7 Porträt einer irischen Stadt
Limerick am Morgen
Limericks nennt man bestimmte Gedichte, die fast wie verschlüsselte Witze sind, und von der Stadt Limerick, die diesem Gedichttyp den Namen gegeben, von dieser Stadt hatte ich eine heitere Vorstellung: witzige Schüttelverse, lachende Mädchen, viel Dudelsackmusik, klingende Fröhlichkeit durch alle Straßen hin. Fröhlichkeit begegnete uns schon viel zwischen Dublin und Limerick auf den Landstraßen: Schulkinder jeden Alters trotteten heiter — manche barfuß — durch den Oktoberregen; sie kamen aus Nebenstraßen, man sah sie fern zwischen Hecken über schlammige Pfade herankommen; unzählige, die sich sammelten, wie Tropfen sich zu einem Rinnsal, Rinnsale sich zu Bächen, Bäche sich zu kleinen Flüssen sammeln — und manchmal fuhr das Auto durch sie hindurch wie durch einen Strom, der sich bereitwillig teilte. Für Minuten blieb die Landstraße leer, wenn das Auto gerade einen größeren Ort passiert hatte, und wieder sammelten sich die Tropfen: irische Schulkinder, sich schubsend, sich jagend: abenteuerlich gekleidet oft: bunt und zusammengestückelt, aber sie alle waren, wenn sie nicht heiter waren, mindestens gelassen; so traben sie oft meilenweit durch den Regen hin, durch den Regen zurück, mit Hurlingschlägern in der Hand, die Bücher durch einen Riemen zusammengehalten. Einhundertachtzig Kilometer lang fuhr das Auto durch irische Schulkinder hindurch, und obwohl es regnete, viele von ihnen barfuß waren, die meisten ärmlich gekleidet: fast alle schienen fröhlich zu sein.
Ich empfand es als Blasphemie, als jemand in Deutschland mir einmal sagte: Die Straße gehört dem Motor. In Irland war ich oft versucht zu sagen: Die Straße gehört der Kuh; tatsächlich werden die Kühe so frei zur Weide wie die Kinder zur Schule geschickt: herdenweise nehmen sie die Straße ein, drehen sich hochmütig nach dem hupenden Auto um, und der Autofahrer hat hier Gelegenheit, Humor zu beweisen, Gelassenheit zu üben und seine Geschicklichkeit zu erproben: er fährt vorsichtig bis nahe an die Kuhherde heran, zwängt sich ängstlich in die gnädig gebildete Gasse, und sobald er die vorderste Kuh erreicht, sie überholt hat, darf er Gas geben und sich glücklich preisen, weil er einer Gefahr entronnen ist; und was ist erregender, was ein besseres Stimulans für des Menschen Dankbarkeit als eine eben überstandene Gefahr? So bleibt der irische Autofahrer immer ein Geschöpf, dem Dankbarkeit nicht fremd ist; er muß ständig um sein Leben, sein Recht und um sein Tempo kämpfen: gegen Schulkinder und Kühe; er würde niemals jenen snobistischen Slogan prägen können: Die Straße gehört dem Motor. Wem die Straße gehört, ist in Irland noch lange nicht entschieden — und wie schön sind diese Straßen: Mauern, Mauern, Bäume, Mauern und Hecken: die Steine der irischen Mauern würden ausreichen, den Turm von Babel zu erbauen, aber die irischen Ruinen beweisen, daß es zwecklos wäre, diesen Bau zu beginnen. Jedenfalls gehören diese schönen Straßen nicht dem Motor: sie gehören dem, der sie gerade beansprucht und der dem, der sie frei haben möchte, Gelegenheit gibt, seine Geschicklichkeit zu beweisen. Manche Straßen gehören dem Esel: Esel, die die Schule schwänzen, deren gibt es eine Menge in Irland: sie fressen an Hecken herum, betrachten melancholisch dem vorbeifahrenden Auto die Hinterseite zukehrend die Landschaft; jedenfalls gehört die Straße nicht dem Motor.
