Der Mann am Telefon sollte ruhig merken, dass er einen Gast hatte, den man besser nicht warten ließ.

Beim Zurückwippen knarrte der Schaukelstuhl tatsächlich. Der Mann am Telefon wandte sich um, erstarrte in der Bewegung, fragte: «Was zum Teufel …?»

«Wir müssen reden, Staal Burger», antwortete er leise. Die Kalaschnikow schaukelte mit – auf und ab. Wenn er jetzt eine Salve abfeuerte, würden die Kugeln Burger vom Unterleib bis zum Hals hinauf durchsieben.

«Er ist da», murmelte Burger.

Natürlich war er da. Leise befahl er: «Legen Sie auf!»

«Der Mann mit der Kalaschnikow», stammelte Burger. Er war kreidebleich und presste den Telefonhörer fest ans Ohr. So, als könne ihn das schützen. Als würde er nicht umgebracht, solange er mit einem Dritten sprach. Solange er eine Stimme hörte, die von wer weiß woher kam und die nichts, aber auch gar nichts ausrichten konnte.

«Legen Sie auf, Staal Burger!», wiederholte er. Er spürte, wie die Wut wieder in ihm hochstieg. Konnte es sein, dass sie alle so dumm waren? Warum begriffen sie nicht, dass ihr Leben nur an seinem Zeigefinger hing?

«Es ist die Polizei», sagte Burger. «Eine Inspectorin, die hinter Ihnen her ist.»

Warum suchten sie alle nach Tricks und Ausflüchten? Warum konnten sie nicht einmal im Angesicht des Todes der Wahrheit ihr Recht geben? Aber nein, sie wanden sich und logen und betrogen.

«Ja», stammelte Burger ins Telefon, «ja.»

Warum konnten sie nicht einfach tun, was er sagte? «Zum letzten Mal: Auflegen!»

«Die Inspectorin will mit Ihnen sprechen.» Burger streckte ihm den Telefonhörer entgegen.

Es war genug! Er nutzte den Schwung des Schaukelstuhls, um aufzuspringen. Noch stand er nicht fest auf den Füßen, als ein Stich durch seine Eingeweide fuhr. Er krümmte sich über der Kalaschnikow, spürte den Schmerz durch seinen Körper zucken. Seine Muskeln wurden taub, die Beine sackten weg, die Finger öffneten sich, das Gewehr schlug dumpf auf den Dielen auf. Wie in Zeitlupe sah er den Hörer aus Burgers Hand fallen und die Telefonschnur in einem sanften, eleganten Bogen hinterherschwingen. Und nun kreischte Burger los, rief nicht um Hilfe, rief nicht nach der Polizei, brüllte einfach nur aus voller Kehle und drehte sich zur Tür, während er seinerseits nach dem Kolben der Kalaschnikow tastete. Schon ließ der Schmerz nach, seine Finger konnten wieder greifen. Es war nur ein Moment gewesen, so kurz, dass er gar nicht stattgefunden haben konnte, und wenn doch, dann war er jedenfalls vorbei. So, wie alles schneller vorbeiging, als sich mancher das dachte.

Immer noch brüllend riss Burger die Tür auf. Von der Veranda her flutete Sonnenlicht herein. Die Kalaschnikow lag gut in den Händen. Der Lauf zitterte nicht.

 

«Herr Burger!», rief Clemencia. Trotz seines Gebrülls vernahm sie, wie der Telefonhörer irgendwo aufschlug. «Herr Burger?»

«Was ist los? Was ist los?», flüsterte Robinson erregt.

Herrgott, er hörte doch genau das Gleiche wie Clemencia! Wie sollte sie denn wissen, was fünfzehnhundert Kilometer entfernt gerade geschah? Außer dass anscheinend alles schieflief. Sie zwang sich zur Ruhe, sagte: «Hallo! Hören Sie mich?»

Wieso sollte der Killer nicht ans Telefon gehen? Was riskierte er denn? Er war weit weg, befand sich in einem anderen Staat, in dem sie nicht einmal einschreiten hätten dürfen, wenn sie vor Ort gewesen wären.

«Uns ist bewusst», sagte Clemencia, «dass im Fall Lubowski schreiendes Unrecht begangen wurde. Sie können mir glauben, dass ich …»

Es war Unsinn. Der Killer würde die Polizei nicht freiwillig seine Stimme hören lassen. Und warum sollte er irgendetwas sagen, wenn doch klar war, dass sie jeden Hinweis gegen ihn nutzen würden? Was hatte er denn zu gewinnen, wenn er mit Clemencia sprach? «Sie können mir vertrauen. Meine Mutter wurde auch erschossen. Genau wie Lubowski. Vielleicht nicht von denselben Typen, aber von der gleichen Verbrecherbrut, und auch von denen wurde nie einer …»

In dem Moment bellten die Schüsse auf. Eine Salve, die so klar durch den Telefonlautsprecher tönte, dass alle unwillkürlich die Köpfe einzogen.

«Verflucht!», zischte Robinson.

«Tun Sie es nicht!» Clemencia flüsterte in den Hörer, obwohl sie wusste, dass es längst zu spät war.

«Eine AK-47, mindestens fünfzehn Schuss», sagte van Wyk.

«Das Schwein!», sagte Robinson.

«Hallo», sagte Clemencia. «Hören Sie mich?»

 

Burgers Leiche lag im Flur. Er stieg darüber hinweg und ging zur Verandatür. Eine zweite Salve war nicht nötig, die Gäste waren Hals über Kopf geflohen. Ein paar Stühle an der Tafel waren umgestürzt, über anderen hingen noch Sakkos und Jacken. Er durchsuchte die Taschen, fand einen Wagenschlüssel. Als er den Entriegelungsknopf drückte, leuchteten die Lichter an einem weißen BMW auf. Um schnell hier wegzukommen, war der gut genug. Sobald sich eine Gelegenheit bot, würde er einen anderen Wagen stehlen.

Er trat noch einmal ins Haus, vermied die Blutlachen im Flur und kehrte in das Zimmer mit dem Schaukelstuhl zurück. Er packte die Kalaschnikow in die blaue Tasche, die er dort stehen gelassen hatte. Ein kurzes Husten schüttelte ihn. Auf den Dielen lag der Telefonhörer. Das Ende mit der Sprechmuschel wurde durch die elastische Schnur ein wenig angehoben. Er bückte sich und griff nach dem Hörer.

 

Da hatte doch jemand gehustet! Ein hohles, bellendes, mörderisches Husten. Der Killer war noch da. Clemencia sagte: «Hören Sie!»

«Auflegen!», zischte Robinson. «Die südafrikanischen Kollegen …»

Die Kollegen mussten schleunigst alarmiert werden. Der Tatort war abzuriegeln, Straßensperren waren zu errichten. Ja, gleich, sofort! Clemencia lauschte. Sie hörte kein Husten mehr, kein leises Atmen, sie hörte gar nichts, aber sie wusste, dass er dran war. Er stand da unten in KwaZulu-Natal neben der Leiche von Staal Burger und hielt sich einen Telefonhörer ans Ohr. Clemencia sagte: «Ich bin Clemencia Garises, Detective Inspector in Windhoek. Sie werden sich wahrscheinlich nicht vorstellen wollen, oder?»

Robinson tippte auf sein Handy ein.

«Sie brauchen Ihren Namen auch nicht zu verraten», fuhr Clemencia fort. «Den kriegen wir sowieso heraus. Aber eins würde ich gern wissen: …»

«Auskunft?», flüsterte Robinson ins Handy. «Die Nummer der Polizei in Hluhluwe, KwaZulu-Natal, Südafrika! Und zwar fix!»

«Warum?», fragte Clemencia. «Warum dieses Gemetzel?»

«Hluhluwe, H – L – U – H – L – U – W – E, Südafrika», zischte Robinson ins Handy.

«Warum jetzt?», fragte Clemencia. «Zwanzig Jahre nach Lubowskis Tod?»

Der Killer war dran. Sie spürte seine Gegenwart, sie spürte den Schweiß an der Hand, mit der er den Hörer hielt. Sie musste den Mann irgendwie aus der Reserve locken. Ihn so provozieren, dass er reagierte. Und wenn er nur höhnisch lachte. Sie wollte seine Stimme hören. Sie wollte wissen, wie einer klang, der gerade einen Menschen erschossen hatte.

«Wieso lassen Sie sich das buchstabieren, wenn …» Robinson wurde laut. «Dann verbinden Sie mich gefälligst mit der internationalen Auskunft!»

Sollte Clemencia versuchen, dem Killer etwas vorzumachen? Sie könnte behaupten, dass van Zyl den Anschlag überlebt habe. Sie könnte ihn spöttisch fragen, ob er nicht zurückkehren wolle, um seinen Job ordentlich zu erledigen. Ob er sich nicht ein Artilleriegeschütz besorgen wolle, wenn er schon nicht in der Lage sei, mit einer Kalaschnikow auf zwanzig Meter …

Sie sagte: «Für mich ist es unfassbar, wie jemand drei Menschen ermorden kann, aber ich weiß, dass Sie einen Grund haben. Einen besseren Grund als Rache. Oder ist da etwas, was Ihnen keine Wahl lässt?»

«Warteschleife!», sagte Robinson dumpf. «Es ist zum … Na endlich!»

«Vielleicht fassen wir Sie nie», sagte Clemencia. «Vielleicht werden Sie aber auch in zehn Minuten von den südafrikanischen Kollegen erschossen. Vielleicht bin ich die letzte Person, mit der Sie reden könnten. Ihre letzte Chance, jemandem Ihre Wahrheit mitzuteilen.»

Clemencia hörte ihrer Stimme nach, wartete auf eine Antwort, eine Reaktion, auf irgendetwas, und dann war da ein leises Knacken.

«Hören Sie mich?», fragte sie. Die Stille klang nun anders. Die Verbindung war unterbrochen. Der Killer hatte den Hörer auf die Gabel gelegt. Langsam, sorgfältig. Clemencia glaubte das Telefon mit seinen Augen zu sehen. Sie überlegte mit ihm, ob er seine Fingerabdrücke abwischen sollte. Nein, das war ihm egal. Das spielte keine Rolle.

«H – L – U – H – L – U – W – E», buchstabierte Robinson mit mühsam unterdrückter Empörung.

