FÜNFTES KAPITEL
Der Grund, weshalb ich fürs Leben gern in der Hocheifel lebe, ist vor allem der, daß ich in der Erde wühlen kann, daß ich riechen kann, wie Erde riecht, daß ich erleben kann, was sie wachsen läßt. Wenn ich mich herumtreibe in dem, was man so die große weite Welt nennt, fühle ich mich zuweilen wie ein mutterloses Kind, das verzweifelt nach jemandem sucht, der einfach sagt: Bleib hier, du bist willkommen! Ich hocke mich dann in mein Auto und schiebe eine Kassette von BAP oder den BLACK FÖSS ein und ersaufe in meinen kindlich vergnügten Vorstellungen vom Getriebe um den Kölner Dom oder dem Gewimmel in den Kneipen, in denen ich mich so gern herumtreibe.
Auf dem Weg zu Lilo schob ich ein Band der neuen Kölner Gruppe LSE ein, auf dem der Sänger von den BLACK FÖSS, Tommy Engel, hingebungsvoll den Song vom SAUNA-BOY röhrt oder den Wald besingt, in den er fährt, um festzustellen, daß die Bäume zwar alt und grün sind, er aber letztlich vor der Frage steht, was er eigentlich im Wald soll.
Da fühlte ich mich nicht mehr ganz so fremd, da stand ich fest auf meinem Boden.
Das Haus, in dem Lilo wohnte, war sehr schmal, alt und ordentlich wie ein redlich in die Jahre gekommener Rentner. Es gab nur eine Klingel ohne Namen, und also klingelte ich. Auf der Treppe in dem engen Stiegenhaus kam mir ein dicklicher Mann entgegen, der mindestens fünfzig war, aber so munter die Stufen herunterhüpfte, als habe er gerade eben längere Zeit in einem Jungbrunnen gepaddelt. Er strahlte mich an, er zwinkerte mir zu, er summte irgendeinen albernen Schlager, und wenn er vorübergehend einen Spitzentanz eingelegt hätte, wäre ich auch nicht verwundert gewesen. Sein Blick war voll Seligkeit.
Lilo stand in der Tür und lächelte mich an.
»Habe ich etwa diesen netten Herren verjagt?« fragte ich.
Sie bekam den Bruchteil einer Sekunde sehr runde Augen und lachte dann erfrischend. »Das war der Elektriker von nebenan, der meinen Fernseher gerichtet hat.«
»Nachts?«
»Nachts. Seine Frau, die mich immer zuckersüß grüßt, weiß, daß ich entweder in der Bar arbeite oder aber hier. Wenn ich ihn tagsüber antanzen lassen würde, hätte sie den dringenden Verdacht, daß er fremdgeht.«
»Man sagt von Ihnen, Sie seien eine Hure. Sind Sie das?«
Sie wandte sich ab und wies ein wenig theatralisch in einen sehr großen Wohnraum, der zwei Stufen tiefer lag und eine Landschaft in weiß und braun war. »Sieht das so aus, als sei ich eine Nutte?« Merkwürdigerweise war sie nicht im geringsten gekränkt.
Es gab eine sehr große Sitzgruppe in honigfarbenem Leder, von der ich ziemlich genau wußte, daß einfache Leute für das Geld ein ganzes Haus bauen könnten. Es gab Hirtenteppiche, die nicht von der Sorte waren, wie man sie, den Quadratmeter zu zwanzig Mark, deutschen Hausfrauen als Inbegriff des Luxus einreden will. Es gab drei biblische Motive von Chagall, eins pro Wand. Ich wußte, daß man sie nicht im nächstbesten Kunstgewerbeladen kaufen konnte. Ich sagte: »Das ist eigentlich keine Antwort. Die Antwort, die mir dieser wirklich wunderschöne Raum gibt, besagt nur, daß Sie eine sehr teure Nutte sein können. Entschuldigung.«
Sie stand da, stemmte die Arme in die Hüften und wußte nicht genau, ob sie nun sauer sein sollte oder belustigt.
»Es ist eine rein berufliche Frage«, betonte ich. »Es ist keinerlei Wertung damit verbunden. Die Menschen auf den Straßen dieser Stadt behaupten, Sie lieben gegen Geld.«
»Das tue ich nicht, oder vielmehr tue ich das nur höchst selten. Ich wähle meine Freunde aus, ich habe etwas gegen laute, fettige, dicke Männer, damit fallen drei Viertel der Weltbevölkerung schon einmal aus, oder? Es ist dagegen richtig, daß ich mich aushalten lasse von Typen, die mir wirklich gefallen.«
»Wie teuer sind Sie denn so?«
»Ich habe keinen Preis«, sagte sie. Die Belustigung in ihr schien zu siegen, und das war gut für mich. »Setzen Sie sich bitte. Wollen Sie etwas trinken?«
»Ein Wasser, bitte.« Ich hockte mich sehr vorsichtig in einen dieser sündteuren Sessel. »Um es einfach zu machen: Ich glaube, daß Watermann ermordet wurde. Deshalb bin ich hier. Ich bin hier, um zu erfahren, was mit Paolo Maggia geschah. Sind Sie eigentlich von der Genfer Polizei verhört worden?«
»Leider erst dreieinhalb Jahre nach den Ereignissen.«
Sie stellte die Flasche und ein Glas vor mich hin und setzte sich mir gegenüber.
