1. Kapitel
Cynthia Moore stand mit einem Glas Sekt in der Hand neben der Terrassentür von Dawn-Hous und blickte zu Lady Litchfield hinüber, die inmitten der Gäste ihrer Tochter Hof hielt.
Die Einladung nach Dawn-House hatte Cynthia überrascht. Immerhin gehörte sie nicht zu dem Kreis der Leute, die Lady Litchfield gewöhnlich um sich scharte. Auch wenn sie sehr vermögend war und immer wieder Mühe hatte, Mitgiftjäger abzuwehren, ihre Familie zählte nicht zum Adel. Doch da sie den Familienschmuck der Litchfields umgearbeitet hatte und die Mutter der Gastgeberin ihn an diesem Abend zum erstenmal trug, war man wahrscheinlich der Meinung gewesen, daß auch ihr eine Einladung gebührte.
Um Cynthias Lippen huschte ein Lächeln, als sie daran dachte, wie Lady Litchfield mit ihrer Gesellschafterin das Für und Wider dieser Einladung erwogen hatte. Vermutlich sollte sie es als Ehre betrachten, an diesem Abend dabeisein zu dürfen. Wie gut, daß Lady Litchfield nicht ahnte, daß sie keine Lust gehabt hatte, an der Party teilzunehmen und es sich erst im letzten Augenblick anders überlegt hatte.
"Man fragt sich unwillkürlich, für wen diese Party veranstaltet wird", bemerkte neben ihr ein dunkelhaariger Mann. Er wirkte irgendwie fehl am Platze, obwohl er vom Aussehen her es jederzeit mit den anderen Partygästen aufnehmen konnte.
"Allerdings", bestätigte Cynthia.
"Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?" fragte er und neigte leicht den Kopf. "Mein Name ist Brian McArthur."
"Cynthia Moore."
"Ah, dann sind Sie die junge Dame, die für die Komposition verantwortlich ist, die Lady Litchfield heute abend zur Schau stellt."
Cynthia mußte lachen. "Sie scheinen nicht sehr viel von Schmuck zu halten, Mister McArthur."
"Nun, es gibt wichtigere Dinge auf der Welt", meinte er. "Darf ich Sie zum Tanzen auffordern."
"Ja, gerne." Die junge Frau stellte ihr Sektglas auf ein kleines Tischchen ab. "Ich..." Sie blinzelte. Für den Bruchteil einer Sekunde war hinter ihrem neuen Bekannten ein schmaler Schatten aufgetaucht. Verschwommen hatte sie in ihm sogar das Gesicht eines Mädchens wahrgenommen. Sie fing doch nicht etwa an, Geister zu sehen? Schon ihre Großmutter hatte darunter gelitten, und auch ihre Mutter hatte behauptet, hin und wieder etwas wahrzunehmen, das nicht von dieser Welt stammte.
"Was haben Sie?" fragte Brian.
"Ach, es ist nichts", wehrte Cynthia ab. "Nur eine Sinnestäuschung." Sie lächelte ihm zu. "Wollten wir nicht tanzen?"
"Aber gerne." Er nahm ihren Arm. "Jetzt macht es mich sehr froh, daß ich doch zu dieser Party gegangen bin. Ursprünglich hatte ich nicht die geringste Lust. Um ehrlich zu sein ich hoffe, das bleibt unter uns Lady Litchfield ist ziemlich anstrengend."
"Wie wurde Ihnen die Ehre zuteil?"
"Unsere Familien sind über hundert Ecken miteinander verwandt. Eine McArthur heiratete vor etwa zweihundert Jahren einen Lord Litchfield. Als unsere Gastgeberin erfuhr, daß ich in der Stadt bin, glaubte sie wahrscheinlich, mich einladen zu müssen."
Brian McArthur erwies sich als ein hervorragender Tänzer. In seinen Armen kam es Cynthia vor, als würde sie schweben. Sie fühlte sich von ihm unwiderstehlich angezogen. Das machte ihr Angst. Sie lebte gerne alleine, und sie hatte nicht vor, sich an irgendeinen Mann zu binden, aber gleichzeitig gefiel es ihr auch, wie Brian sie im Arm hielt, wie er immer wieder ihren Blick suchte. Die junge Frau gestand sich ein, daß es tatsächlich zum ersten Mal ein Mann schaffte, sie völlig zu verwirren. Sie war fast erleichtert, als die Musik verklang und sie sich aus seinen Armen lösen konnte.
"Miß Moore, darf ich Ihnen Mister McArthur für einen Augenblick entführen?" fragte Lady Litchfield. Sie wandte sich an Brian. "Ich muß Sie unbedingt mit Lord Edwards bekanntmachen. Er ist nur für drei Tage in London. Bitte, kommen Sie, Mister McArthur."
"Entschuldigen Sie mich bitte, Miß Moore", bat Brian. "Ich bin gleich wieder zurück."
Cynthia sah ihm nach. Brian McArthur wirkte wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde. Plötzlich glaubte sie wieder, diesen Schatten zu sehen. Er verschwand genauso schnell wie beim erstenmal, aber sie war sich ganz sicher, ihn gesehen zu haben. Doch sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, weil Lady Violett, eine Tante der Gastgeberin, sie ins Gespräch zog. Sie erkundigte sich bei ihr, ob es ihr möglich sein würde, ihren Familienschmuck ebenfalls umzuarbeiten.
"Am besten, ich komme einmal bei Ihnen vorbei und sehe mir die Stücke an", erwiderte sie.
"Eine gute Idee." Die alte Dame strahlte sie an. "Sie müssen wissen, das Sammeln von Schmuck gehört in meiner Familie zur Tradition." Wie verliebt berührte sie das Kollier, das sie um den Hals trug.
Das Kalte Büfett wurde eröffnet. Cynthia probierte von den Salaten. Sie setzte sich mit ihrem Teller an einen der kleinen Tische, die im Halbkreis um das Büfett aufgebaut worden waren.
Wenige Minuten später steuerte Brian McArthur mit einem vollen Teller auf ihren Tisch zu. "Darf ich mich zu Ihnen setzen?" erkundigte er.
"Ja, warum nicht?" meinte die junge Frau leichthin.
"Der Hühnersalat ist ausgezeichnet", bemerkte er.
"Ich habe ihn bereits probiert." Cynthia lehnte sich zurück. "Stammt Ihre Familie aus Schottland?" fragte sie. "Ich habe einmal von McArthurs im Zusammenhang mit einem alten schottischen Schloß gehört."
"Unser Familiensitz", bestätigte Brian. "Der Grundstein zu ihm wurde bereits im zehnten Jahrhundert gelegt. Noch jetzt gibt es Überreste aus jener Zeit, vor allen Dingen die Verliese sind interessant." Er schmunzelte. "Mein älterer Bruder und ich haben sie als Kinder erkundet. Einmal wollte mir Matthew einen Streich spielen und hat mich dort eingesperrt. Es war schrecklich. Es waren höchstens zwanzig Minuten, aber mir erschienen sie wie eine Ewigkeit. Ich wagte kaum zu atmen. Aus allen Ecken und Enden schienen die Geister der Vergangenheit aufzutauchen." Er schüttelte sich. "Davon abgesehen, liebe ich unseren Besitz. Ich verbringe jedes Jahr einige Wochen dort."
"Es muß schön sein, auf so eine lange Familiengeschichte zurückblicken zu können", meinte Cynthia.
Brian nickte. "Auch wenn diese Geschichte oft grausam und schrecklich gewesen ist. Wir McArthurs haben uns nicht immer mit Ruhm bedeckt. Es gab Dinge... Nun, sie gehören der Vergangenheit an." Er blickte auf ihren Teller. "Darf ich Ihnen noch etwas vom Büfett holen?"
"Vielleicht noch ein Lachsbrötchen", sagte sie.
"Gerne." Er nahm ihren Teller und stand auf. Als er zum Büfett ging, schien ihn wieder dieser Schatten zu begleiten. Cynthia blinzelte. Von einer Sekunde zur anderen war der Schatten verschwunden. Sie schaute zum Licht hinauf. Es mußte an der Beleuchtung liegen. Ja, es konnte nur die Beleuchtung sein.
"Wie kamen Sie dazu, Goldschmiedin zu werden, Miß Moore", fragte Brian, als er an den Tisch zurückkehrte.
"Dieser Beruf liegt in meiner Familie", erwiderte die junge Frau und erzählte ihm, daß sich seit über zweihundert Jahren fast alle Moores mit Gold und Edelsteinen beschäftigten. "Mein Bruder Cedric bildet allerdings eine Ausnahme", fuhr sie fort. "Er studiert in Cambridge Jura." Ihre Züge wurden unwillkürlich weich, als sie an Cedric dachte. "Wir sind Zwillinge, müssen Sie wissen." Sie lachte leise. "Cedric kam eine Stunde später als ich auf die Welt, deshalb ist er der Meinung, ich müßte immer für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen. Schließlich sei ich älter als er."
"Und wie ich Sie einschätze, tun Sie das gerne."
"Wie man`s nimmt. Unsere Eltern meinten stets, ich sollte Cedric nicht so verwöhnen. Vermutlich haben sie damit recht gehabt, denn Cedric steckt sehr oft in Schwierigkeiten. Meistens handelt er erst und denkt dann. Ich kann ihm nicht beibringen, daß es umgekehrt besser wäre."
"Ist denn dann das Jurastudium das richtige für ihn?"
"Das glaube ich schon. Schon als Cedric noch ein kleiner Junge war, versuchte er, seine Freunde zu verteidigen. Je größer die Schwierigkeiten waren, in denen er steckte, um so stärker auch der Wunsch, anderen zu helfen." Cynthia nickte. "Ich glaube, daß Cedric ein sehr guter Anwalt wird. Gerade, weil er weiß, wie leicht etwas daneben gehen kann."
"Leben Ihre Eltern noch?"
"Neugierig sind Sie gar nicht."
"Ich war schon immer dafür berühmt, Dinge zu fragen, die mich nichts angehen. Vielleicht bin ich deswegen Kunsthistoriker geworden. Da kann ich nach Herzenslust in der Vergangenheit wühlen, und meine Neugier in die richtigen Bahnen lenken."
Cynthia gestand sich ein, daß ihr der junge Mann von Minute zu Minuten sympathischer wurde. "Nein, meine Eltern leben nicht mehr", erwiderte sie. "Vor einigen Jahren verbrachten sie mehrere Wochen in Indien. Nach ihrer Rückkehr starben sie kurz hintereinander an einer Infektionskrankheit, die sie sich dort geholt hatten." Abrupt wechselte sie das Thema. "Wann fahren Sie wieder nach Schottland?" wollte sie wissen.
"Wie es aussieht, erst Ende des Jahres", antwortete er. "Ich will im Sommer einige Wochen auf dem Kontinent verbringen. Neben Italien, Frankreich und Deutschland steht auch Spanien auf meinem Reiseplan. Diese Wochen werden eine gute Gelegenheit sein, mich ausgiebig unter den Kunstschätzen Europas umzusehen. Vielleicht unternehme ich sogar einen Abstecher nach Griechenland."
"So eine Reise muß sehr interessant sein", erwiderte die junge Frau. "Ich war letztes Jahr in New York." Die Musik hatte wieder zu spielen begonnen. Sie blickte durch die offene Tür in den Ballsaal.
"Tanzen wir noch einmal miteinander?" fragte er.
"Ja, gerne."
Brian führte sie nach nebenan. Wieder kam es Cynthia vor, als würde sie auf Wolken schweben. Sie schloß die Augen und genoß es, von ihm über die Tanzfläche geführt zu werden. Fast hätte sie bedauernd aufgeseufzt, als die Musik verklang. Was war nur mit ihr los? Wieso schaffte es Brian McArthur, sie in ein derartiges Chaos zu stürzen?
"Gehen wir etwas nach draußen", schlug er vor und wies in den Garten. Wie benommen folgte ihm die junge Frau. "Ein herrlicher Abend." Brian lehnte sich gegen die Terrassenbrüstung.
Cynthia nickte. Sie blickte zum mit Sternen übersäten Himmel hinauf. Sie wünschte sich, daß dieser Abend niemals ein Ende nehmen würde.
"Miß Moore, hätten Sie nicht Lust, mit mir am Freitag abend essen zu gehen?" fragte er.
Cynthia erwachte wie aus Trance. Sie liebte es, mit Brian McArthur zu tanzen, sie fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft, aber sie schreckte davor zurück, seine Einladung anzunehmen. Sie hielt ihn für einen sehr ernsthaften Menschen, für jemanden, der sich nur mit einer jungen Frau verabredete, wenn er mehr dahinter sah als ein flüchtiges Rendezvous. Nein, sie wollte sich nicht binden.
"Bitte, seien Sie mir nicht böse, aber ich kann die Einladung nicht annehmen", antwortete sie deshalb, wagte jedoch nicht, ihn dabei anzusehen.
"Schade", bemerkte er und ließ sie deutlich seine Enttäuschung spüren. "Ich dachte, wir fänden einander sympathisch. Was haben Sie dagegen, ein paar nette Stunden mit mir zu verbringen?"
"Ich verabrede mich niemals", sagte sie.
"Dann sollten Sie diesmal eine Ausnahme machen." Er berührte ihren Arm. "Aber ich möchte Sie nicht drängen, Miß Moore. Ich werde Sie anrufen. Das darf ich doch, oder?"
"Ja, das dürfen Sie", antwortete Cynthia und überlegte, ob es richtig war, nie die Einladung zu einem Rendezvous anzunehmen. Sie sah ihn an. "Sind Sie mir jetzt böse?"
"Nein, das bin ich nicht", erwiderte Brian McArthur herzlich. "Kommen Sie, tanzen wir noch einmal miteinander." Entschlossen führte er sie in den Ballsaal zurück.
2. Kapitel
Es war kurz nach Mitternacht, als Cynthia aus dem Taxi stieg. Ihr neuer Bekannter hatte sie nach Hause bringen wollen, aber sie hatte abgelehnt. Resignierend hatte Brian sich gefügt.
"Gute Nacht", wünschte sie dem Taxifahrer, dann betrat sie das hohe Wohnhaus und ging zu dem Aufzug, der ins Penthouse hinaufführte. Sie wollte ihn gerade aufschließen, als ihr Blick auf den jungen Mann fiel, der halb schlafend auf der Treppe hockte. "Was tust du denn hier, Cedric?" rief sie überrascht aus.
Cedric Moore streckte sich und sprang auf. "Jetzt hätte ich dich fast verschlafen, Cynthia", meinte er gähnend. "Ich warte schon seit Stunden auf dich. Ich hatte völlig vergessen, daß der Aufzug und die Hintertür deiner Wohnung ein neues Schloß bekommen haben." Vorwurfsvoll sah er sie an. "Wo warst du denn?"
"Ich bin auf einer Party gewesen", erwiderte sie, während sie in den zehnten Stock hinauffuhren. "Warum hast du mich nicht angerufen, um mir zu sagen, daß du nach London kommst? Du..." Ihre Augen verdunkelten sich. "Was tust du überhaupt mitten im Semester in London?"
Cedric verzog das Gesicht. Mit seinen wirren dunkelblonden Haaren und den braunen Augen wirkte er in diesem Moment wie ein Lausbub, der etwas ausgefressen hatte. "Klingt nach Inquisition", bemerkte er.
"Keineswegs."
Sie betraten das Penthouse. Cynthia zog sich ihren Abendmantel aus. "Danke", sagte sie, als ihn ihr Cedric abnahm und auf einen Bügel hängte. "Wolltest du dich nicht voll auf dein Studium konzentrieren?"
Ihr Bruder gab ihr keine Antwort. Er ging in die Küche und setzte Teewasser auf. Geschäftig nahm er Geschirr und Besteck aus dem Schrank.
Cynthia folgte ihm. "Cedric, was ist geschehen?" Sie spürte, daß etwas passiert sein mußte. Cedric ging in seinem Jurastudium auf. Es mußte einen triftigen Grund geben, wenn er es unterbrach.
"Habe ich vielleicht einen Hunger." Der junge Mann öffnete den Kühlschrank. "Sieht nicht aus, als seist du auf deinen hungrigen Bruder eingestellt."
"Wenn du angerufen hättest, hätte ich genug im Haus. Mach dir doch ein paar Eier. Schinken muß auch noch da sein."
"Magst du auch etwas?"
"Nein, ich habe bei den Litchfields gegessen."
"Seit wann verkehrst du bei den Litchfields?"
Cynthia sprach von dem Familienschmuck der Familie. "Nur deshalb wurde mir die Ehre der Einladung zuteil", fügte sie lachend zu und überlegte, ob sie ihrem Bruder von Brian McArthur erzählen sollte, dann sagte sie sich, daß sie diesen Mann ohnehin niemals wiedersehen würde. Warum also von ihm sprechen? "Nun, Cedric, ich warte."
Der Student atmete tief durch. "Ich habe mein Studium aufgegeben", sagte er, wagte jedoch nicht, seine Schwester dabei anzusehen.
"Was hast du?" Cynthia fiel aus allen Wolken. "Du hast alle Voraussetzungen, ein guter Anwalt zu werden", meinte sie und bemühte sich, ruhig zu bleiben. "Hast du dir etwas zu schulden kommen lassen? Bist du etwa von der Uni geflogen?"
Cedric, der gerade ein paar Eier in die Pfanne schlagen wollte, schüttelte den Kopf. "Nein, es ist wegen meiner Freundin."
"Okay, Cedric, ich bin zwar todmüde und sehne mich nach meinem Bett, aber wir werden uns in aller Ruhe im Wohnzimmer zusammensetzen, und dann erzählst du mir, was passiert ist." Seine Zwillingsschwester nahm ein Tablett und stellte das Geschirr darauf. "Einverstanden?"
"Einverstanden", sagte er und zündete das Gas an.
Einige Minuten später saßen sich die Geschwister im Wohnzimmer gegenüber. Während Cedric sich fast gleichgültig das Essen in den Mund schob, berichtete er, wie er seine Freundin kennengelernt hatte.
"Marcella lebte mit ihren Eltern in einem Haus ganz in der Nähe der Universität", fuhr er fort. "Die deMurillos betrieben ein großes Geschäft in der Innenstadt. Vor einigen Wochen kehrten sie nach Spanien zurück und nahmen Marcella mit. Kurz darauf schrieb sie mir, daß ihre Eltern tödlich verunglückt sind. Sie plante, nach England zurückzukehren und hier ihre Ausbildung abzuschließen." Er sah seine Schwester an. "Marcella und ich wollten heiraten, Cynthia. Über kurz oder lang hätte ich sie dir vorgestellt."
"Das mit ihren Eltern tut mir sehr leid, Cedric."
"Ich habe die deMurillos sehr gemocht. Wir kamen fabelhaft miteinander aus. Allerdings ahnten sie nicht... Nun, Marcella ist nicht zurückgekehrt, aber es gelang ihr, mir noch einen weiteren Brief zu schicken."
Cedric zog ein Foto aus seiner Brieftasche und reichte es seiner Schwester. Es zeigte eine bildhübsche junge Frau von einundzwanzig Jahren mit langen schwarzen Haaren und braunen Augen. Sie lachte in die Kamera. Das Bild strahlte eine ungeheure Lebensfreude aus.
"Sie ist sehr hübsch", bemerkte Cynthia und gab ihrem Bruder das Foto zurück.
"Marcella wird in Granada von ihrer Großmutter gefangengehalten", sagte er.
"Bist du jetzt nicht etwas zu theatralisch, Cedric?" fragte die junge Frau ungläubig.
"Nein, Cynthia, genau so ist es. Bitte, lies Marcellas Brief. Keine Angst, er ist in englisch abgefaßt immerhin ist sie hier aufgewachsen."
Cynthia griff nach dem Brief. Halblaut las sie ihn vor:
"Lieber Cedric, die Tage ohne dich erscheinen mir wie eine Ewigkeit, und ich weiß noch nicht, wie es weitergehen soll. Meine Großmutter will mich nicht nach England zurückkehren lassen. Sie meint, ich würde nach Spanien gehören. Sie ist eine schreckliche alte Frau. Du weißt ja, daß ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Schon damals war sie seltsam, aber jetzt...
Was habe ich nicht schon alles versucht, aus ihrem Haus zu fliehen, aber es gelingt mir nicht. Wenn meine Großmutter nicht auf mich aufpaßt, dann tut es Alfonso. Alfonso ist nur darauf aus, mich zu quälen. Er steht seit vielen Jahren im Dienste meiner Großmutter. Er muß so an die siebzig sein. Meine Großmutter nennt mich eine Hure, die die Familienehre beschmutzt hat. Sie will unser Kind nach seiner Geburt..."
