KAPITEL II
Flug 21 A sollte um zwei Uhr fünfundzwanzig starten. Ich kam eine halbe Stunde zu früh am Ausgang 12 an und mischte mich unter die paar Leute. Aber während ich in der Reihe wartete, erschienen mehr und mehr. Und ich fing an, mich zu wundern. Eine so riesige Menge konnte doch nicht in ein einziges Flugzeug hineingehen? Unmöglich!
Kurz nach zwei ging es endlich los. Und ich hätte es mir eigentlich selber sagen können. Als ich an die Reihe kam, warf der überwichtige, kleine Mann vom Dienst nur einen Blick auf mein grünes Formular und schnarrte: »Warten Sie am Schluß, bitte, bei den anderen jungen Mädchen.«
Was immer es auch gibt, mir bleibt es nicht erspart! Ich drängelte mich also zurück zum Ende der Schlange, und richtig, da standen drei junge Mädchen, die hatte der Kleine wohl gemeint. Sie waren unverkennbar: groß, gutaussehend, chic. Sie starrten mich düster an, und ich starrte sie düster an.
»He«, rief die Größte von ihnen, »gehören Sie auch zum Ausschuß?«
»Ich nehm’s an.«
»Wollen Sie zum Stewardessen-Lehrgang nach Miami?« fragte sie, um sicherzugehen.
»Genau das will ich, aber der Zwerg hat mich zurückgejagt.«
»Wir sitzen alle im selben Boot. Willkommen in unserem Bund. Ich bin Donna Stewart, und diese zwei sind — wie waren doch gleich eure Namen, Kinder?«
»Annette Morris«, sagte die eine, eine Brünette. »Mary Ruth Jürgens«, sagte die andere, eine blasse, ausdruckslose Blondine mit kalten, grauen Augen. Sie sahen beide gut aus, aber Donna Stewart stellte sie tausend Meilen weit in den Schatten. Sie hatte rötliches Haar und Augen von einem geradezu märchenhaften Smaragdgrün, und sie sprühten von Leben und Herzlichkeit.
Ich nannte meinen Namen. Dann sagte ich: »Weiß irgend jemand, was hier eigentlich vor sich geht?«
»Das ist nur der übliche Zirkus der Fluglinien«, nahm Donna das Wort. »Wichtigtuerei! Wahrscheinlich wollen sie erst ihre zahlenden Fluggäste an Bord bringen, und wenn dann noch ‘n Plätzchen frei ist, kommen wir an die Reihe.« Sie kicherte belustigt. »Und wenn sie keinen Platz finden, nun, dann haben sie Pech gehabt. Ich tat nichts lieber, als eine Nacht in New York verbringen.«
»Warum?«
»Weil ich noch nie in New York gewesen bin, darum. Ich bin nur eine einfache Landpomeranze aus New Hampshire.«
»Ich hab’ in New York gelebt, von mir aus kannst du es geschenkt haben.«
»Hallo, Kinder«, flüsterte Annette. »Guckt mal da!«
Wir guckten, und dann starrten wir. Da, da kam ein Mädchen, und das war unwahrscheinlich. Sie war einfach das bezauberndste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Das Gesicht war vollkommen oval, die Haut war wie Porzellan, die Augen waren wie die einer Katze, goldbraun, und sie hatte pechschwarzes, schimmerndes Haar, das sich um die Stirn kräuselte und im Nacken lockte. Sie war gekleidet wie ein Filmstar — nach dem letzten Schrei — ein enges, schwarzes Jackenkleid mit Rüschen an den Hüften, und ein Hut, geschmückt mit goldenen Blättern — aber das Umwerfendste an ihr war diese Ausstrahlung, die von ihr ausging. Das war die reinste, verführerische Weiblichkeit.
Als sie uns erreicht hatte, schwang sie theatralisch den Arm und sagte: »Hallo. Ihr seid für Miami Beach die Ausbildungsschule, wo auf das Flugzeug warten, ja?«
Ich versuchte einen Schritt im Dunkeln — wenn es auch nicht völlig im Dunkeln war; mein Gefühl in solchen Fällen ist meistens richtig — und antwortete auf italienisch. »Ja, wir warten alle darauf, an Bord dieses Flugzeuges zu gehen. Geselle dich getrost zu uns. Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Carol Thompson.«
Sie sah mich von oben bis unten kühl abschätzend an, als wäre ich vielleicht eßbar, wenn man mich zwölf Stunden kochte und dann schmoren ließe. Fast wunderte es mich, daß sie mir nicht den Mund aufmachte und meine Zähne begutachtete.
»Aha«, sagte sie. »Du sprechen Italienisch?«
Ich bildete es mir jedenfalls ein. Immerhin hatte ich vier Sätze auf italienisch zu ihr gesagt. »Ja«, antwortete ich also.
Sie legte den Kopf schief: »Wo haben du aufgesammelt diese ordinäre italienische Akzent?«
Ich sagte, noch immer in der Sprache, die ich so fließend zu sprechen glaubte: »In Florenz. Mein Onkel hat da ein Bordell, klein, aber von bestem Ruf. Vielleicht hast du von ihm gehört? Sein Name ist Signor Atkinson.« Ich habe mich immer daran gehalten, wenn man Beleidigungen austauschen will, soll man sie austauschen. Nur nicht damit hinter dem Berg halten!
Offensichtlich war ich zu fein gewesen. Sie sagte: »Dies sein nicht Akzent von Florenz, dies sein einfach ordinäre Akzent. Ich bin aus Rom. Ich bin Alma di Lucca.«
»Doch nicht Countess Alma di Lucca, zufällig?« platzte Donna heraus in kühlem, abgefeintem Ton.
Alma erstarrte. Dieser kleine Pfeil hatte ins Schwarze getroffen. Sie würdigte Donna keines Blickes, keines Wortes. Nanu! dachte ich. Da haben wir’s! Wir befinden uns im Kriegszustand. Jetzt schon. Innerhalb einer Minute. Das kann ja interessant werden.
