Valentina

Valentina hat ja gesagt. Sie kann kaum glauben, dass der Mann, der neben ihr im Wagen sitzt, bald ihr Ehemann sein wird. Der Mietwagen, ein offener Mercedes, windet sich die kurvige Straße an der Amalfiküste entlang. Valentina blickt hinaus auf das leuchtend blaue Mittelmeer. Trotz Sonnenbrille und des Tuchs, das sie sich um den Kopf gebunden hat, scheint die Sonne grell und gnadenlos auf sie herab. Doch wie eine Eidechse nimmt Valentina die Wärme in sich auf und genießt die heiße Brise, während Thomas sie nach Sorrento fährt. Es ist gut, zurück in ihrer italienischen Heimat zu sein. Sie gehören beide hierher. Thomas ist zwar kein gebürtiger Italiener, aber er ist es von Natur aus. Genau wie Valentina lebt er in der Gegenwart und genießt die Schönheit des Augenblicks.

Das Hotel in Sorrento übertrifft all ihre Erwartungen. Es liegt mitten im Stadtzentrum, geschützt in einem üppigen Garten voller Orangen- und Zitronenbäume. Im Inneren atmet alles eine altmodische Eleganz. Sie durchschreiten diverse Salons, bis sie die Terrasse erreichen, die einen Blick auf die Bucht von Neapel und die Insel Capri bietet. Sie sehen einander in die Augen. Valentina weiß, dass Thomas dasselbe denkt wie sie: Dies wäre der perfekte Ort für ihre Flitterwochen.

In andächtiger Stille genießen sie ein Glas Prosecco und sehen zu, wie die Sonne langsam am Horizont verschwindet und den Himmel zum Abschied flamingorot färbt. Valentina ist glücklich. Es ist fast unglaublich, dass dieses Gefühl von Dauer sein könnte. Unwillkürlich rechnet sie damit, dass etwas geschieht. Das ist ihre pessimistische Seite: die Stimme ihrer Mutter oder vielleicht ist es auch die Stimme ihres geheimnisvollen Vaters Karel, des tschechischen Cellisten. Sie hat Thomas noch immer nicht von ihm erzählt.

Ihr Geliebter legt seine Hand auf ihre. »Willst du morgen mitkommen, wenn ich das Bild übergebe?«

»Von mir aus. Willst du denn, dass ich mitkomme?«

Vielleicht kann sie ihm auf der Fahrt an der Amalfiküste entlang die Geschichte von ihrem Vater erzählen. Was wird Thomas zu all dem sagen? Wird er sie ermutigen, ihren leiblichen Vater zu suchen, obwohl sie keine Ahnung hat, wie sie das anstellen soll?

Doch Thomas antwortet: »Ich glaube, es ist doch besser, wenn ich das allein erledige.« Er führt ihre Hand an seine Lippen und küsst sie. »Ricardo Borghetti, Guilios Sohn, ist ein bisschen neurotisch. Auch wenn Anita mir das Bild freiwillig zurückgegeben hat und ich es nicht gestohlen habe, will er, dass alles geheim bleibt.«

»Okay«, sagt Valentina ein bisschen enttäuscht. »Dann fahre ich nach Pompeji. Ich bin noch nie dort gewesen, wollte es aber immer einmal sehen.«

Nach dem Abendessen schlendern sie am Swimmingpool entlang durch den Garten. Er ist nicht beleuchtet, es ist noch zu früh in der Saison, als dass der Pool nachts genutzt würde. Doch auch am Abend ist die Luft noch mild, vor allem im Vergleich zu dem feuchten Londoner Frühling.

Thomas hält ihre Hand, und Valentina verschränkt fest die Finger mit seinen. Sie denkt an ihr Leben mit ihm. Sie ist endlich bereit, sich zu ihm zu bekennen. Sie hatte damit gerechnet, dass sich das für sie wie ein Zwang anfühlen würde, doch dem ist nicht so. Stattdessen hat sie das Gefühl, endlich frei zu sein. Erneut überlegt sie, Thomas von ihrem Vater zu erzählen, aber sie genießt ihr stilles Beisammensein.

»Hast du Lust auf etwas Sex am Rand?«, fragt Thomas leise neben ihr.

»Wie bitte?«, fragt sie verwirrt zurück.

»Ich finde, jetzt, wo wir Mann und Frau werden, sollten wir uns feierlich schwören, so viel Sex wie möglich an unmöglichen Orten zu haben. Natürlich, ohne dass wir uns dabei erwischen lassen.« Thomas’ Augen funkeln schelmisch.

