Wir klammern uns an die Erinnerung, um eine Identität zu bewahren, die, einmal bewußt geworden, unverlierbar ist. Wenn wir diese Wahrheit in einem Akt der Erinnerung entdecken, dann vergessen wir alles andere. «Selbst Gott», schrieb Nerval, «kann Tod nicht in Vernichtung wandeln.»
Es begann gestern nacht, als ich bäuchlings neben Minerva auf dem Boden lag und ihr auf dem Plan von Paris die Gegenden zeigte, in denen ich einmal wohnte. Es war eine große Metro-Karte, und es war schon aufregend, die Namen der Stationen zu wiederholen. Schließlich begann ich mit meinem Zeigefinger rasch von quartier zu quartier zu wandern, und blieb hier und da stehen, wenn ich zu einer Straße kam, deren Namen ich vergessen zu haben glaubte, einer Straße wie der rue du Cotentin zum Beispiel. Die Straße, in der ich zuletzt gewohnt hatte, konnte ich nicht finden; es war eine Sackgasse zwischen der rue de l'Aude und der rue Sainte-Yves. Dagegen fand ich die place Dupleix, die place Lucien-Herr, die rue Mouffetard (welch ein Name!) und den quai de Jemmapes. Dort überquerte ich eine der hölzernen Brücken, die sich über den Kanal spannen, und verlor mich im Straßengewirr an der Gare de l’Est. Als ich mich wieder zurechtfand, war ich in der rue Saint-Maur. Von dort wandte ich mich nach Norden-in Richtung Belleville und Ménilmontant. An der Porte des Lilas erlitt ich ein völliges Trauma.
Wenig später studierten wir die Departements von Frankreich. Welch herrliche, Erinnerungen weckende Namen! Wie viele Flüsse gibt es da zu überqueren, wie viele Käsesorten zu kosten - und alle möglichen Getränke. Käse, Weine, Vögel, Flüsse, Berge, Wälder, Schluchten, Klüfte, Kaskaden. Man denke an die Île de France. Oder: Roussillon. Zum erstenmal stieß ich auf den Namen Roussillon, als ich noch Korrektor war, und immer verband ich ihn mit rossignol, was zu deutsch Nachtigall heißt. Noch nie hatte ich die Nachtigall gehört, ehe es sich traf, daß ich das verschlafene Dorf Louveciennes besuchte, wo Madame du Barry und Turgenjev einmal gelebt haben. Als ich eines Abends ins «Haus des Inzests» zurückkehrte, wo Anaïs Nin wohnte, schien es mir, als hörte ich den wunderbarsten Gesang von der Welt. Er drang aus den Geißblattranken an der Gartenmauer herüber. Das war der rossignol, zu deutsch die Nachtigall.
Wie dem auch sei, dort in jenem Garten schloß ich Freundschaft mit einem Hund, dem dritten Hund, den ich näher kennengelernt hatte. Aber ich eile mir selbst voraus. Der Hund kommt später . . . wenn ich im Restaurant sitze und darauf warte, daß Miss Steloff mir eine Broschüre mit dem Titel ‹The Meaning and the Use of Pain› bringt. Wir liegen noch immer auf dem Boden, Minerva und ich, und studieren die Namen der Departements. Minerva fragt, ob ich je Les Baux besucht habe. Sie beschreibt, wie sie eines Spätnachmittags mit dem Rad dorthin geraten sei. «Aber genauso bin auch ich dorthin geraten!» rief ich. «Erinnerst du dich an die ausgetretenen Stufen den Hügel hinauf? Und an jene seltsame, urweltliche Landschaft rings umher, die an Arizona oder New Mexico erinnert?»
Minerva schien sich an alles zu erinnern. Es war ihre erste und einzige Reise nach Frankreich gewesen, gerade zur Zeit von ‹München›. Damals saß ich vermutlich gerade auf einer Bank in den allees de Tourny in Bordeaux. Dort gab es immer Tauben, die darauf warteten, daß man sie fütterte. Auch Hitler gab es damals, aber der verlangte größere Bissen.