Nach einer Weile kam der unwirsche, kleine Mann wieder. »Tut mir leid, Sie so warten zu lassen, meine Damen«, sagte er, »aber es ging nicht anders.« Er überflog mit gerunzelter Stirn ein paar lose Blätter, die mit einer Büroklammer zusammengehalten wurden und die das Kennzeichen seines Postens zu sein schienen. »Na, wollen mal sehen. Wie viele sind Sie?«
»Wir sind fünf«, sagte Alma. »Jeder Mensch könnte uns zählen. Fünf.«
»Erwarten Sie noch jemanden?«
»Wir nichts erwarten«, sagte Alma. »Es ist Ihre Sache, zu erwarten. Wir werden jetzt in das Flugzeug steigen und fliegen, wohin fliegen wir wollen?«
Mir gefiel die Art, wie sie die Dinge klarstellte, aber der Mann hörte sie offensichtlich nicht. Er machte mit seinem Bleistift ein paar Haken auf einen seiner Zettel und runzelte die Brauen. Der arme Kleine. Ihm rauchte wohl der Kopf. Hier waren wir, drei rundum charmante Mädchen, dazu ein hinreißendes Traumschiff aus Italien und ich; und er behandelte uns, als wären wir ebenso viele Ballen Baumwolle voller Maden. Und zum erstenmal wurde mir klar, welche Anforderungen dieser Beruf an seine Untergebenen stellt.
Schließlich sagte er: »Okay. Sie können an Bord gehen. Die Stewardeß wird sich um Sie kümmern. Gehen Sie zur Laderampe achtern.«
»Wo ist denn achtern?« fragte Annette.
»Hinten«, sagte er niedergeschlagen. »Mein Gott, wissen Sie denn nicht, wo achtern ist?«
»Wenn sie wissen, sie nicht fragen«, sagte Alma. »Sie, bitte, sein sehr höflich, Sir, oder ich Sie melden bei Mr. Benjamin.«
Das schien ihn einzuschüchtern; und während wir durch den Ausgang zwölf gingen, fragte ich: »He du! Wer ist Mr. Benjamin?«
»Sehr nützliche Person«, sagte sie. »Großer Direktor. Sehr wichtig.« Dann lächelte sie. »Aber nur Gespenst. Ich ihn erfunden habe, in der Einbildung. Macht viel Angst, jedermann, sehr viel. Ich sage Mr. Benjamin zu ihnen, sie hüpfen.«
Junge, Junge. Darauf wäre ich nie gekommen. Das war wirklich eine Erfindung! Sie sollte sie sich patentieren lassen. Wir alle brauchten einen Mr. Benjamin im Hintergrund, der einem die rauhen Wege des Lebens ebnet.
Ich geriet völlig aus dem Häuschen, als wir auf die große Boeing zuschritten. Sie sah so majestätisch aus, so geduldig, wie sie da stand und auf uns wartete, die Schwingen nach hinten geschwungen, die Motoren vorwärtsgereckt, der Rumpf groß und scharf vor dem kalten Himmel. Ich liebe Flugzeuge, und ich werde sie immer lieben, und wenn ich einem nahe komme, werden mir die Knie weich.
Mary Ruth Jurgens und Annette gingen als erste die Rampe hinauf; dann Alma; dann Donna und ich. Dort oben prüfte ein anderer verhärmter, kleiner Mann im Regenmantel unsere Flugscheine und ließ uns stumm an sich vorbei. Eine Stewardeß wartete an der Kabinentür, und bei dem bloßen Anblick von ihr war mir auf einmal zumute, als käme ich geradewegs aus der Kasba. Es war ein vernichtender und demütigender Augenblick. Ich war bis jetzt höchst zufrieden mit mir gewesen, unwillkürlich gehoben durch die Tatsache, daß diese beiden Mariner mich angesprochen hatten. Hier jedoch war der lebendige Beweis dafür, daß ich, relativ gesehen, immer noch eine Schlampe aus Greenwich Village war. Ihre rotbraune Uniform war makellos, das Haar unter dem feschen, kleinen Käppi war makellos, ihr Teint war makellos, ihre Hände waren makellos, sie war so frisch und strahlend wie ein funkelnagelneuer Silberdollar.
»Hallo, Mädchen«, wandte sie sich an Donna und mich. »Willkommen an Bord.«
»Hallo«, sagten wir.
Jetzt war sie an der Reihe, unsere Papiere zu prüfen.
»Okay«, sagte sie und reichte sie uns zurück. Dann flüsterte sie: »Ihr beide habt Plätze vorn in der ersten Klasse.«
»Wir«, sagte ich. »Und die anderen?«
»Sie sind in der Touristenkabine. Wir müssen euch da unterbringen, wo es eben geht.«
Sie bedeutete uns, in die Kabine zu gehen. Eine andere Stewardeß nickte uns zu, wir sollten den Gang entlanggehen. »Geht nur weiter, ihr zwei«, sagte sie, und wir gingen und gingen und gingen, und es kam mir vor wie der längste Weg, den ich je in meinem Leben zurückgelegt hatte. Ich hörte Alma heiser rufen: »Carola!« aber ich konnte nicht antworten. Nachdem wir die erste Meile hinter uns hatten, nahm uns eine dritte Stewardeß in ihre Obhut, und dann geleitete uns eine vierte Stewardeß auf unsere Plätze, und ich fand mich wieder in einem Sitz neben einem Mann in einem hellgrauen Anzug. Seine Krawatte war hellblau, und auch sonst paßte er in das Farbarrangement des Flugzeugs. Ich war zufrieden, ich war im Himmel.
Ehe wir starteten, gab es eine ganze Menge Palaver, dem ich begierig lauschte. Eine der Stewardessen hielt eine bezaubernde Ansprache über den Lautsprecher; sie hieß uns willkommen im Magna International Airlines Yet 707 zum Flug 21 A. Dann stellte sie die anderen Stewardessen vor und auch sich selbst; sie erzählte uns auf eine reizende Weise von den vielen neuen und interessanten Ausrüstungsgegenständen unseres Flugzeugs; und dann ließ sie sich des längeren über Sauerstoff aus. Ich hatte niemals viel über dieses Thema nachgedacht.
»Ha! Sauerstoff!« sagte der Mann neben mir.
»Verzeihung, Sir?«
»Der ist für Operationen«, sagte er.
Er hatte eine etwas kratzige, rauhe Stimme, und ich fragte mich, ob ich ihn richtig verstanden hätte. Ich schaute ihn an; und er schaute mich an, er fing meinen Blick auf und wandte sich wieder ab. Und schon bildete ich mir ein, ich wisse Bescheid. Sein Gesicht war schmal und gespannt und asketisch, sehr empfindsam. Ich warf einen Blick auf seine Hände. Die Finger waren lang und konisch. Ein Chirurg, dacht’ ich’s mir doch. Wer sonst als ein Chirurg könnte die Bemerkung machen, Sauerstoff werde für Operationen gebraucht?