Cynthia blickte erschrocken auf. "Kind?"
"Ja, Marcella erwartet mein Kind", erwiderte Cedric. Er umfaßte die Hand seiner Schwester. "Marcella und ich lieben uns. Wir gehören zueinander."
Cynthia antwortete ihm nicht, sondern las weiter:
"Sie will unser Kind nach seiner Geburt in ein Kloster geben. Bitte, hilf mir, Cedric.
Ich kann nur hoffen, daß es mir gelingen wird, diesen Brief jemals an dich abzuschicken. Ich liebe dich. Ich brauche dich. Deine todunglückliche Marcella."
Betroffen ließ Cynthia den Brief sinken. "Hast du dich schon an die Behörden gewandt, Cedric?" fragte sie nach einer Weile.
"Die werden da kaum etwas ausrichten können. Die deMurillos gehören zu einer der einflußreichsten Familien in Spanien. Niemand wird auch nur einen Finger krümmen, wenn ich behaupte, daß Dona Teresa ihre Enkelin gefangenhält." Er schüttelte den Kopf. "Nein, ich muß selbst nach Spanien. Ich muß Marcella da rausholen."
"Deine Freundin ist volljährig. Ihre Großmutter kann sie nicht einfach gefangenhalten."
"Du verstehst das nicht, Cynthia. Marcella hat mir sehr viel von den Sitten in ihrer Familie erzählt. Ihre Großmutter war immer dagegen, daß ihr Sohn mit seiner Familie in England lebt. Aber Marcellas Vater war quasi vor seiner Mutter geflohen. Er konnte es nicht ertragen, von ihr ständig bevormundet zu werden. Sie ist das absolute Familienoberhaupt." Cedric stand auf. "Nein, ich fliege nach Granada." Er legte die Hände auf die Schultern seiner Schwester. "Ich wollte nur nicht England verlassen, ohne dir ein Wort zu sagen."
Die junge Frau sah ein, daß sie ihrem Bruder diesen Flug nicht ausreden konnte, und im Grunde ihres Herzens konnte sie ihn verstehen. In gewisser Hinsicht machte es sie sogar stolz, daß er so einfach die Verantwortung für Marcella und das ungeborene Kind übernahm. "Wann willst du fliegen?" fragte sie.
"Morgen."
Sie stand auf. "Versprich mir eines, Cedric", bat sie und schloß ihn in die Arme, "wenn du mit Marcella nach England kommst, nimm dein Jurastudium wieder auf."
"Das wird man sehen", antwortete er. "Marcella ist jetzt wichtiger als alles andere. Was uns die Zukunft bringt, kümmert mich im Moment nicht."
"Ruf mich von Spanien aus an." Cynthia seufzte innerlich auf. Am liebsten hätte sie ihren Bruder daran gehindert, nach Spanien zu fliegen. Es war nicht nur das abgebrochene Jurastudium. Dieser Flug machte ihr Angst. Dabei wußte sie nicht einmal warum. Cedric war erwachsen. Mit dreiundzwanzig Jahren konnte man sich in der Welt behaupten. Und schließlich war Spanien ein zivilisiertes Land, auch wenn es dort noch immer Familien geben mochte, die ihre Töchter von der Welt abschirmen wollten.
"Ich werde dich anrufen und über jeden Schritt, den ich unternehme, auf dem laufenden halten", versprach er und küßte sie liebevoll auf die Wange.
3. Kapitel
Cynthia schob ihren Arbeitstisch beiseite und schloß den Safe auf, der sich in der Mauer dahinter befand. Da sie oft mit wertvollen Steinen arbeiten mußte, hatte die Versicherung darauf bestanden, daß sie sich einen Safe einbauen ließ. Sie nahm ein Kästchen mit Diamanten und Rubinen heraus. Die Steine gehörten einer Bankiersfamilie. Zur Hochzeit der Tochter sollte sie ein exklusives Armband daraus fertigen. In einer Woche mußte sie die Arbeit abliefern. Allzu viel Zeit blieb ihr nicht mehr.
Sie hatte gerade mit der Arbeit angefangen, als auf ihrem Schreibtisch das Telefon klingelte. Die junge Frau wollte das Klingeln ignorieren, doch dann überlegte sie, daß es vielleicht Cedric war, der sie anrief. Ihr Bruder befand sich seit über drei Wochen in Spanien, hatte sie jedoch nur nach seiner Landung in Malaga angerufen. Damals hatte er gleich weiter nach Granada fliegen wollen.
Sie sprang auf und eilte zu ihrem Schreibtisch. "Cedric?" fragte sie, ohne sich zu melden.
"Tut mir leid, Miß Moore, ich bin es nur, Brian McArthur", antwortete der junge Kunsthistoriker.
"Da kann man nichts machen", bemerkte Cynthia trocken. Sie ahnte, daß er sie wieder zum Essen einladen wollte. Einerseits freuten sie diese Anrufe, doch andererseits war sie nach wie vor entschlossen, sich nicht zu binden.
"Ich würde gerne heute abend mit Ihnen zum Essen gehen", sagte er. "Hoffentlich geben Sie mir nicht wieder einen Korb."
Die junge Frau zögerte. Sie konnte eine Abwechslung gut gebrauchen, aber statt mit ja zu antworten, erwiderte sie: "Tut mir leid, Mister McArthur, aber ich habe zur Zeit soviel zu tun, daß ich kaum weiß, wo mir der Kopf steht."
"Ähnlich drückten Sie sich bei meinem letzten Anruf aus."
"Es hat sich eben nichts daran geändert."
"Mögen Sie mich denn nicht?"
Cynthia atmete tief durch. "Doch, ich mag Sie sehr", gab sie zu, "aber... Hören Sie, Mister McArthur, es ist besser, wir belassen es dabei. Sie sollten vergessen, daß wir uns jemals begegnet sind."
"Vor was haben Sie Angst?" fragte er.
"Sie können verdammt hartnäckig sein."
"Mein schottischer Dickschädel." Sein Lachen klang etwas gezwungen.
Dennoch stimmte Cynthia in sein lachen ein. "Ich bin ein Mensch, der seine Freiheit über alles liebt", sagte sie.
"Und Sie meinen, wenn Sie meine Einladung annehmen, dann wäre es mit Ihrer Freiheit vorbei? Bitte, glauben Sie mir, Miß Moore, ich bin kein Mensch, der einen anderen so mit Beschlag belegen würde, daß diesem kaum noch die Luft zum Atmen bleibt. Auch ich schätze meine Freiheit. Wie Sie sehen, besteht für Sie also nicht der geringste Grund, meine Einladung auszuschlagen."
Cynthia zögerte. Sie war in Versuchung, ihre Prinzipien über Bord zu werfen, doch sie widerstand. "Ich habe wirklich eine Menge zu tun, Mister McArthur", erwiderte sie bedauernd.
Er seufzte laut auf. "Gut, das muß ich akzeptieren, Miß Moore. Ich werde in einigen Tagen nach Spanien fliegen. Darf ich mich, wenn ich wieder in England bin, bei Ihnen melden?"
"Selbstverständlich, Mister McArthur", gestattete sie und wünschte ihm eine gute Reise.
"Danke, Miß Moore. Sie wird auf jeden Fall sehr interessant werden. Ich sagte Ihnen ja, daß ich auf dem Kontinent alle Stätten aufsuchen möchte, die kunsthistorisch von Belang sind. Vielleicht rufe ich Sie im Laufe meiner Reise an. Wäre das nicht eine gute Idee?"
"Warten wir es ab", meinte sie und ertappte sich bei dem Wunsch, daß er es wirklich tun würde. Sie wechselten noch ein paar Worte, dann legte sie auf.
Das Leben ist wirklich seltsam, dachte Cynthia, als sie an ihren Arbeitstisch zurückkehrte. Auch Cedric hielt sich ja in Spanien auf. Vielleicht begegneten sich die beiden Männer sogar. Brian McArthur würde ganz sicher auch nach Granada fliegen.
Die junge Frau preßte erbittert die Lippen zusammen. Warum meldete sich Cedric nicht? Konnte er sich nicht vorstellen, daß sie sich um ihn sorgte? Mehrmals hatte sie bereits in dem Hotel angerufen, in dem er hatte absteigen wollen, doch ihr Bruder war dort niemals angekommen. Höchstwahrscheinlich hatte er seine Pläne wie so oft im letzten Augenblick geändert. Oder er lebte bei den deMurillos. Auf jeden Fall konnte er sich melden. Es war rücksichtslos, es nicht zu tun.
4. Kapitel
"Das macht ein Pfund zwei Schilling, Sir." Die Zeitungsverkäuferin reichte Brian McArthur eine zusammengerollte Zeitschrift.
"Danke." Brian legte den geforderten Betrag auf den Tresen. Er nahm die Zeitschrift und setzte sich mit ihr in einen der bequemen Sessel, die in der Abflughalle standen. Er hatte noch über eine Stunde Zeit, bis sein Flug nach Malaga aufgerufen werden würde, doch statt sich in die Zeitschrift zu vertiefen, dachte er an Cynthia Moore. Brian bedauerte, daß er die junge Frau vor seinem Abflug nicht mehr hatte sehen können. Selten zuvor war ihm ein Mädchen begegnet, das ihm von der ersten Sekunde an so gefallen hatte wie sie. Natürlich konnte er verstehen, daß Cynthia Moore sehr vorsichtig war; immerhin mußte sie sich vor Mitgiftjägern schützen. Aber wie konnte sie ihn für einen Mitgiftjäger halten? Immerhin gehörte er zum Clan der McArthurs, einem der bedeutendsten schottischen Geschlechter.
Konnte es nicht sein, daß Cynthia tatsächlich nur befürchtete, ihre Freiheit zu verlieren? Sie war es gewohnt, alleine zu leben und sich höchstens um ihren Bruder zu kümmern. So wie sie von Cedric gesprochen hatte, konnte sich Brian gut vorstellen, daß der junge Mann seine Schwester irgendwie einengte.
Aber irgendwann würde sie feststellen, daß ihr etwas fehlte. Sollte er darauf vertrauen? Vielleicht würde er dann noch Jahre warten können. Nein, er durfte nur nicht aufgeben. Brian nahm sich vor, Cynthia aus Spanien zu schreiben.
Der junge Kunsthistoriker lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er war müde. Er hätte gerne für einige Minuten die Augen geschlossen, aber wußte, daß man gerade auf Flughäfen aufpassen mußte, wenn man sein Gepäck nicht verlieren wollte.
In Gedanken seufzte er auf. War man überhaupt noch irgendwo sicher? Er mußte schmunzeln. Sein älterer Bruder Matthew behauptete stets, das Chaos in der Welt würde von Tag zu Tag schlimmer. Wo man sich auch hinwenden würde, überall würde man Räubern und Halsabschneidern begegnen. Und so etwas sagte ausgerechnet ein McArthur. Aus seiner Familiengeschichte wußte Brian, daß sich seine Vorfahren meist genommen hatten, was sie wollten. Das Eigentum anderer war ihnen nur selten heilig gewesen.
Brian McArthur wollte sich gerade seiner Zeitschrift zuwenden, als er plötzlich Cynthia Moore entdeckte. Sie stand neben dem Zeitungsstand. Er konnte seinen Augen kaum trauen. Das gab es doch nicht! Hatte Cynthia etwa vor, ebenfalls nach Spanien zu fliegen?
Er sprang auf. Mit wenigen Schritten war er bei ihr. "Hallo, Miß Moore", sagte er.
Cynthia wandte sich um. "Mister McArthur!" rief sie erstaunt aus. "Wo kommen Sie denn her?" Dann fiel ihr ein, daß Brian ihr am Telefon gesagt hatte, daß er nach Spanien fliegen würde. Sie schüttelte leicht den Kopf. "Zufälle gibt es!" meinte sie. "Daß Sie ausgerechnet am selben Tag abreisen wie ich. Ich will meinen Bruder in Granada besuchen."
"Fliegen Sie über Malaga?"
Sie nickte.
"Wundervoll." Brian konnte sein Glück kaum fassen. "Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir miteinander fliegen? Ich meine, wir könnten während des Fluges nebeneinander sitzen. Würden Sie mir bitte Ihre Bordkarte zeigen?"
Cynthia reichte sie ihm. Ihre Plätze lagen drei Reihen auseinander. "Schade, aber es sieht nicht danach aus, als würden wir nebeneinander sitzen", meinte sie mit ehrlichem Bedauern.
"Warten Sie einen Moment." Brian verschwand mit ihrer Bordkarte in Richtung Informationsschalter.
Cynthia konnte sich nicht vorstellen, daß es dem Kunsthistoriker gelingen würde, ihre Sitzplätze noch verändern zu lassen, aber sie täuschte sich. Zehn Minuten später kehrte er zurück. Er berichtete ihr, daß ihm die Stewardeß am Informationsschalter geholfen hatte. Da die Maschine nach Malaga ohnehin nicht ausgebucht war, hatte man nichts dagegen gehabt, ihnen einen anderen Sitzplatz zu geben.
"Glück muß man haben", bemerkte er, als er ihr die abgeänderte Bordkarte gab.
Sieht aus, als sei es mein Schicksal, immer wieder mit Brian McArthur zusammenzutreffen, dachte die junge Frau. Da war sie ihm während der letzten Wochen ausgewichen, hatte seine Einladungen abgelehnt, und nun begegneten sie einander in Gatwick und flogen auch noch gemeinsam nach Malaga. Deshalb sagte sie diesmal auch nicht nein, als er sie zu einer Tasse Kaffee einlud.
Während des Kaffees sprach Cynthia von ihren Sorgen um Cedric machte. "Ohne groß nachzudenken, hat mein Bruder sein Jurastudium einfach ad acta gelegt. Natürlich verstehe ich, daß er sich unter diesen Umständen um seine Freundin kümmern muß, aber er hätte das Studium doch nur zu unterbrechen brauchen. Es wird nicht leicht sein, später wieder einen Studienplatz für ihn zu finden."
"Ich könnte Ihrem Bruder behilflich sein." Brian sah sie an. "Ich kenne in Cambridge ein paar Leute, die an maßgeblichen Stellen sitzen."
"Ich wäre sehr froh, wenn Cedric noch dieses Jahr sein Studium wieder aufnehmen könnte." Cynthia nippte an ihrem Kaffee. Sie sprach von Marcella und dem Brief, den die junge Frau ihrem Bruder geschickt hatte.
"Ich habe mehrmals während der letzten Wochen in dem Hotel angerufen, in dem Cedric absteigen wollte; er ist dort niemals angekommen. Dann habe ich über die Auslandsauskunft versucht, die Telefonnummer der deMurillos zu erfahren, aber scheinbar haben sie eine Geheimnummer", fuhr sie fort. "Ich mache mir große Sorgen. Natürlich könnte es sein, daß Cedric bei der Familie seiner Freundin wohnt, aber ich verstehe nicht, daß er sich nicht meldet. Ich habe versucht, mit einzureden, daß alles in Ordnung ist. Es gelingt mir nicht. Wie ich meinen Bruder kenne, ist er wieder in etwas hineingeraten, aus dem er nicht alleine herausfindet."
Brian dachte nach. "Ich bin einige Zeit in Malaga. Es gibt dort sehr viele Museen und historische Gebäude, die mich interessieren." Nachdenklich rührte er in seiner Tasse. "Vielleicht kann ich Ihnen helfen", bot er an. "Wie wäre es, wenn ich meinen Aufenthalt in Malaga für einige Tage aufschiebe und Sie nach Granada begleite? Mein spanisch ist nicht schlecht, ich könnte also für Sie übersetzen."
Cynthia gestand sich ein, daß sein Angebot verlockend klang. Sie konnte kein spanisch und würde sich mit einem Wörterbuch behelfen müssen. Andererseits sprachen viele Spanier englisch. Cedric hatte ihr gesagt, daß auch Marcellas Großmutter in ihrer Jugend einige Zeit in England gelebt hatte. Wenn sie Brians Angebot annahm, würde sie ihm verpflichtet sein. Nein, es war besser, ohne seine Hilfe auszukommen.
"Das ist wirklich lieb von Ihnen, Mister McArthur", sagte sie, "aber machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich komme schon zurecht."
Brian sah sie an. Seine Lippen umspielte ein Lächeln. "Ich bin mir sicher, eines Tages werden Sie damit aufhören, mir ständig Körbe zu geben, Miß Moore", sagte er.
"Woher...?" Sie unterbrach sich. Flüchtig hatte sie den Schatten eines Mädchens hinter ihm gesehen. Wie auf der Party bei den Litchfields hatte sie sogar schwach die Gesichtszüge des Mädchens erkennen können. Sie strich sich über die Stirn. Phantasierte sie?
"Was haben Sie?"
"Ach, es ist nichts", behauptete sie, weil sie nicht mit ihm darüber sprechen wollte. Sie befürchtete, sich lächerlich zu machen. Ein Mann wie Brian McArthur hatte sicher nichts für Hirngespinste übrig.
Brian griff in seine Brieftasche und nahm eine Visitenkarte heraus. Er drehte sie um und schrieb die Telefonnummer auf, unter der ihn Cynthia in Malaga erreichen konnte. "Bitte, nehmen Sie die Karte", bat er. "Denn ob Sie wollen oder nicht, ich mache mir Sorgen um Sie."
Die junge Frau wollte das Kärtchen erst von sich weisen, doch dann steckte sie es ein. "Danke", meinte sie, obwohl sie nicht vorhatte, es zu benutzen. Sie blickte auf ihre Uhr. "Man wird gleich unseren Flug aufrufen. Stellen Sie sich vor, wir würden ihn verpassen."
"Dann hätte ich Gelegenheit, noch länger mit Ihnen zusammen zu sein", meinte Brian McArthur und stand auf. Er reichte ihr den Arm. "Es wäre mir ein Vergnügen."
Und ich hätte auch nichts dagegen, dachte Cynthia, sprach diese Worte jedoch nicht aus. Schweigend ging sie mit ihm zum Gate.
5. Kapitel
Kurz nach elf landeten sie auf dem Flughafen von Malaga. Gemeinsam passierten sie die Zollkontrolle, doch dann trennten sich ihre Wege. "Vergessen Sie nicht anzurufen, falls Sie meine Hilfe brauchen", bat Brian noch einmal und drückte Cynthias Hand.
"Ich werde es tun", versprach die junge Frau. Sie hatte die letzten Stunden genossen. Brian konnte ungemein interessant erzählen. Er war schon weit in der Welt herumgekommen und hatte ihr von vielen Begebenheiten während dieser Reisen berichtet. Er hatte auch vom Familienbesitz der McArthurs gesprochen. Es war ihm gelungen, Cynthia das Schloß so plastisch zu schildern, daß sie es sich vorstellen konnte. Cedric und sie wären begeistert gewesen, in so einem alten Gemäuer aufzuwachsen. Aber obwohl Brian voller Wärme von seiner Familie erzählt hatte, kam es ihr vor, als würde es da etwas geben, was er ihr verschwieg.
Brian McArthur drückte erneut ihre Hand, schien sie nicht loslassen zu wollen. "Ich mache mir Sorgen, große Sorgen um Sie, Miß Moore", sagte er.
"Dazu besteht kein Grund. Es gibt nur eine Person, um die man sich Sorgen machen muß, und das ist mein Bruder." Cynthia seufzte auf. "Ich bin gespannt, mit was mich Cedric in Granada überraschen wird. Aber jetzt muß ich weiter. Das Flugzeug wartet sicher nicht auf mich."
"In Ordnung." Er gab ihre Hand frei. "Alles Gute, Miß Moore. Und vergessen Sie nicht, sich zu melden."
"Werde ich nicht. Einen schönen Aufenthalt in Malaga." Die junge Frau winkte ihm zu, dann schob sie ihren Gepäckboy durch den schmalen Gang, der zur Abflughalle der Inlandflüge führte. Als sie sich kurz vor der Schwingtür noch einmal umdrehte, sah sie, daß er ihr nachschaute.
Die Maschine, die Cynthia nach Granada brachte, hatte ihre besten Jahre schon hinter sich. Außer ihr gab es nur noch sechzehn andere Reisende, die es gewagt hatten, dieses Flugzeug zu besteigen. Holpernd und polternd überquerte es die Sierra Nevada, das bedeutendste Gebirgsmassiv Spaniens.