«Er wäre ja auch blöd gewesen, wenn er geantwortet hätte, Chefin», sagte van Wyk. Clemencia nickte, obwohl sie nicht ganz seiner Meinung war. Der Killer hatte reagiert. Sie hielt es nicht für Zufall, dass er aufgelegt hatte, als sie seine Wahrheit eingefordert hatte. Er war kein Auftragskiller, der für Geld die schmutzigen Angelegenheiten anderer erledigte. Nein, er hatte ein Motiv, das ihm persönlich wichtig war. Von dem er meinte, dass es niemanden und schon gar nicht die Polizei etwas anginge. Vielleicht, weil es ihn selbst so belastete, dass er nicht damit konfrontiert werden wollte?

Natürlich blieb das alles Spekulation. Und selbst wenn es so wäre, brachte das jetzt überhaupt nichts. Robinson hatte schon recht, wenn er die Kollegen in Hluhluwe beschwor, keine Sekunde zu verlieren. Natürlich dürften sie den Tatort überprüfen, das sollten sie auch, und nicht nur überprüfen, sondern von oben bis unten und von hinten nach vorn auf Spuren untersuchen, aber zuerst sollten sie die Straßen sperren. Lückenlos. Jeder Feldweg müsse dichtgemacht werden. Der Mord sei vor gerade mal zehn Minuten geschehen, der Täter vor zwei Minuten noch im Haus gewesen, er könne noch nicht weit sein. Sie hätten dafür gar keine Leute? Dann sollten sie eben die Feuerwehr dazunehmen, die Rugby-Mannschaft oder von ihm, Robinson, aus auch den Kirchenchor. Es sei wirklich außerordentlich wichtig …

«Aufgelegt.» Robinson konnte es nicht fassen. «Die haben einfach aufgelegt!»

«Wenn wir Glück haben, schicken sie einen lächerlichen Wagen zu Burgers Haus», sagte van Wyk.

«Wenn sie überhaupt einen Wagen haben», knurrte Robinson. Er drückte die Wahlwiederholung. Jetzt sprach Clemencia mit den südafrikanischen Kollegen, konnte aber nur eine vage Zusicherung herausholen, dass sie die nötigen Maßnahmen einleiten würden. Anderthalb Stunden später kam die Bestätigung, dass Staal Burger tot war. Mindestens zehn Kugeln im Brust- und Bauchbereich. Man wisse, mit welchem Wagen der Täter geflohen sei, und richte gerade die Straßensperren ein. Weitere drei Stunden später gab es immer noch nichts Neues. Der Killer war entkommen.

Clemencia nahm ein Taxi nach Katutura. Als sie zu Hause das Gartentor aufstieß, kam ihr die halbe Familie entgegen. Das war ungewöhnlich.

«Ist etwas passiert?», fragte Clemencia. Seit Melvins Schlägerei rechnete sie dauernd mit einer neuen Hiobsbotschaft.

Miki Matilda schaute die Straße hinauf und hinunter. Sie fragte: «Hat er dich nicht wieder nach Hause gebracht?»

«Wer?», fragte Clemencia zurück.

«Na, der blonde Deutsche.» Miki Matilda zwinkerte ihr zu und kicherte vergnügt.

«Muss es denn ausgerechnet ein Weißer sein?», fragte Miki Selma.

«Wieso denn nicht?» Miki Matilda protestierte lautstark. «Weiße sind auch Menschen. Unter denen gibt es genauso anständige Leute und Schurken wie bei uns.»

«Seid ihr ins Kino gegangen?», fragte Jessica.

«Du, geh ins Haus! Du bist viel zu klein für so etwas», sagte Miki Selma und wandte sich wieder an Clemencia: «Nur weil er blond ist und groß und dich anhimmelt, heißt das noch lange nicht, dass …»

«Der würde mir auch gefallen», kreischte Miki Matilda dazwischen.

«Lass die Finger von dem Frischfleisch, du alte Hexe!», rief die Nachbarin von gegenüber.

Jessica zupfte an Clemencias Ärmel. «Habt ihr euch geküsst, als es dunkel wurde?»

«Jessica!», rief Miki Selma und schlug mit der Hand nach ihr.

«Ihr habt sie ja nicht alle!», sagte Clemencia. «Ich habe wirklich andere Probleme als …»

Jessica kicherte.

Miki Matilda prustete los.

Miki Selma meinte, dass ein wenig Zurückhaltung erst einmal nicht schaden könne. Denn wie sage das Sprichwort so treffend: Anfang und Ende sind zweierlei.

Die Nachbarin von gegenüber trällerte ein Lied auf Oshivambo, dessen Text sich hauptsächlich aus Worten wie «Liebesschmerz» und «Wonneherz» zusammensetzte.

 

Donkerkop:

Es war der Abend des 12. September 1989. Ich saß am Steuer, neben mir Acheson mit der AK-47. Chappies Maree und Ferdi Barnard auf der Rückbank waren mit Pistolen bewaffnet. Van Zyl und Staal Burger waren nicht dabei. Ihre Aufgabe bestand darin, uns per Funk zu benachrichtigen, sobald Lubowski sein Büro verließ. Bis es so weit war, warteten wir in der Einfahrt zu einem unbebauten Grundstück ein paar hundert Meter von Lubowskis Wohnhaus entfernt. Den Luxushügel hinauf Richtung Süden. Im Westen, über dem Khomas-Hochland, war die Sonne schon untergegangen.

Den Wagen, einen roten Toyota Conquest, hatte Acheson bei einer Autovermietung geliehen. Nicht gerade eine James-Bond-Karre, sagte ich, und Ferdi Barnard hielt mir einen nervtötenden Vortrag, wie wichtig es sei, unauffällig zu bleiben. Wir wären nicht in einem verdammten Action-Film, sondern im verschlafenen Windhoek, und wenn da irgendwo ein Jaguar oder Porsche herumstünde, dann …

«Ist schon klar», sagte ich. «War nur ein Witz.»

«War aber nicht witzig», sagte Barnard. «Jetzt ist auch keine Zeit für Witze. Das ist blutiger Ernst, Junge!»

Ich sagte nichts. Maree schaute aus dem Seitenfenster und kaute Kaugummi. Acheson spielte unaufhörlich an seiner Kalaschnikow herum. Er war ein Verrückter, der zu Waffen eine zehnmal innigere Beziehung hatte als zu jedem Menschen. Der Einzige, der redete, war Ferdi Barnard. Er quasselte die ganze Zeit von hinten auf mich ein. Bei so einer Sache könne man sich keinen Fehler erlauben. Da gelte es, voll konzentriert zu sein. Vor allem dürfe man an nichts anderes denken als an den Job. Eigentlich dürfe man überhaupt nicht denken, man müsse eins sein mit der Aufgabe. Da dürfe kein Blatt Papier dazwischenpassen.

«Du bist der Job!», sagte Barnard. «Stimmt’s, Chappies?»

«Mmh», brummte Maree.

«Ist schon klar», sagte ich.

«Ist schon klar, sagt der Junge!» Barnard lachte. «Was ist klar? Gar nichts ist klar! Wie oft hast du denn so etwas schon gemacht, hä? Der Kleine tut, als hätte er ganz allein mindestens zwei Weltkriege gewonnen. Hör zu, wir scheißen auf deine Sprüche! Wir müssen uns auf dich verlassen können.»

«Könnt ihr», sagte ich. Mein Job war es, das Auto zu fahren, und das würde ich auch tun. Barnard ging mir auf die Nerven.

«Und zwar jederzeit», sagte Barnard. «Jetzt und morgen und in zehn Jahren. Dir ist doch klar, was passiert, wenn du danach zu flennen anfängst? Wenn du zu einem Pfaffen oder sonst wem zur Beichte rennst?»

«Ich bin doch kein Verräter, Mann», sagte ich.

«Ich sage dir, was du bist, Kleiner», sagte Barnard, «ein Schwächling bist du. Einer, der erst das Maul aufreißt und dann den Schwanz einklemmt. Weißt du, warum jemand zum Verräter wird? Weißt du das? Sag’s ihm, Chappies!»

«Sag du es ihm!», sagte Maree.

«Entweder, weil man einen Haufen Geld dafür kriegt oder weil man eine Heulsuse ist. Und du bist eine Heulsuse!»

«Du kannst mich mal», sagte ich, doch Barnard beschimpfte mich in einer Tour weiter, versuchte mich lächerlich zu machen, in den Dreck zu ziehen. Feigling, Maulheld, Grünschnabel, Muttersöhnchen, Weichei. So ging das die ganze Zeit. Ich wusste nicht, wieso er sich so verhielt, fragte mich das auch in der Situation nicht. Sonst hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass das eben seine Art war, mit der Anspannung umzugehen.

Erst später wurde mir klar, dass jedes seiner Worte kühl kalkuliert war, dass es darum ging, mich weichzuklopfen für das, was sie mit mir vorhatten. Und es funktionierte ja bestens. Ich sollte keine Gelegenheit finden, mir ein paar klare Gedanken zu machen, und ich kam auch nicht dazu. Ich war auf hundertachtzig, schrie nach hinten, dass sie ihren Scheiß alleine machen könnten, wenn er nicht sofort mit dem Gequatsche aufhöre.

«Habe ich’s nicht gleich gesagt, Chappies?» Barnards Stimme troff vor Hohn. «Der Kleine will aussteigen, bevor es überhaupt losgeht. Was denkst du, was der macht, wenn erst das Blut spritzt? Der macht sich in die Hosen, und wenn er überhaupt den ersten Gang reinbringt, fährt er direkt zur Polizei und jammert denen vor, dass er das alles nicht gewollt hat.»

«Der steigt nicht aus», sagte Maree. «Wirst sehen, dass der nicht aussteigt!»

«Ich hab schon ganz andere kotzen sehen», sagte Barnard.

«Halt’s Maul!», brüllte ich nach hinten.

Acheson lud die AK-47 durch und verlangte, dass jetzt Schluss sei. Wie gesagt, er war ein Verrückter, dem alles zuzutrauen war. Vor ihm hatte selbst Barnard Respekt. Von da an grummelte er nur noch unverständliches Zeug vor sich hin. Dazwischen kicherte er unvermittelt, und wenn ich im Rückspiegel zu ihm hinsah, grinste er blöd. Das brachte mich fast noch mehr zur Weißglut. Dann kam der Funkspruch von Burger und van Zyl. Es konnte nur Minuten dauern, bis Lubowski zu Hause eintraf. Ich startete den Motor, wollte den Wagen gerade mit quietschenden Reifen vorwärtsschießen lassen, als Chappies Maree sagte: «Warte noch!»

Er kurbelte das Seitenfenster nach unten, spuckte seinen Kaugummi hinaus und warf sofort einen neuen ein. Dann legte er mir eine Pistole auf den Schoß. Er sagte: «Ist schon entsichert.»