Eine der Stewardessen kam den Gang entlang mit einer Sauerstoffmaske in der Hand und zeigte jedem, wie man sie anwandte. In der Decke der Kabine, über jedem Sitz, neben der Leselampe und dem Ventil, mit dem man sich Luft ins Gesicht blasen kann, waren geschickt verborgene Falltüren; und wenn diese Falltüren aufsprangen, fielen Sauerstoffmasken heraus und baumelten vor einem, so daß man seinen eigenen, privaten Vorrat hatte. Alles, was man tun mußte, war, wie üblich atmen und sich die Maske über Mund und Nase halten. Nichts war einfacher als das.
Diese Prozedur war mir vollkommen neu, und vielleicht riß ich die Augen vor Erstaunen zu weit auf. Jedenfalls sagte der Mann neben mir: »Lassen Sie sich bloß keine Angst einjagen von dieser Sauerstoffgeschichte. Viel Lärm um nichts, das ist alles.«
»Ich hab’ gar keine Angst.«
»Um so besser. Machen Sie sich’s bequem. Es geht schon alles in Ordnung.«
Er schenkte mir ein freundliches, ermutigendes Lächeln. Er ist nett, dachte ich: er meint es gut, aber ich mußte mich doch wohl selber korrigieren. Trotz seiner feinen Züge und feinknochigen Hände machte er nicht ganz den Eindruck eines Chirurgen. Ein Zahnarzt, das war wahrscheinlicher.
Dann, ein paar Minuten später, rollten wir langsam an den Hallen vorüber, hinaus auf die Rollbahn. Wir warteten; und plötzlich erwachte das Flugzeug zum Leben. Der Mann neben mir kreuzte die Arme, schloß die Augen und schlief ein, seinen eigenen Rat befolgend. Wir fingen an zu rollen, im Schlendertempo, wir begannen zu laufen, zu springen, zu galoppieren, hinaus in die unendliche Weite; und dann, ohne jede Erschütterung, hatten wir die Erde verlassen, flogen durch Fahnen aus weißem Nebel und Ballen gelblicher Wolken. Blaues Wasser lag unter uns, und Landzungen und Siedlungen winziger weißer Häuser; und ich dachte, das ist wirklich das Erstaunlichste auf der ganzen Welt — es funktioniert immer. Man nimmt einen Luxuseisenbahnwaggon, klebt Flügel an, stopft einen Motor hinein und er fliegt, er fliegt wirklich und bleibt in der Luft. Es ist einfach ein Wunder.
Ich könnte mich heute noch hinsetzen und ohne Mühe jede einzelne Sekunde dieses Starts zurückrufen, aber das wäre für niemanden von großem Interesse, es sei denn für einen Menschen, der so versessen aufs Fliegen ist wie ich. Die grundlegende Frage ist und bleibt: Thompson, was ist denn schon daran, an den Flugzeugen und am Fliegen, daß es dich in einem solchen Maße aufwühlt. Und die Antwort ist, ja zum Kuckuck, ich weiß sie nicht. Ich bin lange genug in Bryn Mawr College gewesen (ein Jahr reichte vollends aus), um mir darüber im klaren zu sein, daß das Fliegen ein Tabu ist, das ich unbewußt ständig umkreise; der Akt des Fliegens hat etwas so Erotisches, daß man es nur heimlich niederlegen, in einer Zeitbombe verstecken und für die nächsten tausend Jahre vergraben dürfte. Und doch ist es noch niemandem gelungen, mir zu erklären, warum ich mich immer nach Symbolen sehne, wenn ich, ohne auch nur den Finger zu krümmen, die Wirklichkeit haben könnte? Ich meine, es wäre für mich seit meinem sechzehnten Lebensjahr etwa ein leichtes gewesen, ein geradezu schillerndes Liebesleben zu führen mit allem, was dazugehört — statt dessen sitze ich hier mit zweiundzwanzig Jahren fast so rein wie frisch gefallener Schnee, abgesehen von dem einen Mal, als ich einen Schluckauf hatte im Garten von Greenwich und Tom Ritchie sich meinen geschwächten Zustand zunutze machte. Ich nehme es ihm nicht übel, warum zum Teufel sollte er nicht! Das ist eine natürliche männliche Handlung von dem Tage an, da in irgendeinem Sumpf irgendwo in Asien das Leben seinen Anfang nahm; und er hat mir hinterher immer und immer wieder versichert, er wolle mich heiraten, sobald er den Auftrag der Thunfisch-Büchsen-Gesellschaft unter Dach und Fach habe. Das ist also nicht die Erklärung für meine Versessenheit auf Flugzeuge, mein angebliches Suchen nach Symbolen für überschäumende Männlichkeit. Übrigens, es ist eines der erstaunlichsten Erlebnisse, verführt zu werden, während man einen Schluckauf hat. Ich mochte Tom Ritchie sehr gern, und ich hatte schon immer ein normales, weibliches Interesse für alles, was zwischen Männlein und Weiblein vor sich geht in diesen Augenblicken, die in Romanen meistens (wie aufschlußreich!) mit vier Punkten geschildert werden; ich nahm bei dieser Gelegenheit nichts allzu deutlich wahr, weil ich zu beschäftigt war mit meiner oberen Hälfte, die alle paar Sekunden hick machte. Verlaß dich auf Thompson, sie wird’s schon verkehrt machen, selbst wenn sie ihre Jungfernschaft verliert. Der erhabendste Augenblick meines Lebens, wie es so schön in den Büchern heißt: Nun, ich schwöre, alles, was ich erlebte, waren vier Punkte. Wahrscheinlich hätte ich meine Unschuld verteidigt, wie es sich für ein anständiges Mädchen gehört, wenn ich ich selber gewesen wäre, aber mit diesem Schluckauf war ich einfach hilflos. Nun ja, als alles vorüber war, lag ich dort im Gras und machte »Hick, hick« wie ein Wecker in den letzten Zügen, und Tom Ritchie schaute angewidert auf mich herab, als hätte er alles getan, was in seinen Kräften stand, um mich zu heilen, und als wäre ich einfach zu schlaff und zu dämlich, um auf seine Heilmethode zu reagieren. Vielleicht hätte hiernach manche den Eindruck gewonnen, daß von der Liebe zu viel Aufhebens gemacht werde, noch dazu wenn ihr als nächster ein Typ wie Big Top Charlie über den Weg gelaufen wäre. Aber nicht ich. Ich gab nicht alle Hoffnung auf. Ich verwarf nicht all meine Ideale und Illusionen. Allerdings, das muß ich zugeben: Diese beiden Erfahrungen, Tom und Big Top, hatten mich, gelinde gesagt, enttäuscht, und wenn ich die Wahl hätte, setzte ich mich lieber zu einem guten Steak oder zu einem gesottenen Hummer.