Cynthia blickte ununterbrochen aus dem Fenster. Eine wundervolle Gebirgslandschaft breitete sich unter ihnen aus. Weiße Gletscher bedeckten die höchsten Gipfel, dazwischen lagen ockerfarbene Hänge, durch die sich schmale Straßen wanden. Tiefer gab es herrlich grüne Täler mit Dörfern, deren Weiß so grell wirkte, daß es in den Augen schmerzte.
Schon bald erreichten sie Granada. Sie landeten auf dem Flughafen, der etwas außerhalb der Stadt lag und mußten noch fast zwanzig Minuten warten, weil sich die Türen der Maschine nicht öffnen wollten. Kurz bevor einige Passagiere in Panik gerieten, schwangen die beiden Türen auf und entließen sie ins Freie.
Zusammen mit den anderen Reisenden verließ Cynthia den Flughafen. Es war noch nicht Hochsommer, und die ganze Gegend erschien wie ein einziges Blütenmeer. Es duftete wunderbar nach Pflanzen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte. Hier könnte ich es auch länger aushalten, dachte sie, doch dann fiel ihr ein, daß sie ja keineswegs zu ihrem Vergnügen nach Granada gekommen war, und sie suchte sich ein Taxi.
"Sprechen Sie englisch?" fragte sie den Fahrer.
"Selbstverständlich, Miß", erwiderte er und verlud ihr Gepäck im Kofferraum.
"Ich möchte nach Granada, ins Hotel Boabdil."
"Bitte." Er hielt ihr die Fondtür auf. "Ihr Wunsch ist mir Befehl." Sein Lachen zeigte ein mehr als fehlerhaftes Gebiß.
Cynthia setzte sich ins Taxi. Sie hatte absichtlich dasselbe Hotel gewählt, in dem auch ihr Bruder hatte absteigen wollen. Aus ihrem Reiseführer wußte sie, daß dieses Hotel nach dem letzten Maurenfürsten benannt worden war, der auf der Alhambra residiert hatte.
Schon bald lag Granada vor ihnen. Die Vorstadt erwies sich als enttäuschend häßlich. Entlang der Straße gab es Werkstätten und Fabriken. Es herrschte ein fast unbeschreiblicher Lärm. Doch dann erreichten sie die Neustadt, und Cynthia begann etwas vom Zauber der Blüte Andalusiens zu spüren.
Der Wagen bog von der Hauptstraße ab, fuhr über eine Brücke, und sie befanden sich mitten in der Altstadt mit ihren winzigen Gassen und dem Fluß, der sie in zwei Teile teilte. Hoch oben auf den Hängen leuchteten die Mauern der Alhambra in einem satten Rot.
"So, da wären wir." Der Taxifahrer hielt vor einem großen, nach außen unscheinbaren Gebäude, das noch aus der Maurenzeit zu stammen schien. Seine einzige Zierde war der imposante Eingang. Der Name des Hotels stand in leuchtenden Buchstaben über ihm.
Cynthia entlohnte den Fahrer und wollte ihr Gepäck gerade ins Hotel tragen, als es ihr auch schon von einem Pagen abgenommen wurde. Sie folgte dem jungen Burschen zur Rezeption.
"Haben Sie inzwischen etwas von Mister Moore gehört?" fragte sie den Portier, während sie das Anmeldeformular ausfüllte.
"Nein, bis jetzt nicht, Miß Moore", erwiderte er. "Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte: Ihr Bruder hatte sich zwar ein Zimmer reservieren lassen, hat sich aber niemals bei uns gemeldet."
"Da kann man nichts machen." Die junge Frau nahm ihren Zimmerschlüssel in Empfang und fuhr zusammen mit dem Pagen zum dritten Stock hinauf. Wenig später betrat sie ihr Zimmer. Nach dem unscheinbaren Äußeren des Hotels hatte sie keinen derartigen Luxus erwartet. Es kam ihr vor, als sei sie mitten in einen Palast geraten.
Nachdem Cynthia dem Pagen ein Trinkgeld gegeben hatte, schloß sie die Tür. Sie trat auf den Balkon hinaus und blickte zur Alhambra empor. Schon als Kind hatte sie sich gewünscht, irgendwann die Alhambra zu sehen. Jetzt fragte sie sich, warum sie nie auf die Idee gekommen war, nach Spanien zu fliegen.
Langsam ließ sie ihren Blick über die gewaltigen Hügel gleiten, bis sie den Generalife entdeckte, dessen weltberühmte Gärten jedes Jahr Hunderttausende von Besuchern anzogen. Wenn sie Cedric gefunden hatte, blieb ihr vielleicht etwas Zeit, sich Granada und seine Sehenswürdigkeiten anzusehen. Sie hoffte es.
Die junge Frau setzte sich auf das Bett und breitete den Stadtplan aus, den sie noch in London gekauft hatte. Das Haus der deMurillos lag im Albayzin lag, dem malerischsten Viertel Granadas. Von ihrem Hotel aus waren es vielleicht zehn Minuten zu Fuß. Sie überlegte, ob sie die Familie noch an diesem Nachmittag aufsuchen sollte. Was sprach dagegen?
Cynthia entledigte sich ihrer Reisekleidung. Sie wollte duschen und sich etwas anderes anziehen. Sorgfältig hängte sie ihr Kleid über einen Bügel. Plötzlich fiel ihr wieder Brian ein, und ihr wurde bewußt, daß sie ihn vermißte. Sie konnte das nicht verstehen; immerhin kannten sie sich kaum, und sie hatte bis jetzt auch sehr gut ohne ihn leben können. Aber die Stunden, die sie gemeinsam im Flugzeug verbracht hatten, schienen sie bereits geprägt zu haben.
Du mußt verrückt sein, sagte sie sich, einfach verrückt. Wütend auf sich selbst, suchte sie das Bad auf. Ein Mann war wirklich das letzte, was ihr fehlte. Nein, sie mußte den Kunsthistoriker vergessen. Es gab wichtigere Dinge auf der Welt als einen Brian McArthur.
6. Kapitel
Das Haus der deMurillos lag in einer schmalen Seitenstraße gegenüber eines völlig verwilderten Gartens, der zu drei Seiten von verfallenen Gebäuden umgeben war. Mit seinen glatten, fensterlosen Mauern machte es den Eindruck einer Festung. Es wirkte wie eine Trutzburg, die sich ein Herrscher errichtet hatte. Ein hohes verwahrlostes Gebäude, das auf der rechten Seite an diese Mauern grenzte, schien ebenfalls zum Anwesen zu gehören. Cynthia war versucht, in dieses Gebäude einzudringen, um von einem der oberen Stockwerke aus einen Blick in den Hof der deMurillos zu werfen, doch sie befürchtete, dabei ertappt zu werden. So ging sie zu dem großen reich verzierten Portal und drückte den altmodischen Türklopfer.
Es dauerte lange, bis sich schlurfende Schritte der Tür näherten. Gleich darauf wurde das Portalfenster geöffnet. Das zerfurchte Gesicht eines alten grauhaarigen Mannes erschien in der Öffnung. Unfreundlich fragte er auf spanisch, was sie wollte.
"Es tut mir leid, ich spreche kein Spanisch, Senor", erwiderte sie. "Ich bin eine Bekannte Senorita Marcellas. Ich bin extra aus England gekommen, um sie zu besuchen."
"Senorita Marcella ist nicht da", behauptete der alte Mann, den Cynthia für Alfonso hielt. Sein Englisch klang seltsam, aber durchaus verständlich.
"Dann hätte ich gerne Dona Teresa deMurillo gesprochen." Cynthia dachte nicht daran, sich abweisen zu lassen.
"Auch Dona Teresa ist nicht hier. Sie ist heute morgen weggefahren." Der alte Mann wollte das Fenster wieder schließen, aber Cynthia war schneller. Sie streckte ganz einfach ihre Hand hindurch. "Ich glaube Ihnen nicht, daß weder Dona Teresa deMurillo noch Senorita Marcella hier sind", sagte sie und nannte ihren Namen. Alfonsos Blick wurde lauernd. "Möchten Sie, daß ich mit der Polizei zurückkehre?" fragte sie.
"Nein, das ist nicht nötig, Miß Moore. Ich werde sehen, ob Dona Teresa für Sie zu sprechen ist", erwiderte er und schlug so hastig das kleine Fenster zu, daß Cynthia gerade noch ihre Hand wegziehen konnte. Gleich darauf öffnete er das Portal. "Treten Sie ein", bat er in einem Ton, der an Unhöflichkeit nichts zu wünschen übrigließ.
Cynthia trat in eine kleine düstere Halle. Der Fußboden und die Wände waren mit wunderschönen Fliesen bedeckt. Neben einem großen Fenster, das auf den Hof hinausging, standen Blumen. Im hinteren Teil der Halle gab es einen Tisch und zwei Stühle in der typisch spanischen Art.
Alfonso dachte nicht daran, sie zum sitzen aufzufordern. "Warten Sie hier", wies er sie unfreundlich an und verschwand durch eine Tür.
Cynthia trat an das Fenster. Sie blickte in einen maurischen Innenhof, der durch das Haus von drei Seiten umspannt wurde. Es gab unzählige Pflanzen und einen großen Brunnen. Entlang der oberen Stockwerke des Hauses liefen Holzbalkone. Auch auf ihnen standen Blumen.
Die vierte Seite des Hofes wurde von dem verwahrlosten Gebäude begrenzt. Seine Fenster und Eingänge hatte man zugemauert, doch die blühenden Büsche, die den unteren Teil der Mauern bedeckten, gaben ihm etwas Anheimelndes.
Die junge Frau wandte ihren Blick nach links. Plötzlich erkannte sie, daß auch ein Teil dieses Hauses ziemlich verfallen wirkte. Wie es aussah, schienen die deMurillos ihre besten Zeiten hinter sich zu haben. Vielleicht fehlte es am Geld, oder einfach auch nur am Elan, den Verfall aufzuhalten.
Plötzlich erklangen hinter ihr Schritte. Sie drehte sich um und hätte fast erschrocken aufgeschrien, als sie die gebeugte Gestalt sah, die in der Halle stand. Die alte Frau war völlig in schwarz gekleidet, selbst ihre Haare wurden von einem schwarzen Spitzentuch bedeckt. Mit der rechten Hand umklammerte sie fest den Knauf eines Stockes. Ihr Gesicht, das noch Spuren früherer Schönheit erkennen ließ, wirkte wie eine Fratze, aus der dunkle Augen stechend herausschauten. "Dona Teresa deMurillo?" fragte Cynthia.
"Ja, ich bin Dona Teresa", erwiderte die alte Frau in einem klaren Englisch. Ihre Stimme klirrte wie Glas. "Mein Diener sagte mir, Sie hätten nach meiner Enkelin gefragt."
"Ja, ich hätte gerne Senorita Marcella gesprochen", erwiderte Cynthia und stellte sich erneut vor. "Es ist für mich sehr wichtig, Dona Teresa."
"Es tut mir leid, Miß Moore, aber meine Enkelin führt ein sehr zurückgezogenes Leben. Mein Sohn und meine Schwiegertochter sind im Februar tödlich verunglückt. Da ist es nur verständlich, daß sich Marcella für einige Zeit von der Welt zurückgezogen hat."
"Mein Bruder Cedric, der Verlobte Ihrer Enkelin, ist vor einigen Wochen nach Granada geflogen, um Senorita Marcella zu sehen. Er..."
Das Gesicht der alten Frau wurde weiß vor Zorn. "Wie können Sie behaupten, meine Enkelin sei verlobt? Ein Mädchen von Marcellas Herkunft würde sich niemals ohne die Zustimmung seiner Familie verloben. Ihren Bruder Cedric kenne ich nicht. Marcella hat ihn noch niemals erwähnt." Sie hob den Kopf. "Damit wäre wohl alles gesagt. Dürfte ich Sie dann bitten zu gehen?"
"Nein, das dürfen Sie nicht, Dona Teresa", erwiderte Cynthia. "Ich weiß, daß Senorita Marcella schwanger ist und mein Bruder Cedric der Vater dieses Kindes. Wenn..."
"Sie müssen irrsinnig sein. Ja, das ist die einzige Erklärung für eine derartige Verleumdung. Meine Enkelin ist ein anständiges Mädchen. In meiner Familie hat es noch nie uneheliche Kinder gegeben." Dona Teresa hob den Stock, um damit der jungen Frau zu drohen. "Gehen Sie endlich", forderte sie Cynthia schneidend auf und stieß mit dem Stock nach ihr. "Verschwinden Sie."
Cynthia spürte genau, daß die alte Frau log, aber auch, daß sie so nicht weiterkam. Ihr mußte etwas anderes einfallen, um mit Marcella Verbindung aufzunehmen. Irgend etwas Furchtbares war ihrem Bruder zugestoßen. Angst krampfte ihr Herz zusammen. Cedric brauchte ihre Hilfe und vermutlich auch Marcella.
Dona Teresa öffnete das Portal. "Gehen Sie!" schrie sie und stützte sich wieder auf ihrem Stock auf.
Die junge Frau gab nach. "Ich werde wiederkommen, Dona Teresa", drohte sie entschlossen. Kurz vor dem Portal blieb sie stehen. "Vielleicht komme ich sogar mit der Polizei."
Teresa deMurillo lachte auf. Es war ein meckerndes und zugleich gefährliches Lachen. Cynthia rann ein kalter Schauer über den Rücken. "Los!" stieß die alte Frau hervor und wies mit dem Stock ins Freie.
Cynthia verließ grußlos das Haus. Hinter ihr fiel scheppernd das Portal zu. Gleich darauf drehte sich kreischend von innen ein Schlüssel im Schloß.
Die junge Frau überquerte die Straße. Langsam drehte sie sich um und schaute an den grauen Mauern des Anwesens hinauf, dann wandte sie ihren Blick dem verwahrlosten Gebäude zu. Sie überlegte, ob sie nicht am Abend wiederkommen und versuchen sollte, vom Dachgarten dieses Hauses einen Blick in den Hof der deMurillos zu werfen. Vielleicht konnte sie Marcella sehen und irgendwie mit ihr Verbindung aufnehmen.
Niedergeschlagen machte sie sich auf den Rückweg zum Hotel. Um diese Zeit waren die Straßen des Albayzin fast menschenleer. Die meisten Bewohner Granadas hielten noch immer Siesta. Nur hin und wieder entdeckte sie einige spielende Kinder. Sie mußte Cedric finden. Sie durfte nicht nachgeben. Ob sie sich an die Polizei wenden sollte? Alfonso hatte sichtlich Angst vor der Polizei gehabt, oder hatte sie sich das nur eingebildet?
Der Hotelportier nickte ihr freundlich zu, als sie an die Rezeption trat. Ohne Aufforderung reichte er ihr den Zimmerschlüssel. "Es wäre besser, wenn Sie Ihre Spaziergänge in die kühlere Tageszeit verlegen würden, Miß Moore", meinte er. "Soll ich Ihnen eine Erfrischung auf Ihr Zimmer schicken lassen?"
"Ja, bitte. Ich hätte gerne Orangenlimonade", erwiderte Cynthia. In einem der Spiegel, die an den Wänden angebracht waren, sah sie ihr erhitztes Gesicht. Sie sehnte sich nach einer kühlen Dusche und frischer Kleidung. Eilig stieg sie die Treppe hinauf.
Sie hatte kaum ihre Zimmertür aufgeschlossen, als auch schon das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich.
"Ich bin es nur, Brian McArthur", sagte der junge Kunsthistoriker. "Auch in Spanien gibt es Telefonbücher. Es war einfach die Nummer des Hotels herauszufinden, in dem Sie abgestiegen sind."
"Eigentlich hätte ich damit rechnen müssen, daß Sie so etwas tun", meinte Cynthia. Sie wußte nicht recht, ob sie sich über seinen Anruf freuen sollte.
"Haben Sie sich schon etwas in Granada eingelebt? fragte er. "Wie ich Sie kenne, waren Sie sicher schon bei den deMurillos, oder haben wenigstens versucht, mit ihnen Verbindung aufzunehmen."
Die junge Frau hatte nicht vor, mit Brian McArthur über ihren Besuch im Haus der deMurillos zu sprechen, aber zu ihrer Überraschung merkte sie, wie die Worte ganz von allein über ihre Lippen kamen. Sie erzählte ihm, wie Dona Teresa sie empfangen und Marcellas Schwangerschaft abgestritten hatte. "Ich mache mir schreckliche Sorgen", sagte sie. "Ich frage mich, ob Cedric überhaupt noch lebt, ob..."
"Ich werde nach Granada kommen", versprach Brian. "Ob Sie es wollen oder nicht, Miß Moore, Sie brauchen Hilfe. Und vergessen Sie nicht, ich spreche spanisch. Gemeinsam wird es uns schon gelingen, Ihren Bruder zu finden."
Plötzlich war Cynthia froh, daß sie ihm alles erzählt hatte. "Ja, ich glaube wirklich, daß ich Hilfe brauche", gestand sie. "Wie es aussieht, komme ich alleine nicht weiter."
7. Kapitel
Cynthia drehte sich im Halbschlaf auf die andere Seite. Cedric war ganz nahe bei ihr. Sie sah sich mit ihrem Bruder Hand in Hand am Strand laufen. Sie hörte seine Stimme, hörte sein Lachen. Ein Lächeln umhuschte ihre Lippen. "Cedric", flüsterte sie. "Ce..."
Das Klingeln des Telefons brachte die junge Frau in die Wirklichkeit zurück. Schlaftrunken richtete sie sich auf und tastete, ohne die Augen zu öffnen, nach dem Hörer. "Moore", meldete sie sich alles andere als begeistert.
"Bitte, verzeihen Sie die Störung, Miß Moore", bat der Portier. "Ein Mister McArthur ist gerade eingetroffen und hat nach Ihnen gefragt. Er würde gerne mit Ihnen sprechen."
Mit einem Schlag war Cynthia hellwach. Brian McArthur hatte zwar versprochen, nach Granada zu kommen, aber so früh? Ihr Blick glitt zur Uhr und sie stellte fest, daß es keineswegs mehr so früh war. "Bitte verbinden Sie mit", bat sie und rieb sich die Augen.
"Sie werden doch nicht noch geschlafen haben, Miß Moore?" fragte Brian McArthur leicht amüsiert.
"Doch, das habe ich, Mister McArthur", antwortete sie. "Wie schön, daß Sie schon da sind."
"Ich habe die erste Maschine genommen, die ich bekommen konnte. Wann können wir uns sehen? Ich bin hier unten in der Halle und warte darauf, daß das Zimmer, das ich noch gestern abend bestellt habe, frei wird. Man sagte mir, es könne noch eine halbe Stunde dauern."
"Wie wäre es, wenn wir uns zum Mittagessen treffen würden?" schlug Cynthia vor. Jetzt war es kurz vor elf. "So in einer Stunde. Ich habe Ihnen eine Menge zu erzählen."
"Einverstanden. Ich werde auf Sie in der Halle warten", erwiderte Brian. "Dann bis später."
"Ja, bis später." Sie legte auf.
Cynthia saß noch eine Weile auf dem Bettrand, bevor sie ins Bad ging und duschte. Sie dachte darüber nach, ob es richtig gewesen war, dem Kunsthistoriker alles zu erzählen. Wie bereitwillig er ihr helfen wollte. Es bewies, daß er wirklich an ihr interessiert war. Sie würde ihm auf ewig verpflichtet sein, aber nach wie vor hatte sie Angst vor einer Bindung. Sie wollte ihre Freiheit, wollte nicht in Ketten gelegt werden, selbst wenn sie aus Gold waren.
Dann schob sie alle Bedenken beiseite. Es ging um Cedric und auch um Marcella. Sie mußte ihrem Bruder helfen, selbst für den Preis, in bezug auf Brian McArthur einen großen Fehler zu machen. Davon abgesehen mochte sie ihn ja, war gerne mit ihm zusammen. Nie zuvor hatte sie einen Menschen kennengelernt, der ihr von der ersten Minute an so sympathisch gewesen wäre.
Cynthia setzte sich im Unterkleid vor ihren Frisiertisch und machte sich sorgfältig zurecht. Es überraschte sie selbst, daß sie so viel Wert auf ihr Aussehen legte, aber sie wollte auf Brian einen guten Eindruck machen.