«Was soll ich damit?», fragte ich.

«Nur für alle Fälle», sagte Maree.

«Pass auf, dass du dir nicht die Eier abschießt!», sagte Barnard von hinten. «Wenn du überhaupt welche hast, Kleiner!»

 

Der Kollege Robinson war völlig aus dem Häuschen. Sein Gesicht war noch röter als sonst, und ein ums andere Mal wiederholte er, dass er den Killer gefasst habe, hundertprozentig, das habe er, Robinson, im Urin. Alles würde so genau passen, dass es schon fast unheimlich wäre.

Der Mann war festgenommen worden, als er über Ariamsvlei nach Namibia einreisen wollte. In seinem Gepäck war eine Kalaschnikow gefunden worden.

Er habe geahnt, dass der Killer nach dem Mord an Staal Burger sofort wieder zurückkehren würde, tönte Robinson. Deswegen habe er die südlichen Grenzposten in Alarm versetzt, und die hätten ihn auch sofort verständigt. Er habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und den Verdächtigen mit dem einzigen Polizeihubschrauber Namibias noch in der Nacht nach Windhoek bringen lassen.

«Und wie kam der Mann so schnell von KwaZulu-Natal zur Grenze?», fragte Clemencia.

«Das kriegen wir raus», sagte Robinson. Er hatte bereits ermittelt, dass der Verdächtige bis vor sieben Jahren als Wachmann bei Proforce, der Vorgängerfirma der heutigen Group 4 Securicor, gearbeitet hatte. Dort war er entlassen worden, nachdem er wegen Diamantenschmuggel angeklagt, wenn auch nicht verurteilt worden war. Und er hatte für keinen der beiden Tatzeitpunkte ein Alibi, das den Namen verdient hätte. Ob seine Kalaschnikow die Tatwaffe war, stand noch nicht fest. Das Ergebnis der Untersuchung ließ auf sich warten.

«Irgendwelche Verbindungen zu den CCB-Agenten?», fragte Clemencia.

«Auch das kriegen wir noch raus», sagte Robinson. «Das garantiere ich.»

Clemencia folgte ihm in den Verhörraum. Der Verdächtige war ein schmächtiges Männchen in zerlumpter Kleidung. Angolaner. Er saß zusammengefallen auf seinem Stuhl, wirkte ausgebrannt. Ob jemand ein Mörder war, stand ihm nicht ins Gesicht geschrieben, doch die eiskalte Entschlossenheit, die für drei Hinrichtungen nötig war, traute Clemencia diesem Menschen nicht zu. Er sah eher aus wie einer, der sich irgendwie durchs Leben zu wursteln versuchte und aus Erfahrung wusste, dass er dabei dauernd auf die Schnauze fiel. Clemencia fragte sich, ob ihr Bruder Melvin in zwanzig Jahren auch so heruntergekommen vor irgendeinem Inspector sitzen würde.

«Wie geht’s?», fragte sie.

«Ich weiß überhaupt nicht, was ihr von mir wollt», sagte das Männchen. Sein Englisch hatte einen portugiesischen Akzent.

«Haben Sie einen Anwalt verständigt?», fragte Clemencia.

«Einen Anwalt?»

«Er hat keinen verlangt», sagte Robinson und grinste. «Zu zweit redet es sich sowieso besser. Und intensiver.»

Reden würde da nichts nützen. Der Mann wusste nichts und hatte vermutlich auch nichts getan, was die Serious Crime Unit etwas anging. Das sah doch ein Blinder. Clemencia flüsterte Robinson zu: «Von mir aus kannst du weitermachen, bis die Waffe untersucht ist. Aber eins sage ich dir: Wenn du versuchst, irgendetwas aus ihm herauszuprügeln, wenn du ihn auch nur anrührst, schicke ich dich hinter Gitter, bis du schwarz wirst.»

«Ich doch nicht!», sagte Robinson entrüstet. Es war nicht ganz klar, ob sich das aufs Prügeln bezog oder auf die Aussicht, schwarz zu werden.

Im Nebenzimmer hatte Tjikundu die Liste mit den Käufern der 7,62er-Patronen durch. Eine Handvoll Männer waren übrig geblieben, die man als Verdächtige noch nicht endgültig ausschließen konnte, aber es war nichts dabei, was nach Treffer roch. Van Wyk saß daneben und tippte den Bericht über die Morde an van Zyl und Maree, der von den Kollegen in Hluhluwe angefordert worden war. Nachher wollte er Robinson ablösen. Aus dem Büro, das er mit Angula teilte, war er geflohen. Notwehr, sagte er zur Erklärung.

Als Clemencia dem nachging, verstand sie, was er meinte. Angula hockte auf seinen Fersen, den Rücken an die Wand gelehnt. Er hatte nicht nur die beiden Schreibtische mit Ordnern überhäuft, sondern eine Unzahl von Akten über den ganzen Fußboden verteilt. Nur ein paar Trampelpfade ermöglichten es, auch zu den entfernteren Papierstößen vorzudringen. In dem Zimmer staute sich die Hitze, doch die Fenster mussten geschlossen bleiben. Wenn einer unbedacht die Tür aufreiße – Angula schaute missbilligend zu Clemencia hoch –, fahre der Luftzug durch seine Akten, und die ganze schöne Ordnung sei beim Teufel.

Clemencia musterte das Chaos vor sich und sagte: «Das sind nicht deine Akten, Angula!»

«Jedenfalls», sagte Angula, «ist einiges Interessantes darin. Und fast noch interessanter sind die Sachen, die nicht da sind.»

«Nämlich?»

«Zum Beispiel, wieso Donald Acheson überhaupt verhaftet worden war. Und das gleich am Tag nach der Tat! Irgendwie müssen die Kollegen damals ja auf die Idee gekommen sein, dass er möglicherweise Lubowski erschossen hat. Angeblich hat seine Vermieterin die Polizei informiert, dass Acheson das Haus am Tatabend mit einem schweren, in eine Plastiktüte gewickelten Gegenstand verlassen habe. Sie hätte das Ding für einen Wagenheber gehalten, könne im Nachhinein aber nicht ausschließen, dass es eine Kalaschnikow war. Das ist alles. Es ist das Einzige, was entfernt nach einem Hinweis aussieht. Doch mir kann keiner erzählen, dass sie dadurch Acheson auf die Spur gekommen sind. Und noch weniger, dass sie bei so einer miserablen Faktenlage die Festnahme Achesons prompt der Presse meldeten. Dass er für das CCB arbeitete, wusste ja damals die Öffentlichkeit noch nicht. Man wusste nicht einmal, dass es das CCB überhaupt gab.»

«Und was schließt du daraus?»

«Die Polizei hat von jemandem einen Tipp bekommen. Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass seine CCB-Komplizen, mit denen er die ganze Zeit herumhing, ihn auf diese Weise abservieren wollten. Es war doch klar, dass sie sofort selbst ins Visier der Polizei geraten würden. Was ja dann auch geschehen ist. Wenn aber …»

Angula nahm einen Haufen Papier auf, richtete die Blätter sorgfältig aus und legte den Stoß kantengenau wieder auf den Bodenplatten ab.

«Jetzt sag schon!»

«Wenn jemand ganz anderer Lubowski erschossen hat, ergibt die Sache plötzlich Sinn: Noch bevor die Polizei die leiseste Ahnung hat, was eigentlich gespielt wird, präsentiert man ihr einen Mörder, einen ehemaligen rhodesischen Söldner, dem das Attentat problemlos zuzutrauen ist. Die halbe Welt ist entsetzt über einen Mord, der den gesamten friedlichen Übergang zur Unabhängigkeit in Frage stellen könnte, und nun so ein schneller Fahndungserfolg! Da fragt doch keiner genau nach! Nein, die Polizei nimmt das Geschenk dankbar an und arbeitet sich redlich daran ab, Acheson und Co. zu überführen. Kein Mensch denkt daran, in andere Richtungen zu ermitteln, und die wahren Täter reiben sich die Hände.»

Clemencia ging in die Hocke, um mit Angula auf Augenhöhe zu kommen. Sein Gesicht war unbewegt wie immer. Sie fragte: «Angula, was für einen Fall bearbeiten wir gerade?»

«Was?», fragte Angula.

«Unser Fall», sagte Clemencia. «Drei Morde! Januar 2009!»

«Januar 2009!» Angula nickte. «Und die wahren Täter von damals reiben sich immer noch die Hände.»

Er driftete völlig ab. Sie waren davon ausgegangen, dass die CCB-Leute ermordet worden waren, weil sie Lubowski umgebracht hatten. Wenn sie das nicht getan hatten, gab es auch kein Mordmotiv und somit keinen Grund, sich mit Geschichten aus einem anderen Jahrhundert zu beschäftigen. Zumindest jetzt nicht. Nicht, solange irgendwo da draußen ein Killer mit einer Kalaschnikow herumlief. Später konnte man immer noch …

Angula begann, die ersten Takte der namibischen Nationalhymne vor sich hin zu summen. Land of the Brave, das Land der Tapferen.

«Angula?», fragte Clemencia.

Angula hörte auf zu summen. «Die Melodie ist bei der Trauerfeier für Anton Lubowski entstanden.»

«Was soll das, Angula?»

«… whose blood waters our freedom …», zitierte Angula einen Vers der Hymne und sagte dann: «Nationen werden in Blut geboren. Genau wie Babys. Der Unterschied ist, dass sich das Blut bei Nationen nicht so leicht abwaschen lässt. Es klebt und klebt und …»

«Ich will van Zyls, Marees und Staal Burgers Mörder, nichts anderes!», sagte Clemencia.

Angula sah sie ausdruckslos an.

«Haben wir uns verstanden?»

«Klar, Chefin», sagte Angula und wandte sich wieder den Aktenbergen zu.

Clemencia würde ihn im Auge behalten müssen. Genau wie Robinsons Verhörmethoden und Oshivelos Tendenzen, die Ermittlungen zu steuern, und die Praxis der Telefonzentrale, Notrufe erst mit mehrstündiger Verspätung weiterzuleiten, und Melvins Konflikte mit dem Gesetz und die Sicherheit ihres Neffen Timothy und ihrer Nichte Jessica. Und, und, und. Es war ein bisschen viel auf einmal. Und es war drückend heiß, obwohl sie in ihrem Büro Tür und Fenster aufriss. Die Luft, die durchströmte, schien aus einem Föhn zu kommen.