Wir stiegen (genau wie es in den Prospekten heißt) ohne einen Hauch von Geräusch, ohne eine Spur von Vibrieren auf in die Lüfte, als irgend etwas in meinem Ohr schnapp! machte und eine tiefe männliche Stimme sagte: »Hallo! Hier spricht der Kapitän. Hm. Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, wir fliegen mit einer Geschwindigkeit von fünfhundertachtzig Meilen in der Stunde, Höhe ungefähr achtundzwanzigtausend Fuß, geschätzte Dauer dieses Fluges — hm — zweieinhalb Stunden. Etwaige ungünstige Flugbedingungen sind nicht zu erwarten. Das ist alles. Danke.« Schnapp! Eine markige, kleine Rede mit nicht einem Wort zuviel. Ich sah ihn förmlich vor mir in der Kanzel am Steuerknüppel, umgeben von Zifferblättern und Hebeln und Schaltern, schlank und braungebrannt und gefährlich, insgeheim alle diese Passagiere verabscheuend, die aus seiner herrlichen Maschine einen Hottentottenkraal machten. Einen Mann, der seinem Ruf folgte, mit starken Handgelenken, bedeckt mit feinen, seidigen, schwarzen Haaren, mit schwarzen Augenbrauen und wachen, in die Ferne schauenden Augen. Und ich träumte, vielleicht ist er mein Schicksal. Vielleicht. Es war nicht allzu wahrscheinlich, wenn man die Statistik kannte. Vierundachtzig Prozent aller Flugkapitäne waren verheiratet, es blieben also nur sechzehn Prozent für die Freuden einer Romanze mit einem Mädchen wie mir. Die eine Waagschale war zu hoch beladen; schließlich gibt es Scharen von Mädchen wie mich. Ganze Zillionen, sozusagen.
Der Flugkapitän hatte seine Ansprache noch nicht ganz beendet, als mein Nachbar einen kleinen Seufzer ausstieß, seinen Sitzgurt losschnallte und ein Päckchen Zigaretten und ein vergoldetes Feuerzeug hervorzog. Er schielte mich von der Seite an, zögerte und fragte dann: »Möchten Sie eine Zigarette, Miß?«
Auch ich zögerte, und im Bruchteil einer Sekunde veränderte sich mein ganzes Wesen. Ich sagte: »Ja, danke, Sir, sehr gern«, und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Nun, ich wußte schon seit Jahr und Tag, daß ich niemals eine Zigarette von einem fremden Mann annehmen dürfe. Wie harmlos sich das Angebot auch geben mag, es ist eine Falle. Eine erbärmliche, kleine Zigarette, und man ist dem Mann verpflichtet, man muß mit ihm reden, muß zuhören, was er einem alles über seine Familie erzählt und über seine Arbeit, und was er in Philadelphia getan hat am vergangenen Dienstag, und man weiß nie, wo das letzten Endes hinführt. Besonders wenn man als Mädchen allein reist, kann ein einziges Wort zu höchst peinlichen Situationen führen. Und darum war ich bisher immer sehr darauf bedacht gewesen, mich damenhaft zu benehmen und mich um keinen Preis mit umherstreunenden Männern einzulassen.
Aber in dem Bruchteil einer Sekunde, den ich in diesem Fall zauderte, zogen mir eine ganze Menge Gedanken durch den Sinn, inbegriffen eine Art visueller Rückschau auf mein Interview mit dem Mann der Magna International Airlines im Hauptbüro vor ein paar Wochen in der Park Avenue.
Der Name des Mannes bei Magna International Airlines war A. B. Garrison — A. für Arnold. Der Raum, in dem er mich empfing, war riesenhaft, Quadratkilometer um Quadratkilometer leeren Büros, und als ich eintrat, rief er mir leutselig entgegen: »Hallo, Miß Thompson, ich freue mich, Sie kennenzulernen, kommen Sie, setzen Sie sich«, und er lächelte einladend, während ich die lange Meile bis zu dem Stuhl ihm gegenüber zurücklegte. Ich merkte natürlich, auf was es ihm ankam, auf den ersten Eindruck von mir — wie ich aussah, wie ich ging, wie ich sein >Hallo< quittierte, wie ich sein Lächeln erwiderte und so weiter und so weiter. Er war etwa vierzig, dicklich, umgänglich, und ich glaube, ihm war klar, daß ich wußte, er schätzte mich ab, denn als ich mich setzte, kicherte er und sagte: »Seien Sie nicht nervös, Miß Thompson, es wird ganz schmerzlos sein.« Seltsam, wie er mich gleich vom ersten Augenblick an davon überzeugte, daß er mir helfen wollte. Er war schlau wie der Satan, dem konnte ich nichts vormachen, selbst wenn ich es noch so raffiniert anstellte; aber ich hatte trotzdem dieses gute, ermutigende Gefühl, daß er auf meiner Seite sei. Während wir miteinander sprachen, gesellte sich eine sehr würdevolle Dame zu uns. Misses Montgomery, so stellte er sie vor, setzte sich neben Mr. Garrison, hörte aber die meiste Zeit nur unserer Unterhaltung zu, ohne ein Wort einzuwerfen.