Du widersprichst dir ständig selbst, dachte sie und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Einerseits willst du dich nicht an diesen Mann binden und hast Angst, du könntest ihm verpflichtet sein, zum anderen willst du ihm gefallen.
Die junge Frau schlüpfte in Rock und Bluse, zog sich Sandalen an und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Die Sonne stand hoch oben am Himmel. In ihrem Schein strahlten die Mauern der Alhambra in einem sanften Rot. Plötzlich wünschte sie sich, mit Brian durch die alte Festung zu gehen, mit ihm die wunderbaren Gärten zu besuchen, von denen sie gehört hatte, später auf den Mauern des Generalife zu sitzen und auf die Stadt zu schauen.
Als Cynthia kurz vor zwölf in die Halle kam, war Brian McArthur schon da. Er ging ihr entgegen und schloß sie kurz in die Arme. "Mein Zimmer liegt im zweiten Stock", sagte er und nannte ihr die Zimmernummer.
"Meines im dritten. Man wohnt im Boabdil wirklich sehr gut. Außerdem ist das Personal freundlich. Dennoch würde ich vorschlagen, daß wir in eines der kleinen Restaurants gehen, die es hier überall gibt."
"Einverstanden."
Er nahm ihren Arm. "Hoffentlich halten Sie mich nicht für aufdringlich, weil ich darauf bestehe, Ihnen zu helfen. Aber mein Verstand sagt mir, daß es manchmal besser ist, zu zweit zu sein. Bitte, glauben Sie mir, ich möchte mich keineswegs in Ihre Angelegenheiten mischen."
"Machen Sie sich darüber keine Sorgen, Mister McArthur. Ich bin sehr froh, daß Sie hier sind", erwiderte Cynthia.
"Das macht mich glücklich." Sein inniger Blick gab der jungen Frau das Gefühl, mit ihm zusammen gegen die ganze Welt bestehen zu können. Brian war da, und er würde schon alles in Ordnung bringen. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sie wieder mit ihrem Bruder vereint war.
Die jungen Leute überquerten die Straße und suchten sich ein Restaurant am Ufer des Darro. Es war in einem der alten Häuser untergebracht und besaß wie die meisten einen wunderschönen maurischen Innenhof. Doch in diesem Fall war der Hof zu einer Seite offen und bot einen herrlichen Blick auf den Fluß und die Alhambra.
Während des Essens erzählte Cynthia ihrem Begleiter, daß sie am vergangenen Abend noch einmal im Albayzin gewesen war, um das Haus der deMurillos aufzusuchen. Ungesehen hatte sie das verwahrloste Gebäude an seiner rechten Seite betreten.
"Es ging viel einfacher, als ich befürchtet hatte", sagte sie. "Das Portal war nur angelehnt. Vermutlich hat sich schon seit Jahren niemand mehr um das Haus gekümmert." Ein Lächeln umhuschte ihre Lippen. "Ich habe mich beim Portier unseres Hotels nach einigen der ganz alten Häuser im Albayzin erkundigt. Ganz von selbst sprach er auch von dem Besitz der deMurillos. Ich sagte ihm, ich sei bei meinem Spaziergang am Nachmittag an ihm vorbeigekommen, und dann erwähnte ich das verwahrloste Haus. Er erzählte mir, daß es ursprünglich auch den deMurillos gehört hätte, doch vor über hundert Jahren verkauft worden sei. Die Familie, die es damals kaufte, lebt heute in Madrid. Seitdem würde sich niemand mehr darum kümmern."
Brian nahm ihre Hand und drückte sie kurz. "Sie sollten nicht solche gefährlichen Dinge unternehmen", meinte er besorgt. "Warum haben Sie nicht gewartet, bis ich in Granada bin?"
"Hin und wieder muß man ein Risiko eingehen, Mister McArthur. Zudem hat mich niemand gesehen, als ich das Haus betrat. Die meisten Gebäude in dieser Gegend sind unbewohnt."
"Haben Sie einen Blick in den Hof werfen können?"
"Ja, ich stieg bis zum überdachten Dachgarten hinauf. Die Treppe knarrte ziemlich gefährlich unter meinen Füßen, und das Geländer durfte ich nicht anfassen, sonst wäre es sicher zusammengebrochen. Aber ich schaffte es." Sie lachte leise. "Mein Schutzengel hat bestimmt Überstunden gemacht."
"So sieht es aus", bemerkte der Kunsthistoriker kopfschüttelnd.
"Vom Dachgarten aus konnte ich in den Hof blicken. Ich mußte eine ganze Weile warten, bevor ich jemanden sah. Zum Glück habe ich aus England das alte Nachtfernglas meines verstorbenen Vaters mitgebracht und es gestern abend mitgenommen. Cedric hat mir vor seiner Abreise ein Foto seiner Verlobten gezeigt, dennoch bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, ob das Mädchen, das ich gesehen habe, Marcella ist. Allerdings konnte ich deutlich erkennen, daß sie schwanger ist."
"Dann wird es wohl Marcella gewesen sein", meinte Brian. "Haben Sie mit ihr Verbindung aufnehmen können?"
"Ich versuchte es. Ich rief hinunter, aber natürlich konnte ich nicht sehr laut rufen. Immerhin mußte ich befürchten, daß ich sonst auch noch von jemand anderem gehört werden würde." Sie schüttelte den Kopf. "Nein, Marcella beachtete mich nicht. Ihre ganze Haltung drückte Trauer und Resignation aus. Sie tut mir unendlich leid. Ich bin mir ganz sicher, daß sie in diesem Haus gefangengehalten wird, genauso wie sie in ihrem Brief geschrieben hat."
"Nach allem, was Sie mir von der Großmutter und diesem alten Diener erzählt haben, bezweifle ich, ob die beiden bei klarem Verstand sind."
"Ich glaube es nicht." Cynthia nippte an ihrem Wein. "Aber wie bekommen wir heraus, wo Cedric ist? Irgendwie muß es uns gelingen, mit Marcella in Verbindung zu treten."
"Lassen Sie mich einen Moment nachdenken", bat Brian. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Ganz flüchtig glaubte Cynthia, wieder hinter ihm einen Schatten wahrzunehmen, aber es konnte auch das Sonnenlicht sein, das sie blendete.
"Ich weiß, was wir tun", sagte er. "Die deMurillos sind sicher sehr gläubig. Ganz bestimmt gehen sie am Sonntag in die Kirche. Wir werden uns in der Nähe des Hauses verstecken und es beobachten. Wenn Dona Teresa mit Marcella das Haus verläßt, werden wir das Mädchen ganz einfach ansprechen. So in aller Öffentlichkeit kann ihr ihre Großmutter ein Gespräch mit uns ganz sicher nicht verwehren."
"Das ist eine fabelhafte Idee", gab die junge Frau zu. "Aber Sonntag ist erst übermorgen."
Er berührte ihre Hand. "Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es jetzt auch nicht mehr an, Miß Moore. "Bitte, haben Sie etwas Geduld. "Sie helfen Ihrem Bruder nicht, wenn Sie versuchen, Mauern einzureißen, hinter denen eine Wand aus Eisen steht."
"Sie haben ja recht", gab Cynthia seufzend zu. "Nein, auf einen Tag mehr oder weniger kommt es wirklich nicht an. Wenn Cedric noch lebt, dann besteht für ihn bestimmt keine unmittelbare Lebensgefahr. Und wenn er..."
"Ihr Bruder lebt, da bin ich mir ganz sicher." Der junge Mann drückte ihre Hand. Er wies zur Alhambra empor. "Da wir im Moment ohnehin nichts unternehmen können wie wäre es mit einem Ausflug in die Vergangenheit?"
Es mußte wundervoll sein, mit Brian McArthur durch die Alhambra zu gehen. Cynthia spürte, wie sie errötete. Sie hoffte, daß es der junge Kunsthistoriker nicht bemerkte. "In Ordnung", meinte sie. "Schauen wir uns Granada und die Alhambra an. Es hilft Cedric nichts, wenn wir bis Sonntag nur so herumhängen."
"Wir werden Ihren Bruder finden. Ganz gewiß werden wir ihn finden." Brian trat hinter Cynthias Stuhl und legte seine Hände auf ihre Schultern. "Sie dürfen nur nicht den Mut verlieren. Was immer auch geschehen sein mag, wir werden nicht aufgeben, bis wir es herausgefunden haben."
Cynthia blickte zu ihm auf. Sie war unendlich froh, ihn bei sich zu haben. Mit ihm an ihrer Seite würde sie es schaffen, ihren Bruder zu finden. Brian konnten weder Dona Teresa noch Alfonso etwas anhaben. Er würde tatsächlich nicht eher ruhen, bis Cedric wieder bei ihr war.
8. Kapitel
Sie verbrachten den ganzen Nachmittag in der Alhambra. Die junge Frau wußte, diese Stunden würden ihr bis in alle Ewigkeit unvergeßlich bleiben.
Während sie durch die mit wunderschönen Ornamenten, leuchtenden Fliesen und herrlichen Stuckschnitzereien ausgestatteten Räume gingen, erzählte ihr Brian soviel aus der Geschichte der Alhambra und Granadas, wie sie es nie aus Büchern hätte erfahren können. Brian verstand es, ihr das Leben der Mauren verständlich zu machen und den Schmerz Boabdils, der mit seiner Familie die Alhambra verlassen mußte, um sie dem spanischen Königspaar Ferdinand und Isabella zu übergeben.
Es dunkelte bereits, als die jungen Leute die Alhambra verließen und durch die Gärten des Generalife gingen. Kaum hatten sie das Tor durchschritten, nahm sie der betäubende Duft der unzähligen Blumen gefangen. Millionen von Insekten schwirrten in der Luft. Ihr leises Summen und Flügelschlagen wurden vom Plätschern des Wassers übertönt.
Cynthia und Brian wanderten Hand in Hand durch die einzelnen Höfe des Generalife mit ihren herrlichen Mosaiken, kleinen Bächen und Brunnen. Schließlich stiegen sie eine schmale Treppe hinauf, die zu einer breiten, überdachten Terrasse führte, deren Stuckverzierungen im Abendlicht wie künstliches Elfenbein wirkten. Hoch über ihnen wölbte sich eine Stalaktitendecke.
Die jungen Leute setzten sich auf eine der niedrigen Mauern und blickten über die Gärten und den bewaldeten Hügel zur Stadt hinunter, deren Lichter wie ein Millardenheer von Glühwürmchen wirkte. Cynthia dachte daran, daß irgendwo dort unten Cedric auf sie wartete. Sie fühlte sich ihrem Bruder plötzlich so nahe, daß sie glaubte, nur die Hände ausstrecken zu müssen, um ihn berühren zu können.
"Wir werden Ihren Bruder finden", versprach Brian, als hätte er ihre Gedanken erraten. Kameradschaftlich legte er den Arm um ihre Schultern.
"Ich wünsche es mir so sehr", sagte Cynthia und lehnte sich in seinen Arm. Selten zuvor hatte sie sich so geborgen gefühlt. Ein Lächeln umhuschte ihre Lippen. "Ich kann mir Cedric nicht als Vater vorstellen. Mein kleiner Bruder!" Sie schüttelte den Kopf.
"Vermutlich werden Sie eine wunderbare Tante sein."
"Und eine sehr stolze dazu." Die junge Frau blickte wieder auf die erleuchtete Stadt hinunter. Es war ein erhabenes Gefühl, daß schon Jahrhunderte vor ihnen hier Menschen gesessen hatten, um den Ausblick zu genießen. Vielleicht hatten Ferdinand und Isabella von hier oben weitere Eroberungspläne geschmiedet. "Es heißt, sie seien sehr glücklich miteinander gewesen", sagte sie aus ihren Gedanken heraus.
"Von wem sprechen Sie?"
Cynthia sagte es ihm.
"Ja, Isabella soll ihren Mann geliebt haben, damals durchaus nichts Selbstverständliches. Sie war noch sehr jung, als sie den Thron bestieg." 'Brian zog sie etwas fester an sich.
Cynthia erschrak. Unwillkürlich rückte sie ein Stückchen von ihm ab. Plötzlich hatte sie Angst, er könnte ihr zu nahe kommen, obwohl sie es sich gleichzeitig wünschte. Was war nur mit ihr los? Warum setzte ihr Verstand aus, wenn es um Brian McArthur ging? Hatte sie bisher nicht alles getan, um einer möglichen Bindung aus dem Weg zu gehen? Liebte sie nicht ihre Freiheit?
"Wovor haben Sie Angst?"
"Ich habe keine Angst." Sie schüttelte den Kopf.
Brian sah sie an. Sehr behutsam berührte er mit den Fingerspitzen ihr Gesicht. "Doch, Sie haben Angst", widersprach er und blickte ihr in die Augen.
"Bitte, nicht", bat sie leise, doch als er seine Hand sinken ließ, griff sie nach ihr und hielt sie fest. Langsam hob sie den Kopf und erwiderte seinen Blick.
"Ich habe mich in dich verliebt", sagte er zärtlich. "Kannst du das nicht verstehen?" Und bevor sie noch etwas erwidern konnte, zog er sie an sich und küßte sie.
9. Kapitel
Am Sonntagmorgen verließen Cynthia und Brian McArthur sehr früh das Hotel. Durch die stillen Straßen gingen sie zu dem verwilderten Garten, der dem Anwesen der deMurillos gegenüberlag. Es fiel ihnen nicht schwer, sich dort zu verbergen. Es gab genug hohe Sträucher, hinter denen sie sich verstecken konnten. Doch ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Sie hatten erwartet, daß die deMurillos die Frühmesse besuchen würden, aber die Stunden verrannen, und das Portal des Hauses blieb geschlossen.
Obwohl sie sich danach sehnte, endlich mit Marcella sprechen zu können, machte es Cynthia nichts aus, hier mit Brian zu warten. Seit dem Abend im Generalife hatte sich für sie die Welt verändert. Sie wußte, daß sie sich in den Kunsthistoriker verliebt hatte. Immer wieder sah sie ihn an, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Es kam ihr vor, als hätte sie sich selbst verraten. Aber sie war nicht unglücklich darüber, sondern nur verwundert. Hatte sie sich nicht fest vorgenommen, sich noch nicht zu binden?
Ich bin nicht gebunden, versuchte sie sich einzureden, wußte jedoch, daß sie sich da nur etwas vormachte.
Endlich öffnete sich das Portal. Gefolgt von Alfonso, der in seinem steifen schwarzen Anzug wie eine Gestalt aus einem Horrorfilm wirkte, verließ Dona Teresa das Haus. Sorgfältig schloß Alfonso das Portal ab. Ohne nach rechts oder links zu sehen, gingen sie die Straße hinunter.
"Dann wagen sie es also nicht einmal, Marcella mit in die Kirche zu nehmen", bemerkte Brian. "Vielleicht gelingt es uns jetzt, mit ihr in Verbindung zu treten."
"Dennoch können wir nicht laut nach ihr rufen. Höchstwahrscheinlich gibt es außer Alfonso noch andere Bedienstete im Haus", sagte Cynthia. Sie hätte am liebsten am Portal geklingelt, doch das konnten sie nicht wagen.
"Auf jeden Fall werden wir es versuchen." Brian nahm ihren Arm. "Mehr als einen Reinfall können wir nicht erleben."
Sie überquerten die Straße und betraten das verwahrloste Haus, das an den Besitz der deMurillos grenzte. Interessiert blickte sich Brian um. Cynthia merkte ihm an, daß das Gebäude gerne einer gründlichen Inspektion unterzogen hätte.
Das Haus mußte einmal sehr schön gewesen sein. Ein Großteil der Fliesen, die Wände und Boden bedeckten, waren zwar zersprungen und hatten ihre Farbe verloren, doch noch immer konnte man erahnen, wie sie einmal ausgesehen hatten.
Sie stiegen die Treppen bis zum Dachgarten hinauf. Brian machte seine Begleiterin auf die verblaßten Fresken aufmerksam. Sie waren im maurischen Stil gehalten, zeigten weder Menschen noch Tiere, dafür jedoch Pflanzen. Suren aus dem Koran umliefen wie ein Fries unterhalb der Decke über die Wand.
Cynthia war froh, daß sie wieder ihr Fernglas mitgebracht hatte. Unten im Hof erblickten sie eine junge, schwarzgekleidete Frau, die offensichtlich schwanger war. Sie saß am Brunnenrand und hielt eine Hand ins Wasser.
"Das ist sie", sagte Cynthia. "Jetzt am Tag erkenne ich, daß dieses Mädchen Marcella ist." Leise rief sie zu ihr hinunter, doch Cedrics Verlobte hörte sie nicht.
"Hast du ein Foto deines Bruders dabei?" fragte Brian. Er bückte sich nach einem der Steine, die irgendwann aus den Mauern gebrochen waren.
"Ja." Cynthia reichte es ihm. Fasziniert beobachtete sie, wie er das Foto mit Hilfe eines Schnürsenkels um den Stein band. Dann warf er ihn in den Hof hinunter.
Marcella sprang erschrocken auf, als ihr der Stein direkt vor die Füße fiel. Sie blickte nach oben, gewahrte die beiden Menschen, die ihr zuwinkten. Verwirrt bückte sie. Sie preßte eine Hand auf den Mund, als sie Cedrics Foto sah.
"Wir müssen mit Ihnen sprechen!" rief Brian halblaut, jederzeit gegenwärtig, daß irgendwelche Dienstboten auftauchen konnten.
Marcella drückte das Foto an ihr Herz. Sie zeigte quer über den Hof zu einer Treppe, die in die Tiefe führte. Dann wies sie nach oben und deutete abrupt nach unten.
"Was will sie?" fragte Cynthia.
"Wenn ich das wüßte."
Marcella wiederholte das Ganze noch einmal, und endlich verstanden sie. Sie sollten in den Keller des Hauses gehen. Vermutlich gab es dort eine Verbindungstür. "Komm, Cynthia." Brian nahm ihre Hand. "Versuchen wir unser Glück."
Vorsichtig stiegen sie die Treppen wieder hinunter. Dann suchten sie in der kleinen Halle nach dem Kellereingang. Sie fanden ihn halb verborgen hinter einer Tür, die schrecklich in ihren Angeln quietschte, als Brian sie öffneten. Dumpfer Geruch schlug ihnen entgegen, von unten herauf drangen seltsame Laute. Es war eine Art Fiepen.
"Ratten", bemerkte Brian und ergriff den Arm seiner Begleiterin.
"Ich habe noch nie in meinem Leben eine Ratte gesehen", sagte Cynthia und versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. Ein kalter Schauer rann über ihren Rücken. Immerhin hatte sie schon wahre Horrorgeschichten über Ratten gehört. Dennoch stieg sie hinter Brian die glatten Stufen hinunter, die in die Tiefe führten.
Das Licht ihrer Taschenlampe erfaßte weiß gekalkte Wände. Teilweise waren sie mit grünem Schlick überzogen. Hin und wieder kamen die jungen Leute an einem Sims vorbei, auf dem früher Petroleumlampen gestanden hatten.
Sie erreichten einen schmalen Gang, von dem Türen in kleine Gelasse führten. Nach einigen Metern machte der Gang einen Bogen und mündete vor einer größeren Tür. Sie bestand aus massivem Holz. Als Brian die Klinke nach unten drückte, stellte er fest, daß die Tür abgeschlossen war. Doch es gab eine Klappe. Sie klemmte zwar etwas, ließ sich jedoch mit einiger Mühe aufschieben. Die hinter ihr liegende Öffnung wurde von drei Gitterstäben gesichert.
"Hallo", sagte die junge Frau, die jenseits der Tür stand, sehr leise. Sie war bildhübsch, doch ihr Gesicht wirkte verhärmt. In ihren braunen Augen standen Tränen. "Ich wollte schon alle Hoffnung aufgegeben. Ich hätte nicht gedacht, jemals wieder andere Menschen als meine Großmutter und unsere Dienstboten zu sehen."
Cynthia stellte sich und Brian McArthur vor. "Bevor mein Bruder nach Spanien flog, hat er mit mir gesprochen und mir ein Foto von Ihnen gezeigt", berichtete sie. "Wo ist Cedric? Ich habe schon seit Wochen keine Nachricht mehr von ihm erhalten."