Von Les Baux war ich nach Tarascon geradelt. Es war Mittag, als ich dort ankam, und die Stadt schien völlig ausgestorben. Ich erinnere mich so lebhaft der breiten Straße und der weiten terrasses im gemessenen Abstand vom Randstein. Sofort begriff ich, warum Daudet sich auf jene wilden Abenteuerfahrten in das Afrika der Seele gemacht hatte. Ein wenig später, als ich mich im Hôtel de la Poste mit dem Küchenchef unterhielt, wurde mir klar, daß Tartarin auch das Waldorf-Astoria in New York besucht hatte. Und noch später fand ich auf der Insel Spetsai ein Ebenbild des Innenhofes des Hôtel de la Poste . . . alles genau gleich, bis hin zu den Vogelkäfigen. Der einzige Unterschied bestand darin, daß der Küchenchef sich in einen byzantinischen Mönch mit einem Harem dunkeläugiger Nonnen verwandelt hatte.
All das ist nur ein Vorgeschmack der eigentlichen Trance, die mich überkam, als mir die Eisenbahnplakate im französischen Restaurant ins Auge fielen. Inzwischen verschlang ich ein Buch mit dem Titel ‹Le Renégat› von meinem Freund Alfred Perlès. Es war, als tränke ich den Strom der Erinnerungen aus. Ich will hier nicht über das Buch sprechen. Ich möchte nur sagen, daß es einen eigentümlich anthroposophischen Geschmack hat, den es dem geliebten Edgar Voicy und dessen Lehrmeister Rudolf Steiner verdankt. Es enthält ein Einschiebsel von drei Seiten, ganz auf französisch, dessen Grundgedanke vielleicht der Satz «l'orgasme est l'ennemi de l'amour» erahnen läßt.
Aber noch ein anderer und wichtigerer Satz findet sich darin, der zwei- oder dreimal wiederholt wird: «Sich erinnern, ist die Sendung des Menschen auf Erden ...» Es ist einer von den Sätzen wie «der Zweck heiligt die Mittel». Er sagt nur denen etwas, die auf das Stichwort warten.
Jetzt sitze ich im Restaurant. Die Zubereitung des Essens ist scheußlich: es soll wohl Bordelaise sein. In Wirklichkeit aber könnte kein Feinschmecker unter gastronomischen Gesichtspunkten Epoche oder Gegend bestimmen. Sogar die Pasteten sind gefälscht. Die Hausmarke heißt Dyspepsie.
Es muß im Jahre 1942 gewesen sein, als ich mir dieses scheußliche Essen einverleibte. Meine Augen verschlangen die wohlvertrauten Eisenbahnplakate. - La Corrèze, Quimper, Lourdes, Le Puy ... Ich hatte ein gut Teil von Amerika bereist und hungerte und dürstete nach Ich-weiß-nicht-was. Es war, als sei ich gerade aus Timbuktu zurückgekehrt, der erste weiße Mann, dem es gelungen war, lebend dort herauszukommen, nur daß ich von nichts anderem zu erzählen wußte als von Eintönigkeit, Sterilität und Langeweile. Ich hatte in diesem Restaurant schon oft gegessen, hatte die gleichen Eisenbahnplakate schon viele Male gesehen, und das Essen, obwohl schlecht, war nicht schlimmer, als es immer gewesen war. Plötzlich war alles verwandelt.
Da waren nicht länger Eisenbahnplakate, sondern eindringliche Bilder eines Landes, das ich kannte und liebte, Souvenirs einer Heimat, die ich gefunden und wieder verloren hatte. Plötzlich waren Hunger und Durst gestillt. Plötzlich wurde mir klar, daß ich zwanzigtausend Meilen in der falschen Richtung gereist war.
Mein Blick wandte sich immer tiefer nach innen; alles war in den goldenen Schein der Erinnerung eingetaucht. Le Roussillon, das ich nie besucht hatte, wurde zur Stimme Alex Smalls, der in der Brasserie Lipp am boulevard Saint-Germain saß. Wie Matisse war er in Collioure gewesen und hatte von dort Atmosphäre, Duft und Farbe mitgebracht. Zu jener Zeit war ich eben dabei, Paris zum erstenmal zu verlassen - mit dem Fahrrad. Zadkine hatte auf der marmornen Tischplatte eine große Skizze des Weges gezeichnet, dem meine Frau und ich folgen mußten, um an die italienische Grenze zu gelangen. Gewisse Städte durften wir, seiner Meinung nach, auf keinen Fall übersehen. Ich erinnere mich, daß eine davon Vézelay war. Aber hatte er auch Vienne erwähnt? Ich weiß es nicht mehr. Vienne steht mir lebendig vor Augen, in Dämmer gehüllt; das dröhnende Rauschen eines Baches hämmert mir noch immer in den Ohren. Dort müssen die Annamiten einquartiert gewesen sein; es waren die ersten, die ich in Frankreich sah. Wie seltsam kam mir die französische Armee in jenen Tagen vor. Sie schien mir aus Kolonialtruppen zu bestehen. Ihre Uniformen fesselten mich, besonders die der Offiziere.