»Hatten Sie bei dem Verhör den Eindruck, daß die Polizei ernsthaft ermittelt oder schleppend vor sich hin arbeitet?«
»Sie ermittelten langsam, weil sie nach eigener Aussage immer noch auf deutsche Amtshilfe warteten. Es ist eine politische Schweinerei, nicht wahr?«
Das hatte ich schon einmal gehört, und ich wußte, daß das der Wahrheit entsprach. »Eine private Frage: Was glauben Sie, ist er ermordet worden?«
»Selbstverständlich ist er ermordet worden«, sagte sie. Sie hockte in weißer Bluse und roten Jeans wie eine Luxuspuppe in dem Meer von honigfarbenem Leder, aber sie wirkte nicht im geringsten verspielt. »Sie haben mir schöne Grüße von Paolo gebracht. Also, was will er?«
»Die Grüße waren ein Bluff. Ich weiß nicht, wo er ist, ich weiß nicht, wie er sich jetzt nennt. Aber ich muß ihn finden.«
Sie steckte sich einen langen Zigarillo zwischen die grellroten Lippen und zündete ihn an. »Das habe ich mir fast gedacht. Aber ich glaube nicht, daß Paolo irgend etwas damit zu tun hatte. Falls er etwas damit zu tun hatte, dürfte er tot sein, oder?«
»Wahrscheinlich. Es ist mir zugetragen worden, daß Paolo Ihre große Liebe war. Es ist mir auch zugetragen worden, daß Sie ihn heiraten wollten oder irgend etwas in dieser Preislage. Ist das richtig?«
»Nein, ist es nicht. Fällt Ihnen auf, daß die Frauen in den Geschichten der Männer immer den schlechteren Part spielen? Bevor ich Ihnen die Geschichte erzähle, muß ich wissen, wer Sie sind, was Sie eigentlich wollen, und ja, was Sie mir zahlen.«
»Sie sagten, Sie wüßten nichts, weil Paolo nichts damit zu tun hatte. Für was soll ich also zahlen?«
»Sind Sie freiberuflich tätig?«
»Ja, bin ich.«
»Wer bezahlt Ihre Recherchen?«
»Ein Münchner Blatt.«
»Können Sie mir tausend geben?«
»Kann ich. Aber ich weiß nicht, ob ich soll.«
Sie lachte, und es wirkte erfrischend. »Sie werden.«
»Bedeutet das, daß Sie bei der Polizei nichts von Wert ausgesagt haben?«
Sie wurde ernst, sie starrte vor sich hin, sie bedachte meine Worte, sie kniff die Lippen zusammen, sie schüttelte den Kopf, es war, als verhandele sie mit sich selbst. »Sagen wir so: Da man nicht jeden Tag einen deutschen Ministerpräsidenten tot in der Badewanne liegen hat, nahm zunächst jeder in den Hotels an, Paolo hätte etwas damit zu tun. Ich auch. Aber dann konnte ich keine Verbindung herstellen zwischen diesem Politarsch und meinem Paolo. Na sicher, Paolo hat als Springer damals überall gearbeitet, auch im Etagenservice im dritten Stock, aber das muß nichts heißen. Ich gebe aber zu, daß mir mittlerweile Zweifel gekommen sind. Ich habe der Polizei zwar nichts davon gesagt, weil ich die Polizei nicht leiden kann, aber ich bin inzwischen sicher, daß Paolo etwas mit Watermann zu tun hatte. Die Frage ist nur: Was? Und jetzt zu Ihnen: Wer sind Sie, was haben Sie vor? Können Sie zahlen?« Sie lachte, und die ganze kleine Figur vibrierte vor Heiterkeit.
»Ich bin Siggi Baumeister, ich gelte als Spezialist für Langzeitthemen. Es gibt keine deutschsprachige Gazette, in der ich nicht erschienen bin, und ich bin nur auf die Wahrheit scharf. Ihr Geld lege ich hierher. Okay so?«
»Ja. Die Männerwelt hat mich einmal sagen hören, ich würde gern ein Baby haben und mich zurückziehen. Daraus zogen viele den Schluß, ich wollte dieses Baby mit Paolo. Das war nicht so. Er ist im Grunde ein Macho. Aber er ist ein Charmeur, ein herzlicher, liebevoller Typ, ein guter Freund. Nicht ich wollte unbedingt ihn, sondern er wollte unbedingt mich. Das hat etwas damit zu tun, daß ich eine reiche Frau bin. Ich besitze drei Hotels, zwei Pizzerias, drei Boutiquen, bin also ein sehr warmes Bett. Paolo wollte dieses Bett, und er machte niemals einen Hehl daraus.«
»Was passierte am Todestag Watermanns?«
»Ich erinnere mich daran, daß es ein Tag wie jeder andere war. Der Betrieb in der Stadt war normal. Paolo schlief hier in den hinteren Räumen. Er hatte um zwölf Uhr mittags Dienstbeginn. Weil im ›Beau Rivage‹ immer sehr viele, sehr reiche Geschäftsleute zu Gast sind …«
»Man sagt, daß die Creme des internationalen Waffenhandels in den Hotels der Innenstadt zu finden ist. Stimmt das?«
»Das stimmt. Aber diese Männer sind nur eine Gruppe. Eine andere Gruppe sind die internationalen Geheimdienstleute. Das ›Beau Rivage‹ zum Beispiel ist ständig Herberge für die amerikanischen Jungs vom CIA. Natürlich tun Hotelmanager immer so, als sei ihnen das unbekannt, aber tatsächlich leben sie davon, daß sie von morgens bis abends sämtliche Augen zudrücken. Das ist der Charme schweizerischer Verlogenheit, und jeder Hotelgast kann sich so sicher darauf verlassen wie auf das Bankgeheimnis. Manchmal sind auch Staatsoberhäupter hier, und immer hohe Regierungsbeamte aus der ganzen Welt. Hier haben sie die Garantie, daß sie ohne jedes Aufsehen jeden Edelgangster treffen können, ohne mit ihm fotografiert zu werden.« Sie lachte tief und genüßlich.
»Bitte, zurück zu Paolo. Wie arbeitete er damals?«
»Er war ein Springer, das heißt, er wurde in den Bereichen eingesetzt, in denen Not am Mann war. Also Bar, Restaurant, Etagenservice, Bedienung in den Konferenzräumen und so weiter. Ich erinnere mich, daß irgendein Scheich aus Dubai da war und irgendein französischer Geldsack. Beide kamen mit einem großen Troß und benahmen sich so, wie sie sich immer benehmen, als wäre Genf ein Dorf ihrer Leibeigenen. Haben Sie denn eine Gästeliste des Hotels vom Todestag des Herrn Watermann?«
»Nein. Ich fange ja erst an. Hat die Polizei eine?«
»Selbstverständlich hat die Polizei eine Gästeliste. Aber die ist mit ziemlicher Sicherheit falsch.«
»Aber ein Computer kann sich doch nicht irren, oder?« Ich bekam einen trockenen Hals.