Marcella nickte. "Ich kann dieses Haus nicht verlassen. Ich werde hier wie eine Gefangene gehalten. Vor dem Schlafen gibt mir meine Großmutter jedesmal eine Spritze. Sie behauptet, es wären Vitamine, aber das glaube ich nicht, denn am nächsten Morgen wache ich immer wie benommen auf." Ihre Lippen verzogen sich schmerzlich. "Mein Großvater war Arzt und Forscher. Ich nehme an, daß meine Großmutter aus dieser Zeit noch eine Menge Betäubungsmittel besitzt."
Marcella strich sich über die Augen. "Es ist einige Wochen her, daß ich Cedric zuletzt gesehen habe. Alfonso ließ ihn ins Haus. Ich befand mich gerade im Hof, als Cedric nach mir fragte. Alfonso erlaubte mir, mich ein paar Minuten mit ihm zu unterhalten. Cedric und ich schmiedeten Fluchtpläne, aber dann kehrte Alfonso mit meiner Großmutter zurück.
Sie schickte mich auf mein Zimmer, weil sie sich unter vier Augen mit Cedric unterhalten wollte. Sie war nett und freundlich, und ich hoffte für einen Augenblick, es würde alles gut werden. Ich wartete in meinem Zimmer, wartete und wartete. Schließlich hielt ich es nicht länger aus und ging in den Salon hinunter.
Meine Großmutter saß an ihrem Stickrahmen. Ich fragte nach Cedric. Sie sagte mir, er sei dort, wo er hingehören würde. Er würde für seine große Schuld bezahlen, genauso wie ich bezahlen müßte."
Cynthia ballte die Hände. "Was, glauben Sie, ist mit meinem Bruder geschehen?"
"Meine Großmutter wird ihm eine Erfrischung angeboten und damit betäubt haben. Vermutlich hat sie ihn irgendwo eingesperrt." Marcella schluckte. "Soweit es mir möglich war, habe ich überall nach ihm gesucht. Aber dieses Haus ist so riesig. All die Nebengebäude! Ein Großteil der Zimmer kann nicht betreten werden, sie sind abgesperrt."
"Könnte Ihre Großmutter meinen Bruder ermordet haben?" fragte Cynthia mit trockener Kehle.
"Ich weiß es nicht", flüsterte Marcella. "Ich weiß es nicht." Sie faßte sich auf den Leib. "Außerhalb dieses Hauses ahnt niemand, daß ich ein Kind erwarte. Ich soll es hier zur Welt bringen. Gleich nach seiner Geburt, will Großmutter es in ein Kloster geben." Sie schluchzte auf. "Cedric und ich wollten heiraten. Ich habe solche Angst, solch entsetzliche Angst."
Brian griff durch das Gitter und berührte Marcellas Gesicht. "Wir werden Ihnen helfen", versprach er. "Meinen Sie, daß es Ihnen möglich sein wird, einen Bauplan dieses Hauses zu besorgen? Vielleicht gibt es hier eine Bibliothek mit alten Büchern. Vor allen Dingen, wo befindet sich der Schlüssel zu dieser Tür?"
"Wenn es einen Schlüssel gibt, hat ihn meine Großmutter. Ich habe schon überall danach gesucht, weil ich hoffte, durch diese Tür fliehen zu können." Wieder legte Marcella eine Hand auf ihren Leib. "Aber ich werde nach Bauplänen suchen. In der Bibliothek meiner Großmutter gibt es viele alte Bücher, Chroniken und dergleichen. Ganz sicher wird es auch Aufzeichnungen über den Bau des Hauses geben. Können Sie am Abend wiederkommen? Nach dem Essen gehe ich immer noch etwas im Hof spazieren. Niemandem wird es auffallen, wenn ich in den Keller gehe." Sie nannte die Uhrzeit.
"Wir werden am Abend hier sein", versprach Cynthia.
"Danke." Marcella schenkte ihnen ein Lächeln. "Aber jetzt muß ich gehen. Meine Großmutter und Alfonso werden sicher bald zurück sein."
"In Ordnung", meinte Brian. "Lebt außer Ihnen, Ihrer Großmutter und Alfonso noch jemand im Haus?"
"Eine alte Köchin, die seit ihrer Kindheit unserer Familie dient, und deren Nichte. Das Mädchen ist stumm."
Nachdem sie sich von Marcella verabschiedet hatten, schlossen sie die Türklappe wieder und stiegen schweigend die Kellertreppe hinauf. In der Halle fragte Cynthia: "Wie willst du die Tür aufbekommen?"
"Ich werde mir ein Brecheisen besorgen", erwiderte ihr Freund mit einer Selbstverständlichkeit, als würde das zu seinen gewöhnlichen Aufgaben gehören. "Es gibt hier genug Baustellen." Er grinste. "Das laß nur meine Sorge sein." Zärtlich nahm er sie in die Arme. "Wir werden es schon schaffen, Cynthia, verlaß dich darauf."
"Wäre es nicht besser, wir würden uns an die Behörden wenden?"
Er schüttelte den Kopf. "Wir haben keine Beweise. Die Familie deMurillo ist überall angesehen. Man wird nicht einfach auf unser Wort hin gegen Dona Teresa vorgehen und das Haus durchsuchen. Erst wenn wir beweisen können, daß dein Bruder hier gefangengehalten wird, können wir etwas Derartiges unternehmen." Brian küßte sie auf die Wange. "Dein Bruder wird schon bald wieder bei dir sein."
Die junge Frau lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Sie spürte, daß ihr Brian keine leeren Versprechungen machte. "Ich bin so froh, daß du bei mir bist", bekannte sie.
"Ja, das ist ein Wort", meinte er und zog sie an sich.
10. Kapitel
Es war kurz vor Mitternacht, als die jungen Leute das Hotel verließen und durch die stillen Straßen zum Anwesen der deMurillos gingen. Um diese Zeit lagen die meisten Menschen schon im Bett, und so begegnete ihnen nur hin und wieder ein Passant. Schweigend betraten sie das verlassene Haus und stiegen in den Keller hinunter. Obwohl sich Cynthia vorgenommen hatte, die Ratten zu ignorieren, schrie sie leise auf, als direkt vor ihnen eine durch den Gang huschte.
Brian McArthur hatte bereits in der vergangenen Nacht ein Brecheisen besorgt. Er hatte vor, es am nächsten Tag auf die Baustelle zurückzubringen. Es war das erstemal in seinem Leben gewesen, daß er einfach etwas genommen hatte, aber er fand, daß er in diesem Fall dazu berechtigt war. Immerhin ging es um ein Menschenleben, im Grunde genommen sogar um drei. Marcella und ihr Kind brauchten genau wie Cedric Hilfe.
Stundenlang hatte er mit Cynthia über den Bauplänen gesessen, die ihnen Marcella am vergangenen Abend durch das vergitterte Fenster gereicht hatte.
Es gab mehrere Möglichkeiten, wo Cedric gefangengehalten werden konnte, aber Brian war davon überzeugt, daß Dona Teresa Cynthias Bruder in dem halb verfallenen Haus eingesperrt hatte, das an das Hauptgebäude grenzte. Marcella hatte ihnen gesagt, daß das obere Stockwerk und der Turm des Hauses überhaupt nicht mehr betreten werden konnten, da Einsturzgefahr bestand. Aus den Bauplänen ging jedoch hervor, daß gerade dieses Gebäude scheinbar für die Ewigkeit errichtet worden war.
Schneller als erwartet gelang es dem jungen Kunsthistoriker, die schwere Tür aufzubrechen. Minutenlang hielten sie den Atem an, weil sie befürchteten, der Krach, der dabei entstand, müßte meilenweit zu hören sein, doch als sich der Staub gelegt hatte und alles ruhig blieb, atmeten sie auf. Marcella hatte ihnen gesagt, daß die Zimmer von Dona Teresa und der Dienerschaft im zweiten Stock des Hauptgebäudes lagen. Niemand schien etwas vom Aufbrechen der Tür bemerkt zu haben.
Die jungen Leute durchquerten die angrenzenden Kellerräume und stiegen die Treppe zum Hof hinauf. Das leise Plätschern des Brunnens erfüllte die Luft. Es duftete herrlich nach all den Blumen, die hier wuchsen. Im silbernen Licht des Mondes wirkte die ganze Umgebung wie verzaubert.
Fast lautlos huschten sie über den Hof und betraten den offenen, halbrunden Torgang des Turmhauses. Das Licht ihrer Taschenlampen erfaßte die herrlichen Kacheln, mit denen der liegende Korridor ausgestattet war. Eine Treppe führte nach oben, doch ein massives Gitter versperrte ihnen den Weg. Wieder benützte Brian das Brecheisen, und wieder befürchteten sie, der Lärm könne Dona Teresa und ihre Angestellten wecken, aber nichts geschah.
Die Treppe machte nicht gerade einen sicheren Eindruck. Ihre Steinstufen wirkten bröckelig. Cynthia und Brian hielten sich eng an der Wand, aus Angst, in der Nähe des Geländers durchzubrechen und in die Tiefe zu stürzen.
Gründlich durchsuchten sie den ersten Stock, soweit es ihnen möglich war. Manche der Zimmer konnten tatsächlich nicht mehr betreten werden, da in ihrem Fußboden große Löcher klafften.
Weder im ersten noch im zweiten Stock fanden die jungen Leute auch nur den geringsten Hinweis auf Cedric, aber sie stellten fest, daß es Verbindungstüren zum Hauptgebäude gab. Doch wie erwartet, waren auch sie verschlossen.
"Bleibt nur noch der Turm", sagte Brian. Der Schein seiner Taschenlampe huschte die Stufen hinauf. Für ein Haus, das nie mehr betreten wurde, gab es viel zu viele Fußspuren im Staub. Wie es aussah, wurde diese Treppe sehr häufig benutzt. "Komm." Er griff nach Cynthias Hand. "Mein Gefühl sagt mir, daß wir fast am Ziel sind."
Vorsichtig folgte Cynthia ihrem Freund die gewundene Treppe nach oben. Plötzlich nahm sie am Geländer einen Schatten wahr. Er schien sie zu beobachten. "Brian, ich..." Erschrocken schrie sie auf. Über ihren Köpfen flog etwas hinweg, das wie ein riesengroßer Vogel wirkte. Gleich darauf erklang vielfältiges Flügelschlagen. Etwas Kaltes streifte ihre Wange.
"Ducken!" befahl Brian. "Das sind Fledermäuse". Den Arm um Cynthia gelegt, kauerte er nieder. "Es wird gleich vorbei sein. Unser Licht auf sie aufgeschreckt."
Endlich schien auch die letzte Fledermaus den Turmraum verlassen zu haben. Brian richtete sich auf und reichte seiner Freundin die Hand. "Komm, gehen wir weiter", forderte er. "Wir sind gleich oben."
Cynthia stieg die letzten Stufen hinauf und folgte Brian in einen großen Raum, der links von ihnen lag. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampen huschte über ein massives Gitter. Wieder schrie sie auf. Aus den Gitterstäben ragte eine Hand, deren Finger nach einem Schlüsselpaar ausgestreckt waren, das unerreichbar für sie auf dem Boden lag.
"Oh Gott!" stöhnte Brian auf.
Cynthia kauerte sich neben das Gitter. Mit ihrer Taschenlampe leuchtete sie das hinter ihm liegende Verlies aus. "Cedric", flüsterte sie fast lautlos und berührte sanft die Hand, die mit einer langen Eisenkette an die Wand gefesselt war.
Ihr Bruder rührte sich nicht. Bewegungslos lag er auf einem Strohsack. Neben ihm standen ein Krug und eine irdene Schüssel, an der sich eine Ratte gütlich tat. Die Ratte ließ sich weder von den jungen Leuten noch von dem Licht stören.
Brian hatte bereits die Schlüssel ergriffen und versuchte, mit ihnen das Gitter aufzuschließen, aber es gelang ihm nicht. Wie es aussah, hatte man die Schlüssel nur als besondere Grausamkeit gedacht. "Mal sehen, ob ich es aufbrechen kann", sagte er. "Unten ist es mir ja auch gelungen." Aber so sehr sich der junge Mann auch bemühte, es gelang ihm nicht, das Gitter aus seiner Verankerung zu reißen. "Holen wir die Polizei", schlug er vor.
Cynthia streichelte noch immer die Hand ihres Bruders. Über ihr Gesicht rann Tränen, ohne daß sie sich dessen bewußt wurde. Unablässig sprach sie auf ihn ein, aber er rührte sich nicht. Nur einmal hatte er die Augen aufgeschlagen, vor Erschöpfung jedoch gleich wieder geschlossen.
"Du mußt alleine gehen", forderte sie. "Ich bleibe hier bei meinem Bruder."
"Nein, das ist viel zu gefährlich. Bitte, komm mit, Cynthia. In spätestens einer halben Stunde sind wir zurück."
Die junge Frau schüttelte den Kopf. "Nein, Brian. Ich bleibe hier. Ich lasse meinen Bruder nicht alleine. Das kann ich nicht." Sie führte Cedrics Hand an ihre Lippen.
Brian McArthur sah ein, daß es ihm nicht gelingen würde, seine Freundin umzustimmen, und er konnte sie auch verstehen. "Ich werde mich beeilen", versprach er, "aber bitte, paß auf. Auch wenn ich fest davon überzeugt bin, daß alles schläft, ich habe Angst." Er berührte ihre Schulter. "Also, sei vorsichtig."
"Ich werde vorsichtig sein", versicherte Cynthia. "Keine Angst." Sie blickte zu ihm auf. "Ich bin so froh, daß wir Cedric gefunden haben. Jetzt wird alles gut. Vermutlich braucht mein Bruder nur etwas Ruhe und kräftige Nahrung, um wieder auf die Beine zu kommen."
Sie blickte ihrem Freund nach. Auch wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, sie fühlte sich plötzlich schrecklich verlassen. Noch immer hielt sie Cedrics Hand. "Wir haben Marcella gesehen", sagte sie zu ihm. "Es geht ihr gut."
Cedric stöhnte auf. Die junge Frau rückte näher an das Gitter heran. Ohne daß es ihr bewußt wurde, kauerte sie sich so auf den Boden, daß sie die Treppe nicht mehr sehen konnte.
"Ich bin es, Cynthia", sprach sie auf ihren Bruder ein. "Wir bringen dich hier raus." Sie erzählte ihm von Brian, obwohl sie sich nicht sicher war, ob er sie überhaupt verstand. "Keine Angst, es kommt alles in Ordnung, Cedric. Hab noch etwas Geduld. Wenn..."
Cynthia hörte ein leises Geräusch. Sie ließ die Hand ihres Bruders los und fuhr herum. Hinter ihr stand Dona Teresa. Das Mondlicht beschien ihr von Haß verzerrtes Gesicht und verlieh ihm etwas Dämonisches. In der rechten Hand hielt sie eine Spritze. Bevor sich die junge Frau noch von ihrer Überraschung erholen konnte, griff Marcellas Großmutter bereits nach ihr. Sie hatte ungeahnte Kräfte. Verzweifelt versuchte Cynthia, der Spritze auszuweichen.
"Hast du geglaubt, du kommst davon?" fragte Dona Teresa schrill. "Hast du das wirklich geglaubt?" Sie wollte die Spritze in Cynthias Arm stoßen.
Cynthia spürte, wie ihre Kräfte erlahmten. Doch gerade, als sie glaubte, der alten Frau nicht länger widerstehen zu können, sah sie wieder den Schatten. Dieses Mal wirkte er gefährlich. Starre Augen traten aus ihm heraus. Hände, wie Klauen geformt, wollten nach Dona Teresa greifen.
Auch die alte Frau sah den Schatten. Entsetzt ließ sie Cynthia los, wich zurück. "Nein, nein!" stammelte sie. Die Spritze entfiel ihrer Hand.
Bevor Dona Teresa noch wußte wie ihr geschah, hatte Cynthia sie bereits überwältigt. Es gelang ihr, die Hände der alten Frau mit ihrem Gürtel zu fesseln. Rasch band sie ihr auch noch die Füße zusammen, obwohl die Spanierin wie ein Löwe kämpfte. Haß und Irrsinn verliehen ihr fast übernatürliche Kräfte.
Cynthia richtete sich auf. Sie suchte nach dem Schatten, doch er war verschwunden, hatte sich in Nichts aufgelöst. Ohne Dona Teresa weiter zu beachten, kauerte sie sich wieder neben der Hand ihres Bruders auf den Boden und lehnte sich erschöpft an das Gitter.
Plötzlich spürte sie, wie Cedrics Hand sie berührte. Sanft strich sie über seine Finger. "Es wird alles gut", versprach sie ihm erneut. "Hörst du, Cedric, alles wird gut."
11. Kapitel
Am nächsten Vormittag fuhren die jungen Leute zu dem Krankenhaus, in das man Cedric noch in der Nacht eingeliefert hatte. Brian und die Polizei hatten das Anwesen der deMurillos durch den Keller des unbewohnten Hauses betreten. Die Polizisten hatten ihren Augen kaum trauen wollen, als er ihnen Cedrics Verlies zeigte. Bis dahin schienen sie Brians Geschichte für einen schlechten Scherz gehalten zu haben.
Doch dann war alles sehr schnell gegangen. Man hatte sofort einen Krankenwagen angefordert und Cedric aus seinem Verlies befreit. Alfonso, die Köchin und das Mädchen waren auf der Stelle festgenommen worden. Dona Teresa war zur Untersuchung in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert worden. Marcella hatte geschlafen. Da es nicht möglich gewesen war, sie aufzuwecken, hatte man sie gleich ins Krankenhaus mitgenommen.
"Ihr Bruder ist noch sehr schwach, Senora Moore", meinte der behandelnde Arzt, als sie im Krankenhaus eintrafen und nach Cedric fragten. "Die wochenlangen Entbehrungen, die Angst und die Hoffnungslosigkeit haben ihre Spuren hinterlassen. Es wird sehr lange dauern, bis er wieder fähig sein wird, ein völlig normales Leben zu führen."
"Damit rechne ich", erwiderte Cynthia. "Wann wird es möglich sein, meinen Bruder nach England zu bringen?"
"Vierzehn Tage, drei Wochen sollte man schon damit warten", antwortete der Arzt. Er schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. "Sie werden sehr viel Geduld mit Ihrem Bruder haben müssen."
"Und was ist mit Senorita Marcella?" fragte Cynthia.
"Die junge Dame ist im Moment bei Senor Moore. Sie hat mir gesagt, daß sie Ihren Bruder heiraten wird." Der Arzt blickte sie um Entschuldigung bittend an. "Weitere Auskünfte darf ich Ihnen nicht geben, Miß Moore. Aber ich bin überzeugt, Senorita Marcella wird Ihnen nichts verheimlichen, wenn Sie mit ihr sprechen."
"Danke, Doktor Medias. Dann werde ich jetzt zu meinem Bruder gehen. Darf mich Mister McArthur begleiten?"
"Selbstverständlich", erlaubte der Arzt. Er nannte ihr die Zimmernummer. "Aber wie gesagt, seien Sie behutsam. Ihr Bruder ist sehr erschöpft und im Moment keiner Belastung gewachsen."
"Ich werde daran denken", versprach die junge Frau, bevor sie mit Brian in den Aufzug trat.
Cedric Moore lag in einem schattigen Einzelzimmer, in dem es sogar einen Fernseher gab. Aber es sah nicht aus, als würde ihn sehr viel außer seiner Verlobten interessieren. Marcella saß bei ihm auf dem Bett und hielt seine Hand. Zum erstenmal, seit Cynthia sie kannte, wirkte sie glücklich.
"Bleiben Sie ruhig sitzen", meinte sie, als Marcella aufstehen wollte.
Cedric streckte die Hand nach ihr aus. "Es waren die furchtbarsten Wochen meines Lebens", bekannte er. "Ich hätte nicht gedacht, daß ich jemals etwas so Schreckliches durchmachen müßte."
"Nun ist es vorbei." Sie strich ihm über die Stirn. "Jetzt mußt du erst einmal zu Kräften kommen, dann wird sich alles Weitere finden."
Cedric blickte zu Brian McArthur. "Danke", sagte er sehr leise. Er wußte von Marcella, daß auch der Freund seiner Schwester ihm geholfen hatte.
"Ich bin froh, daß ich Ihnen helfen konnte." Brian drückte die Hand des jungen Mannes, dann stellte er sich vor.
"Kennen Sie..." Mitten im Satz schloß Cedric die Augen und schlief ein.
Zusammen mit Marcella verließen sie das Zimmer. Sie gingen in die Cafeteria hinunter, um etwas zu trinken.