Viel Gelassenheit, viel Heiterkeit bei Kühen, Eseln und Schulkindern begegnete uns zwischen Dublin und Limerick, dazu noch sich der Limericks zu erinnern, wer sollte sich da Limerick nähern, ohne an eine heitere Stadt zu denken? Waren die Straßen von heiteren Schulkindern, von selbstbewußten Kühen, von nachdenklichen Eseln beherrscht gewesen, plötzlich blieben sie leer: die Kinder schienen die Schule, die Kühe die Weide erreicht zu haben, und die Esel schienen zur Ordnung gerufen zu sein. Finstere Wolken kamen vom Atlantik her — und die Straßen von Limerick waren dunkel und leer: weiß waren nur die Milchflaschen vor den Türen, zu weiß fast, und die Möwen, die das Grau des Himmels zersplitterten, Wolken weißer und fetter Möwen, zersplittertes Weiß, das sich für Augenblicke zu einem größeren weißen Fleck zusammenschloß. Grün schimmerte das Moos an uralten Mauern aus dem achten, aus dem neunten und allen weiteren Jahrhunderten, und die Mauern aus dem zwanzigsten Jahrhundert waren kaum von denen aus dem achten zu unterscheiden: bemoost waren auch sie, Ruinen auch sie. In Fleischerläden schimmerten weißlich-rötliche Rinderhälften, und die nicht schulpflichtigen Limericker Kinder bewiesen dort ihre Originalität: sich an Schweinepfoten, an Ochsenschwänzen festhaltend, schaukelten sie zwischen den Fleischstücken hin und her: grinsende blasse Gesichter. Gute Einfälle haben die irischen Kinder; aber sind sie die einzigen Bewohner dieser Stadt?
Wir ließen das Auto in der Nähe der Kathedrale stehen und schlenderten langsam durch die düsteren Straßen: grau wälzte sich der Shannon unter alten Brücken hindurch: zu groß, zu breit, zu wild dieser Fluß für die kleine düstere Stadt: Einsamkeit überfiel uns, Trauer, Verlassenheit zwischen Moos, alten Mauern und den vielen, so schmerzlich weißen Milchflaschen, die für längst Verstorbene bestimmt zu sein schienen: auch die Kinder, die in unbeleuchteten Fleischerläden an den Rinderhälften schaukelten, schienen Gespenster zu sein. Es gibt ein Mittel gegen die Einsamkeit, die einen plötzlich in einer fremden Stadt überfällt: etwas kaufen: eine Ansichtskarte, einen Kaugummi nur, einen Bleistift oder Zigaretten: etwas in die Hand bekommen, teilnehmen am Leben dieser Stadt, indem man etwas kauft — aber würde es hier in Limerick, an einem Donnerstagmorgen um halb elf, etwas zu kaufen geben? Würden wir nicht plötzlich erwachen und im Regen neben dem Auto irgendwo auf der Landstraße stehen, und Limerick würde wie eine Fata Morgana — eine Fata Morgana des Regens — verschwunden sein? So schmerzlich weiß waren die Milchflaschen — weniger weiß die kreischenden Möwen.
Das alte Limerick verhält sich zum neuen wie die Ile de la Cité zum übrigen Paris, wobei das Verhältnis des alten Limerick zur Ile de la Cité etwa 1:3, das des neuen Limerick zu Paris 1:200 sein mag: Dänen, Normannen, spät erst die Iren haben diese schöne und düstere Shannoninsel besetzt: graue Brücken verbinden sie mit den Ufern, grau wälzt sich der Shannon, und vorne, wo die Brücke aufs Land stößt, hat man einem Stein ein Denkmal oder: einen Stein auf einen Denkmalsockel gesetzt. An diesem Stein wurde den Iren Freiheit der Religionsausübung geschworen, ein Vertrag geschlossen, der später vom englischen Parlament widerrufen wurde, und so hat Limerick den Beinamen: Stadt des gebrochenen Vertrages.