Sie lächelte. »Ein Computer kann sich selbstverständlich irren, wenn man ihm vorher befohlen hat, sich zu irren.«
»Moment mal, meinen Sie eine Manipulation?«
»Genau das meine ich. Erinnern Sie sich an den Nachtportier di Natale? Erinnern Sie sich an seine Aussage? Gut. Dann wissen Sie, daß dieser Mann behauptet hat, er habe in der Nacht vor dem Eintreffen des Herrn Watermann einen Gast im zweiten Stock untergebracht. Dieser Gast war in der darauffolgenden Nacht plötzlich aus unerfindlichen Gründen in den dritten Stock umgezogen, genau neben Watermann. Di Natale hat gesagt, er habe den Namen des Gastes nicht in den Computer eingetippt, weil er zu Recht annahm, daß das die Tagesschicht nachholt. Die Tagesschicht hat dies offensichtlich nicht getan. Er verschwand, und kein Mensch weiß, wie er heißt und wie er aussah.« Ihre Backenknochen traten plötzlich scharf hervor, sie wirkte gespannt.
»Das ist nur ein Hinweis, Sie werden bald begreifen, daß es noch mehrere gibt.«
»Wußte Paolo davon, daß Watermann sein Gast war?«
»Paolo wußte das. Ich erinnere mich noch genau, wie er sagte: Dieser deutsche Ministerpräsident ist im Haus, ein mickriges Männchen und nervös wie ein Hahn. Das war alles.«
»Hat Paolo erwähnt, daß Watermann irgend etwas bestellte?«
»Kein Wort davon.«
»Zurück zum Todestag, den Sonntag. Paolo geht also wie gewohnt gegen zwölf Uhr mittags arbeiten. Was folgte dann?«
»In allen Zeitungen der Welt war die Rede davon, daß der Etagenkellner Vergori dem Watermann gegen halb sieben eine Flasche Rotwein mit zwei Gläsern brachte. Da entstand der Eindruck, Vergori wäre allein für den Etagenservice zuständig gewesen. Das ist falsch. Da war noch eine Kollegin, und da war Paolo. Die Kollegin war für den dritten Stock eingeteilt, aber Paolo bat sie, mit ihm zu tauschen, weil der Scheich speziell von Paolo bedient werden wollte. Das ist normal, das passiert jeden Tag. Also war Paolo im dritten Stock.«
»Und dieser Vergori?«
»Der auch. In diesen Hotels ist in den Konferenzräumen und Suiten immer eine Unmenge los, da braucht man viele Leute. Paolo ging um elf Uhr aus dem Haus. Er sagte, er wolle wie immer in Ruhe einen Kaffee trinken und die Zeitung lesen. Den Corriere de la Sera, jeden Tag von vorne bis hinten. Das war auch normal. Aber an diesem Tag hat er keinen Kaffee getrunken und die Zeitung nicht gelesen.«
»Wieso das? Woher wissen Sie das, wenn er anschließend verschwunden war?«
»Ganz einfach. Er kaufte seine Zeitung immer am selben Kiosk und seinen Kaffee immer im gleichen Café. Der Kioskbesitzer schwört, er sei an diesem Tag nicht dagewesen, und der Cafébesitzer schwört ebenfalls, daß Paolo an diesem Tag nicht da war. Davon habe ich aber erst später erfahren. Jedenfalls war er pünktlich um zwölf Uhr im Hotel.«
»Hat denn seine Kollegin von irgendeiner Unregelmäßigkeit berichtet?«
»Nein. Er hat sie nur gebeten, den dritten Stock mit ihr zu tauschen, das war alles.«
»Bevor ich auf Einzelheiten komme: Wie ist er denn verschwunden? Wenn er hier schlief, dann muß er doch hierhergekommen sein, um seine Sachen zu packen, wenigstens Wäsche und Hemden und so …«
»Nichts. Es ist alles noch da. Sie können es besichtigen.«
»Das möchte ich gern.«
Sie sah mich an, nickte dann und bemerkte: »Glauben Sie im Ernst, daß Sie einen Hinweis finden? Ich habe die Sachen schon mehr als einmal durchsucht, jede Hosentasche gefilzt: Nichts.«
»Paßt es zu Paolo, alles hierzulassen? Paßt es zu ihm, ohne ein Wort zu gehen, ohne sein Lieblingshemd?«
»Nein. Er war ein theatralischer Junge, er liebte die großen, wilden Gesten. Wenn ihn etwas gezwungen hätte, Genf zu verlassen, hätte er erst einmal nach meiner Schulter verlangt, um sich auszuweinen.« Sie lächelte versonnen.
Das Zimmer Paolos war etwa vier mal vier Meter groß. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, eine Sesselecke, Radio, Fernseher, Video. Das alles sehr solide, gediegen und teuer.
»Es kann nicht daran gelegen haben, daß er mir nicht begegnen wollte. Denn er hätte sich nicht zu beeilen brauchen. Ich höre nachts um zwei Uhr in der Bar auf. Er hatte also nach seiner Schicht um Mitternacht noch mindestens zwei Stunden Zeit gehabt, um in Ruhe einzupacken und zu verschwinden.«
Sie ging vor mir her in den luxuriösen Wohnraum zurück und setzte sich wieder. »Es gibt an diesem Tag einiges, das auffällt. Zum Beispiel wie gesagt, daß er keine Zeitung kauft, keinen Kaffee trinkt …«
»Kam er denn früher wie gewöhnlich im ›Beau Rivage‹ an?«
»Nein, eben nicht. Er kam pünktlich, so gegen drei Minuten vor zwölf. Ich weiß nicht, was er in der Stunde vorher tat, ich weiß nicht, wo er war.«
»Seien Sie ehrlich, Sie haben überlegt, ob er, Paolo, es war, der den Hotelcomputer manipulierte.«
»Ja, das habe ich. Er verschwand so plötzlich, daß es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder er wurde getötet, oder aber er mußte von einer Sekunde auf die andere fliehen. Beide Möglichkeiten deuten …«
»… eindeutig auf Watermann«, unterbrach ich sie.