Auf Mr. Garrisons Schreibtisch lag ein ungeheurer Fragebogen, den ich vor ein paar Tagen ausgefüllt hatte und der mindestens zehntausend Fragen enthielt, angefangen von meinen Maßen (Oberweite, Taille, Hüfte, Schuhgröße, Hutnummer, Länge, Gewicht) bis zu meinem augenblicklichen Familienstand, Fragen über fehlende Zähne, sichtbare Narben, Schulbildung, bestandene Prüfungen, Aufzählung beruflicher Tätigkeiten, haben Sie diesen Fragebogen mit Ihren Eltern besprochen und so weiter und so weiter. Fragebogen von der Länge eines Armes scheinen heutzutage gang und gäbe zu sein; selbst wenn man sich für die Stellung eines Straßenfegers bewirbt, muß man die Geschichte seines Lebens erzählen und psychiatrische Tests über sich ergehen lassen und sagen, woran einen ein Tintenklecks erinnert; und wenn das nicht nach Gehirnwäsche riecht, dann weiß ich nicht, was sonst. Und zu guter Letzt wartete dieses Magna-Formular mit einer geradezu unbezahlbaren Frage auf, bei der mir die Tinte eingetrocknet war! Geben Sie kurz an, wie Sie Ihre Freizeit verbringen. Das ist das Allerletzte, das ist geradewegs aus Das Kapital, hatte ich gedacht, als ich das gelesen hatte, und mit dem Gedanken gespielt, eine schnippische Antwort darauf zu geben: Wie ich meine Freizeit verbringe, kann unmöglich kurz wiedergegeben werden. Oder: Dies betrifft nur mich und meinen Schöpfer. Oder: Ich bin immer aufgeschlossen für interessante Vorschläge. Schließlich hatte ich mir gesagt: zum Teufel damit, und geschrieben: »Lesen und Schwimmen.« Langweilig, aber sicher. Kein Bürokrat konnte dagegen etwas einzuwenden haben.
Mr. G. griff also nach diesem Fragebogen und ging ihn mehr oder weniger aufs Geratewohl durch, ich konnte nicht erraten, worauf er eigentlich hinaus wollte.
»Ernsthafte Krankheiten haben Sie nicht gehabt, Miß Thompson?«
»Nein, Sir.«
»Sie sind ein Einzelkind? Keine Schwestern, keine Brüder?«
»Ganz recht, Sir.«
»Ich sehe, Sie waren ein Jahr lang auf dem Bryn Mawr College. Warum nur ein Jahr? Waren die Anforderungen zu hoch?«
»Oh, nein. Ich hab’ einfach aufgehört.«
»Warum?«
»Es langweilte mich schrecklich. Ich wollte hinaus in die Welt.«
»Aber Sie sind viel gereist. Ich sehe, Sie waren in Kanada, in Mexiko, England, Frankreich, Italien und so weiter. Waren Sie in all diesen Ländern, nachdem Sie abgegangen waren vom College?«
»Nein, Sir. Vorher. Während der Ferien.«
»Allein? Oder mit Ihrer Familie? Oder mit Freunden?«
»In Mexiko war ich allein. In allen anderen Ländern war ich mit meinem Vater. Er reiste sehr viel.«
Mr. Garrison vertiefte sich sekundenlang in den Fragebogen. »Ich sehe, Sie haben den Beruf Ihres Vaters nicht angegeben. Das brauchen Sie auch nicht, wenn Sie nicht wollen. Es ist nicht allzu wichtig — nur für unsere Unterlagen.«
»Mein Vater ist tot, Sir. Darum habe ich diese Frage nicht beantwortet.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Er war Schriftsteller und schrieb Reisebücher. Daher hatte ich so viel Gelegenheit zum Reisen. Er hat mich hin und wieder mitgenommen.«
»Reisebücher?« sagte Mr. Garrison. »Hm, sprechen Sie etwa von Gregg Thompson?«
»Ja.«
Mr. Garrison wandte sich an Mrs. Montgomery, offensichtlich entzückt. »Haben Sie jemals eines der Reisebücher von Gregg Thompson gelesen?«
Sie hatte eine ruhige, kultivierte Stimme: »Aber ja. Viele. Ich finde sie wunderbar.«
»Ich auch«, sagte Mr. Garrison. »Einfach Klasse. Das war ein Talent!«
Ich hätte am liebsten geheult.
Mr. G. wechselte das Thema. »Sie sprechen Französisch, Italienisch und Spanisch. Fließend?«
»Ziemlich.«
»Reicht es, um eine Unterhaltung zu führen?«
»O ja. Solange sie nicht zu technisch ist.«
»Wie kommt es, daß Sie so viele Sprachen sprechen, da Sie doch nur ein Jahr lang auf dem College waren?«
»Ich kann mir nicht helfen. Mit Sprachen geht es mir nun mal ganz komisch. Sie gehen mir einfach ein.«
»Also mehr oder weniger aufgeschnappt, während Sie mit Ihrem Vater reisten?«
»Ja, Sir. Zum größten Teil jedenfalls.«
»Ich verstehe. Übrigens, lesen Sie viel?«
»Ja, Sir. Ich lese sehr viel. Ich habe schon immer viel gelesen.«
»Ach ja, hier steht es — Ihre freie Zeit gehört dem Lesen und dem Schwimmen. Sie schwimmen also auch viel?«
»Ja, wann immer es geht. Ich find’ es herrlich.«
»Sie meinen, im Wasser umherplanschen und sich mit Ihren Freunden amüsieren?«
»O nein. Wie gräßlich. Ich meine richtiges Schwimmen.«
»Was heißt das? Richtiges Schwimmen?«
»Langstreckenschwimmen und so.«
»Nun kommen Sie mir bloß nicht damit, Sie seien eine von denen, die den Ärmelkanal überqueren?«
Ich mußte lachen. »Nicht ganz. Aber als mein Vater noch lebte, hatten wir in Kanada eine kleine Hütte an einem See, und ich schwamm jeden Morgen über den See hin und zurück. Es waren immerhin gut dreieinhalb Meilen.«
»Allein?«
»Meistens. Das ist ja das Gute beim Schwimmen, daß man allein ist.«
Zum erstenmal wurde seine Stimme düster: »Miß Thompson, Sie werden nicht sehr oft allein sein in einer großen Passagiermaschine.«
O Gott, durchfuhr es mich: die Schlinge habe ich mir selber zugezogen. Ich hab’ genau das Falsche gesagt. Dieser Absatz in dem Fragebogen, für den ich nur Hohn und Spott gehabt hatte, er hat sich gegen mich gekehrt und mich zu Fall gebracht. Nach was für Mädchen hält Mr. Garrison wohl Ausschau, die in der Magna International Airlines fliegen dürfen? Offensichtlich nach Mädchen, die gesund sind, glücklich, lächelnd, gesellig. Und wie hatte ich mich entpuppt? Als ein morbider, introvertierter Typ, von der Sorte, die sich immer in irgendeine finstere Ecke verkriecht, um irgendein jämmerliches Buch zu lesen. Von der Sorte, die stundenlang über irgendeinen See strampelt, um ihren Mitmenschen zu entgehen. Ich selber hatte es dem Mann gesagt, aus meinem eigenen Munde hatte er es.