In Dublin hatte uns jemand gesagt: »Limerick ist die frommste Stadt der Welt.« Wir hätten also nur auf den Kalender zu schauen brauchen, um zu wissen, warum die Straßen so verlassen dalagen, die Milchflaschen ungeöffnet waren, die Läden leer: Limerick war in der Kirche; donnerstags morgens gegen elf. Plötzlich, noch bevor wir das Zentrum des modernen Limerick erreicht hatten, öffneten sich die Kirchentüren, füllten sich die Straßen, wurden die Milchflaschen vor den Türen weggenommen. Es war wie eine Eroberung: die Limericker nahmen ihre Stadt ein. Sogar das Postamt wurde geöffnet, und die Bank öffnete ihre Schalter. Beunruhigend normal schien alles, nahe und menschlich, wo es vor fünf Minuten noch schien, als spazierten wir durch eine verlassene mittelalterliche Stadt.
Wir kauften verschiedenes, um uns der Existenz dieser Stadt zu versichern: Zigaretten, Seife, Ansichtskarten und ein Puzzle-Spiel. Wir rauchten die Zigaretten, rochen an der Seife, beschrieben die Ansichtskarten, verpackten das Puzzle-Spiel und gingen fröhlich zum Postamt. Hier freilich gab es eine leichte Stockung: das oberste Postfräulein war noch nicht aus der Kirche zurück, die Untergebene konnte nicht klären, was zu klären war: was kostet eine Drucksache (das Puzzle-Spiel) von 250 Gramm nach Deutschland? Hilfesuchend blickte das Fräulein zum Muttergottesbild, vor dem die Kerze flackerte; aber Maria schwieg, sie lächelte nur, wie sie schon seit vierhundert Jahren lächelt, und das Lächeln hieß: Geduld. Merkwürdige Gewichtsteine kamen zutage, eine merkwürdige Waage, gift
grüne Zollformulare wurden vor uns ausgebreitet, Kataloge geöffnet und geschlossen, aber die einzige Lösung blieb: Geduld. Wir übten sie. Wer schickt schon im Oktober ein Puzzle-Spiel als Drucksache von Limerick nach Germany? Wer weiß nicht, daß das Rosenkranzfest zwar kein ganzer, aber mehr als ein halber Feiertag ist?
Später freilich, als das Puzzle-Spiel längst im Briefkasten lag, sahen wir den Skeptizismus, der in harten und traurigen Augen blühte: Düsternis in blauen Augen leuchtend: in den Augen der Zigeunerin, die Heiligenbilder auf der Straße verkaufte, und in den Augen der Managerin im Hotel, in den Augen des Taxichauffeurs: Dornen um die Rose herum, Pfeile im Herzen der frommsten Stadt der Welt.
Limerick am Abend
Entjungfert, ihres Siegels beraubt waren die Milchflaschen; grau, leer, schmutzig standen sie vor Türen und auf Fensterbänken, warteten traurig auf den Morgen, an dem sie durch ihre frischen, strahlenden Schwestern ersetzt werden würden, und die Möwen waren nicht weiß genug, das engelhafte Strahlen der unschuldigen Milchflaschen zu ersetzen: die Möwen sausten auf dem Shannon dahin, der, zwischen die Mauern gepreßt, hier auf zweihundert Metern sein Tempo beschleunigt; saurer, graugrüner Tang bedeckte die Mauern; es war Ebbe, und es wirkte fast, als habe Alt-Limerick sich auf eine obszöne Weise entblößt, sein Kleid gehoben, Partien gezeigt, die das Wasser sonst bedeckte; auch der Abfall wartete darauf, von der Flut hinweggespült zu werden; spärliches Licht brannte in Wettbüros, Trunkene taumelten durch die Gosse, und die Kinder, die morgens in Metzgerläden an Rinderhälften geschaukelt hatten, bewiesen nun, daß es eine Armutsstufe gibt, der selbst die Sicherheitsnadel zu kostspielig ist: Kordel ist billiger, und sie tut’s auch; was vor acht Jahren einmal ein billiger, aber neuer Sakko war, diente