In kühles Wasser springen, untertauchen, ein paar Züge schwimmen, das wäre jetzt das Richtige! Das letzte Mal hatte Clemencia vor zwei Wochen ins städtische Schwimmbad gehen wollen, war aber gescheitert. Der Bademeister war nicht zum Dienst erschienen, und so mussten die Tore aus Sicherheitsgründen verschlossen bleiben. Clemencia erinnerte sich an Finnland, an die Hallenbäder, in denen immer ein Bademeister da war, an die zugefrorenen Seen, an die endlosen Schneeflächen und daran, dass man am Morgen die Autoscheiben freikratzen musste. Nur einen Moment wollte sie sich gönnen, fünf Minuten, um wenigstens in Gedanken in jene weit entfernte kühle Welt zu reisen, in der die Menschen genauso spät auftauten wie die Natur nach dem endlosen Winter.

Nicht, dass Clemencia dort hätte leben wollen. Zu Hause ist, wo deine Toten liegen, hatte ihr Vater mal gesagt. Clemencias Mutter lag auf dem Friedhof von Katutura. Im glühend heißen Sandboden, im sonnenverbrannten, nach Regen dürstenden Land der Tapferen. Obwohl sie ihn abgewehrt hatte, ging ihr Angulas Satz nicht aus dem Kopf. Nationen werden in Blut geboren. Wie Babys. Aber Namibia war schon ausgewachsen, würde am 21. März den neunzehnten Geburtstag feiern. War es nicht an der Zeit, die Geburtswehen zu vergessen, die Schmerzen, die Opfer?

Oder hatte Angula doch recht? Geisterten die Schatten der Vergangenheit immer noch durchs Land? War es nicht unerträglich, dass sich diejenigen, die ihre Hände mit Blut befleckt hatten, ebendiese Hände bis heute selbstzufrieden rieben? Zu Hause ist, wo deine Toten liegen. Anton Lubowski war ebenfalls auf dem Friedhof von Katutura bestattet worden. Wahrscheinlich nicht weit weg von Clemencias Mutter. Wegen ihres Todes hatte keiner Nachforschungen angestellt. Clemencias Mutter war nur eine einfache Frau gewesen, die zufällig von einer Kugel getroffen worden war. Dazu existierten keine Meter an Akten, da war nicht einmal eine Untersuchung eingeleitet worden. Eine Hundertschaft südafrikanischer Soldaten, deren Namen niemand wusste, ein unglücklicher Querschläger, ein Achselzucken, basta.

Das Telefon mochte schon eine Weile geklingelt haben, als Clemencia es hörte. Am anderen Ende war Anwalt von Fleckenstein, der sie daran erinnerte, dass er zweihundertfünfzig Dollar Kaution ausgelegt hatte. Dann rief Miki Selma an. Wahrscheinlich hatte sie das Geld, das sie für Melvin gesammelt hatte, dazu verwendet, ihr Handy aufzuladen. Sie wollte eigentlich nur wissen, wie es Clemencia gehe. Und dem großen blonden Weißen. Wie sei doch noch gleich sein Name gewesen? Als sie darzulegen begann, dass im Fernsehen gerade dazu aufgefordert worden war, Kondome zu benützen, um sich vor einer HIV-Ansteckung zu schützen, legte Clemencia auf.

Gleich darauf läutete das Telefon erneut. Dass der Polizeikollege aus Südafrika Clemencia überhaupt erreichte, grenzte an ein Wunder. Wie er berichtete, hatte er schon dreimal angerufen, nur um von der Telefonzentrale zu erfahren, dass Clemencia gerade nicht im Haus sei. Wenn sie zurückkäme, würde man seine Bitte um Rückruf aber selbstverständlich sofort weiterleiten. Beim vierten Mal war es offenbar zu lästig geworden, den Anrufer noch einmal abzuwimmeln. Man hatte ihn endlich durchgestellt.

Clemencia ging wie selbstverständlich davon aus, dass es um den Mord an Staal Burger ging, doch davon wusste der Kollege gar nichts. Er saß in Pretoria, Provinz Gauteng, nicht in KwaZulu-Natal.

«Wie sind Sie denn auf mich gekommen?», fragte Clemencia.

Es stellte sich heraus, dass der Detective in derselben Polizeirugbymannschaft spielte wie der Kollege aus Bloemfontein, der Clemencias Anfrage wegen einer DNA-Vergleichsprobe zu Chappies Maree bearbeitete. Auf diese Weise hatte er von den zwei Morden in Namibia erfahren.

«Und als nun mit Ferdi Barnard der dritte ehemalige CCB-Agent im Gefängnis von Pretoria tot aufgefunden wurde, hielt ich es für eine gute Idee, mal nachzufragen», sagte der Kollege. «Zum Glück, denn die Sache mit Burger passt ja dazu wie …»

«Was? Ferdi Barnard ist im Knast ermordet worden?»

«Es sieht nach Selbstmord aus, zumindest auf den ersten Blick», sagte der südafrikanische Kollege. «Das Bettlaken war in Streifen gerissen und zusammengeknotet. Wenn jemand Barnard behilflich war, sich damit aufzuknüpfen, dann kommt nach Lage der Dinge nur sein Zellengenosse in Frage. Ein gewisser Thomas Khawuta, mehrfacher Raubmörder. Der Name ist Ihnen nicht zufällig untergekommen?»

Clemencia verneinte. Dennoch, ob Mord oder Selbstmord, das zeitliche Zusammentreffen mit ihren beiden Fällen und der Hinrichtung Burgers war mehr als seltsam.

«In der Tat», sagte der Südafrikaner am Telefon. «Und etwas anderes ist noch seltsamer. Der letzte Besucher von draußen, den Barnard vor seinem Ableben gesehen hat, kam aus Namibia. Er heißt …, warten Sie mal!» Clemencia hörte Papier rascheln und dann wieder die tiefe Stimme des Polizeikollegen. «… Hendrik Fourie.»

«Wie bitte?», fragte Clemencia. Das war doch nicht möglich!

«Fourie, ein Richter, der Barnard dienstlich aufsuchte.»

«Er ist kein Richter mehr. Er ist schon eine Weile pensioniert», sagte Clemencia. Was um Gottes willen hatte Fourie denn bei Barnard zu suchen?

«Pensioniert? Ach so. Jedenfalls, Sie kennen ihn! Umso besser. Wir würden ihm nämlich gern ein paar Fragen stellen. Barnard hat sich nach dem Besuch des Richters nämlich an die Wachen gewandt. Richter Fourie habe ihm mit einem gewaltsamen Tod gedroht. Natürlich hat das niemand ernst genommen. Bis Barnard ein paar Stunden danach wirklich tot war. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir möchten Ihrem Richter keineswegs irgendetwas unterstellen …»

«Ex-Richter», sagte Clemencia.

«… uns würde nur interessieren, was zwischen ihm und Barnard wirklich abgelaufen ist.»

Das würde Clemencia auch interessieren. Brennend sogar.

«Leider hat es Herr Fourie ziemlich eilig gehabt, unser schönes Land wieder zu verlassen», sagte der südafrikanische Kollege. «Wenn ich Sie etwas früher erreicht hätte, hätten Sie ihn vielleicht noch am Flughafen Windhoek abfangen können.»

«Ich gebe Ihnen Bescheid», versprach Clemencia. Sie ließ sich die Durchwahl des Kollegen geben, legte auf und rief sofort auf Fouries Farm an. Die Haushälterin sagte, dass der Richter vor einer Viertelstunde angekommen sei. Er stehe gerade unter der Dusche. Ob es denn sehr wichtig sei?

«Nein, nein», sagte Clemencia. «Ich melde mich später wieder.»

Dann ging sie zu Angula, doch der bat sie, einen der anderen mitzunehmen. Er müsse noch unbedingt ein paar Schriftstücke sichten, ohne die … Clemencia stürmte hinaus. Robinson verhörte den Angolaner, van Wyk war nirgends aufzufinden. Blieb also nur Tjikundu.

«Steck deine Waffe ein und komm mit!», sagte Clemencia. Ex-Richter Fourie hatte bei ihrem ersten Besuch alles andere als gefährlich gewirkt. Dennoch hätte sie kein gutes Gefühl gehabt, ihm jetzt allein gegenüberzutreten.

 

Der Tisch war ein ausrangierter Campingtisch, dessen defektes Klappscharnier mit zwei festgezurrten Lattenstücken geschient war. Auf ihm standen ein paar Plastikteller. Er fegte sie mit dem Unterarm auf den Boden und stellte seine blaue Tasche auf der zerkratzten Kunststoffplatte ab. Dann zählte er das Geld auf den Tisch. Immer zehn Hundert-Rand-Scheine übereinander und daneben den nächsten Stapel. Er hustete zur Seite hin.

Mandisa Khawuta stand zwei Meter entfernt und schaute stumm zu. Mit ihren Armen umfasste sie ihre Kinder, drückte sie an sich, zwei links, zwei rechts. Es sah aus, als wolle sie die Kleinen vor irgendetwas schützen. Oder ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie alle für immer zusammengehörten, was auch passieren möge. Natürlich war das Unsinn, aber er war nicht hier, um einer Xhosa-Familie die Welt zu erklären. Einer Frau und vier Kindern, deren Schicksal ihn nicht mehr und nicht weniger interessierte als das von irgendwelchen dummen Buren. Er hatte nur ein Geschäft abzuwickeln.

Die Meldung über den Tod Barnards hatte er in den Fernsehnachrichten am Busbahnhof gehört. Die Bilder dazu hatten die Front des Pretoria Central Prison gezeigt. Über die beiden Zäune hinweg. Die Freiflächen dazwischen gaben das Schussfeld für die Wachen ab, die in den Betonansitzen über der Fassade saßen. Ein hoher Gitterzaun schloss das Flachdach ab. Natürlich waren auch die Fenster vergittert.

Wer dort einsaß, wurde besser bewacht als jeder Staatspräsident. Keine Chance auszubrechen, keine Chance einzubrechen! Doch sterben konnte man überall. Da eignete sich ein Platz so gut wie der andere. Der Tod holte sich, wen er wollte und wo er es wollte.

«Brother …», sagte die Frau zögernd.

Er legte den Zeigefinger über die Lippen. Was immer sie sagen wollte, er wollte es nicht hören. Er überflog die Stapel auf dem Tisch. Sechsundzwanzig, siebenundzwanzig, achtundzwanzig. Noch zweitausend Rand. Er war nur ein Geldbote.