Marcella sagte ihnen, daß man sie gründlich untersucht hätte, und daß mit ihr und dem Kind alles in Ordnung sei. "Wenn Cedric nach England zurückkehrt, dann werde ich mit ihm gehen", versprach sie.
"Dann können wir alle zusammen fliegen", schlug Cynthia vor. "Denn ich werde auch erst nach England zurückkehren, wenn Cedric reisen kann."
"Es wird ohnehin ein paar Wochen dauern, bis ich mit den Behörden alles geregelt habe", fuhr Marcella nachdenklich fort. "Trotz allem, was mir meine Großmutter angetan hat, muß ich mich um sie kümmern. Aber ich glaube nicht, daß man sie jemals wieder ohne Aufsicht leben lassen wird. Am besten wäre es, sie würde in einer Anstalt aufgenommen. Selbst wenn man sie mit einer Pflegerin entlassen sollte, könnte sie irgend etwas anstellen. Sie ist so voller Haß und Verbitterung. Ich weiß nicht, ob ich ihr jemals verzeihen kann."
"Und wenn, dann wird es sehr lange dauern, nehme ich an", warf Brian ein, "trotzdem sollten Sie wenigstens versuchen, das alles so schnell wie möglich zu vergessen. Vor allen Dingen, sollten Sie Ihre Großmutter nicht hassen. Haß zerstört gewöhnlich einen selbst."
Cynthia blickte ihren Freund überrascht an. Etwas in seiner Stimme ließ sie sich fragen, ob er aus eigener Erfahrung sprach. Ihr wurde wieder einmal bewußt, wie wenig sie ihn noch kannte, und dennoch war sie überzeugt, in ihm den Mann ihres Lebens gefunden zu haben. Sie lächelte Marcella zu. "Wenn wir Schwägerinnen werden, sollten wir uns endlich duzen. Ich freue mich auf Cedrics Hochzeit, und ich freue mich auf euer gemeinsames Kind."
Marcellas Augen begannen zu strahlen. "Cedric hatte recht. Jedesmal, wenn er von dir sprach, meinte er, wir würden ganz gewiß Freundinnen werden."
"Sind wir das nicht schon?" fragte Cynthia und drückte die Hand der jungen Frau.
Auf dem Rückweg zum Hotel bog Brian McArthur plötzlich von der Straße ab, fuhr über eine Brücke des Darro und lenkte seinen Mietwagen ein Stückchen am Ufer entlang. Schließlich hielt er auf einem kleinen Platz, der von Granatapfelbäumen umgeben war. Er reichte Cynthia die Hand und half ihr beim Aussteigen.
"Was hast du vor?" fragte Cynthia.
"Ich muß mit dir reden", erwiderte er und legte den Arm um ihre Taille. "Wir hatten noch keine Gelegenheit über das zu sprechen, was in der vergangenen Nacht vorgefallen ist. Wie ist es dir nur gelungen, Dona Teresa zu überwältigen?" Er sah sie an. "Ich weiß, was du der Polizei erzählt hast, ich war immerhin dabei. Im Gegensatz zu den Beamten erscheint mir aber einiges unklar."
Cynthia hatte den Polizisten nichts von dem Schatten gesagt, der plötzlich aufgetaucht war. Sie war sich sicher gewesen, daß man sie ausgelacht hätte. "Ja, es stimmt. Was ich den Polizisten erzählt habe, war nicht die hundertprozentige Wahrheit." Sie sprach davon, wie Dona Teresa plötzlich hinter ihr gestanden hatte. "Ich versuchte, mich gegen sie zu wehren, aber diese Frau besitzt Bärenkräfte. Dann...", sie holte tief Luft, "... und dann war da plötzlich ein Schatten."
"Ein Schatten?" fragte Brian McArthur erregt. "Was für ein Schatten?"
Sie zögerte einen Moment: "Bitte, lach mich nicht aus, Brian, aber manchmal kommt es mir vor, als würde dich der Schatten eines jungen Mädchens begleiten. Und genau diesen Schatten habe ich in der vergangenen Nacht oben im Turm gesehen. Auch Dona Teresa hat ihn gesehen. Sie ist darüber so erschrocken, daß sie für einen Augenblick unachtsam war und ich sie überwältigen konnte."
"Du hast zuviel Phantasie", meinte er und drückte sie an sich.
"Nein, dieser Schatten ist Wirklichkeit, Brian." Sie blickte ihm ins Gesicht. "Ich kann es mir nicht erklären, aber es sieht aus, als würdest du von einer Art Schutzengel begleitet, und in der vergangenen Nacht, als du fortgegangen bist, um die Polizei zu holen, blieb dein Schutzengel bei mir zurück."
Er schüttelte leicht den Kopf. "Darling, wer immer dir auch geholfen haben mag, ich werde ihm zu ewigem Dank verpflichtet sein." Der junge Mann ließ sie los, bückte sich und pflückte eine der wilden Blumen, die neben den Granatapfelbäumen wuchsen. Zärtlich steckte er sie ihr ins Haar. "Cynthia", sagte er dann feierlich, "Cynthia, könntest du dir vorstellen, meine Frau zu werden, mit mir zu leben und meinen schottischen Dickschädel zu ertragen?"
"Mein Dickschädel nimmt es mit deinem ganz sicher auf", erklärte seine Freundin. Sie hatte noch nicht mit einem Heiratsantrag gerechnet. Immerhin kannten sie sich viel zu kurz, um sich wirklich ganz sicher zu sein, ob ihre Liebe für ein ganzes Leben reichen würde. Aber sie liebte Brian, das wußte sie, und im Moment gab es für sie nichts Schöneres, als ihn eines Tages zu heiraten. "Ja", sagte sie aus tiefstem Herzen. "Ja, Brian."
"Du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt", behauptete er. "Du..." Er sprach nicht weiter. Leidenschaftlich zog er sie an sich. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuß.
12. Kapitel
Einige Wochen später kehrten sie gemeinsam nach England zurück. Cedric, der sich soweit erholt hatte, aber noch immer ziemlich schwach war, und Marcella begleiteten sie.
Brian McArthur war nicht die ganze Zeit über in Granada geblieben. Cynthia hatte das nicht gewollt. Immerhin hatte ihr Freund diese Reise geplant, um die wichtigsten Stätten der europäischen Kultur kennenzulernen. So hatte er sie schweren Herzens alleine gelassen und hatte noch Frankreich und Italien besucht.
Cedric und Marcella beschlossen, bis zu ihrer Rückkehr nach Cambridge in London zu bleiben. Es waren noch immer Semesterferien. Cynthia hoffte, daß ihr Bruder zu Beginn des neuen Semesters sein Studium wieder aufnehmen würde, aber er war damit nicht einverstanden. Er wollte so schnell wie möglich heiraten, was sie verstehen konnte, und dann erst einmal mindestens ein Jahr pausieren.
"Schließlich möchte ich etwas von meinem Kind haben", sagte er zu seiner Schwester, als sie an diesem Nachmittag zusammensaßen. Außerdem habe ich es nicht unbedingt nötig zu studieren. Dank unserer Eltern kann ich mir auch ohne Studium ein sorgenfreies Leben leisten."
"Und du meinst wirklich, es würde dir gefallen, deine Zeit mit Nichtstun zu verbringen?" bemerkte Cynthia scharf. Sie setzte sich ihm und Marcella gegenüber. Jeder Mensch brauchte eine Aufgabe. Auch sie hatte es nicht nötig, als Goldschmiedin zu arbeiten, aber ihre Arbeit machte ihr Spaß, und sie hatte bereits mit Brian darüber gesprochen. Er war damit einverstanden, daß sie auch nach der Heirat ihren Beruf ausübte.
"Nun, das allerdings nicht", gab Cedric zu. "Ich werde bestimmt genug Gelegenheiten finden, meine Talente unter Beweis zu stellen." Er lehnte sich im Sessel zurück. Sein Gesicht war noch von den Strapazen der Haft gezeichnet.
Marcella nahm seine Hand. "Natürlich hast du Zeit, Cedric, sehr viel Zeit", sagte sie und schmiegte sich an ihn. "Wir müssen nichts überstürzen."
Cynthia kam sich plötzlich wie ein Unmensch vor, weil sie versuchte, ihren Bruder anzutreiben. Was machte es schon, wenn er ein Jahr pausierte? Andererseits war Cedric kein Mensch, der in den Tag hineinleben konnte. Nur für seine Frau und das Kind dazusein, würde ihm auf die Dauer nicht genügen.
"Ich habe es nicht so gemeint, Cedric", sagte sie schuldbewußt.
"Das weiß ich", antwortete er und zwinkerte ihr zu. "Du wirst dich niemals ändern, Cynthia, du befürchtest immer noch, ich könnte vor den Aufgaben, die mir das Leben stellt, davonlaufen."
"Ich weiß inzwischen, daß es nicht an dem ist", sagte die junge Frau. Immerhin hatte ihr Bruder zur Genüge bewiesen, daß er bereit war, für seine Verlobte und das Kind einzustehen."
"Wann wollte Brian kommen?" fragte Marcella.
"Um sieben", erwiderte ihre zukünftige Schwägerin. Sie erwarteten ihren Verlobten zum Essen. Sie freute sich darauf, Brian wiederzusehen. Während der letzten beiden Tagen hatten sie nur miteinander telefoniert, weil er in dem Museum, in dem er arbeitete, unabkömmlich gewesen war.
"Marcella und ich haben uns gedacht, daß wir in drei Wochen heiraten", sagte Cedric. Er sah seine Braut liebevoll an. "Es wird allerhöchste Zeit. Aber wir sind für eine kleine Feier; nur Brian, du, unsere engsten Freunde und wir."
"Meine Eltern sind ja noch nicht einmal ein Jahr tot", warf Marcella ein. "Wenn es nicht wegen dem Kind so eilen würde", sie legte eine Hand auf ihren Leib, "dann würden wir ohnehin bis nächstes Jahr warten."
"Auch eine kleine Feier kann sehr schön sein", erwiderte Cynthia. Sie konnte die beiden durchaus verstehen. "Wenn wir..."
Es klingelte.
"Ich gehe schon, Cedric." Cynthia wandte sich der Tür zu. Es war kurz nach vier. Wer konnte das sein? Sie erwartete niemanden. Rasch strich sie sich die Haare glatt, dann griff sie nach dem Hörer der Wechselsprechanlage. "Ja, bitte?" fragte sie.
"Ich bin es, Cynthia, Brian", antwortete ihr Verlobter.
"Brian?" Cynthia schickte den Privataufzug in die Halle hinunter. Was wollte Brian um diese Zeit hier? Seine Arbeit endete erst um sechs. Sie spürte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Es mußte etwas passiert sein. Eine unbestimmte Angst ergriff von ihr Besitz.
Brian McArthur fuhr mit dem Aufzug zum Penthouse hinauf. Kaum glitt die Tür beiseite, schloß er Cynthia auch schon in die Arme. Besorgt schaute ihn die junge Frau an. Ihr Verlobter wirkte ungewöhnlich blaß. In seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie bisher noch nicht bei ihm bemerkt hatte.
"Vor einer Stunde erhielt ich die Nachricht, daß mein Bruder Matthew und seine Frau bei einer Explosion auf dem Gut ums Leben gekommen sind", sagte er dumpf. "Ich kann es noch immer nicht fassen. Es ist so furchtbar, es ist so..."
Ein kalter Schauer rann über Cynthias Rücken. "Das tut mir leid, Brian", meinte sie und fühlte im selben Moment, wie hohl diese Worte eigentlich klangen. Sie schmiegte sich an ihn. "Es muß ein schrecklicher Schlag für dich gewesen sein."
Der junge Kunsthistoriker nickte. "Ja, das ist es", bestätigte er. "Auch wenn wir uns nicht oft gesehen haben, ich war Matthew sehr verbunden."
Sie berührte sein Gesicht. "Wie ist es passiert?"
"Mein Bruder und Louisa hielten sich in einem Schuppen auf, in dem Benzin und Heizöltanks standen. Irgend etwas muß das Benzin entzündet haben, was, das weiß man noch nicht. Jedenfalls flog der Benzintank in die Luft. Sofort brach ein Feuer aus, und dann explodierte auch der Heizöltank. Ich nehme an, daß das Unglück durch Unachtsamkeit geschah. Vielleicht war Benzin ausgelaufen, jemand hat in der Nähe geraucht."
Sein Gesicht wurde dunkel vor Kummer. "So etwas traue ich sogar Matthew zu. Er ist ein ungemein starker Raucher gewesen. Louisa hatte das nichts ausgemacht, aber Matthews erste Frau ist darüber fast verzweifelt."
"Dein Bruder war zweimal verheiratet?"
"Ja." Brian nickte. "Natürlich muß ich sofort nach Schottland."
"Ich begleite dich", bot Cynthia spontan an.
Brian McArthur atmete sichtlich auf. "Ich hatte darauf gehofft, Darling", gab er zu. "Nach dem Tod meines Bruders gibt es auf Dundee-Castle niemanden mehr, der mir etwas bedeuten würde." Er legte die Hände auf ihre Schultern. "Ich brauche dich, Cynthia. Ich brauche dich mehr, als ich dir sagen kann."
Sein Gesicht wurde nachdenklich. Sie spürte, daß es da noch etwas gab, was ihn bedrückte. "Aber bevor wir morgen nach Schottland fliegen, muß ich dir noch..." Er stieß heftig den Atem aus. "Wir werden die Nachmittagsmaschine nehmen, damit dir genug Zeit zum Packen bleibt."
"Du wolltest mir doch noch irgend etwas sagen", meinte sie.
"Es war nicht so wichtig", behauptete er und strich ihr die blonden Haare aus der Stirn.. "Wahrscheinlich wird es dir nicht leichtfallen, Cedric und Marcella jetzt alleine zu lassen."
"Cedric!" Ihren Bruder hatte sie für einen Moment völlig vergessen gehabt. "Allerdings", gab sie zu. "Cedric ist noch immer nicht ganz gesund. Er wird noch einige Zeit brauchen, bis er sich völlig erholt hat. Marcella und er wollen bald heiraten, damit das Kind nicht unehelich auf die Welt kommt, was ich durchaus verstehen kann."
"Ich hätte nichts dagegen, wenn die beiden uns begleiten. Platz gibt es auf Dundee-Castle genug."
"Fragt sich, ob sie damit einverstanden sein würden."
"Wir werden sie ganz einfach fragen", meinte er und nahm sie wieder in den Arm. "Was sollte ich nur ohne dich tun? Es erscheint mir wie ein Wunder, daß ich einen Menschen wie dich gefunden habe." Sehnsüchtig sah er sie an. "Du bedeutest mir unendlich viel, Darling."
In diesem Augenblick trat Cedric in die Halle des Penthouses. Betroffen blieb er stehen. "Entschuldigung", murmelte er und wollte sich gleich wieder zurückziehen.
"Schon gut, Cedric." Brian ließ seine Verlobte los. Er sagte dem jungen Mann, was passiert war.
"Wie furchtbar!" Spontan umfaßte Cedric die Schultern des Älteren. "Bitte, glaube mir, wie leid es mir tut, Brian", beteuerte er. Dann wandte er sich Cynthia zu. "Ich würde durchaus verstehen, wenn du deinen Verlobten nach Schottland begleitest. Marcella und ich kommen schon alleine zurecht."
"Wir haben gerade darüber gesprochen", sagte Brian, bevor Cynthia antworten konnte. "Warum kommt ihr nicht mit? Du könntest dich auf Dundee-Castle wunderbar erholen, Cedric, und Marcella würde der Aufenthalt dort auch guttun. Davon abgesehen, wäre ich auch damit einverstanden, wenn ihr euch vielleicht entschließen solltet, für immer in Schottland zu bleiben. Mein Haus ist auch euer Haus." Er nahm Cynthias Hand. "Nach dem Tod meines Bruders wird es jetzt meine Aufgabe sein, Dundee-Castle vorzustehen."
"Du willst also nicht mehr nach London zurückkehren?"
"Besuchsweise ja, aber wenigstens vorläufig müßte ich auf dem Besitz bleiben." Er sah ihr in die Augen. "Könntest du dir vorstellen, in Schottland zu leben, Darling? Ich will dir nicht verhehlen, daß es sich bei Dundee-Castle um einen ziemlich düsteren Besitz handelt, aber die Umgebung ist herrlich. Unterhalb von Dundee-Castle gibt es einen sehr schönen Strand. Außerdem liegt Ayr in der Nähe. Du hättest es also zur nächsten Stadt nicht weit."
Cynthia legte einen Finger auf seine Lippen. "Keine Angst, Brian, wenn du dich entschließen solltest, auf Dundee-Castle zu bleiben, dann wird das auch mein Wunsch sein", versicherte sie und mußte im selben Moment daran denken, wie sie noch vor wenigen Wochen Angst gehabt hatte, sich jemals zu binden. Wie leicht diese Worte ihr jetzt über die Lippen kamen. Die junge Frau hoffte, sie niemals bereuen zu müssen. Immerhin war sie bereit, ihre Freiheit aufzugeben und sich sogar auf ein altes schottisches Schloß zurückzuziehen. Aber sie fühlte auch, daß es ihr niemals möglich sein würde, sich jemals wieder von Brian zu trennen. Sie gehörten zusammen, waren für immer und ewig miteinander verbunden.
"Ich werde mit Marcella darüber sprechen, Brian", sagte Cedric. "Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie etwas dagegen haben sollte." Er kehrte in den Salon zurück.
"Ich liebe dich", beteuerte Brian erneut und nahm Cynthia wieder in die Arme. "Ich liebe dich, Darling, und ich verspreche dir, du wirst deinen Entschluß niemals bereuen. Leidenschaftlich küßte er sie.
13. Kapitel
Sie kamen am späten Nachmittag auf dem Glasgower Flughafen an. Der Chauffeur von Dundee-Castle, ein sehr schweigsamer, älterer Mann, holte sie ab. Er trug einen Kilt in den Clanfarben der McArthurs. Wortlos reichten er und Brian sich die Hände.
"Cynthia, das ist Fred Blair. Schon sein Vater diente auf Dundee-Castle. Fred hätte schon oft einen besseren Posten annehmen können, aber er fühlt sich unserer Familie verbunden. Fred, meine Verlobte, Miß Cynthia Moore."
Cynthia reichte dem Chauffeur die Hand. Flüchtig ergriff er sie, murmelte etwas von "sehr erfreut" und ließ sich dann mit ihrem Bruder und Marcella bekanntmachen. Wie es aussah, schien Fred Blair nicht sehr viel Wert darauf zu legen, andere Menschen kennenzulernen.
Vielleicht betrachtet er uns als Eindringlinge, überlegte Cynthia, als sie in die Limousine stieg. Sie hoffte, daß das übrige Personal auf Dundee-Castle sie etwas freundlicher begrüßen würde. Andererseits konnte es auch durchaus sein, daß Fred Blair noch immer unter Schock stand. Immerhin lag der Tod seines früheren Herrn und dessen Frau noch keine achtundvierzig Stunden zurück.
Sie verließen Glasgow und fuhren am Meer entlang auf das südschottische Bergland zu. Nach einer Weile entfernte sich die Straße etwas vom Meer und wand sich durch grüne Hügel, auf denen Schafe weideten. Hin und wieder passierten sie ein kleines Dorf mit einst weißen, schiefergedeckten Häusern und in leuchtenden Farben gestrichenen Türen.
Immer wieder entdeckte Cynthia winzige Seen. Oft überquerten sie auch auf uralten Steinbrücken Bäche, deren Wasser so kristallklar war, daß man den Grund erkennen konnte. "Es ist schön hier", meinte sie.
"Freut mich, daß du das sagst", erwiderte Brian. "Ja, es ist schön." Er blickte aus dem Fenster. "Als Kinder sind Matthew und ich stundenlang auf unseren Ponys durch die Hügel geritten. Wir waren kaum zu zügeln." Er seufzte auf. "Ich wünschte, ich hätte Matthew und seine Frau noch einmal sehen können."
Cynthia griff nach seiner Hand und drückte sie liebevoll.
Nach zwei Stunden erreichten sie einen flachen, reißenden Fluß, der aus den Bergen kam und jede Menge Geröll mit sich schleppte. Eine lange graue Brücke führte über ihn hinüber. Das Ufer wurde von hohen Bäumen gesäumt. Dahinter erhob sich auf den steilen Klippen ein gewaltiges fast schwarzes Gemäuer. In der Abendsonne wirkte es wie die Trutzburg eines Despoten.