jetzt als Mantel, Rock, Hose und Hemd in einem; hochgekrempelt die Erwachsenenärmel, Kordel um den Bauch, und auf der Hand, unschuldig leuchtend wie die Milch, jenes Manna, das es auch im allerletzten Nest in Irland immer frisch und billig gibt: Eiskrem. Murmeln rollen über den Gehsteig; hin und wieder einen Blick ins Wettbüro geworfen, wo Vater gerade einen Teil der Arbeitslosenunterstützung auf Purpurwolke setzt. Immer tiefer senkt sich die wohltätige Dunkelheit, während die Murmeln gegen die ausgetretene Treppe knallen, die zum Wettbüro hinaufführt. Geht Vater noch zum nächsten Wettbüro, um auf Nachtfalter zu setzen, zum dritten, um auf Inishfree zu setzen? Wettbüros gibt es genug, hier in Alt-Limerick. Die Murmeln rollen gegen die Stufe, schneeweiße Tropfen Eiskrem fallen in die Gosse, wo sie einen Augenblick wie Sterne auf dem Schlamm ruhen, einen Augenblick nur, bevor ihre Unschuld im Schlamm dahinschmilzt.
Nein, Vater geht nicht in ein anderes Wettbüro, nur noch in die Kneipe; auch gegen die ausgetretene Treppe der Kneipe lassen sich die Murmeln knallen; ob Vater noch Geld für ein Eis gibt? Er gibt. Auch für Jonny eins, und für Paddy, für Sheila und Moira, für Mutter und Aunty, vielleicht gar für Oma? Natürlich gibt er, solange das Geld reicht. Wird Purpurwolke nicht gewinnen? Natürlich wird sie. Sie muß gewinnen, verflucht, wenn sie nicht gewinnt, dann — »Vorsicht, John, knall doch das Glas nicht so heftig auf die Theke.
Magst du noch einen?« Ja. Purpurwolke muß gewinnen.
Und wenn man keine Kordel mehr hat, dann tun’s auch die Finger, magere schmutzige, klamme Kinderfinger der linken Hand, während die rechte Murmeln schiebt, wirft oder rollt. »Ach, Ned, laß mich doch wenigstens mal lecken«, und plötzlich im Abenddunkel der helle Ruf einer Mädchenstimme:
»Heute abend ist doch Andacht, geht ihr nicht?«
Grinsen, Zögern, Kopfschütteln.
»Ja, wir gehen mit.«
»Ich nicht.«
»Komm.«
»Nein.«
»Ach. Ja.«
»Nein.«
Murmeln knallen gegen die ausgetretenen Stufen der Kneipe.
Mein Begleiter zitterte; er unterlag dem bittersten und dümmsten aller Vorurteile: daß Menschen, die schlecht gekleidet sind, gefährlich seien, gefährlicher jedenfalls als die Gutgekleideten. Er sollte in der Bar des Shelbourne-Hotels in Dublin mindestens so zittern wie hier, hinter King John’s Castle in Limerick. Ach, wären sie doch gefährlicher, diese Zerlumpten, wären sie doch so gefährlich wie die, die in der Bar des Shelbourne-Hotels so ungefährlich aussehen. Eben stürzt die Wirtin eines Speiselokals hinter einem Jungen her, der sich für zwanzig Pfennig Kartoffelchips gekauft und ihrer Meinung nach sich zuviel Essig aus der Flasche, die er vom Tisch nahm, daraufgekippt hat.
»Du Hund, willst du mich ruinieren?«
Wird er ihr die Chips ins Gesicht schmeißen? Nein er findet keine Antwort, nur sein keuchender Kinderbrustkorb antwortet: Pfeifentöne, die ziehend aus der schwachen Orgel seiner Lunge kommen. Schrieb Swift nicht vor mehr als zweihundert Jahren, 1729, seine bitterste Satire, den ›Bescheidenen Vorschlag, zu verhüten, daß die Kinder armer Iren ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen‹?, in der er der Regierung nahelegte, die geschätzte Zahl jährlicher 120000 Neugeborener den reichen Engländern... als Speise anzubieten — ; genaue, grausame Beschreibung eines Projektes, das vielerlei Zwecken dienen sollte, unter anderem der Verminderung der Zahl der Papisten.