Er schien gar nicht zu merken, wie außer mir ich war. Er redete schon über alles mögliche andere. Das Gehalt zum Beispiel. Er setzte mir auseinander, daß die Mädchen nur auf Probe angestellt seien, das hieße für die Dauer einer vierwöchigen Ausbildung — während dieser Zeit könnten sie fristlos entlassen werden —, und erst nach der Ausbildung würde ein Vertrag gemacht. Während des Lehrganges bekämen sie fünfundvierzig Dollar in der Woche, abzüglich fünfzehn Dollar für Miete, minus weiterer Abzüge für Uniformen, Sozialversicherung und so weiter. Ob ich bereit wäre, das anzunehmen?
»Ja«, sagte ich.
»Und noch etwas«, redete er weiter, »während der Ausbildung legen wir ungewöhnlich hohe Maßstäbe an. Es geht sehr viel härter zu als im Bryn Mawr College. Wer den Durchschnitt von neunzig Prozent nicht erreicht, wird nach Hause geschickt.«
»Oh«, sagte ich. »Neunzig Prozent Durchschnitt!«
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück: »Miß Thompson, da wären noch ein paar Dinge, die ich gern klargestellt hätte. Erstens: Alle Achtung vor Ihren Fähigkeiten, besonders Ihrem Sprachtalent. Sollten Sie zu uns kommen, wird einige Zeit vergehen, ehe Sie auf unseren internationalen Linien eingesetzt werden — gemäß unserer Regel fliegen unsere Mädchen erst dann auf diesen Routen, wenn sie zwei Jahre Dienst auf den nationalen Strecken hinter sich haben. Andererseits leiden wir unter einem gewissen Mangel an Mädchen mit den erforderlichen Fähigkeiten. Verstehen Sie mich?«
»Ja, Sir.«
»Nun gut, wenn wir eine engagieren, stellen wir keine eisernen Bedingungen, wie lange sie bei uns zu bleiben hat. Wir machen uns nichts vor, eine jede von euch kann heute oder morgen eine andere, anziehendere Beschäftigung finden — zum Beispiel heiraten und eine Familie gründen.« Er verschränkte die Arme und hielt einen Augenblick inne. »Dennoch, Miß Thompson, möchten wir natürlich eine gewisse Sicherheit haben, daß wir Sie nicht verlieren, eine Woche nachdem Sie die Ausbildung beendet haben. Wie denken Sie darüber? Betrachten Sie das Fliegen als eine Art Intermezzo? Oder sehen Sie darin Ihren Beruf?«
»Ich liebe das Fliegen, Mr. Garrison«, antwortete ich. »Wenn die Gesellschaft mich einstellt, würde ich am liebsten unentwegt fliegen, jahraus, jahrein, bis man mich im Rollstuhl aus dem Flugzeug ausladen muß.«
»Okay«, sagte er. »Mrs. Montgomery?«
Sie sagte langsam: »Auch ich finde Ihre Fähigkeiten eindrucksvoll, Miß Thompson, Ihre Sprachkenntnisse, Ihre Persönlichkeit, Ihre Herkunft sind ungewöhnlich. Sie haben ein sehr anziehendes Lächeln, das unzweifelhaft viele Passagiere erfreuen wird. Aber ich muß Ihnen offen sagen: lächeln kann jede. Dieser Beruf verlangt weit mehr als das. Es ist keineswegs damit getan, daß Sie im Gang auf und ab schreiten und hinreißend aussehen.«
Mir wurde ganz flau vor Angst, weil sie in so ernsthaftem Ton sprach.
Sie fuhr fort: »Meine Liebe, ich bewundere Ihre Leidenschaft für Bücher. Ich begreife auch voll und ganz Ihren Wunsch, sich von der Menge zurückzuziehen. Natürlich. Wir müssen alle hin und wieder allein sein. Aber —«
Ich wand mich.
»Aber, Miß Thompson, wir müssen alle lernen, uns einzuord-nen. Das ist es, wodurch wir reifen. Nur so können wir uns entwickeln und Erfüllung finden. Wenn Sie bei uns arbeiten, werden Sie selten allein sein. Sie werden in Flugzeugen arbeiten voller Passagiere, die in manchen Fällen ausschließlich auf Sie angewiesen sein werden. Und das ist das Schwerste, was Sie zu lernen haben werden — zu geben, zu geben, zu geben, freiwillig und endlos. Nicht mehr an sich zu denken. Sich selbst zu vergessen und nur noch für die anderen dazusein.«
Ich wußte nicht, was ich antworten sollte.
Sie lächelte. Sie sah reizend aus, auf einmal, als sie lächelte.
»Hab’ ich Ihnen Angst gemacht?«
»Nein, Madam.« Aber ich log.
Sie stand auf und kam auf mich zu, die Hand ausgestreckt.
»Ich werde Ihre Fortschritte mit Interesse verfolgen.«
»Und ich ebenso«, sagte Mr. G.
Nun: sie wären bestimmt hingerissen über meine Fortschritte, als mein Nachbar mir eine Zigarette anbot und ich sie annahm. In meinen Gedanken blitzte die ganze Unterredung auf, alles, was Mr. Garrison gesagt hatte, und die ernsten Worte von Mrs. Montgomery; und in diesem so erfüllten Bruchteil einer Sekunde dachte ich, okay, Thompson, hier ist deine große Chance. Vergiß dich selbst, vergiß, daß du ein gehemmtes weibliches Wesen aus Greenwich, Connecticut, bist, schlüpf in dein Geisha-Kostüm, versuch, ob es dir paßt.
Himmel! Es wirkte Wunder. Ich war eine so vorzügliche Geisha, ich hätte beinahe angefangen zu lispeln.
»Danke«, sagte ich, als ich die Zigarette nahm.
»Gern geschehen«, sagte er.
»Danke«, sagte ich, als er mir die Zigarette mit seinem vergoldeten Feuerzeug anzündete.