"Dundee-Castle", bemerkte Fred Blair und fuhr über die Brücke. Der jungen Frau kam es vor, als hätte er gespürt, wie sie für den Bruchteil einer Sekunde vor diesem Gemäuer zurückgeschreckt war.
Eine Serpentinenstraße wand sich die Klippen hinauf und endete in der Toreinfahrt von Dundee-Castle. Unwillkürlich stieß Cynthia ein überraschtes "Oh!" aus, als sich hinter dem Tor statt eines engen Hofes ein weiter Park ausbreitete.
"Unser Park überrascht die Besucher immer wieder", sagte Brian zufrieden über ihre Reaktion. "Allerdings nur, wenn sie das erstemal kommen. Von der Brücke aus gesehen wirkt Dundee-Castle viel düsterer und beengter, als es in Wirklichkeit ist."
Sie hatten vor dem grauen, von Türmen und Zinnen gekrönten Gebäude gehalten und stiegen aus. Um das Schloß herum wuchsen herrliche Blumen. Sie ließen es weniger streng erscheinen, aber trotzdem empfand Cynthia einen Hauch von Furcht, als sie an ihm hinaufblickte.
"Ich habe mir dein Elternhaus etwas kleiner vorgestellt", bemerkte ihr Bruder zu Brian McArthur. "Ich hätte nicht gedacht, daß man gut und gerne ein halbes Dorf darin unterbringen könnte."
"Meine Vorfahren waren der Meinung, je größer um so besser", erwiderte Brian. "Aber laßt euch davon nicht erschrecken. Bei Tageslicht wirkt Dundee-Castle bedeutend anheimelnder." Er strich gedankenverloren über den Rand des Brunnens, neben dem sie gehalten hatten.
Ein alter grauhaariger Mann und eine etwa zwanzig Jahre jüngere Frau kamen ihnen entgegen. Sie wurden ihnen von Brian als der Butler John Elliot und die Wirtschafterin Edda Garrett vorgestellt. Beide hießen ihn und seine Gäste herzlich willkommen.
Cynthia fühlte sich schon bedeutend wohler, als ihr Edda Garrett die Hand reichte. Die Wirtschafterin wirkte zwar streng und unnahbar, doch ihre Augen blickten gütig.
Am Arm ihres Verlobten betrat sie wenig später die düstere Halle des Castles. Wie Cynthia es erwartet hatte, gab es hier einen gewaltigen Kamin, vor dem mehrere uralte Sessel und ein Tisch standen, der aus einem Kloster zu stammen schien. Entlang der Wände hingen vom Alter verstaubte Ahnenporträts. In einer Ecke stand zwischen Ritterrüstungen eine Fahne mit den Clanfarben.
Das Personal von Dundee-Castle hatte sich neben der gewundenen Treppe versammelt, die ins Obergeschoß führte. Der Butler sprach Brian im Namen des ganzen Personals sein Beileid aus. "Wir können es alle noch nicht fassen, Sir", sagte er. "Es gibt keinen unter uns, der Ihren Schmerz nicht teilen würde."
Brian McArthur richtete ein paar Worte an die Leute, dann stellte er das Personal seinen Gästen vor. Außer dem Butler und der Wirtschafterin gab es noch eine Köchin, die Mrs. Enos hieß. Daisy, Erica und Netty, drei Hausmädchen, sowie den Gärtner Josh Phil, und zwei Burschen namens Owen und Aaron.
"Du siehst, es ist ein ziemlich großer Haushalt", meinte er zu seiner Verlobten. "Während der nächsten Tage nehme ich euch mit aufs Gut und mache euch mit den Leuten bekannt, die dort für uns arbeiten. Doch jetzt werdet ihr sicher müde sein." Er wandte sich an die Wirtschafterin und bat sie, dafür zu sorgen, daß seine Verlobte, deren Bruder und Marcella ihre Zimmer gezeigt wurden.
"Selbstverständlich, Sir", erwiderte Mrs. Garrett. Sie schenkte Cynthia einen freundlichen Blick. "Da uns Mister McArthur bereits gestern telefonisch mitteilte, daß er in Begleitung kommen würde, habe ich selbstverständlich Ihre Zimmer schon richten lassen. Wenn Sie mir bitte folgen würden."
"Wann sehe ich dich, Brian?" fragte Cynthia. Sie hatte plötzlich Angst, ihn alleine zu lassen, obwohl sie sich gleichzeitig sagte, daß es Unsinn war. Brian war schließlich hier zu Hause, kannte Dundee-Castle seit seiner Kindheit.
"In etwa einer Stunde." Er ergriff ihre Hand. "Mach dir keine Gedanken."
"Wie du meinst." Sie küßte ihn leicht auf die Wange und folgte Mrs. Garrett, die bereits vor ihrem Bruder und Marcella die Treppe hinaufstieg. Zuvor hatte die Wirtschafterin noch Owen und Aaron angewiesen, sich um das Gepäck zu kümmern.
Die Zimmer, die man für sie gerichtet hatte, lagen alle im ersten Stock. Wie Mrs. Garrett betonte, handelte es sich hier um den Gästeflügel.
"Als ich noch ein junges Mädchen war und gerade erst meinen Dienst auf Dundee-Castle angetreten hatte, wurden hier rauschende Feste gefeiert", erzählte sie. "Fast zu jeder Jahreszeit waren zwanzig, dreißig Gäste im Haus. Die McArthurs ließen selten eine Gelegenheit zum Feiern aus, obwohl es..." Abrupt unterbrach sie sich.
"Was wollten Sie sagen, Mistreß Garrett?" fragte Cynthia und blickte sie an.
Die Wirtschafterin griff sich an den Kopf. "Wollte ich noch etwas sagen?" Sie hob die Schultern. "Tut mir leid, Miß Moore. Ich kann mich nicht daran erinnern."
Cedric warf seiner Schwester einen mehr als zweifelnden Blick zu. Er glaubte der Wirtschafterin genauso wenig wie sie, aber schließlich konnten sie Edda Garrett nicht zwingen etwas auszusprechen, was sie nicht aussprechen wollte.
"So, das wäre Ihr Zimmer, Miß Moore." Edda Garrett öffnete die Tür zu einem geräumigen Eckzimmer. "Das Bad liegt nebenan. Eine Tapetentür führt hinein. Sicher wird auch gleich das Gepäck kommen." Sie lächelte Cynthia freundlich zu. "Ich habe den Kamin anheizen lassen. Trotz des Sommers sind die Nächte hier oft empfindlich kalt."
"Danke, Mistreß Garrett." Cynthia empfand das Kaminfeuer durchaus als angenehm. Sie wandte sich ihrem Bruder und dessen Braut zu. "Wir sehen uns dann später."
"Bis nachher." Cedric winkte ihr zu. Dann folgte er der Wirtschafterin, die sie weiterführte.
Cynthia brauchte nicht lange auf ihr Gepäck zu warten. Aaron und Erica brachten es ihr. Während Aaron gleich wieder das Zimmer verließ, blieb Erica stehen und fragte, ob sie beim Auspacken helfen sollte. "Ich tue es gerne", fügte sie hinzu.
"Nein danke, Erica, das nicht nötig", erwiderte die junge Frau.
"Wenn Sie einen Wunsch haben, dann müssen Sie nur klingeln." Erica wies zu dem dicken Klingelstrang, der neben der Tür hing. Mit einem Gruß verließ sie das Zimmer.
Cynthia hob einen der Koffer aufs Bett und begann auszupacken. Sie legte die Sachen heraus, die sie an diesem Abend tragen wollte, dann ging sie ins Bad, um zu duschen. Sie hatte sich gerade wieder angezogen, als es klopfte.
"Ja, bitte!" rief sie und wandte sich der Tür zu.
Brian McArthur trat ein. Leise schloß er die Tür hinter sich. Er wirkte, als würde er einen Menschen brauchen, der ihn in den Arm nahm und tröstete. Cynthia stellte keine Fragen, sie zog ihn ganz einfach an sich und schmiegte ihre Wange an sein Gesicht.
"Ich war in der Kapelle", sagte er schließlich. "Mein Bruder und meine Schwägerin sind dort aufgebahrt, das heißt ihre Särge wurden bereits geschlossen. Denn das, was nach der Explosion von ihnen übrigblieb..." Er schüttelte den Kopf. "Es ist so furchtbar, so grauenvoll. Ich kann es noch immer nicht fassen."
"Das kann ich sehr gut verstehen", meinte sie und strich ihm durch die Haare. "Komm, setzen wir uns etwas. Bis zum Dinner ist ja noch reichlich Zeit."
Ihr Verlobter nickte. Er wandte sich der Sitzgruppe zu, die zwischen zwei hohen Fenstern stand. Plötzlich glaubte Cynthia wieder, diesen Schatten zu sehen. Sekundenlang hatte sie ihn ganz deutlich neben Brian wahrgenommen.
Brian blieb bei einem Fenster stehen und blickte auf das Meer hinaus. Sie trat zu ihm und nahm seine Hand. "Ich werde immer für dich da sein, das verspreche ich dir", sagte sie fast lautlos.
"Das weiß ich, Darling." Er sah sie zärtlich an. "Es gibt nur noch eine Sache, über die wir..." Aufseufzend wandte er sich wieder dem Fenster zu. "Hast du schon nach draußen geblickt?" fragte er. "Für jeden, der das Meer liebt, muß dieses Zimmer ein wahres Eldorado sein."
"Was wolltest du mir sagen?" fragte Cynthia, ohne auf seine Worte einzugehen.
"Nichts, Darling, es ist nichts." Ihr Verlobter drehte sich ihr erneut zu. "Irgendwie kann ich es noch nicht fassen, daß Matthew tot ist und Dundee-Castle nun mir gehört." Er strich sie über die Stirn. "Im Grunde genommen wollte ich diesen Besitz niemals. Es gab nicht eine Minute, in der ich Matthew darum beneidet hätte."
Cynthia wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick klopfte es erneut, und ihr Bruder trat mit seiner Braut ein. Auch sie hatten sich bereits umgezogen. "Stören wir?" fragte Cedric. "Wie es aussieht, komme ich immer im falschen Moment."
"Heute ausnahmsweise nicht, Cedric", antwortete Brian McArthur. "Kommt, vor dem Essen ist noch Zeit für einen Aperitif." Er legte den Arm um Cynthia und führte sie nach draußen.
14. Kapitel
Es war kurz nach Mitternacht, als Cynthia aus tiefem Schlaf erwachte. Ganz deutlich glaubte sie, ein kleines Kind weinen zu hören. Eine sanfte Stimme versuchte es zu beruhigen. Die junge Frau schaltete das Licht ein. Die Stimme und das Weinen waren so deutlich gewesen, als würden die Personen, denen sie gehörten, bei ihr im Zimmer sein.
Verwirrt blickte sie sich um. Wie hätte eine Frau mit ihrem Kind in dieses Zimmer kommen sollen, aber dennoch hatte sie beinahe erwartet, sie zu sehen. Hatte sie nur geträumt? Nein! Nein, es konnte kein Traum gewesen sein, denn noch immer glaubte sie das Weinen und die Stimme zu hören.
Cynthia ging barfuß zur Tür. Sie schob den Riegel zurück und öffnete sie. Im Gang brannte nur ein schwaches Licht. Sie wollte die Tür schon wieder schließen, als sie erneut das Weinen vernahm. Es war ein klägliches, zu Herzen gehendes Weinen. Wo war die Frau geblieben, die eben noch auf das Kind eingesprochen hatte? War sie fortgegangen, hatte sie es sich selbst überlassen?
Cynthia kehrte in ihr Schlafzimmer zurück und zog sich ihren Morgenmantel und Pantoffeln an. Sie wollte diesem Weinen auf den Grund gehen.
Als die junge Frau erneut auf den Gang hinaustrat, war das Weinen inzwischen verstummt. Vielleicht hatte sie sich geirrt, und es war gar kein Kind gewesen. Ob Marcella etwas fehlte? Immerhin war während der letzten Monate soviel auf ihre zukünftige Schwägerin eingestürmt, daß sie mit ihren Nerven ziemlich am Ende sein mußte. Cynthia beschloß, nach ihr zu sehen.
Das Zimmer der Spanierin lag nur zwei Türen weiter. Vorsichtig drückte die junge Frau die Klinke hinunter. Sie atmete erleichtert auf, als sei feststellte, daß die Tür nicht verriegelt war. Lautlos schob sie die Tür auf und machte im Mondlicht ein paar Schritte auf Marcellas Bett zu.
Sie konnte ihre Schwägerin bereits sehen. Marcella schien in tiefem Schlaf zu liegen. Cynthia wollte sich schon wieder zurückziehen, als sie plötzlich einen schmalen dunklen Schatten bemerkte, der auf der anderen Seite des Bettes stand und auf die Spanierin hinunter blickte. Die Gestalt strahlte eine geradezu schmerzliche Sehnsucht aus. Ein Hauch davon berührte auch sie.
"Wer sind Sie?" flüsterte Cynthia, doch bereits im nächsten Moment war der Schatten verschwunden.
Die junge Frau blinzelte. Nein, diesen Schatten hatte sie sich sicher nur eingebildet. Andererseits war es ja nicht das erstemal, daß sie einen Schatten gesehen hatte. Konnte es ein Geist gewesen sein? Aber gab es überhaupt Geister? Als Kind hatte sie zwar gerne Gespenstergeschichten gelesen, doch niemals wirklich an ihre Existenz geglaubt.
Warum habe ich keine Angst? fragte sie sich. Ich müßte mich doch fürchten. Aber sie wußte auch, daß dazu kein Grund bestand. Wenn es sich bei diesem Schatten um einen Geist handelte, so ging von ihm keine Bedrohung aus.
Lautlos zog sich die junge Frau wieder zurück und schloß die Tür. Sie wollte zu ihrem Zimmer gehen, aber noch bevor sie es betreten konnte, hörte sie ein sehr deutliches "Komm!". Wie in Trance folgte sie dieser Aufforderung.
Stufe für Stufe schritt sie die Treppe zur Halle hinunter. Wie oben brannte auch hier ein kleines Licht. Es verwandelte die Möbel, Ritterrüstungen und Bilder in dunkle Gestalten, die nur darauf zu warten schienen, sich auf denjenigen zu stürzen, der es wagen würde, sich ihnen zu nähern.
Cynthia zögerte einen kurzen Augenblick. Sie fühlte, daß der Schatten, den sie immer wieder zu sehen glaubte, und dieses "Komm!", das sie gehörte hatte, von zwei verschiedenen Personen stammte.
"Komm!" erklang es erneut. "Nur Mut, Täubchen." Sie glaubte, ein meckerndes Lachen zu hören.
Cynthia wollte der Stimme nicht weiter folgen, aber sie konnte nicht anders. Sie durchquerte die Halle und betrat einen kurzen Gang, der vor einer schweren Tür endete. Es kostete sie Mühe, sie zu öffnen.
Vor ihr lag die Schloßkapelle. Die junge Frau hatte keinen Blick für die herrlich bemalten Fenster, die wertvolle Polsterung der Bänke. Sie schaute nur nach vorn. Ein Frösteln rann über ihren Rücken.
Vor dem Altar standen die geschlossenen Särge von Matthew und Louisa. Das Licht der Kerzen, die seitlich von ihnen brannten, warf lange Schatten auf den Altar. Brian kniete vor den Särgen. Er schien so in sein Gebet vertieft, daß er nicht einmal spürte, wie Cynthia auf ihn zuging.
Erst als ihn die junge Frau fast erreicht hatte, drehte er sich um. "Cynthia, was tust du denn hier?" fragte er und stand auf. "Ich dachte, du würdest schlafen." Sein Gesicht war von dem Kummer gezeichnet, den er empfand.
"Ich weiß es nicht, Brian", antwortete sie. "Eine Stimme hat mich in die Kapelle gelockt."
"Eine Stimme?" Er berührte ihr Gesicht. "Meine Sehnsucht wird es gewesen sein. Ich..."
Cynthia hörte die Stimme ihres Verlobten nur noch im Unterbewußtsein. Sie starrte auf die Särge. Wie von Geisterhand öffneten sich quietschend ihre Deckel und stürzten mit einem lauten Knall auf den Steinboden. Sie schrie entsetzt auf, als sie sah, was die Explosion von Brians Familie übriggelassen hatte. Aufschluchzend verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
"Darling, was hast du?" Der Schloßherr schloß seine Verlobte fest in die Arme.
"Die Särge", antwortete Cynthia, ohne die Augen zu öffnen. "Hast du es nicht bemerkt? Die Deckel sind aufgesprungen." Sie spürte, wie sie am ganzen Körper zu zittern begann. Noch immer glaubte sie, die Toten zu sehen.
Brian schüttelte den Kopf. "Darling, deine Phantasie geht mit dir durch. Die Särge sind noch immer geschlossen. Sie werden auch nicht mehr geöffnet."
"Aber ich habe es doch ganz deutlich gesehen." Cynthia zwang sich, die Augen zu öffnen und ihren Blick wieder den Särgen zuzuwenden. "Das gibt es doch nicht", murmelte sie. "Das kann doch nicht sein." Sie sah zu ihm auf.
"Du bist übermüdet. Es war ein langer Tag. Du solltest endlich wieder schlafen gehen", meinte Brian McArthur. Er küßte sie auf die Stirn. "Ich bringe dich auf dein Zimmer zurück." Er warf einen letzten Blick zu den Särgen. "Auch für mich wird es Zeit. Ich wollte nur alleine von meinem Bruder und meiner Schwägerin Abschied nehmen. Morgen sind zu viele Menschen dabei." Wehmütig berührte er die beiden Särge, dann verließ er mit seiner Verlobten die Kapelle.
15. Kapitel
Am nächsten Vormittag um elf fand die Beisetzung von Matthew und Louisa McArthur statt. In der kleinen Schloßkapelle wurde ein Gottesdienst abgehalten, an dem außer der Familie und dem Personal auch viele Leute aus der Umgebung teilnahmen.
Der Gärtner und seine Gehilfen hatten alles getan, um die Kapelle in ein wahres Blumenmeer zu verwandeln. Viele der Leute weinten. Matthew und seine Frau waren sehr beliebt gewesen. Die meisten von ihnen konnten es nicht fassen, daß die beiden so jung hatten sterben müssen.
Unter den Trauernden befand sich auch Patricia Harris, die hübsche Tochter des Familienanwaltes. Cynthia fand sie vom ersten Augenblick an unsympathisch, obwohl sie ihr von ihrem Verlobten als Jugendfreundin vorgestellt worden war. Dabei konnte sie nicht einmal sagen, was ihr an der jungen Frau so mißfiel, denn Patricia gab sich alle Mühe, freundlich und zuvorkommend zu sein. Aber hinter ihren blauen Augen schien etwas zu liegen, das Cynthia Angst machte.
Während des Gottesdienstes mußte sie immer wieder über Patricia nachdenken. Verstohlen beobachtete sie die junge Frau. Dann wurde ihr plötzlich bewußt, daß ihr Patricia das Gefühl gab, ihres Bleibens sei hier ohnehin nicht von langer Dauer, denn eines Tages würde sie mit Brian zusammensein.
Das kann nicht sein, dachte Cynthia erschrocken. Brian liebt mich, er hat Patricia nicht mehr beachtet, als all die anderen Leuten. Andererseits, heute wurden sein Bruder und seine Schwägerin beerdigt. Ihr Verlobter war viel zu sehr in seiner Trauer gefangen, um anderen Leuten mehr als die notwendige Höflichkeit zu schenken.
Du mußt verrückt sein, ging es ihr durch den Kopf. Erst bist du überzeugt, Geister zu sehen und zu hören, glaubst sogar, die Sargdeckel wären aufgesprungen, und nun verdächtigst du eine junge Frau, sich an Brian heranzumachen. Dabei kennst du Miß Harris erst seit ein paar Minuten.
Beschämt senkte Cynthia den Kopf und konzentrierte sich auf das Gebet, das gerade gesprochen wurde. Aber trotz all der Mühe, die sie sich gab, spukte Patricia Harris noch weiter durch ihre Gedanken und lenkte sie immer wieder vom Gottesdienst ab.
Der Familienfriedhof der McArthurs lag unterhalb der Klippen, auf denen sich Dundee-Castle erhob. Eine hohe graue Mauer zäunte ihn ein, schirmte ihn regelrecht von der Welt ab. Selbst die Bäume, die entlang dieser Mauer standen und sich auch zwischen den einzelnen Grabsteinen erhoben, wirkten, als würden sie nicht zu dieser Welt gehören, sondern die Ewigkeit symbolisieren.