Noch ist der Streit um die sechs Tropfen Essig nicht beendet, drohend die Hand der Wirtin erhoben, ziehende Pfeifentöne kommen aus der Brust des Jungen. Gleichgültige schleichen vorüber, Trunkene torkeln, Kinder mit Gebetbüchern laufen, um pünktlich in die Abendandacht zu kommen. Aber der Retter nahte schon: groß war er, dick, schwammig, seine Nase hatte wohl geblutet, dunkle Flecken bedeckten sein Gesicht um Mund und Nase herum; auch er war schon von der Sicherheitsnadel auf die Kordel gekommen: für seine Schuhe hatte es nicht mehr gelangt, sie klafften. Er nahte sich der Wirtin, verbeugte sich vor ihr, deutete einen Handkuß an, zog einen Zehnschillingschein aus der Tasche, überreichte ihn — erschrocken nahm sie ihn — und er sagte höflich:
»Darf ich Sie bitten, gnädige Frau, diese zehn Schilling als Bezahlung für sechs Tropfen Essig als angemessen zu betrachten?«
Schweigen in der Dunkelheit hinter King John’s Castle, dann der Blutbefleckte plötzlich mit leiserer Stimme:
»Darf ich Sie außerdem darauf aufmerksam machen, daß es Zeit ist für die Abendandacht? Richten Sie bitte dem Pfarrer meine respektvollen Grüße aus.«
Er schwankte weiter, erschrocken lief der Junge davon, und die Wirtin war allein. Plötzlich rannen ihr Tränen übers Gesicht, und sie lief schreiend ins Haus zurück, ihre Schreie waren noch zu hören, als die Tür hinter ihr schon geschlossen war.
Noch hatte der Ozean das wohltätige Wasser nicht steigen lassen, nackt und schmutzig waren die Mauern noch, und die Möwen nicht weiß genug. King John’s Castle hob sich düster aus der Dunkelheit, eine Sehenswürdigkeit, in die Mietskasernen aus den zwanziger Jahren hineinragten, und die Mietskasernen aus dem zwanzigsten Jahrhundert sahen verfallener aus als King John’s Castle aus dem dreizehnten; das trübe Licht aus schwachen Glühbirnen kam nicht gegen den massiven Schatten der Burg an, saure Dunkelheit überflutete alles.
Zehn Schilling für sechs Tropfen Essig! Wer Poesie, anstatt sie zu machen, lebt, der zahlt zehntausend Prozent Zinsen. Wo war er, der dunkle, blutbefleckte Betrunkene, dessen Kordel zwar für die Jacke, nicht mehr aber für die Schuhe gereicht hatte? Hatte er sich in den Shannon gestürzt, in den gurgelnden grauen Engpaß zwischen den beiden Brücken, den die Möwen als kostenlose Rutschbahn benutzten? Im Dunkeln noch kreisten sie, senkten sich auf die graue Flut, von Brücke bis Brücke, flogen auf, um das Spiel zu wiederholen; endlos; unersättlich.
Gesang strömte aus Kirchen, Vorbeterstimmen, Taxis brachten Gäste vom Shannon-Airport an, grüne Omnibusse schaukelten durch die graue Dunkelheit, schwarzes, bitteres Bier floß hinter verhangenen Kneipenfenstern. Purpurwolke muß gewinnen.
Purpurn leuchtete das große Herz Jesu in der Kirche, in der die Abendandacht schon vorüber war; Kerzen brannten, Nachzügler beteten, Weihrauch und Kerzenhitze, Stille, in der nur die schlurfenden Schritte des Küsters zu hören waren, der Vorhänge vor Beichtstühlen zurechtzog, Opferstöcke leerte. Purpurn leuchtete das Herz Jesu.