»Ja«, sie nickte. »Wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann war Watermann, ehe man ihn tot in der Badewanne fand, stundenlang allein. Aber irgendeiner muß bei ihm gewesen sein, denn die letzten beiden Tabletten, die man in seinem Magen fand, hat er nicht mehr nehmen können, weil er längst bewußtlos war. Also muß jemand dagewesen sein, jemand vom Personal, ein Besucher des Hotels, jemand von den Gästen, Paolo vielleicht. Wenn er etwas Wichtiges gesehen hat oder eine wichtige Person, dann …«
»Dann hat man ihn getötet«, sagte ich. »Aber wieso fand man seine Leiche nicht? Ist überhaupt danach gesucht worden?«
»Die Polizei gab Suchmeldungen heraus, jeder Polizist in der Schweiz kannte Paolos Gesicht.«
»Paolo war nicht sein Name, auch der Familienname Maggia stimmte nicht.«
»Nein. Aber ich weiß, daß Paolo vorbestraft war. Das hat er mir selbst erzählt. Er ist in München in eine Drogengeschichte geschliddert. Er saß acht Monate.«
»In München?«
»Ja. Ich habe ihn oft gefragt, wie er wirklich heißt, aber er lachte dann nur und sagte, das sei doch nicht wichtig.«
»Hat er irgendwann einmal erklärt, weshalb er unter einem falschen Namen lebt?«
»Ja. Er hat den Paß und alle Papiere gekauft, weil er neu anfangen wollte. Er sagte: Wenn ich als vorbestrafter Italiener irgendwo in Europa Arbeit will, kriege ich keine. Das war alles sehr logisch.«
»Er sprach also italienisch?«
»Ja, perfekt italienisch, ziemlich gut französisch, sehr gut englisch, perfekt deutsch. Er war für das ›Beau Rivage‹ ideal, und alle seine Kollegen mochten ihn. Vor der Polizei konnte ich nicht gut zugeben, daß ich von den falschen Papieren wußte, also habe ich die Vorstrafe in München auch nicht erwähnt.«
»Soweit ich aus den Protokollen weiß, wurde Watermann etwa um zwölf Uhr fünfundvierzig gefunden. Ist zu rekonstruieren, zu welchem Zeitpunkt Paolo verschwand?«
»Genau kann man das nicht nachhalten. Als die Polizei ins Hotel kam, war Paolo entweder noch da oder nicht. Da niemand zunächst nach ihm fragte, ist das nie klar geworden. Aber um achtzehn Uhr muß er noch im Hotel gewesen sein. Ich rief ihn nämlich von hier aus an. Er sagte mir etwas von diesem toten Ministerpräsidenten. Er sagte: Die Bullen reden von Selbstmord, als käme Mord nicht in Frage. Er ist also irgendwann nach achtzehn Uhr an diesem Sonntag verschwunden …«
»Das kann doch auch heißen, daß …«
»O ja«, sagte sie hastig, »das kann heißen, daß der Reporter, der Watermann fand und fotografierte, gar nicht der erste war. Der erste war vielleicht Paolo.«
»Der Computer. Sie schulden mir immer noch eine Antwort. Warum haben Sie gedacht, daß Paolo den Hotelcomputer manipulierte? Warum?«
»Haben Sie Zeit, eine etwas längere Erklärung durchzustehen? Ich meine, draußen ist es schon hell.«
»Raus damit, Sie sind eine erfreuliche Informantin.«
»Paolo und ich kabbelten uns immer spaßeshalber wegen der Finanzen. Ich warf ihm vor, er sei scharf auf mein Geld. Er sagte: Na klar! Und wie! Er sagte: Eines Tages kriege ich meine Chance, dann kehre ich zurück und ruiniere dich. Ich kaufe deine ganzen gottverdammten Hotels, ich kaufe dich! Ich glaube, er meinte das ernst. Ich glaube, er bekam seine Chance. Irgend etwas war mit dem Computer …«
»Ach, du lieber Gott!«
»Glauben Sie mir nicht?«
»Doch, doch. Aber wenn er den Computer manipulierte, heißt das doch, daß er vermutlich tot ist.«
»Ich glaube eher, daß das seine Chance war.«
»Wie bitte?«
»Überlegen Sie doch mal: Jemand sagt zu Paolo, er soll den Computer verändern, Namen austauschen, die Leute irreführen. Nehmen wir weiter an: Er hat einen Gast namens Watermann, und er weiß genau, daß dieser Watermann wichtig ist, vielleicht begreift er auch, daß dieser Watermann getötet werden soll. Er geht auf den Vorschlag ein, er bekommt dafür viel Geld. Ich nehme einmal an, ich wäre an Paolos Stelle. Wissen Sie, was ich tun würde?«
»Nein, was?«
»Ganz einfach: Ich würde mir vom Computer alles, was Watermann betrifft, seine Personalien, seine Bestellungen ins Zimmer, seine genaue Ankunft ausdrucken lassen. Ich würde mir eine komplette Gästeliste ausdrucken lassen. Dann würde ich die Datei ändern. Ich würde verschwinden und meinem Auftraggeber ganz einfach erklären: Ich habe deinen Befehl ausgeführt, aber ich habe gleichzeitig die richtigen Unterlagen bei mir. Ich bin der einzige Mensch auf der Welt, der im Besitz dieser bedeutenden Kleinigkeiten ist!«
»War Paolo jemand, der auf so etwas gekommen wäre?«
»Ja, unbedingt. Da ist noch etwas: Am Tag vor Watermanns Tod war Paolo in meinem Hotel im ›Le Richemond‹. Er wurde im zweiten Stock von einem Kellner gesehen, der Stein und Bein schwört, es sei hundertprozentig Paolo gewesen. Am Todestag Watermanns war Paolo erneut in meinem Hotel, wieder im zweiten Stock. Kommt Ihnen das wie eine Anhäufung von Zufällen vor?«
»Mit anderen Worten glauben Sie: Paolo sollte als Werkzeug benutzt werden, hat seine Möglichkeit begriffen, den Spieß umgedreht? Er kann den Computer aber nur manipuliert haben, wenn er vom Supervisor der Anlage den Benutzernamen kannte und somit den Code zum Löschen.«