«Thomas, mein Mann, ist immer ein Scheißkerl gewesen», sagte die Frau, «hat sich nie um eine Arbeit bemüht, lungerte herum, soff, schlug mich und die Kinder, wann es ihm passte.»

Er hustete. Er zählte zehn weitere Hunderter ab. Er war der Bote des Todes. Mit dem, was anderen am Leben behagte oder nicht behagte, hatte er nichts zu schaffen. Er war der Engel, der kurz aus dem Jenseits vorbeischaute wie ein schwarzer Schatten. Und unerklärlicherweise warf er manchmal Licht in armselige Blechhütten. Die Vorstellung gefiel ihm.

«Dass Thomas das für uns tut, hätte ich nicht gedacht», sagte die Frau. Plötzlich tat sie ihm doch leid.

«Hör zu!», sagte er. «Sie werden kommen. Sie werden dich ausfragen, wieso du auf einmal so reich bist. Sie werden eins und eins zusammenzählen, dir das Geld wegnehmen und es als Beweismittel beschlagnahmen.»

Er legte die letzten tausend Rand auf die Tischplatte und musterte das Elend um sich herum. Die zerschlissenen Matratzen auf dem gestampften Boden, die Tüte Maismehl neben dem Plastikkanister voll trübem Wasser, die umgedrehten Sperrholzkisten, die als Stühle dienten. Er machte zwei Schritte nach vorn und trat die Wellblechwand zwischen zwei Pfosten nieder. Das Licht der Abendsonne flutete herein. Er sagte: «Vielleicht solltest du das Geld und deine Kinder einpacken und abhauen, bevor sie da sind.»

 

«Wenn man die Farmer so reden hört, ist es allerhöchste Zeit, dass der Regen endlich kommt. Und zwar guter Regen, nicht nur ein paar Tropfen, die in der knistertrockenen Luft aufgesogen werden, bevor sie auch nur die Chance haben, ins Erdreich einzudringen. Dicke graue Wolken seien nötig, die Schleusen des Himmels müssten sich öffnen, eine kleine Sintflut sollte herabstürzen. Eine Woche oder zwei müsste es schon regnen, damit das Gras zu sprießen begänne und die gelben Morgensterne blühten und Vieh wie Wild zu fressen fänden.

Mit jedem Tag, den die Niederschläge ausbleiben, wachsen Verzweiflung und Aberglauben, setzen die Farmer mehr auf die angeblich untrüglichen Vorzeichen, die das Ende der Dürre ankündigen sollen. Schlägt da nicht der Diederichs-Kuckuck, der Regenvogel par excellence, gerade an? Oder ist es doch bedeutungsvoller, dass sich überall die Erdkröten vernehmen lassen? Manchen scheint ganz sicher, dass der erste Vollmond des neuen Jahres die Wende bringen wird, noch dazu, da der Mond schon in den vergangenen Nächten einen deutlich erkennbaren Hof sehen ließ. Und wenn alles nichts hilft, kann man immer noch auf Kaisers Geburtstag am 27. Januar hoffen, vorausgesetzt, man ist ein alteingesessener deutschstämmiger Südwester, der heimlich in Schwarz-Weiß-Rot träumt.

Doch selbst wenn es endlich regnete, wäre noch nichts gewonnen. Der Regen geht nämlich – wie jeder Farmer sofort bestätigen wird – immer und ausnahmslos auf den Nachbarfarmen nieder, während auf dem eigenen Grund und Boden ein Fluch zu liegen scheint. Also würde es logischerweise auch nirgends regnen, wenn es regnete. Man muss sich nur wundern, dass die Farmen überhaupt noch existieren, dass Kudu, Oryx und Springbock nicht schon vor Ewigkeiten ausgestorben sind. Apropos Springbock …» Ex-Richter Fourie bat seine Haushälterin, für die Gäste von der Polizei ein wenig von dem selbsthergestellten Wildrauchfleisch zu holen, und plapperte dann munter weiter. Über den ausbleibenden Regen. Über das Gejammere der Nachbarn, die seit drei Generationen dieses Land bestellten und immer noch nicht akzeptiert hatten, dass es sich dabei um eine Halbwüste handelte und nicht um eine satte Weide in Ostfriesland oder in den bayerischen Voralpen.

Tjikundu saß etwas seitwärts und hielt sein Glas Eistee mit beiden Händen umklammert. Der barfüßige Junge hockte auf der Verandabrüstung und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Seine Schwester war nirgends zu sehen gewesen, aber er hatte ihnen wieder das Tor geöffnet. Seine Augen hatten gestrahlt, als wisse er genau, dass Clemencia nur seinetwegen gekommen sei. Sobald er jedoch bemerkt hatte, dass Tjikundu eine echte Pistole bei sich trug, war Clemencia nur noch zweite Wahl gewesen. Tjikundu hatte mit der unverhohlenen Bewunderung erst nicht recht umzugehen gewusst und sich dann für eine unbeteiligt-coole John-Wayne-Miene entschieden. Die passte auch zu seinem Auftrag, denn Clemencia hatte ihm eingeschärft, er solle sich zurückhalten und sie machen lassen.

Bisher hatte sie allerdings noch nichts gemacht. Sie hatte dem Redeschwall des Richters ruhig zugehört. Doch nun war Schluss. Fourie hatte lange genug Zeit gehabt, von sich aus ein paar Dinge richtigzustellen, wenn es etwas richtigzustellen gab. Er wusste schließlich, mit welchen Ermittlungen sie befasst war, und konnte nicht so tun, als ginge es sie nichts an, dass er Ferdi Barnard aufgesucht hatte. In ein Luftholen Fouries hinein fragte Clemencia: «Wie war es in Südafrika?»

«Zu viele Menschen, zu viele Autos, zu viel Krach. Immerhin hat es dort tatsächlich geregnet und …»

«Waren Sie auch in KwaZulu-Natal?»

«Mir hat schon Pretoria gereicht.»

«Haben Sie Freunde besucht?»

«Freunde? Eher einen Bekannten, aber …»

«Herr Fourie», sagte Clemencia, «ich möchte jedes Wort wissen, das Sie mit Ferdi Barnard gewechselt haben.»

Einen Moment lang wirkte der alte Herr überrascht. Dann lächelte er. Mit der Rechten nahm er das Küchenmesser, das die Haushälterin zusammen mit dem Rauchfleisch gebracht hatte. Tjikundu stellte seinen Eistee auf der Brüstung der Veranda ab. Seine Pistole steckte noch im Holster. Der barfüßige Junge starrte wie gebannt darauf. Wahrscheinlich würde er Tjikundu gern fragen, ob er mal damit schießen dürfe. Fourie begann, das nahezu schwarze Fleisch gegen die Faser zu schneiden. In so dünne Streifen, dass man fast hindurchsehen konnte. Seine Hände zitterten nicht.

«Nun», sagte Fourie, «als ich von den Morden an Maree und van Zyl erfuhr, als wir über Lubowski sprachen, wurden diese alten Geschichten für mich plötzlich wieder lebendig. Der Fall von damals mit seinen offenen Enden, mein Frust, meine Entscheidungen und Versäumnisse, all das kreiste erneut durch meinen Kopf. Wie vor Jahren fragte ich mich, ob es auch an mir gelegen hatte, dass die Untersuchung versandete. Und auf einmal war da der Gedanke, dass die Suche nach der Wahrheit manchmal eben einen langen Atem braucht. Es mag seltsam klingen, aber der Mord an den beiden ehemaligen Agenten hat die Flammen wieder angefacht. Das Lubowski-Attentat steht erneut auf der Tagesordnung, und nicht nur für mich. Wenn zwei der Täter umgebracht worden sind, würde der dritte vielleicht …»

«Herr Fourie», sagte Clemencia, «Sie sind pensioniert! Was zum Teufel …»

«Eben», sagte Fourie. «Ich weiß gar nicht, was ich mit meiner ganzen Zeit anfangen soll. Und ein kurzer Trip nach Südafrika macht mich nicht arm. Ich rief einen ehemaligen Kollegen in Pretoria an. Der versicherte mir, dass es gar kein Problem sei, eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Er regle das sofort, ich solle einfach im Gefängnis vorsprechen. Da habe ich kurz entschlossen meine Koffer gepackt.»

Fourie legte das Messer auf den Tisch und bot von dem Rauchfleisch an. Tjikundu griff zu. Der Junge tat es ihm mit genau der gleichen Bewegung nach. Clemencia schüttelte den Kopf und fragte: «Was hat Barnard gesagt?»

«Nichts. Er lachte mich aus. Er kenne keinen Lubowski, keinen Chappies Maree, keinen Slang van Zyl, und wenn ich ihn weiter nerven würde, kenne er nicht einmal mehr einen Ferdi Barnard.» Fourie schien völlig ruhig. Tjikundu nahm noch zwei Streifen Rauchfleisch und gab eines davon an den Jungen neben ihm weiter.

«Und dann?», fragte Clemencia.

«Und dann? Er ließ sich in die Zelle zurückbringen, und ich bin gegangen», sagte Fourie.

Clemencia nickte. «Und jetzt Spaß beiseite! Wie war es wirklich?»

«Was meinen Sie?»

«Was haben Sie mit Barnards Tod zu tun?»

«Wie bitte?»

«Ach, Sie wissen gar nicht, dass Barnard in der Nacht nach Ihrem Besuch erhängt aufgefunden wurde?»

Fourie antwortete nicht. Dabei konnte er doch wunderbar erzählen. Zumindest, wenn es um die Regenzeit und die Farmer ging. Clemencia sagte leise: «Bevor er starb, hat sich Barnard beim Gefängnispersonal über die Morddrohungen beschwert, die Sie ihm gegenüber geäußert haben.»

Fourie beugte den Oberkörper nach vorn, als wolle er aufspringen. Das Messer lag neben dem Holzbrett mit dem Rauchfleisch. Tjikundu hörte zu kauen auf. Seine Hand fuhr zum Holster der Pistole. Fourie lehnte sich wieder zurück und sagte: «Das ist absolut lächerlich.»

«Wie erklären Sie sich Barnards Anschuldigungen?», fragte Clemencia ruhig.

«Ich glaube nicht, dass es unter diesen Voraussetzungen sinnvoll ist, unser Gespräch weiterzuführen», sagte Fourie geschraubt.

Er war auch nicht anders als der Rest von Clemencias Kundschaft. Die Wahrheit war schön und gut, solange sie einem nicht zu nahe kam. Doch wenn jemand am eigenen Gestank zu schnuppern begann, flüchtete man sich aufs hohe Ross und glaubte nicht, dass es unter diesen Voraussetzungen sinnvoll wäre, noch ein Wort darüber zu verlieren.