Ich folge einem Annamiten die dunkle Straße entlang. Wir haben gegessen und sehen uns nach einem ruhigen Café um. Wir betreten eines der hohen Cafés, wie man sie oft in der Provinz antrifft. Sägemehl bedeckt den Boden, und der saure Geruch des Weines ist durchdringend. In der Mitte des Raumes steht ein Billardtisch; zwei elektrische Birnen hängen an langen Schnüren von der Decke und beleuchten das grüne Tuch. Zwei Soldaten beugen sich über den Tisch, einer in der Uniform der Kolonialtruppen. Die ganze Atmosphäre des Ortes erinnert an das Werk van Goghs. Sogar der dickbauchige Ofen ist da, mit dem langen, gebogenen Rohr, das mitten durch die Decke verschwindet. Das ist Frankreich, vielleicht von seiner unscheinbarsten Seite, ein winziges Stück nur, das aber, auch in einer alten Weste verborgen, nichts von seinem Geschmack einbüßt.
In Frankreich gibt es immer Soldaten. Und gewöhnlich sehen sie verloren und verlottert aus. Es ist immer Abend, wenn ich sie bemerke; entweder beim Verlassen der Kaserne oder wenn sie dorthin zurückkehren. Sie sehen aus wie geistesabwesende Gespenster. Manchmal bleiben sie vor einem Standbild stehen und starren es mit leerem Blick an, während sie in der Nase bohren oder sich den Hintern kratzen. Man würde nie glauben, was für eine starke Armee sie darstellen, wenn alle beieinander sind. Einzeln und allein erregen sie Mitleid: es ist für einen Franzosen unziemlich, unnatürlich, unwürdig, in einer Uniform herumzulaufen - es sei denn als Offizier. Dann ist er ein Pfau. Aber er ist auch ein Mann. Gewöhnlich ein sehr intelligenter Mann, sogar wenn er nur General ist.
Eines Abends in Périgueux, während ich an die Lieblichkeit Marylands denke, bemerke ich die leere Fläche, die immer die Kasernen zu umgeben scheint; schwerfällig trottet ein Unteroffizier über sie hin, als ob er nach dem Sudan unterwegs sei, eine kalte Zigarette hängt ihm im Mundwinkel. Er ist vollkommen niedergeschlagen, sein Hosenschlitz ist offen und die Schuhbänder sind lose. Er nimmt Kurs aufs nächste bistrot. Ich habe selbst kein Ziel. Ich bin erfüllt von dem blauen Schmelz des Himmels, mit einem Fuß in Maryland, mit dem anderen im Perigord. Das Elend des armen Wehrdienstlers wirkt auf mich wohltuend; es ist nur einer der längst vertrauten Aspekte des Frankreichs, das ich anbete. Kein Schmutz, kein Gestank, keine Häßlichkeit kann meinen Seelenfrieden stören. Ich werfe einen letzten Blick auf Frankreich, und was immer ich sehe, ist herrlich.
Ungefähr eine Stunde später saß ich draußen vor einem köstlichen Getränk und dachte an den Soldaten und an den Krieg von 1914 . . . dann an Lun éville. Ein zartes deutsches Mädchen erzählt mir mit tiefer, heiserer Stimme von dem Keller, in dem sie in jenen qualvollen Tagen und Nächten gewohnt hat. Es hätte ebensogut die Geschichte einer entkommenen Ratte sein können. Sie enthält nichts Menschliches, nur Grauen und Entbehrung. So oft wurde dieses Mädchen ausgehungert, vergewaltigt und gefoltert, daß nichts mehr von ihm übriggeblieben ist als eine zerbrochene Stimme. Vor ein paar Nächten habe ich ihr in Paris Lebewohl gesagt. Ich begleitete sie noch bis zur Tür des Clubs, in dem sie für eine lesbische Kundschaft singt. Der nächste Krieg ist schon überfällig. Ihre letzten Worte gelten Luneville, den grausigen Nachtbombardements, den Plünderungen, den Mißhandlungen. Sie zittert am ganzen Körper, wie vom Fieber befallen. Drinnen summt jemand «Wien, Wien, nur du allein».