»Ja, ja«, murmelte sie. Sie war weit weg, sie war erschöpft. Es wurde deutlich, daß sie sich schon oft in endlosen Grübeleien über diesen Paolo verloren hatte. Sie hatte wahrscheinlich doch mehr an ihm gehangen, als sie zugeben wollte. »Wissen Sie, ich hatte Jahre Zeit, herauszufinden, was ganz bestimmte Personen zum Zeitpunkt des Todes von Herrn Watermann taten. Wenn Paolo den Auftrag hatte, den Computer zu manipulieren, dann hatte er dazu auch die Möglichkeit. Den Code kannte nur der Supervisor der Anlage, und das war damals der Bürochef des Hotels, ein Mann, der inzwischen gegangen ist, nach Fernost, glaube ich. Auch er ist damals im ›Le Richemond‹ gesehen worden. Mit dem deutschen Agenten Gerber.« Sie lächelte verloren. »Ich will sagen: Paolo hatte die Möglichkeit, und er hatte garantiert jede nur mögliche Hilfe.«
»Das klingt alles einleuchtend, aber jeder Beweis fehlt. Gerber und der Bürochef werden nicht aussagen. Wird Paolo etwas sagen?«
»Mir schon«, sagte sie wütend, »mir schon.«
»Wie war das, als Watermann tot war? Gingen da unter den Hotelbediensteten Gerüchte um?«
»Es gab jede Menge Gerüchte, und es gab jede Menge Merkwürdiges. Zum Beispiel wurde Watermann am Tage vor seinem Tod, ziemlich genau um siebzehn Uhr dreißig, in der Halle des ›Beau Rivage‹ gesehen. Und zwar in Begleitung von zwei Männern, einer von ihnen ein Araber. Die, die sie sah, ist eine sogenannte ›Hotelprostituierte‹. Ich kenne die Frau, sie ist eine ehrliche Haut. Aber die Polizei behauptete später, sie könne diese Dame nicht finden. Ein Journalist fand sie dann innerhalb von wenigen Stunden. Sie wiederholte die Aussage, aber niemand nahm sie ernst.«
»An dem Oktoberwochenende, als Watermann krepierte, waren wichtige Leute in der Stadt, fast alles Waffenhändler aus Südafrika, dem Iran, Israel, USA. Wie werden diese Leute in den Hotels behandelt? Laufen deren Gespräche alle über die Hotelcomputer?«
Sie lachte. »Ich habe mit großem Interesse deutsche Zeitungen und Magazine nach Watermanns Tod gelesen. Da steht viel über Telefonate, die vom Hotelcomputer registriert wurden. Das gilt doch nur für den Normalsterblichen. Wenn Gerber eine Suite bezieht, ist ganz klar, daß vorher ein Telefonapparat installiert wird, der nicht über den Computer läuft. Der hat nur eine Gebührenuhr. Niemand kann wirklich kontrollieren, mit wem diese Leute sprechen und wer sie anruft. Alle diese Suiten haben Telefonstecker und eine Extraleitung. Davon leben die Hotels doch. Und Watermann …«
»Hatte er ein Extratelefon?«
»Nein, hatte er nicht. Aber die Frage ist doch, ob er so ein Telefon überhaupt brauchte. Ein Teil seiner Gespräche ist auf dem Hotelcomputer verzeichnet worden. Sagen wir mal: die harmlosen Gespräche. Er muß Leute im Hotel gehabt haben, die auf ihn warteten und mit ihm sprachen, denn sonst wäre doch nicht für ihn gebucht worden, oder? Diese Leute, die wir noch nicht kennen, haben allesamt ein Telefon, das nicht über den Computer läuft. Das ist das erste, was der technische Dienst ihnen bringt, wenn sie das Zimmer beziehen. Wenn Watermann ein unkontrolliertes Telefon brauchte, hatte er garantiert eines.«
»Direkt gefragt: Kann bei Ihnen an der Bar ein Killer ungefährdet auf Aufträge warten?«
»Na locker. Anschließend könnte niemand etwas beweisen, weil unsere Telefone nicht über Computer laufen. Ich führe meine Bar auf Provisionsbasis, ich könnte mir ein Telefon, das über Computer läuft und alle Nummern registriert, gar nicht erlauben, das wäre mein wirtschaftlicher Ruin.«
»Zurück zu Paolo. Er ist Italiener …«
»Nehmen wir das einmal an«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Na gut, nehmen wir das an. Nehmen wir weiter an, er hat begriffen, daß da so etwas lief wie ein bestellter, sorgsam bedachter Mord. Nehmen wir weiter an, er hatte eine Verbindung zu Gerber im ›Richemond‹, was technisch gesehen sehr simpel war. Nehmen wir weiter an, er hatte Zugang zum Computer, er veränderte bestimmte Eintragungen und löschte bestimmte andere. Das ist sehr einfach und konnte in zehn Minuten über die Bühne gehen. Nehmen wir weiter an, er war gerissen genug, sich vorher einen kompletten Ausdruck des Computers zu besorgen. Er besitzt also Dokumente, die ohne Übertreibung für bestimmte Menschen Millionen wert sind – nämlich ihre Existenz. Was macht Paolo damit?«
»Auf diese Frage warte ich seit einigen Minuten«, sagte sie bissig. »Ich weiß, daß er vom Hotel aus zu einer bestimmten Adresse fuhr. Mit dem Taxi. Von dort ist er im gleichen Taxi abgefahren. Der Taxifahrer behauptet, ihn zum Bahnhof gebracht zu haben. Paolo erwähnte, er müsse den Nachtschnellzug nach Deutschland erreichen. Der fuhr damals zwischen Mitternacht und ein Uhr. Der Zug geht über Bern nach Basel. In Basel ist er nicht vom Zoll registriert worden. Aber das heißt nichts.«
»Wohin ist er vom Hotel aus gefahren?«
»Es ist eine Adresse in Versoix. Natürlich ist es ein Italiener, ein höchst ehrenwerter Mann, der im Ruf steht, irgend etwas mit der Mafia zu tun zu haben. Er ist ein Padrone mit einem Herz für Landsleute in Not. So weit ich weiß, besitzt er Kalksteinbrüche im Süden Italiens, etwa ein Dutzend Speditionen und sechs Dutzend Cafeterias und Pizzerias. Er ist so etwas wie der Onkel aller Italiener hier. Er ist ein Mann, der Frauen wie mich nicht mag. Er hat sich geweigert, mich zu empfangen.«
»Was speziell hat er denn gegen Frauen?«
»Er ist mit einer wirklich schrecklichen verheiratet«, sagte sie.