«Wir wollten sowieso gerade gehen.» Clemencia erhob sich. Tjikundu blickte bedauernd auf das aufgeschnittene Rauchfleisch, traute sich aber nicht, noch einmal zuzugreifen. Clemencia sagte: «Ich muss Sie leider bitten, uns zu begleiten, Herr Fourie.»

Fourie lachte auf. «Sie wollen mich festnehmen?»

Ja, das wollte sie. Warum auch nicht? Nur, weil er weiße Haut hatte, mal Richter gewesen war und sicher jede Menge einflussreicher Freunde mobilisieren konnte? Sie sagte: «Wegen Verdacht auf Anstiftung zum Mord an Ferdi Barnard.»

«Das meinen Sie nicht ernst», sagte Fourie.

«Todernst.»

«Sie werden Schwierigkeiten bekommen.»

«Möglicherweise.»

«Nein, nicht möglicherweise. Sicher!»

«Gut, dann sicher», sagte Clemencia. «Wollen Sie noch ein paar Sachen zusammenpacken, bevor wir aufbrechen?»

Fourie meinte, das lohne nicht, er wäre sowieso gleich wieder draußen. Er wollte nur kurz telefonieren. Clemencia bedeutete Tjikundu, ihm ins Haus zu folgen. Der barfüßige Junge blieb bei ihr auf der Veranda. Clemencia lächelte ihm zu, doch der Junge schüttelte den Kopf und sagte: «Meneer Fourie ist der Baas!»

Es klang nicht einmal vorwurfsvoll, nur völlig erstaunt, dass Clemencia das offensichtlich nicht wusste, denn sonst hätte sie ja nie auf die Idee kommen können, ihn festzunehmen. Den Baas, der alle auf der Farm ernährte, der bestimmte, wo es langging, dessen Wort hier unumschränkt galt, von dem alles und alle abhingen!

Clemencia ging in die Hocke, griff den Jungen an beiden Oberarmen und erklärte ihm, dass vor dem Gesetz alle gleich seien, er, seine Mutter, Meneer Fourie. Allesamt seien sie Menschen und Staatsbürger, hätten die gleichen Rechte und Pflichten. Und dass das so sei, sei ungemein wichtig. Dafür hätten viele Menschen jahrzehntelang gekämpft, und nicht wenige seien sogar dafür gestorben. Das dürfe er nie vergessen!

Der Junge kniff die Lippen zusammen. Clemencia konnte nur hoffen, dass er begriffen hatte. Als sie sich wieder aufrichtete, stand Fourie neben ihr. Clemencia wies auf den Wagen unter der Zypresse. Tjikundu ging vor und öffnete die Beifahrertür. Bevor Fourie ihm folgte, strich er dem Jungen übers Haar und sagte: «Mach deine Matheaufgaben! Ich bin bald zurück.»

Als sie vor dem Hauptquartier in Windhoek ankamen, wartete dort schon Anwalt von Fleckenstein. Er lehnte an seinem alten Mercedes und teilte Fourie mit, dass der zuständige Haftrichter sich in Anbetracht der besonderen Umstände bereit erklärt hatte, noch an diesem Abend vorbeizukommen. Er, Fleckenstein, bleibe hier, bis die Polizeibeamten ihr Verhaftungsprotokoll abgefasst hätten, dann rufe er den Richter an, und eine Viertelstunde später sei die Sache geregelt. Zu Clemencia sagte er: «Rin in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln! Sie sind mir ja eine.»

«Ich weiß nicht, ob wir das mit dem Verhaftungsprotokoll heute noch schaffen», sagte Clemencia. «Meines Wissens haben wir vierundzwanzig Stunden Zeit dafür.»

Von Fleckenstein kicherte. Ihn schien das Ganze prächtig zu amüsieren. Tjikundu führte Fourie in den zweiten Stock hinauf, wo die Serious Crime Unit residierte. Er würde ihn ins Vernehmungszimmer bringen und dort erst einmal warten lassen. Clemencia war klar, dass sie gegen den Ex-Richter nicht viel Greifbares in der Hand hatte. Spätestens morgen würde sie ihn laufenlassen müssen, doch wenigstens eine Nacht sollte er schmoren wie jeder andere Festgenommene auch.

Unprofessionell, hätte Matti Jurmela im fernen Helsinki geurteilt und nach einer kleinen Pause angefügt, dass es nicht ums Prinzip gehe, sondern darum, die Aufgabe bestmöglich zu erfüllen. Das stimmte sicher auch. Nur war Namibia eben nicht Finnland, sondern ein junger Staat, in dem kleine barfüßige Jungen immer noch glaubten, ihr Baas könne nie verhaftet werden, eben weil er der Baas war.

Clemencia grüßte ein paar Kollegen von der Commercial Crime Unit, die gerade Feierabend machten. Sie überquerten die Bahnhofstraße und sammelten sich an der mobilen Garküche auf dem Parkplatz gegenüber. Die Getränkedosen lagen in einer Plastikwanne voll Wasser, das wahrscheinlich mal Eis gewesen war. Auf dem Grill brutzelten kleine Fleischstücke. Die Chilimischung, in die man sie stippte, leuchtete knallrot herüber. Vielleicht lag das auch an der Abendsonne. Der Himmel war wolkenlos.

 

Ex-Richter Hendrik Fourie:

Ich rechnete nicht damit, dass mich die Polizei festnehmen würde, doch selbst wenn ich in die Zukunft hätte blicken können, hätte ich mich keinen Deut anders verhalten. Die Frage ist nicht, ob man bereit ist, ein Risiko einzugehen, sondern ob das eigene Anliegen es wert ist, auch dessen schlimmstmöglichen Ausgang in Kauf zu nehmen. Wenn man das bejaht – und das habe ich für mich getan –, hat man gar keine andere Wahl, als sich einzumischen.

Dass Taten Konsequenzen haben, die unter der Maßgabe eines gewissen Ermessensspielraums festgelegt und somit voraussehbar sind, ist ja auch ein Prinzip der Strafgerichtsbarkeit. Wer jemanden ermordet, weiß, was ihm blüht. Da darf es keine Ausnahmen geben. Nicht nur wegen der Opfer und ihrer Hinterbliebenen, nicht nur wegen eines wie immer gearteten Ideals der Gerechtigkeit, sondern weil das eine ganz simple, aber für menschliches Zusammenleben elementare Regel außer Kraft setzen würde: Wer A sagt, muss auch B sagen. Und wenn er es nicht selbst sagt, muss es ihm unmissverständlich gesagt werden. Sonst brechen alle Dämme.

Sicher, weder Polizei noch Staatsanwalt sind Götter, sie tappen oft genug im Dunkeln, und manchmal gelingt es ihnen trotz allen Bemühens nicht, einen Täter ausfindig zu machen. Das ist schlimm genug, aber es stellt nicht die Grundlagen des Rechts in Frage. Genau das geschieht jedoch, wenn – wie im Mordfall Lubowski – die Täter namentlich bekannt sind, ihre Motive und Handlungen trotz aller Sabotageakte nachvollziehbar sind und dennoch keinerlei Konsequenzen gezogen werden.

Ja, ich spreche von Sabotageakten. Wissen Sie, dass eine Art Einsatztagebuch gefunden wurde, in dem die Aktivitäten der CCB-Regionalgruppe 6 penibel verzeichnet waren? Als ich 1994 das Beweisstück in die Hand bekam, fehlten genau zwei Seiten. Womit sich die erste befasste, ist unklar, die zweite war jedenfalls die vom 12. September 1989, also von dem Tag, an dem Anton Lubowski erschossen wurde. Man versuchte mir einzureden, das CCB selbst hätte belastendes Material beseitigt. Aber warum nur zwei ausgewählte Seiten? Warum nicht den ganzen Rest, der ja genug andere verabscheuungswürdige Verbrechen der Gruppe belegte? Nein, da hatte jemand gezielt die Aufklärung des Lubowski-Falls zu behindern versucht, und dieser Jemand gehörte garantiert nicht zum südafrikanischen Geheimdienst.

Ich habe das und anderes damals keineswegs unter den Teppich gekehrt, aber vielleicht auch nicht ausreichend deutlich gemacht. Sicher ist, dass ich nicht entschieden genug dagegen vorgegangen bin. Sei es, weil mir die grundsätzliche Bedeutung der Sache nicht klar war, sei es, weil ich die möglichen Konsequenzen für mich persönlich gescheut habe. Aber das ist anderthalb Jahrzehnte her. Ich bin nun ein alter Mann, und mit jedem Lebensjahr mehr zählt das, was man zu verlieren hat, weniger.

Was das alles mit meinem Besuch im Gefängnis von Pretoria zu tun hat? Nun, ich hatte den Entschluss gefasst, mich einzumischen. Ich wollte nachholen, was ich in meiner aktiven Zeit versäumt hatte. Mir ging es um die Wahrheit, um die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Also zeigte ich Ferdi Barnard die Zeitungsausschnitte über die Ermordung seiner beiden ehemaligen Kumpane. Ich sagte ihm, dass er der Nächste auf der Todesliste sei. Seine einzige Chance, mit dem Leben davonzukommen, bestehe darin, jetzt sofort ein umfassendes Geständnis abzulegen. Eines, in dem jede Minute und jedes Detail des 12. September 1989 wahrheitsgemäß geschildert, jeder Tatbeteiligte, jeder Mitwisser benannt und sämtliche Hintergründe geklärt würden.

«Wenn ich Ihnen nichts erzähle, werde ich umgelegt?», fragte Barnard.

«Ja», sagte ich.

«Heißt das, dass Sie für Marees und van Zyls Tod verantwortlich sind, Euer Ehren?», fragte er.

«Natürlich», sagte ich, aber er nahm mir das nicht ab. Ich hatte nicht glaubwürdig genug gewirkt.

«Lubowski? Wer war das gleich gewesen?», fragte Barnard und lachte.

 

Clemencia hätte sich gern einfach vor den Fernseher gesetzt. Sie hätte die langatmigen Nachrichten der NBC in Kauf genommen und geduldig zugesehen, wie ein verschwommen aufgezeichneter Funktionär in genauso verschwommenen Worten darlegte, dass man die Ziele der Vision 2030 irgendwie erreichen müsse. Sie hätte sogar die unpassenden Kommentare von Miki Matilda ertragen, zumindest, solange sie nicht direkt angesprochen worden wäre. Es wäre ihr egal gewesen, wann Constancia ihre Kinder ins Bett schickte und dass die Bässe aus der Mshasho Bar herüberwummerten und ob Melvin sich dort gerade betrank. Clemencia sehnte sich nur nach ein bisschen Normalität. Doch der Abend entwickelte sich zu einer einzigen Katastrophe.