Wie hoch ist der Fahrpreis für diese fünfzig, sechzig, siebzig Jahre vom Dock, das Geburt heißt, bis zu der Stelle im Ozean, wo der Schiffbruch erfolgt?
Saubere Parks, saubere Denkmäler, schwarze, strenge, korrekte Straßen; hier irgendwo wurde Lola Montez geboren. Trümmer aus der Zeit des Aufstandes, noch nicht zu Ruinen geworden, vernagelte Häuser, hinter deren schwarzen Brettern die Ratten rumorten, aufgeknackte Magazine, deren Abbruch man der Zeit überläßt, grüngrauer Schlamm an entblößten Mauern, und das schwarze Bier fließt aufs Wohl von Purpurwolke, die nicht siegen wird. Straßen, Straßen, für Augenblicke von denen überschwemmt, die aus der Abendandacht kommen, Straßen, in denen die Häuser immer kleiner zu werden scheinen; Gefängnismauern, Klostermauern, Kirchenmauern, Kasernenmauern; ein Leutnant, der vom Dienst kommt, stellt sein Fahrrad vor die Tür seines winzigen Häuschens und stolpert an der Schwelle über seine Kinder.
Weihrauch wieder, Kerzenhitze, Stille, Beter, die sich nicht vom purpurnen Herzen Jesu trennen können, leise vom Küster gemahnt werden, doch nach Hause zu gehen. Kopfschütteln. »Aber — «, viel geflüsterte Argumente des Küsters. Kopfschütteln. Festgeklebt auf der Kniebank. Wer will die Gebete zählen, wer die Flüche, und wer hat den Geigerzähler, der die Hoffnungen registrieren würde, die an diesem Abend sich auf Purpurwolke konzentrieren? Vier schlanke Pferdefesseln, auf ihnen ruht eine Hypothek, die niemand wird einlösen können. Und wenn Purpurwolke nicht siegt, muß der
Kummer mit ebensoviel dunklem Bier ausgelöscht werden, wie nötig war, um die Hoffnung zu nähren. Murmeln knallen noch immer gegen die ausgetretenen Stufen der Kneipe, gegen die ausgetretenen Stufen von Kirchen und Wettbüros.
Spät erst entdeckte ich die letzte unschuldige Milchflasche, die noch so jungfräulich war wie der Morgen; sie stand in der Tür eines winzigen Häuschens, dessen Läden verschlossen waren. Nebenan in der Tür eine ältliche Frau, grauhaarig, schlampig, weiß war nur die Zigarette in ihrem Gesicht. Ich blieb stehen.
»Wo ist er?« fragte ich leise.
»Wer?«
»Der, dem die Milch gehört. Schläft er noch?«
»Nein«, sagte sie leise, »er ist heute ausgewandert.«
»Und hat die Milch stehenlassen?«
»Ja.«
»Und das Licht brennen lassen?«
»Brennt es noch?«
»Sehen Sie denn nicht?«
Ich beugte mich vor, nahe an den gelben Spalt in der Tür, und blickte nach drinnen, wo in einer winzigen Diele noch ein Handtuch an einer Tür hing und ein Hut an der Garderobe, wo ein schmutziger Teller mit Kartoffelresten auf dem Boden stand.
»Tatsächlich, er hat’s Licht brennen lassen, aber wenn schon: nach Australien werden die ihm die Rechnung ja nicht nachschicken.«
»Nach Australien?«
»Ja.«
»Und die Milchrechnung?«
»Hat er auch nicht bezahlt.«
Schon schmolz das Weiß der Zigarette auf ihre dunklen Lippen zu, und sie schlurfte in ihre Haustür
zurück. »Na ja«, sagte sie, »das Licht hätte er ja ausmachen können.«
Limerick schlief, unter tausend Rosenkränzen, unter Flüchen, schwamm in dunklem Bier dahin; von einer einzigen schneeweißen Milchflasche bewacht, träumte es von Purpurwolke und dem purpurnen Herzen Jesu.