»Gern geschehen«, sagte er.
Ich wartete einen Augenblick ab, ob er es von hier aus allein schaffte. Aber nein. Er blieb stumm wie ein Fisch. So schenkte ich ihm ein aufmunterndes Lächeln und fragte: »Sie fliegen nach Miami?«
Das war eine verdammt spitzfindige Frage. Die Maschine ging nur nach Miami — ohne jede Zwischenlandung. Aber das ist die Art, wie wir Geishas den Ball ins Rollen bringen.
»Ja«, sagte er und strahlte. »Stimmt. Miami Beach.«
»So was, ich fliege auch nach Miami Beach.«
»Ja?«
An diesem Punkt schien er zu scheitern. Er wußte wohl nicht recht, was er nun sagen sollte. Ich versuchte, ihm ein wenig zu helfen. »Ich bin noch nie in Miami Beach gewesen.«
»Noch nie?«
Junge, das war hartes Brot. Ich sagte: »Ich hab’ gehört, es soll fabelhaft sein. Mit wunderbaren Hotels und die Palmen und die Sonne.«
»Ja.« Langsam fand er die Sprache wieder. »Wo wohnen Sie?«
»Warten Sie mal.« Ich öffnete meine Handtasche und wühlte in dem Wirrwarr nach dem Brief von Mr. Garrison, in dem er mir schrieb, daß ich aufgenommen sei und wohin ich mich dann zu begeben habe. »Hier hab’ ich’s«, sagte ich. »Im Charleroi.«
»Im Charleroi«, echote er. »Nun, das ist ein recht hübsches Hotel. Übrigens, Maxwell Courtenay ist ein alter Freund von mir. Netter Bursche, Maxwell.«
»Ist er der Direktor dieses Hotels?«
»Stimmt.« Er beugte sich vertraulich zu mir. »Hören Sie. Mein Name ist Nat Brangwyn. Wenn Sie im Charleroi ankommen, sagen Sie Maxwell, daß Sie mich kennen. Er wird sein möglichstes tun, um Sie bequem unterzubringen.«
»Gem. Herzlichen Dank.«
Ein leichtes Rosa färbte seine Wangen. »Ich geh aus und ein im Charleroi. Vielleicht stoß ich da mal auf Sie, wie?«
»Nun, das hoffe ich, Mister Brangwyn.«
»Sie haben da eine hübsche Bar, die Souvenir Bar. Wie war’s, wenn wir uns dort mal zu einem Drink träfen?«
»Warum nicht, herzlichen Dank.«
Das leichte Rosa vertiefte sich. »Wie wär’s mit heute abend?«
»Es tut mir leid«, sagte ich. »Heute abend geht’s nicht«, und ich erklärte ihm, daß ich in Miami Beach zur Stewardeß der Magna International Airlines ausgebildet würde und daß wir uns heute abend dort melden müßten und daß ich zu tun haben würde, mich einzurichten.
»Hör ich recht?« sagte er und riß die Augen auf.
»Sie wollen sich als Stewardeß ausbilden lassen?«
»Ja.«
»Und Sie wohnen im Charleroi?«
»Ja.«
Er blinzelte mit den hübschen blauen Augen. »Du meine Güte. Warum das Charleroi?«
»Weil man mich dort erwartet«, antwortete ich. »Was mich anbelangt, so ist das einfach ein Dach über dem Kopf.«
»Ganz schönes Dach!«
»Was wollen Sie damit sagen?« Ich konnte mir keinen Vers auf sein Benehmen machen.
Er lächelte breit. »Ich hab’s.«
»Was haben Sie?«
»Maxwell. Ich kenne seine Schliche. Er hat den vierzehnten Stock an die Fluggesellschaft vermietet.«
»Oh. Und das ist komisch?«
»Sehen Sie mal«, sagte er sanft. »Der vierzehnte Stock ist eigentlich der dreizehnte. Von unten gezählt ist er das tatsächlich. Der dreizehnte Stock. Aber kein Mensch will im dreizehnten Stock wohnen, weil das eine Unglückszahl ist. Verstehen Sie?«
»Ja.« Es dämmerte mir allmählich.
»Also hat man ihn, statt ihn dreizehnten Stock zu nennen, als vierzehnten Stock ausgegeben. Aber alle Welt weiß, eigentlich ist es der dreizehnte Stock, und niemand will da wohnen, um allen Tee in China nicht. Kapiert?«
»Ja.«
»Nun, Maxwell hat das Problem gelöst. Er ist das Stockwerk losgeworden an eine Fluggesellschaft für eine Gruppe angehender Stewardessen, und er kann sich die Hände reiben. Es ist ein genialer Einfall. Er wird sich ihrer erwehren müssen.«
»Unser erwehren müssen?«
»Nein, der Burschen.«
»Welcher Burschen?«
»Aber, Miß«, sagte er vorwurfsvoll, als stellte ich mich zu blöde an.
»Mein Name ist Carol Thompson«, sagte ich. »Welcher Burschen?«
»Sie wissen schon. All dieser jungen Leute am Strand. Von den Verheirateten gar nicht erst zu reden, die da meinen, sie hätten ein bißchen Erholung von zu Hause nötig.«
»Mister Brangwyn. Was Sie da sagen, klingt nicht gerade verlockend.«
Er sank in seinem Sitz zusammen. »Das sollte es auch nicht. Glauben Sie mir.«
Eine der Stewardessen unterbrach uns mit sanfter Stimme: »Entschuldigung, Sir. Wir servieren jetzt Getränke. Haben Sie irgendeinen Wunsch, Mister Brangwyn?«
»Klar. Einen Bourbon und ein wenig Wasser. Wie ist das mit Ihnen, Miß Thompson?«
»Nein, danke«, sagte ich.
»Kommen Sie. Wie wär’s mit einem Martini?«
»Nein wirklich —«
»Bringen Sie der jungen Dame einen Martini«, entschied er.
Die Stewardeß entgegnete sehr ruhig: »Ich bedaure sehr, Sir, Miß Thompson reist als Sonderpassagier, und ich bin nicht befugt, ihr irgend etwas zu servieren.«
Er brauste auf. »Warum nicht? Sie ist ein Mensch wie alle anderen auch.«
Ich sagte schnell: »Wirklich, ich möchte nichts trinken.«
Die Stewardeß entfernte sich. Es war ein peinlicher Augenblick für sie, und es tat mir leid, daß es dazu gekommen war. Die Menschen können so viel Ärger damit anrichten, daß sie es gut meinen. Sie ereifern sich und regen sich auf, verteidigen das Recht des Daseins, die Freiheit und das Streben nach Glück, und alles, was sie erreichen, ist Streit anzuzetteln.