»Sie dürfen Ihr Geld wieder mitnehmen, falls Sie mir sagen, ob Paolo ihm etwas gegeben hat oder nicht. Er heißt Emilio Vascetto, aber nennen Sie ihn nur Padrone. Das mag er. Und lassen Sie sich nicht umbringen.«
»Ich werde meine Lebensversicherung erhöhen. Ich danke Ihnen.«
Sie kam nicht mit an die Tür, ich ging allein die Treppe hinunter auf die Straße. Der Tag war gekommen, es war nach vier Uhr.
Schräg gegenüber in einer Toreinfahrt versuchte jemand, rückwärts mit dem LKW auf die Straße zu setzen. Ich winkte ihn heraus, er setzte zurück und bedankte sich mit einem fröhlichen Bonjour. Dann ging ich zu meinem Wagen, den ich auf einem kleinen Parkplatz ganz in der Nähe abgestellt hatte. Mein Wagen war der einzige weit und breit.
Sie lehnten an meinem Auto, und sie wirkten cool, wenigstens auf mich. Sie waren um die dreißig Jahre alt, und sie trugen unansehnliche graue Trainingsanzüge zu einfachen Sportschuhen. Außerdem Lederhandschuhe. Sie waren beide blond und sahen aus wie erfolgreiche Karrieristen, die morgens vor dem ersten Zusammenstoß mit der Sekretärin joggten.
Zuweilen weiß man Sekunden vorher, daß man verprügelt wird. In diesem Fall war es eindeutig. Ich versuche dann immer, irgend etwas zu sagen, um mich abzulenken von meiner Furcht.
»Sie irren sich, meine Herren«, stellte ich also fest, so fröhlich ich konnte.
Sie waren nicht beeindruckt. Sie lächelten nicht, sie verzogen nicht das Gesicht, sie schienen nicht einmal zuzuhören.
»Na gut, was wollen Sie?«
Sie antworteten immer noch nicht.
Ich hatte den Geldschein, den ich auf Lilos Tisch gelegt hatte, in die Brusttasche der Lederweste gesteckt. Ich holte ihn heraus und hielt ihn hin. »Tausend Mäuse, wenn Sie mir sagen, warum Sie mich verprügeln sollen.«
Der Rechte zeigte Wirkung. Er grinste kurz und matt wie eine verhinderte Stall-Laterne.
Gleichzeitig schien das ein Signal zu sein. Sie setzten sich in Bewegung.
Der rechts machte einen Ausfall gegen mich, ich taumelte programmgemäß etwas nach links und lief dem Linken in beide Fäuste. Der schlug eine verzögerte Dublette. Das heißt, er traf zunächst mein linkes Ohr, dann eine hundertstel Sekunde später mein rechtes. Dann sprang er hoch und traf mit dem rechten Schuh meine linke Hüfte. Ich wurde nach rechts transportiert und dort bereits erwartet. Der zweite Mann schlug schnell und traf meinen Oberkörper zweimal frontal. Ich kann mich an meine maßlose Verblüffung erinnern, aber auch an meine maßlose Wut: Ich reagierte wie eine Aufziehpuppe. Ich fiel nach vorn und konnte mich gerade noch mit beiden Händen abstützen. Ich sah nichts mehr, es rauschte in meinem Kopf. Jemand traf hart meinen Nacken, und ich knallte endgültig nach vorn auf den Asphalt.
Jemand sagte befriedigt: »Gut, erledigt.«
Ich wollte auch etwas sagen, aber ich spürte selbst, daß es nur ein Brabbeln wurde.
»Er ist immer noch wach«, sagte jemand. Diesmal war die Stimme hoch vor Verwunderung.
»Warte mal«, sagte eine andere Stimme.
Dann wurde ich ruckweise herumgedreht.
»Paß auf, Baumeister«, sagte ein Mund dicht vor meinem Gesicht. »Du mußt dich aus der Sache raushalten. Wir sollen dir sagen, daß es nicht angeht, wenn du immer wieder in der Watermann-Sache rumstocherst. Watermann war ein Schwein. Du bist der einzige, der das noch nicht kapiert hat. Weil du es nicht kapiert hast, sind wir hier. Jetzt verpasse ich dir eine Erinnerung, die du nicht vergißt!«
Seine Stimme troff vor Befriedigung. Er nahm meine Hand, meine rechte. Er bog sie flach, nahm den kleinen Finger und brach ihn mitten durch.
Ich wurde sofort bewußtlos, weil der Schmerz wie der Schnitt eines Messers kam, daß er den kleinen Finger brach, begriff ich nicht.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so bewußtlos neben meinem Auto lag.
Als ich wach wurde, starrte ich in Minnas Gesicht, und sie weinte. »Du bist ein Arsch«, sagte sie schluchzend.
»Wieso? Wo kommst du her?«
»Ich habe ein Taxi genommen, ich habe gerochen, daß so etwas passieren würde. Ich bin für hundert Franken durch die Gegend gefahren, ehe ich deinen Jeep fand. Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. Wie fühlst du dich?«
»Phantastisch«, murmelte ich. »Gibt es hier irgendwo ein Krankenhaus?«
»Ja«, sagte der Taxifahrer im Hintergrund. »Gleich kommt ein Wagen.«
»Was waren das für Kerle?« fragte Minna.