Noch bevor Clemencia in Katutura anlangte, rief Claus Tiedtke auf ihrem Handy an und fragte, ob sie eine gewisse Selma kenne. Die habe sich nämlich bei ihm in der Redaktion – angeblich in Clemencias Auftrag – erkundigt, ob er katholisch sei. Das sei er übrigens nicht, sondern evangelisch-lutherisch. Er habe aber mit anderen Konfessionen überhaupt kein Problem, nur die Anfrage sei ihm etwas seltsam vorgekommen.

Sie war nicht seltsam, sondern eine Frechheit.

Miki Selma zur Rede zu stellen, ja, sie überhaupt zu finden, erwies sich als ziemlich schwierig. Schon vor dem Haus hörte Clemencia ausgelassenes Gelächter, und als sie das Gittertor passiert hatte, drängte sich im kleinen Vorhof der halbe Gospelchor der Holy Redeemer Parish. Offensichtlich hatte sich der Chor nach einem Auftritt hier versammelt, denn die Frauen trugen noch ihre bodenlangen weinroten Roben mit den goldenen Verzierungen. Die wenigen Männer in ihren farblich abgestimmten Hemden saßen etwas abseits auf der Bank an der Hüttenwand. Die Frauen diskutierten gerade, ob eine Braut das alleinige Recht habe, die Ausstattung ihrer Brautjungfern zu bestimmen, insbesondere wenn letztere die Kosten dafür selbst tragen mussten. Als man Clemencia endlich bemerkte, verstummte das Gespräch allmählich.

«Hallo, Kindchen», grüßte eine der älteren Frauen, deren Name Clemencia gerade nicht einfiel. Vielleicht, weil Miki Selma sie immer nur «die Krähe» nannte. Zumindest bis letzte Woche hatten die beiden erbittert über die Stimmführerschaft im Chor gestritten. Die Krähe könne überhaupt nicht singen, hatte Miki Selma behauptet. Man dürfe sie schon deswegen nie ins Haus einlassen, weil sogar das Obst verfaulen würde, sobald sie nur den Mund aufmache.

«Du bist schon zurück, Clemencia?», fragte eine andere der Frauen.

Es war 21 Uhr 30! Durfte man da noch nicht von der Arbeit kommen?

«Wo ist Selma?», fragte Clemencia. Die Krähe deutete nach hinten, in den dunklen Durchgang zwischen Haus und Nebenhütten. Clemencia ging unter der Plane durch, die tagsüber Schatten spendete. In der windgeschützten Feuerstelle nahe der zweiten Tür glimmte die Glut. Daneben stand der große gusseiserne Potjie. Bis auf ein paar verklebte Mieliepap-Reste war er leer. Die Tür links stand offen.

Im Zimmer lief der Fernseher, doch keiner sah hin. Auf einem der Betten thronte Miki Selma in ihrem Chorgewand, umgeben vom Rest der Familie und der zweiten Hälfte der weiblichen Chormitglieder. Miki Selma hielt einen Bleistift in der Hand und kritzelte auf den Rand eines Werbeprospekts. Sie sagte: «Wenn wir sechs Brautjungfern haben, brauchen wir natürlich auch sechs Männer.»

«Was ist hier eigentlich los?», fragte Clemencia von der Türschwelle aus.

«Gar nichts.» Miki Selma faltete den Werbeprospekt sorgfältig zusammen. Es schien sich um die Sonderangebote von Woermann Brock zu handeln.

«Ich gehe dann mal», sagte Melvin und versuchte, sich an Clemencia vorbeizudrücken.

«Saufen?», fragte sie. Es war sowieso ein Wunder, dass er noch da war.

«Arbeiten», sagte Melvin.

«Um diese Zeit?»

«Das kann man sich heutzutage nicht aussuchen.»

«Was für eine Arbeit?», fragte Clemencia.

Ihr Bruder musterte den Türrahmen. Er überlegte, er grinste, er sagte: «Entladen.»

«Melvin, ich habe dich nicht aus der Zelle geholt, damit du sofort wieder …» Clemencia brach ab. Ungefähr ein Dutzend Frauen des Gospelchors der Holy Redeemer Parish blickten sie erwartungsvoll an. Clemencia holte ihre Geldbörse aus der Tasche, nahm einen Zwanziger heraus und drückte ihn Melvin in die Hand. Sie sagte: «Geh saufen und mach keinen Quatsch!»

Melvin zog ab. Der Frauenchor schwieg einstimmig, bis Miki Selma sagte, dass sie noch eine Kleinigkeit zu besprechen hätten. Ob Clemencia sich vielleicht irgendwo die Beine vertreten könnte?

«Du hast bei dem Reporter angerufen und behauptet, es geschehe in meinem Auftrag?», fragte Clemencia scharf.

«In deinem Auftrag? Kein Wort dergleichen habe ich gesagt», entrüstete sich Miki Selma.

«Es ist wegen Clemencia, hast du gesagt», schaltete sich eine der anderen ein.

«Es war ja auch wegen Clemencia. Irgendwer muss sich doch um sie kümmern.»

«Um mich muss sich niemand kümmern, und du schon gleich gar nicht!», zischte Clemencia.

Miki Selma erhob sich zu ihrer ganzen Größe von einem Meter sechsundfünfzig, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: «Jedes Tier schreit in seiner Höhle, und das hier ist immer noch meine! Ein bisschen mehr Respekt, Kindchen!»

Die Meute der Chorfrauen murmelte beifällig, und Clemencia atmete ein paarmal tief durch. Miki Selma war ihre Tante. Eine der jüngeren Schwestern ihres Vaters. Sie gehörte zur Familie. Sie war ein Mensch und deswegen prinzipiell vernunftbegabt. Man konnte versuchen zu argumentieren. Völlig ruhig und gelassen sagte Clemencia: «Du kannst doch nicht bei einem wildfremden Mann anrufen und ihn nach seiner Religionszugehörigkeit fragen!»

«Es ist alles nicht so schlimm», sagte Miki Selma.

«Wir haben den Pfarrer gefragt», sagte eine andere.

«Ihr müsst nur katholisch heiraten», sagte eine dritte.

«Und euch verpflichten, eure Kinder katholisch taufen zu lassen», ergänzte Miki Selma zufrieden.

Was zu viel war, war zu viel! Clemencia machte auf dem Absatz kehrt, sperrte ihr Zimmer auf, trat ein, sperrte von innen wieder zu. Eine dumpfe Hitze stand in dem Raum. Clemencia riss sich die Kleidung vom Leib und ließ sich aufs Bett fallen. Die Fensterscheibe zitterte vom Dröhnen der Bässe aus der Mshasho Bar. Durch die Innenwand drang das Gekicher der Chorfrauen von nebenan. Vielleicht sollte Clemencia noch einmal hinübergehen und verkünden, dass sie zum Islam übertreten werde.

Nein, Sarkasmus half nicht. Es galt, eine Lösung zu finden, eine saubere, eindeutige Lösung. Clemencia musste sich unbedingt eine eigene Wohnung suchen. Gleich morgen. Und möglichst am anderen Ende der Stadt, in Avis oder Kleine Kuppe. Familie hin oder her, es ging einfach nicht mehr. Miki Selma kreischte drüben auf, und Clemencia drückte ihr Kopfkissen fest gegen beide Ohren. Ihr Handy hörte sie dennoch klingeln. Es war Claus Tiedtke. Er wollte wissen, ob alles in Ordnung sei. Und ob Clemencia vielleicht Lust habe, noch in den «Blitzkrieg» mitzukommen. Dort spiele «Submission», und es sei sicher mächtig was los. Clemencia lehnte dankend ab.

Am nächsten Morgen fühlte sie sich dennoch so, als habe sie die ganze Nacht vor den Lautsprecherboxen einer Heavy-Metal-Band verbracht. Sie kochte sich einen Rooibos-Tee, gab einen Löffel Zucker hinein, dann noch einen. Miki Selma hatte Spiegeleier gemacht und servierte Clemencia ungefragt zwei davon. Sie druckste ein wenig herum und erklärte, dass es doch alle nur gut mit Clemencia meinten.

Ein Friedensangebot. Clemencia ging nicht darauf ein. Sie nahm den Teller, zog sich in ihr Zimmer zurück und suchte aus dem Telefonbuch einen Makler aus. Der lachte nur, als er hörte, wie viel sie für eine ruhige kleine Wohnung weit weg von Katutura zahlen konnte. Irgendwann würde es Clemencia trotzdem schaffen. Und wenn sie sich von irgendeinem reichen Typen aushalten lassen musste!

Mein Gott, Miki Selma und ihr Kirchenchor hatten allen Ernstes Clemencias Hochzeit geplant! Mit einem Mann, den sie anderthalbmal gesehen hatte. Von dem sie nicht mehr wusste, als dass er Claus hieß, bei der deutschen Zeitung arbeitete und eine Haut in der Farbe von frischem Ziegenkäse hatte. Du magst doch frischen Ziegenkäse, hätte Miki Matilda jetzt sicher eingeworfen und laut losgemeckert, und Clemencia hätte gesagt, nur auf dem Teller, nicht vor dem Traualtar, und dann hätte Miki Selma protestiert, weil man über die Sakramente keine Witze reiße, und dann …

Miki Selma steckte den Kopf durch die Tür und flötete, ob Clemencia vielleicht noch einen Toast wünsche. Draußen quengelte Timothy, weil er Schuhe anziehen und mit seiner Mutter ein paar Schreibsachen für das neue Schuljahr einkaufen sollte. Er wollte lieber zusehen, wie Miki Matilda das Huhn schlachtete, dessen Leber sie für den Gegenzauber im Haus ihres Patienten dringend benötigte. Melvin schrie, dass er seine Ruhe haben wolle. Immerhin war er nicht bei einem nächtlichen Einbruch festgenommen worden. Clemencia verließ das Haus, sobald sie ihre Spiegeleier aufgegessen hatte.

Die Nachbarin von der gegenüberliegenden Straßenseite sang, während sie ihre Wäsche aufhängte. Ihr Mann schloss gerade die Batterie im Motorraum seines alten Taxis an. Seit eines der beiden anderen Autos, die es in der weiteren Nachbarschaft gab, gestohlen worden war, war er vorsichtig geworden. Eine Wegfahrsperre konnte er sich nicht leisten, und so baute er eben jeden Abend die Batterie aus. Clemencia wartete, bis er fertig war, und ließ sich dann in die Innenstadt mitnehmen.