»Verstehe«, sagt sie mit gespielter Ernsthaftigkeit. »Und was ist Sex am Rand?«

»Dazu gehört, dass man etwas nass wird«, erklärt er. »Folglich braucht man dazu einen Swimmingpool.«

»Was, wenn uns jemand erwischt?«

»Wir können einfach so tun, als würden wir nackt baden.« Er beginnt, sein Hemd aufzuknöpfen.

»Ist es nicht etwas zu kalt, um sich um diese Zeit auszuziehen?«

»Komm schon«, lockt er, »wo ist meine unerschrockene Valentina, das Mädchen, in das ich mich verliebt habe?« Er lässt Hosen und Unterhosen fallen, geht zum Pool und gleitet hinein.

Ohne zu zögern öffnet Valentina den Reißverschluss ihres engen Sommerkleids und zieht es über den Kopf. In Unterwäsche tritt sie an den Rand des Pools.

»Komm nicht rein«, sagt er.

»Willst du etwa, dass ich alles ausziehe und dann nackt am Rand stehe?«, fragt sie ungläubig.

»Nein, nicht stehen. Du sollst deine Unterwäsche ausziehen und dich vor mich an den Rand des Pools setzen.«

Neugierig, was er vorhat, tut Valentina, was er sagt.

»Okay«, sagt Thomas. Er steht vor ihr im Pool und legt die Hände auf ihre Taille, Valentina sitzt am Rand und lässt ihre Beine im Wasser baumeln. »Leg dich hin, und heb dabei die Beine in die Luft. Wie ein L.«

Sie sieht ihn misstrauisch an. »Was genau machen wir hier?«

»Das habe ich dir doch gesagt: Sex am Rand.«

Sie lächelt ihn an, und er spritzt sie ein bisschen nass.

»Ich liebe es, wenn du lächelst, Valentina«, sagt er. »Das tust du so selten.«

Sie legt sich hin und streckt die Beine nach oben. Er zieht sie zu sich heran, sodass ihr Po das Wasser berührt und ihre Pobacken in Thomas’ Händen liegen. Valentina stützt die Füße auf Thomas Schultern ab. Das kühle Wasser umspült ihren Unterleib, und sie spürt, wie Thomas sanft zwei Finger auf ihre Klitoris legt. Der Druck ist ganz leicht, aber ungemein erregend. Warum dringt er nicht in sie ein? Es ist, als warte er darauf, dass sie richtig scharf ist.

Anstatt die Augen zu schließen, blickt sie zum Himmel. Die Nacht ist tiefschwarz und mondlos, doch um sie herum schwirren Hunderte von Glühwürmchen – strahlende Lichtkugeln, die ebenso vor Energie strotzen wie Valentina. Sie brennt vor Lebenslust und beginnt, ihre Brüste und ihren Bauch zu streicheln. Thomas verstärkt den Druck weiter. Ihre Mitte beginnt zu pulsieren, und als würde Thomas instinktiv spüren, dass sie ihn in sich fühlen will, dringt er in sie ein. Dabei schwebt ihr Po im Wasser, und als Thomas sich aus ihr zurückzieht, wird sie von dem kühlen Nass umspült und zieht sich instinktiv innerlich zusammen. Erneut stößt Thomas in sie hinein, langsam, sicher und tiefer. Valentina sehnt sich mit jeder Faser ihres Körpers nach ihm. Es ist eine unglaublich erotische Erfahrung. Und das nicht nur, weil sie jeden Moment damit rechnen müssen, erwischt zu werden, sondern auch, weil ihre Gefühle füreinander so stark sind. Thomas taucht in sie ein, zieht sich wieder zurück und steigert ihre Lust, die das kühle Wasser noch verstärkt. Valentina stöhnt tief aus dem Bauch heraus. Sie hebt, nach Halt suchend, die Arme über den Kopf, als ihr Geliebter sich in sie ergießt, sie verzückt seinen Samen in sich aufnimmt und berauscht von ihrer Liebe ebenfalls zum Höhepunkt kommt.