»Ich weiß es nicht. Deutsche jedenfalls.«
»Wissen wir denn genug, daß sie dich verprügeln?«
»Eigentlich nicht. Kannst du mir irgend etwas unter den Kopf legen, und oohhh … paß auf, sie haben mir den Finger gebrochen. Nein, nicht den, den kleinen rechts.«
»O Scheiße! Laß uns aufhören damit, Baumeister. Laß uns einfach in Urlaub fahren.«
»Jetzt fange ich erst an«, murmelte ich. Dann nahm mich eine neue Schmerzwelle auf ihren Kamm und trug mich fort. Nebelhaft begriff ich, daß weißgekleidete Leute mich hochhoben, auf eine Bahre legten und dann in ein Auto schoben. Minna hockte neben mir und heulte und sagte mehrere Male: »Du bist ein dummer Held, Baumeister.«
»Aber Klasse, nicht wahr?« murmelte ich. Da lachte sie.
Ich kann verstehen, daß Mediziner aller Sparten begierig darauf sind, ihr jeweiliges Opfer genau kennenzulernen, bevor sie sich daran begeben, eine geeignete Therapie festzulegen. Die Ärzte im Genfer Krankenhaus, in das ich transportiert wurde, waren besonders neugierig. Sie gaben mir nicht etwa eine schmerzstillende Spritze, bevor sie mich auf den Röntgentisch legten, sondern überantworteten mich einem weiblichen Dragoner, den sie scherzhaft Fifi nannten. Die Frau hatte ein Lebendgewicht von etwa zweieinhalb Zentnern. Sie bog mich, sie faltete mich zusammen, sie spreizte meine Gliedmaßen, daß ich aus dem Jammern nicht herauskam. Dazu nannte sie mich immer »mon petit«, und mehrere Male erwischte sie sozusagen mitten im Ringkampf meinen gebrochenen kleinen Finger, und mit hoher Präzision fiel ich jedesmal in Ohnmacht. Dann wurde Fifi richtig milde, verdrehte mir aber zum Abschluß der Prozedur erheblich das Rückgrat. Als ich zum letztenmal ohnmächtig werden wollte, um so etwas wie Schlaf zu tanken, kam zuerst Minna hinein und in ihrem Schlepptau ein rotbärtiger Wikinger im weißen Mantel, der erklärte, er müsse mich jetzt gründlich untersuchen.
»Das kommt nicht in Frage«, brüllte ich.
»Nicht so erregt, Monsieur«, mahnte er. »Sehen Sie, ich will Ihnen doch nur helfen. Sie haben erhebliche Blutergüsse am Kopf, Sie haben einen erheblichen Muskelriß an der rechten Hüfte, und Sie haben einen gebrochenen Finger. Ich bin der, der sich um Ihre Interna kümmert, ich bin der Internist.«
»Ich war schon bei Fifi«, sagte ich zaghaft.
Da lachte er schallend, er fand das wunderbar.
»Wie lange werde ich hierbleiben müssen?«
»Nicht unter einer Woche«, sagte er ernst. »Stimmt das, daß man Sie systematisch zusammengeschlagen hat?«
»Man kann es so nennen«, murmelte ich.
»Ich gebe Ihnen eine Spritze, Sie müssen jetzt schlafen.«
»Einen Moment noch … ich muß meiner Freundin etwas sagen, ja?«
Er nickte und ging hinaus.
»Hör zu. Du fährst unter keinen Umständen in das Hotel in Ferny-Voltaire zurück. Du suchst dir jetzt eine andere Bleibe. Geh am besten in irgendein Nest außerhalb. Benutze meinen Jeep nicht, keinen Meter. Laß ihn stehen, wo er steht. Nimm Taxis, Wechsel die Taxis, steig überraschend aus und laufe zu Fuß weiter …«
»Ich will dich aber besuchen.«
»Kannst du ja.«
»Erzählst du mir alles?«
»Ja. Aber geh jetzt. Und Wechsel das Taxi.«
Sie ging, der Arzt kam herein, spritzte sein Zeug intravenös, nickte und verschwand ebenfalls. Ich bekam nicht einmal mehr mit, wie er die Tür hinter sich schloß.
Irgendwann wurde ich wach, eine Krankenschwester kam herein, sagte irgend etwas auf französisch, das ich nicht verstand, und eilte davon, um sofort danach mit einem Essen aufzutauchen. Ich aß, mußte mich aber erbrechen. Irgendwann bekam ich heraus, daß ich seit mehr als vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte, daß eine gewisse Minna dagewesen, dann aber wieder gegangen sei. Ich versuchte erneut zu essen, und diesmal glückte es. Ich fühlte mich etwas besser. Der Arzt kam, untersuchte mich und befand, daß ich erhebliche Fortschritte machte.
»Kann ich ein Telefon haben?«
Er sah mich sehr aufmerksam über den Rand seiner Brille an und nickte dann langsam wie ein Gelehrter.
»Ich lasse Ihnen das Telefon bringen.«
»Ich brauche eine bestimmte Nummer in Versoix. Können Sie mir die besorgen? Der Mann wird nur Padrone genannt, heißt Emilio Vascetto.«
»Der Vascetto?« fragte er erstaunt.
»Wahrscheinlich der. Irgendein Mafia-Heini.«
Er starrte mich an und lächelte dann. »Wenn Sie Vascetto als Mafia-Heini bezeichnen, werden Sie soviel Prügel beziehen, daß ich Ihnen nicht mehr helfen kann.« Er schüttelte den Kopf und ging. Eine Krankenschwester brachte mir das Telefon und eine Nummer auf einem Zettel. Es war sechs Uhr am frühen Abend, ich rief sofort an.
»Hier ist Baumeister, Siggi Baumeister. Kann ich den Padrone sprechen? Es ist dringend.« Ich machte es ganz lässig, keine Hast.