Im Hauptquartier verhörte Robinson immer noch den Angolaner. Zwar hatte die Kriminaltechnik erklärt, dass dessen AK-47 nicht die Mordwaffe sei, doch Robinson traute den Ergebnissen nicht. Er hatte Oshivelo überredet, eine neue Untersuchung anzuordnen. Beim Verhör war Robinson gerade in einer Good-cop-Phase. Er nannte den Verdächtigen beharrlich «mein Freund» und bot ihm eine Zigarette nach der anderen an. Der Angolaner saß schicksalsergeben in einem Plastikstuhl.

Dafür war der pensionierte Richter weg. Erst auf beharrliches Nachfragen bekam Clemencia heraus, dass er entlassen worden war, kurz nachdem sie sich am Abend zuvor verabschiedet hatte. Tjikundu hatte keine Wahl gehabt. Nach zwei Telefonaten von Fleckensteins war die Anweisung, das Verhaftungsprotokoll unverzüglich auszustellen, ziemlich energisch und ganz von oben gekommen.

«Oshivelo?», fragte Clemencia.

Tjikundu schüttelte den Kopf. «Ganz oben!»

Der Haftrichter hatte die Begründung kurz überflogen und Fouries Stellungnahme erbeten. Der hatte die Morddrohung gegenüber Barnard bedauert. Dann hatte er erklärt, dass er mit seinen vielleicht etwas drastischen Worten nur zur Wahrheitsfindung im Fall Lubowski habe beitragen wollen. Der Haftrichter hatte genickt. Keine Zweifel, keine Nachfragen. Eine Krähe hackte der anderen nicht mal dann ein Auge aus, wenn die eine schwarz und die andere weiß war.

Dass Clemencia sich beim Chef melden sollte, war unter diesen Umständen zu erwarten gewesen. Überraschend war jedoch, dass Oshivelo sie keineswegs zusammenstauchte. Er stapfte in seinem durch die Klimaanlage angenehm kühlen Büro auf und ab, ließ Clemencia Platz nehmen und warf ihr ein paar väterlich besorgte Blicke zu. Auf höherer Ebene habe es Irritationen gegeben, doch er stehe natürlich hinter ihr. Er hätte allerdings leichter argumentieren können, wenn Clemencia ihn über den Sachverhalt rechtzeitig informiert hätte. Dass Fourie einen Schuss vor den Bug bekommen habe, sei – im Vertrauen gesagt – völlig in Ordnung. Wo käme man hin, wenn jeder Rentner meinte, Polizei spielen zu müssen? Nun sei es aber wohl genug. Oder habe Clemencia etwa vor, Fourie weiterhin auf die Pelle zu rücken?

«Über den Lubowski-Fall weiß er alles», sagte Clemencia.

«Sie denken immer noch, dass unsere Morde damit zu tun haben?», fragte Oshivelo.

«Mehr denn je. Erst Maree und van Zyl hier, dann Burger und Barnard in Südafrika. Barnard saß übrigens die letzten zwölf Jahre im Gefängnis. Das spricht nicht dafür, dass er in letzter Zeit an Diamantenschmuggel oder ähnlichen kriminellen Aktivitäten beteiligt war.»

Es sprach auch nicht unbedingt dafür, dass er zusammen mit seinen Komplizen den Haupttäter von damals erpresst hatte. Solange Clemencia bezüglich des verfluchten Motivs im Dunkeln tappte, blieb alles Spekulation.

«Soweit ich informiert bin, hat sich Barnard selbst umgebracht», sagte Oshivelo, «und zwar keineswegs mit einer Kalaschnikow. Außerdem geschah das in Pretoria, zwölfhundert Kilometer von Windhoek entfernt. Dafür sind wir nicht zuständig.»

«Wir haben schließlich unsere eigenen Morde.»

«So ist es», sagte Oshivelo. Die Ironie in Clemencias Worten schien ihn nicht erreicht zu haben. Auch sonst nahm er seit ein paar Tagen nur wahr, was er wahrnehmen wollte. Die Lubowski-Spur gehörte definitiv nicht dazu.

Clemencia stand auf. Sie fragte: «Glauben Sie an Zufälle, Chef?»

Oshivelo strich sich über den grauen Bart. Dann ging er zum Fenster und schaute hinaus. Gegen das blendende Licht wirkte sein massiger Körper wie ein Schattenriss. Ohne sich umzudrehen, sagte Oshivelo: «Zufälle sehen schlecht aus, wenn man eine Geschichte von einem späteren Zeitpunkt aus rekonstruiert. Das liegt daran, dass man Anfang und Ende kennt und gern auf geradem Weg von einem zum anderen kommen würde. Wenn man allerdings mitten in der Geschichte steckt, ist das Ende offen, sind viele Ausgänge möglich. In einer solchen Situation unterscheiden sich Zufälle kaum von den nachträglich so logisch anmutenden Kausalzusammenhängen. Da gibt es nur Ereignisse, die uns einen Schritt weiterführen ins Dunkel der Zukunft. Auf ein Ende zu, von dem wir keinen blassen Schimmer haben.»

Clemencia war aufgefallen, dass Oshivelo vom unpersönlichen «man» zum «wir» übergewechselt war. Sie hätte gern gewusst, wen genau er damit meinte.

 

Ndangi Oshivelo, Deputy Commissioner der namibischen Polizei:

Ich glaube, ich kannte Anton Lubowski ziemlich gut. Dennoch fällt es mir schwer zu sagen, wer er wirklich war. Manchmal wirkte er wie ein verwöhntes Wohlstandskind, das sich in Lebensgefahr begab, nur um seine Langeweile zu bekämpfen. Bei wenigen Gelegenheiten hatte ich ihn in Verdacht, dass sein Einsatz kühl kalkuliert war. Jemand, der Weitsicht besaß, konnte erkennen, dass wir letztlich siegen würden. Hatte sich Lubowski einfach frühzeitig entschieden, aufs richtige Pferd zu setzen?

An den meisten Tagen schien er jedoch von einem geradezu hemmungslosen Idealismus durchdrungen zu sein. In Worten wie Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde ging er völlig auf und scherte sich keinen Deut darum, dass diese im luftleeren Raum wohlfeil waren. Es drehte sich aber darum, sie in einer Welt durchzusetzen, die schon da war und auf ganz anderen Grundlagen beruhte. Dazu waren faule Kompromisse genauso nötig wie schmutzige Tricks und brutales Durchgreifen. Dass der Weg dem Ziel entsprechen müsse, kann nur einer sagen, der von Politik keine Ahnung hat, ganz zu schweigen vom Unabhängigkeitskampf einer Nation.

Wir wussten, was wir taten, als wir Guerillakommandos über die angolanische Grenze nach Nordnamibia befahlen, um dort südafrikanische Stellungen anzugreifen. Militärisch war das bedeutungslos. Wir schickten unsere eigenen Leute in den fast sicheren Tod, nur um zu zeigen, dass wir existierten. Dass wir eine Macht waren. Letztlich starben unsere Männer, damit die SWAPO wieder einmal in der Weltpresse erwähnt wurde. Manche mögen das zynisch nennen, aber es war verdammt notwendig.

Wenn Lubowski interviewt wurde – und das geschah in seinen letzten Jahren dauernd –, rechtfertigte er den bewaffneten Kampf durchaus, doch man spürte in jedem seiner Worte, dass ihm das Thema unangenehm war und er nur den Genossen nicht in den Rücken fallen wollte. Dabei war er sehr wohl ein Kämpfer, aber eben auf seine Art. Ich erinnere mich, wie er mir eines Abends von einem deutschen Theaterstück erzählte, in dem einer die Bibel übersetzen will und sich nicht entscheiden kann, wie er den ersten Satz formulieren soll: Am Anfang war das Wort, der Sinn, die Kraft, die Tat? Ich weiß nicht mehr, welche Variante Lubowski bevorzugte, wahrscheinlich die mit dem Wort, aber bezeichnend ist schon, dass es ihm überhaupt wichtig war, was am Anfang stand. Uns interessierte einzig, was am Ende herauskam.

Einmal, nach einem Scharmützel am Kunene-Ufer, frisierten wir die Opferzahlen für die Presseerklärung. Wir hatten die Meldung, dass wahrscheinlich ein oder zwei südafrikanische Soldaten getroffen worden waren, und machten daraus vier getötete und elf verwundete Feinde. Dafür korrigierten wir unsere eigenen Verluste entsprechend nach unten. Lubowski fragte, ob das wirklich nötig wäre.

Ich glaube, er war ernsthaft der Meinung, man könne sich an die Wahrheit halten, wenn man nur auf der richtigen Seite stehe. Und unter Wahrheit verstand er Fakten, Zahlen, Gegebenheiten, Kausalzusammenhänge. Wir haben damals nicht darüber diskutiert, doch für mich war klar, dass diese Art von Wahrheit nur Material sein konnte. Man musste es darauf abklopfen, ob es der höheren Wahrheit diente, die es zu verwirklichen galt. Wir waren schließlich dabei, Geschichte zu schreiben. Geschichte ist aber nicht gleichbedeutend mit allem, was geschehen ist. Sie ist immer auf Auswahl, Interpretation, Wertung angewiesen, damit sie überhaupt erzählbar wird. Und was nicht erzählt werden kann, ist keine Geschichte, ist eigentlich gar nicht geschehen.

Jedenfalls, Lubowski hat in der Politik mitgemischt, ohne ein Politiker zu sein. Deswegen wäre er früher oder später sowieso unter die Räder gekommen, und ich glaube, eher früher als später. Ich bin weit davon entfernt, seine Verdienste zu schmälern. Er holte eine beträchtliche Anzahl Genossen aus dem Knast – mich eingeschlossen –, er konnte überzeugen, er konnte organisieren, er trieb als stellvertretender Wahlkampfleiter jede Menge Geld für uns auf, er verschaffte uns Aufmerksamkeit und Sympathien weit über Namibia hinaus. Selbst durch seinen Tod hat er unserer Sache noch genützt, das gebe ich unumwunden zu. Dafür schäme ich mich auch nicht. Und obwohl es unverzeihlich bleibt, einen Menschen gewaltsam aus dem Leben zu reißen, denke ich manchmal, dass Anton Lubowski zur rechten Zeit gestorben ist. Vielleicht war es seine Bestimmung, als letzter prominenter Märtyrer sein Blut für die Unabhängigkeit zu vergießen.