Der Zug rollt ostwärts, nach Luxemburg. Bald werden wir Sedan passieren, diesen verhängnisvollen Ort, dessen Name von Niederlage und Erniedrigung spricht. In der Nähe liegt Charleville, aber wir sind zu betrunken, um uns die Taten des jugendlichen Rimbaud ins Gedächtnis zu rufen. (Was würde ich jetzt darum geben, wenn ich diesen Zug anhalten und aussteigen könnte.) Ein wenig nördlich liegen Maubeuge, Mons, Charleroi, Namur, schreckliche Namen, mit eisernen Ringen in den Nüstern. Krieg. Krieg. Land der Festungen und der Invasionen, zu denen sie herausfordern. Der eiserne Ring zieht sich zusammen. Die Adler schreien.
Auf Reisen ist man immer von der Gefolgschaft des Todes oder seiner Ordonnanz begleitet. Das ruhige Dorf, durch das der Fluß so friedlich zieht, derselbe Ort, den du dir zum Träumen erwählt hast, ist gewöhnlich der Schauplatz eines alten Blutbades. Was zum Träumen anregt, ist das Blut, das reichlicher als Wein vergossen wurde. In Orange, so still und so voll verlorener Größe, pfeift das historische Rezitativ durch die gebleichten Knochen verschlafener Ruinen. Der Are de Triomphe kauert in stummer Beredsamkeit in gleißender, sonnenerfüllter Einsamkeit. Durch einen Torbogen über einem Krug, funkelnd von kaltem Schweiß, bricht die Vergangenheit hervor. Man sieht durch den Bogen in den Midi. Mit tausend wütenden Mäulern fließt die Rhone dahin, um im Golfe du Lion zu verströmen. «Départ dans l'affection et le bruit neuf.»
Irgendwo zwischen Vienne und Orange, irgendwo in einem Dorf ohne Namen, hielten wir am Rande einer kurvenreichen Straße an, bei einer geräumigen, schattigen Terrasse. Eine niedrige Hecke, die dem Bogen der Straße folgte und sie fast vollständig einschloß. Dort gab ich mich, in einem Zustand angenehmer Erschöpfung, dem Gefühl absoluter Desorientiertheit hin. Ich wußte nicht mehr, wo ich war, warum ich gekommen war, wann oder wohin ich gehen würde. Das köstliche Gefühl, ein Fremdling in einer fremden Welt zu sein, erfüllte und berauschte mich. Ohne Erinnerung trieb ich dahin. Die Straße hatte kein Gesicht. Kirchenglocken läuteten, aber wie aus einer anderen Welt. Es war das reine Glück des Losgelöstseins.
Genug gehört, genug gesehen. Gekommen und wieder gegangen. Immer noch hier. Ich flog und glaubte die Engel weinen zu hören. Keine Zunge regte sich. Bier kalt, Kragen noch schwebend. War gut.
«Rumeurs des villes, le soir, et au soleil, et toujours.»
Ja, und immer. Immer ja. Bin hier, war fort, und immer, ja immer der gleiche Mensch, der gleiche Ort, die gleiche Stunde, alles gleich. Immer gleich. Das gleiche Frankreich. Gleich wie welches Frankreich? Gleich wie Frankreich.
Dann wußte ich, ohne Worte, ohne Gedanken, ohne cadre, genre, Rahmen oder Bezug, oder Rahmen des Bezuges, daß Frankreich war, was es immer ist. Waage, Achse, Stützpunkt. Diese Einheit.
«Assez connu. Les arrets de la vie.»
Das Ticken im Herzen einer Uhr, das nie aufhören wird. Der Bogen, der sich nie schließt. Das Summen des Verkehrs in einer Welt ohne Räder. Es gibt keinen Namen dafür, keine Erkennungszeichen. Nicht einmal die Spur der vandalischen Hufe.