»Allo? Allo?«
Ich wiederholte und setzte hinzu: »Ich soll schöne Grüße von Paolo Maggia bestellen.«
»Von wem, bitte?«
Es war eine Frau. Ich wiederholte: »Grüße von Paolo Maggia.«
»Den Padrone, wirklich?«
»Wirklich«, seufzte ich. »Wenn er von Paolo Maggia hört, wird er mich sprechen wollen.«
»Na ja«, sagte sie vage. Dann klickte es, und jemand fragte in blütenreinem Deutsch: »Ich höre immer nur Paolo Maggia. Hallo?«
»Ja, Padrone. Vielen Dank, daß Sie mich anhören. Ich liege hier in einem Genfer Krankenhaus. Ich soll Ihnen schöne Grüße von Paolo Maggia bestellen.«
»Wie heißen Sie, bitte?«
»Baumeister, Siggi mit Vornamen.«
»Ich soll einen Paolo Maggia kennen?«
»Na sicher. Es ist zwar eine Weile her, aber Sie müßten ihn kennen. Als im ›Beau Rivage‹ der deutsche Ministerpräsident Watermann in seiner Badewanne starb, kam Paolo zu Ihnen und brachte Ihnen etwas zum Aufbewahren. Sagen Sie jetzt nicht ja, sagen Sie nicht nein, ich weiß es genau. Das war 1987 im Oktober. Erinnern Sie sich jetzt?«
»Ja, ich erinnere mich. Ich tue manchmal Landsleuten zuliebe etwas. Ist Paolo tot? Hat er Sie geschickt?«
»Noch ist er nicht tot, aber es kann nicht mehr lange dauern. Wie schnell können Sie hier sein?«
»Im Krankenhaus etwa?«
»Ja, natürlich.«
»In welchem Krankenhaus?«
»Saint Denise. Können Sie das, was Paolo Ihnen gab, mitbringen?«
»Das kann ich nicht, weil es bei meinem Anwalt liegt.«
»Sind Sie sicher?«
»Falls wir dasselbe meinen, ja.«
Damit hängte er ein. Ich hatte keinerlei Vorstellung davon, wie er reagieren würde. Eine Stunde später klopfte es und er kam herein. Er war nicht allein. Zwei junge Männer waren bei ihm, die er sofort wieder hinausschickte, als er sah, daß ich nicht mit dem Maschinengewehr im Bett lag.
Er war ein schlanker Graumelierter vom Typ gütiger Opa, dem jeder bedenkenlos die Brieftasche anvertrauen würde. Er zog sich den Stuhl an mein Bett, wischte mit einem seidenen Tuch über die Sitzfläche und setzte sich. »Was ist mit Paolo, mein Freund?«
»Ich bin stinksauer«, sagte ich seufzend. »Ich bin stinkwütend. Ich werde in eine Scheißgeschichte verwickelt, von der ich nicht die geringste Ahnung habe. Ich werde verprügelt von irgendwelchen dummen Jungens, ich erfahre, daß Paolo etwas bei Ihnen deponiert hat. Kein Mensch verrät mir, was es ist. Verraten Sie es? Nein, Sie sind der freundliche, aber knallharte Typ, Sie verraten nichts. Können Sie wenigstens nicken, wenn ich etwas frage?«
Er starrte mich verwundert an, dann lächelte er und nickte.
»Gut. Paolo kam also zu Ihnen und bat Sie, etwas für ihn zu deponieren. Hilfe für einen in Not befindlichen Landsmann. Er sagte Ihnen wahrscheinlich genau, worum es sich handelt. Computerausdrucke, langweilige Computerlisten. Sie machten nur Sinn, wenn man sie mit Watermann im Hotel ›Beau Rivage‹ in Verbindung brachte. Sie nahmen freundlicherweise die Listen an sich und deponierten sie bei Ihrem Anwalt. Natürlich sahen Sie sich die Listen genau an, nicht wahr? Und was fanden Sie? Nun, ich denke, Sie fanden Namen von Gästen aus dem Hotel ›Beau Rivage‹. Jetzt meine Frage: Wieviel Prozent zahlte Ihnen Paolo für die Deponierung dieser kostbaren Schriftstücke?«
»Keinen müden Franken«, sagte er. »Ich nehme kein Geld von Landsleuten. Wenn ich es täte, mein Freund, würde ich nicht mehr leben. Ich würde an Ihrer Stelle nicht darüber sprechen. Mit keinem Menschen auf der Welt. Und bestellen Sie Paolo schöne Grüße, wenn Sie ihn sehen.«
»Wo ist er denn? In Deutschland, nicht wahr?«
»Er ist in Oberammergau bei seinen Eltern«, sagte er sanft.
»Das hätten Sie eher wissen können. Sie müssen nur den Padrone fragen.« Er lachte leise.
»Warum verraten Sie mir das so einfach?«
»Nun, Paolo weiß etwas, was sonst niemand weiß, nicht wahr? Angenommen, Paolo stirbt, nur angenommen: Ist es nicht hübsch, zu wissen, wer auf dieser Welt erfahren will, was Paolo wußte?«
»Ich denke, Sie sind ein ehrenwerter Mann.«
»Das bin ich auch«, lächelte er. »Ich müßte versuchen, diesen Neugierigen davon zu überzeugen, daß es keinen Sinn macht, den Padrone zu bedrohen, nicht wahr? Ich könnte sagen: Mein Wissen gegen ein wenig Einfluß bei einem großen Geschäft, nicht wahr? Wie wäre es mit einem Waffengeschäft?« Er lachte und ging hinaus.
Ich ließ den Arzt rufen, ich fragte: »War meine Freundin schon hier?«
»Nein, heute noch nicht. Aber sie wird gleich kommen.«
»Schicken Sie sie vorbei? Ich muß ihr etwas sagen.«
»Gut, gut«, sagte er.
Minna kam erst gegen acht Uhr. Sie platzte herein, war blaß um die Nase und trug eine Sonnenbrille. »Der Express ist erschienen und diese Genfer Zeitung. Wenn man das liest, muß man auf die Idee kommen, daß wir den Mörder kennen. Ein Foto ist auch dabei. O Scheiße, Baumeister, ich weiß nicht, ob das gut war. Ich habe Angst.«
»Ich muß hier heraus«, sagte ich. »Gib mir die Klamotten aus dem Schrank.«
»Bist du verrückt?«
»Verrückt vor Furcht«, antwortete ich.