»Da komm’ ich nicht mit«, sagte Mr. Brangwyn. »Was kann das ausmachen, wenn man Ihnen einen harmlosen, kleinen Martini bringt. Man sollte meinen, die Fluggesellschaft ginge pleite dabei.«
Ich sagte: »Es ist eine Bestimmung, das ist alles. Eine Bestimmung ist eine Bestimmung.«
»Tja. Aber wenn eine Bestimmung eine Bestimmung ist, dann sollte sie auch vernünftig sein.«
Ich mochte ihn. Ich wollte ihn eigentlich nicht mögen, aber er hatte irgend etwas Anziehendes an sich. Etwas Drahtiges, Schneidiges. Er war natürlich kein Chirurg, wahrscheinlich nicht einmal Zahnarzt — Gott mochte wissen, was er eigentlich war —, und er sprach nicht gerade wie Sir Laurence Olivier; aber er war nett, richtig nett.
Ich wollte nicht dabeisein, wenn die Stewardeß mit seinem Bourbon zurückkam, und so entschuldigte ich mich und wollte in den hinteren Teil des Flugzeugs gehen. Donna Stewart saß drei Plätze hinter mir, sie winkte mich zu sich. Neben ihr saß der winzigste Mann, den ich je gesehen hatte, er steckte in einem cremefarbenen, seidenen Anzug, dazu trug er eine in sich gemusterte weiße Krawatte, die mit einer riesenhaften, altmodischen Krawattennadel gehalten wurde.
»Stell dir vor«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Er hat mir einen Antrag gemacht? Was sagst du dazu?«
»Wer? Dieser Zwerg?«
»Er ist Jockei. Er hat mir erzählt, er liebte große Pferde und große Weiber.«
»Mach weiter so, mein Herz«, sagte ich. »Du machst dich bestens.«
Ich ging weiter nach hinten in die Touristenkabine. Annette Morris und Mary Ruth Jurgens saßen Seite an Seite. »Hallo«, rief Annette. »Macht Spaß, in einem richtigen Düsenflugzeug zu fliegen, was?«
»Und ob«, sagte ich und wandte mich zu der anderen. »Und macht’s dir auch Spaß?«
Ihre Miene war geradezu frostig. Ihre Stimme klang barsch.
»Ja«, sagte sie.
Das bereitete der Unterhaltung ein Ende. Ich ging weiter, bis ich zu unserer wunderbaren italienischen Schönheit kam, Alma di Lucca. »Hallo«, sagte ich. Diesmal ließ ich mich auf kein Risiko ein: ich sprach in meiner eigenen Sprache.
Sie antwortete nicht. Sie saß auf dem Gangplatz, und neben ihr schnarchte lauthals eine dicke, ältere Frau.
Ich wiederholte meinen Gruß: »Hallo.«
Sie schnüffelte verachtungsvoll, als wollte sie lieber sterben, als in einer Unterhaltung mit so einer wie mir ertappt zu werden. Mein Gott, sie war schon ein Kreuz!
»Was ist los mit dir?« fragte ich.
»Man haben mich beleidigt«, sagte sie.
»So? Wer hat dich denn jetzt schon wieder beleidigt?«
»Sieh doch selber«, sagte sie. »Wo du sitzen? In erster Klasse Plätzen. Wo ich sitzen? Mit die Schweine.«
Ich wollte mich gar nicht erst auf eine Auseinandersetzung mit ihr einlassen und sagte nur: »Mein Herz, sei froh, daß du überhaupt einen Platz hast, auf den du dein Hinterteil betten kannst.« Und ließ sie sitzen.
Ich ging nicht auf meinen Platz zurück. Ich ging geradewegs in die Kajüte im vorderen Teil des Flugzeugs. Ich wollte mich bei der Stewardeß entschuldigen für die Unannehmlichkeit mit Mr. Brangwyn wegen dieses blöden Martinis, und ich dachte auch, die Mädchen würden mich vielleicht einen Blick auf die ganze Einrichtung, die sie da haben, werfen lassen. ‘
Die beiden Stewardessen waren in der Kajüte und unterhielten sich mit gedämpfter Stimme. Als sie mich kommen hörten, wandten sie sich um und verstummten. Die eine, die den Ärger mit Mr. Brangwyn gehabt hatte, sagte: »Oh, Sie sind’s.«
»Ja, ich wollte Ihnen nur sagen, es tut mir leid wegen — «
»Macht nichts«, schnitt sie mir das Wort ab.
Sie waren beide ziemlich blaß und verstört, fand ich. Ich sagte: »Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Wollen Sie’s wirklich wissen?« fragte sie.
»Laß sie in Ruh, Lucille«, sagte die andere.
Plötzlich war da eine sonderbare Spannung zwischen uns dreien, ich verstand nicht, warum.
»Wenn sie’s wissen will, soll sie’s ruhig erfahren«, sagte Lucille. »In Miami Beach wird sie’s sowieso überall in den Zeitungen auf der ersten Seite lesen.« Sie sah mich mit einem verzerrten Lächeln an. »Der Kapitän hat eben einen Funkspruch aufgefangen. Eine unserer Maschinen ist auf dem Flughafen in Tokio verunglückt.«
»O nein!« sagte ich. »Eine unserer Maschinen?«
»Ja.«
»O Gott, wie grauenvoll!«
»Ganz recht. Wie grauenvoll. Es waren drei von uns an Bord, und die Besatzung —«
» Lucille, laß die Kleine in Ruhe«, unterbrach sie die andere wieder.
»Warum soll sie’s nicht wissen? Warum soll sie nicht wissen, daß nicht alles nur Glanz und Glorie ist?«
»Gehen Sie«, wandte sich die andere Stewardeß an mich. »Setzen Sie sich wieder hin, mein Kind. Und erwähnen Sie’s nicht den anderen Passagieren gegenüber, ja?«
»Natürlich nicht«, sagte ich und ging zurück auf meinen Platz. Großartig. Einfach großartig. Ein herrlicher Anfang.