Valentina betrachtet die Fresken in der Villa der Mysterien in Pompeji. Wenn man überlegt, dass sie Hunderte von Jahren unter Asche begraben waren, sind sie in fantastischem Zustand. Sie schaut sich in dem Initialisierungsraum um und ist fasziniert von dem, was sie dort sieht. Sie hat gelesen, dass es unterschiedliche Theorien darüber gibt, was auf den seltsamen Bildern dargestellt ist. Eine lautet, sie zeigten, wie eine Frau in einen besonderen Sexritus des Bacchus eingeführt werde. Die andere, verbreitetere Theorie besagt, dass die junge Frau kurz vor der Eheschließung eine Reihe mysteriöser Riten durchläuft, während parallel dazu Bacchus und Ariadne einen heiligen Bund eingehen. Am Ende begegnen sie Eros, dem Gott der Liebe.

Valentina betrachtet das Bild einer knienden jungen Frau, deren Kopf im Schoß eines Mannes ruht. Ihr Gesäß ist ungeschützt. Daneben steht eine weitere Frau mit einem langen Zweig in der Hand, während eine dritte wild tanzt und dabei ebenfalls ihr üppiges Hinterteil zeigt. Der Hintergrund der Bilder ist dunkelrot, als würde die Farbe den leidenschaftlichen Inhalt der Bilder kommentieren. Rot: die Farbe des Sexes. Valentina überlegt, dass das Fresko vielleicht nicht nur eine frühe Darstellung sadomasochistischer Praktiken ist, sondern auch einer Orgie zwischen drei Frauen und einem Mann. Die bacchischen Riten erfreuten sich im ersten Jahrhundert bei jungen römischen Frauen großer Beliebtheit, vor allem die Praxis der Orgien. Doch auch damals geschah so etwas heimlich, der Ritus galt als pervers. Valentina überlegt, ob etwas dadurch verführerisch wird, dass es verboten ist. Die Gesellschaft brandmarkt Orgien im Allgemeinen als unmoralisch. Valentina hat es nie gereizt, selbst an so etwas teilzunehmen. Ansatzweise hat sie so etwas erlebt, als sie letztes Jahr mit Thomas, Leonardo und Celia zusammen war. Aber das waren zwei Männer, die sie kannte und denen sie vertraute. Sie ist nicht sicher, ob sie an einer Orgie mit Fremden teilnehmen könnte.

Valentina tritt zurück in den Sonnenschein. Nachdem Thomas und sie nun heiraten werden, hat sie kein Interesse daran, mit einem anderen Mann oder einer Frau zu schlafen. Vermutlich sind die Tage ihrer erotischen Studien vorüber. Doch wenn Thomas und sie erst ein paar Jahre zusammen sind, haben sie vielleicht Lust, gemeinsam neue Abenteuer zu erleben, wie Orgien oder Fetischclubs. Erotisches Verlangen unter Menschen hat es immer gegeben. Wann ist Sex nicht mehr nur ein Trieb gewesen, wann ist er in das Reich von Lust und Begehren vorgedrungen?

Valentina geht zurück zu den Ruinen von Pompeji. Hier gibt es keinen Schatten, und die frühsommerliche Sonne verbrennt langsam Valentinas blasses Gesicht. Sie hätte einen Hut mitnehmen sollen. Dies ist ein trauriger Ort, innerhalb von einer Sekunde war das ganze Leben vorbei. Valentina blickt auf die fernen Umrisse des Vesuvs. An einem sonnigen Tag wie heute wirkt er noch dunkler und unheilvoller als sonst. Valentina beschleicht eine düstere Vorahnung. Sie versucht, sie abzuschütteln, doch es gelingt ihr nicht. Sie will keine Wolken am makellosen blauen Himmel ihrer Liebe. In diesem Augenblick beschließt sie, die ganze Vatergeschichte zu vergessen. Sie hat Philip Rembrandt endlich gefunden. Er war mehr ein Vater für sie, als es ihr leiblicher Vater je gewesen ist. Es reicht ihr, dass er bedauert, sie vor all den Jahren verlassen zu haben, und dass er sie jetzt kennenlernen will. Kann sie nicht so tun, als wäre er ihr wirklicher Vater? Das hat ihre Mutter schließlich jahrelang getan. Ist das nicht leicht zu glauben? Valentina ist erleichtert über ihre Entscheidung. Keine Spurensuche in der Vergangenheit mehr, keine Geister. Dennoch hat sie das Gefühl, als würde dieser schwarze Vulkan an ihr ziehen wie ein Hund, der mit seinen scharfen Zähnen nach ihren Fersen schnappt. Sie kann sich nicht von einer dunklen Vorahnung befreien. Vielmehr verstärkt sich das ungute Gefühl, als sie den Zug zurück nach Sorrento besteigt. Es ist, als würde ihr jemand folgen, sie beobachten, doch wenn sie sich umdreht, ist niemand zu sehen.