Es dauerte eine Weile, bis es Cynthia auffiel, daß die Männer der Familie scheinbar immer zwischen zwei Frauen beigesetzt wurden. Louisas Sarg wurde zuerst in die Tiefe versenkt, dann folgte Matthew. Unter einem Grabstein links von ihm war vor vier Jahren eine Rachel zur letzten Ruhe gebettet worden. Unter ihrem Namen stand: >Geliebte Frau von Matthew McArthur<.
Nachdenklich ließ Cynthia ihren Blick immer wieder zu diesem Grabstein schweifen. Ihr fiel ein, daß Brian einmal erwähnt hatte, daß Louisa Matthews zweite Frau gewesen war, aber das erklärte nicht, warum hier doppelt soviele Frauen wie Männer beigesetzt worden waren. Schließlich fragte sie die alte Frau danach, die neben ihr stand. Brian hatte ihr Nelli Ladd als Matthews und seine frühere Kinderfrau vorgestellt. Nelli lebte bei ihrem Sohn in Ayr und war extra zur Beerdigung nach Dundee-Castle gekommen.
Mrs. Ladd sah sie irritiert an. "Hat Ihnen Master Brian nichts von dem Fluch erzählt, der auf den Söhnen der Familie ruht?" fragte sie so leise, daß Cynthia sie kaum verstehen konnte.
"Nein", erwiderte die junge Frau überrascht. "Von was für einem Fluch sprechen Sie denn?"
Brians frühere Kinderfrau dachte nach, dann schüttelte sie bedächtig den Kopf. "Es ist besser, wenn Ihnen Master Brian selbst alles erklärt, Miß Moore", meinte sie. "Daß er Ihnen bisher nichts über den Fluch erzählt hat, hat sicher seinen guten Grund, auch wenn..." Sie stieß heftig den Atem aus. "Dringen Sie darauf, daß er mit Ihnen darüber spricht. Es ist wichtig."
"Bitte, Mistreß Ladd, was für ein Fluch?" fragte Cynthia. Sie spürte plötzlich eine unsagbare Angst. Hatte sie nicht schon immer das Gefühl gehabt, als wollte ihr Brian etwas sagen und würde gerade noch im letzten Moment davor zurückschrecken?
Mrs. Ladd stieß heftig den Atem aus. Sie warf einen Blick zu Brian, der neben dem Pfarrer stand und völlig in sich versunken auf die Särge starrte. "Seit über dreihundert Jahren müssen alle McArthurs zweimal heiraten", sagte sie. "Würden sie das nicht tun, wäre die Familie längst ausgestorben."
"Das ist doch unmöglich", flüsterte Cynthia und spürte, wie eine Gänsehaut über ihre Arme rann. War Patricia Harris deshalb der Meinung, daß sie eines Tages an Brians Seite stehen würde? Sie dachte daran, daß auch Mrs. Garrett am Vorabend etwas hatte erwähnen wollen, aber nach den ersten Worten den Mund gehalten hatte. "Mistreß Ladd, wer hat diesen Fluch ausgesprochen", fragte sie, "und vor allen Dingen warum?"
"Fragen Sie Ihren Verlobten", riet die alte Frau. "Ich habe schon genug gesagt."
Die Beerdigung nahm ihren Fortgang. Cynthia erlebte sie fast wie in Trance. Unablässig grübelte sie über diesen Fluch nach und darüber, weshalb während der letzten dreihundert Jahre alle McArthurs zweimal geheiratet hatten. Sie fragte sich, ob auch sie in absehbarer Zeit auf diesem Friedhof liegen würde. In Gedanken sah sie bereits ihren Grabstein vor sich: >Cynthia, geliebte Frau von Brian McArthur< glaubte sie klar und deutlich zu lesen.
Brian reichte ihr die Schaufel. Sie nahm etwas Erde auf und warf sie auf die Särge hinunter.
"Sie wird die Nächste sein", glaubte sie plötzlich jemanden hinter sich wispern zu hören. Sie drehte sich um, sah aber nur in ausdruckslose Gesichter.
"Cynthia", mahnte ihr Verlobter fast lautlos.
Automatisch reichte die junge Frau die Schaufel an Mrs. Ladd weiter. Dann wandte sie sich Brian zu und schmiegte sich an ihn. Es ist alles Unsinn, versuchte sie sich einzureden. Niemand kann einen anderen verfluchen. Es ist immer wieder erwiesen worden, daß diese sogenannten Flüche nur etwas bewirken können, wenn man daran glaubt und aus Angst krank wird.
Cynthia blickte auf. Dunkle Wolken hatten die Sonne vertrieben. Es gab nur noch wenige helle Streifen zwischen ihnen. Vor ihren Augen formten sich diese Streifen zu Buchstaben. >Du wirst die Nächste sein<, stand klar und deutlich am Himmel geschrieben.
16. Kapitel
Nach der Beerdigung hatte es im großen Salon von Dundee-Castle einen Empfang gegeben. Cynthia waren alle wichtigen Leute vorgestellt worden, aber die meisten der Namen hatte sie bereits wieder vergessen. Sie machte sich Sorgen um ihren Verlobten, der wie verloren in der Nähe des Kamins stand und scheinbar nur aus Höflichkeit zuhörte, was die anderen zu ihm sagten.
Die junge Frau fühlte, daß es nicht nur der Tod seines Bruders und seiner Schwägerin war, was ihn belastete, sondern weit mehr. Sie nahm an, daß es mit diesem angeblichen Fluch zusammenhing. Glaubte auch Brian daran? Aber wenn er daran glaubte, warum hatte er dann nicht mit ihr darüber gesprochen? Sie verstand das nicht. Immerhin ging es um ihr Leben.
Cedric und Marcella hatten sich gleich nach der Beerdigung zurückgezogen. Marcella fühlte sich nicht sonderlich wohl. Das lange Stehen auf dem Friedhof war ihr nicht gut bekommen.
Cynthia fand es selbstverständlich, daß sich ihr Bruder um seine Braut kümmerte. Immerhin erwartete sie sein Kind. Zudem tat es auch ihm nicht gut, stundenlang all die fremden Menschen ertragen zu müssen. Nach all dem Schrecklichen, was er erlebt hatte, brauchte er vor allen Dingen Ruhe.
Am späten Nachmittag hatte Dr. Harris, Patricias Vater, das Testament eröffnet. Brian hatte Cynthia gebeten, daran teilzunehmen. So hatte sie neben ihm gesessen und seine Hand gehalten, während der Anwalt den Letzten Willen Matthews verlas. Überraschungen hatte es keine gegeben. Matthew McArthur hatte, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, seinen gesamten Besitz, abgesehen von einigen Legaten, seinem Bruder Brian vermacht.
"Dann sind Sie jetzt offiziell Herr über Dundee-Castle, Mister McArthur", sagte Dr. Harris und rückte Brian die Hand. "Ich kann mich noch sehr gut erinnern, als vor fünfzig Jahren Ihr Vater diesen Besitz übernahm. Ich war damals selbst noch ein Kind. Als im Arbeitszimmer das Testament eröffnet wurde, lief ich im Park herum und freute mich meines Lebens. Ich wollte nicht Anwalt werden, sondern Bauer. Ich malte mir aus, hier auf diesem Gut zu arbeiten."
Ein schmerzliches Lächeln umhuschte seine Lippen. "Aber wie meist im Leben, ist es anders gekommen. Jedenfalls wünsche ich Ihnen viel Glück, Sir." Er wandte sich Cynthia zu. "Und Ihnen auch, Miß Moore."
"Sie werden es jetzt brauchen können", bemerkte seine Tochter anzüglich.
"Mit dem Glück hatte ich bis jetzt niemals Schwierigkeiten, Miß Harris", erwiderte Cynthia. Es fiel ihr schwer, freundlich zu Patricia zu sein, denn schließlich wußte sie, worauf die junge Frau gerade angespielt hatte.
Sie brachten Dr. Harris und dessen Tochter zum Wagen. Bevor Patricia einstieg, blickte sie noch einmal an dem düsteren Gemäuer von Dundee-Castle hinauf. Es war ein Blick, der alles umfaßte, der ausdrückte, daß sie eines Tages hier Herrin sein würde.
"Ich kann Miß Harris nicht ausstehen", bekannte Cynthia unbeherrscht, kaum daß der Anwalt und seine Tochter abgefahren waren. Sie blickte der grauen Limousine nach. "Sie war mir von der ersten Minute an unsympathisch."
Ihr Verlobter lachte amüsiert auf. "Du wirst doch nicht etwa eifersüchtig auf sie sein?" meinte er.
"Eifersüchtig?" Cynthia hob die Schultern. "Ich weiß es nicht. Jedenfalls rechnet sie fest damit, daß du sie eines Tages heiraten wirst."
Brian legte den Arm um sie. "Zur Eifersucht besteht nicht der geringste Grund, Darling. Patricia und ich sind in unserer Jugend ziemlich eng miteinander befreundet gewesen, aber ich habe niemals daran gedacht, sie zu heiraten."
"Vielleicht nicht beim ersten Mal", bemerkte seine Cynthia sarkastisch.
Der Schloßherr sah sie erschrocken an. "Was meinst du damit?" fragte er unsicher.
"Nun, als wir unten auf dem Friedhof standen, fiel mir auf, daß die Männer der McArthurs meist zwischen zwei Frauen zur letzten Ruhe gebetet worden waren. Du selbst hattest mir einmal gesagt, daß Louisa Matthews zweite Frau war. Ich hörte von dem Fluch, und mir fiel auf, daß mich viele Leute etwas seltsam, geradezu abschätzend ansahen."
"Gehen wir ein Stückchen spazieren", schlug Brian McArthur vor. Er wußte, daß er nicht länger schweigen durfte. Cynthia hätte längst die Wahrheit über die McArthurs erfahren müssen.
"Wie du meinst."
Er legte den Arm um ihre Taille und ging mit ihr zu den Klippen. Vorsichtig stiegen sie die schmale Treppe hinunter, die zum Strand führte. Wind war aufgekommen und zerrte an ihrer Kleidung und in ihren Haaren. Doch es machte ihnen nichts aus. Unten am Strand zogen sie ihre Schuhe aus und liefen durch den Sand zu einem flachen Felsen, der schon Generationen von McArthurs als Bank gedient hatte.
Cynthia blickte auf das Meer hinaus. Das Tosen der Brandung erfüllte die Luft. "Ich hatte schon oft das Gefühl, als würdest du etwas vor mir verheimlichen", sagte sie und wandte ihm das Gesicht zu. "Jetzt solltest du mir endlich die Wahrheit sagen. Was hat es mit diesem Fluch auf sich, Brian? Nicht, daß ich an Flüche glauben würde, aber es ist nicht gerade angenehm, wenn alle Leute in unserer Umgebung glauben, ich sei die Nächste, die auf eurem Friedhof beigesetzt wird."
Brian stieß heftig den Atem aus. "Ich glaube nicht an den Fluch", erwiderte er, "sonst hätte ich mit dir darüber gesprochen. Dennoch war es natürlich nicht richtig, dir diese Geschichte zu verschweigen. Aber hätte ich auch nur einen Moment angenommen, dein Leben sei in Gefahr, glaube mir, Cynthia, ich hätte nicht um dich geworben."
"Das weiß ich", erwiderte sie und umfaßte seine Hand.
"Das macht mich froh." Er zog sie an sich. "Seit über dreihundert Jahren gab es nicht einen McArthur, der mit der Frau alt werden durfte, der seine erste Liebe galt. Ich bin überzeugt, daß die Krankheiten und die Unfälle, an denen die Frauen starben, sich natürlich erklären lassen. Aber die meisten Leute in unserer Umgebung glauben, daß sich an ihnen der Fluch erfüllt hat."
"Bei so vielen Toten kein Wunder", warf Cynthia ein.
Brian beachtete ihren Einwand nicht. Er sprach von einem seiner Vorfahren, der Ende des siebzehnten Jahrhunderts gelebt hatte. Er hatte sich an Maureen, der zwölfjährigen Tochter der Köchin, vergangen. Nach dieser Tat wurde Maureen schwanger. Sie wurde verhöhnt und verlacht. Die Leute warfen mit Steinen nach ihr, wenn sie sich einmal hinunter ins Dorf wagte. Schließlich bekam sie kaum noch jemand zu Gesicht.
Alle wußten, daß das Kind, das Maureen erwartete, von Robert McArthur gezeugt worden war, aber keiner, nicht einmal der Pfarrer, dachte daran, den Herrn von Dundee-Castle zu verurteilen.
Lady Anne, die zukünftige Herrin von Dundee-Castle, weigerte sich, mit Maureen unter einem Dach zu leben. Zusammen mit ihrer Mutter wurde sie verjagt. Sie kamen bei einer alten Frau im Wald unter. Dort brachte Maureen auch ihr Kind zur Welt. An Roberts Hochzeitstag stürzte sie sich mit ihrem Kind von den Klippen. Daraufhin verfluchte ihre Mutter alle zukünftigen Söhne der McArthurs."
"Wie verzweifelt muß sie gewesen sein", meinte Cynthia betroffen. "Ich kann Maureens Mutter sehr gut verstehen."
"Das kann ich allerdings auch", sagte Brian. "Maureen ist als Selbstmörderin nur einfach verscharrt worden. Als Junge habe ich zufällig ihr Grab gefunden. Ich habe ein Kreuz für Maureen aufgestellt und einen Rosenbusch gepflanzt."
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. "Es hat mich immer wieder zu diesem Ort gezogen. Ich habe versucht, mit der Toten Verbindung aufzunehmen, hielt stumme Zwiesprache mit ihr. Eine Zeitlang bildete ich mir ein, Maureen würde mir sagen, daß ich mir wegen des Fluches keine Sorgen machen müßte. Mich würde er nicht treffen, auch wenn ihre Mutter anderer Meinung sei." Der Schloßherr lachte dumpf auf. "Natürlich bestanden diese Gespräche nur in meiner Einbildung. Aber es ist schon seltsam, seit dieser Zeit habe ich oft das Gefühl, als sei Maureen bei mir."
"Es mag verrückt klingen, Brian, aber ich muß wieder an den Schatten denken, den ich so oft in deiner Nähe sehe."
Er seufzte leise auf. "Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll", gab er zu. "Da muß etwas sein. Du kannst dich nicht immer getäuscht haben. Du..." Er schüttelte entschieden den Kopf. "Nein, Darling, so etwas gibt es nicht. Maureen ist seit über dreihundert Jahren tot. Sie..."
"Und wer hat mir im Turm geholfen?"
"Ich wünschte, ich könnte dir diese Frage beantworten", meinte Brian. Erneut schüttelte er den Kopf. "Es gibt keine Geister, Darling. Ich habe niemals daran geglaubt. Und wie gesagt, was den Fluch betrifft, der Tod dieser Frauen läßt sich auch ganz natürlich erklären."
"Ein bißchen viel Krankheiten und Unfälle", bemerkte Cynthia. "Meinst du wirklich, es ist allgemein üblich, daß stets die erste Frau stirbt?"
"Es hat nicht immer nur die erste Frau getroffen. Einige McArthurs standen erst kurz vor der Hochzeit, als ihre Braut starb." Brian umfaßte Cynthias Hand. "Nein, es kann nicht sein, es ist unmöglich. Wir sind doch beide moderne junge Menschen. Wir leben in einer Zeit, in der man nicht mehr in allem, was einem seltsam erscheint, übernatürliche Dinge sieht." Wieder sah er sie an. "Aber das entschuldigt nicht, daß ich nicht längst mit dir über den Fluch gesprochen habe."
"Schon gut, mach dir darüber keine Gedanken", erwiderte Cynthia. "Irgendwann hättest du mir davon erzählt."
Ihr Verlobter ging nicht auf ihre versöhnlichen Worte ein, sondern meinte: "Bist du dir ganz sicher, daß du auch unter diesen Umständen noch meine Frau werden willst?" Er holte tief Luft. "Du brauchst dich nicht an dein Wort gebunden zu fühlen. Ich könnte verstehen, wenn du mich verläßt."
"Unsinn." Sie schmiegte sich an ihn. "Natürlich möchte ich deine Frau werden." Als sie das Leuchten in seinen Augen bemerkte, fügte sie halb scherzend hinzu: "Schon um Patricia Harris zu beweisen, daß es nie eine zweite Mistreß McArthur geben wird."
"Nein, wird es auch nicht", versicherte er und zog sie stürmisch an sich.
17. Kapitel
Die nächsten beiden Wochen verstrichen ereignislos. Hin und wieder glaubte Cynthia zwar, neben Brian einen Schatten zu sehen, doch die Erscheinungen gingen jedesmal so schnell vorbei, daß sie sich hinterher fragte, ob sie sich das alles nicht nur eingebildet hatte.
Brian kümmerte sich um seinen Besitz und zeigte ihnen die Umgebung. Die junge Frau begann sich ausgesprochen wohl auf Dundee-Castle zu fühlen, und sie bemerkte auch, daß Cedric und Marcella mit dem Gedanken spielten, Brians Angebot anzunehmen und mit ihnen zusammen hier zu leben.
Anfang des Monats flogen sie für einige Tage nach London, weil es dort noch Verschiedenes zu regeln gab. Da Cynthia auch auf Dundee-Castle ihrem Beruf nachgehen wollte, mußte die Einrichtung ihrer kleinen Werkstatt nach Schottland gebracht werden. Zudem suchte sie die Juweliere auf, die zu ihren Kunden zählten, und gab ihnen ihre jetzige Adresse. Sie waren betroffen, daß sie London verließ und sehr froh, als sie ihnen versicherte, daß sie auch in Zukunft für sie arbeiten würde.
Nachdem sie alles in London erledigt hatten, fuhren sie nach Cambridge, um Cedrics Zimmer aufzulösen und nach Marcellas Elternhaus zu sehen, daß seit dem Tod ihrer Eltern unbewohnt war. Marcella und Cedric hatten beschlossen, es vorläufig nicht zu vermieten, da er sich nicht sicher war, wo er im kommenden Jahr studieren wollte.
Wenige Tage nach ihrer Rückkehr wurden Marcella und Cedric in der kleinen Kapelle von Dundee-Castle getraut. Obwohl sie beschlossen hatten, keine große Feier zu veranstalten, hatte Brian dafür gesorgt, daß dieser Tag für sie unvergeßlich bleiben würde.
Während sich ihr Bruder und ihre Schwägerin das Jawort gaben, nahm Cynthia die Hand ihres Verlobten. Lächelnd sah sie ihn an. Sie wollte ihm etwas zuflüstern, doch in diesem Augenblick glaubte sie ein lautes, meckerndes Lachen zu hören. Sekundenlang sah sie vor dem Altar an der Stelle des Pfarrers eine verhärmt wirkende Frau. Ihre angegrauten Haare waren zum Teil unter einer riesigen Haube verborgen, das Kleid, das sie trug, schien aus einem vergangenen Jahrhundert zu stammen.
"Was ist?" fragte Brian.
"Ach, es ist nichts", behauptete Cynthia und lächelte ihm erneut zu. Sie wollte ihn nicht beunruhigen. Zudem war sie sich ja nicht einmal sicher, ob sie diese Frau wirklich gesehen hatte.
Es waren nur wenige Gäste zur Hochzeitsfeier nach Dundee-Castle geladen worden, darunter als Trauzeugen Freunde des Brautpaares. Außerdem befanden sich Dr. Harris und seine Tochter unter den Gästen.
"Sicher freuen Sie sich schon auf Ihre eigene Hochzeit, Miß Moore", meinte Patricia mit einem honigsüßen Lächeln zu Cynthia. "Brian sagte mir, daß Sie Ende Oktober heiraten würden."
"Ja, das stimmt."
Patricia sah sie kopfschüttelnd an. "An Ihrer Stelle würde ich lieber nicht so lange warten, Miß Moore. Wer weiß, was bis dahin noch alles passieren kann."
Cynthia wußte sofort, worauf die junge Frau hinauswollte. "Sie meinen wegen des Fluches, Miß Harris?" fragte sie.
Patricia nickte, dann lachte sie leise auf. "Keine Angst, das war nur ein Scherz. Ich selber glaube nicht an den Fluch. Derartige Geschichten sind nichts als Aberglauben."
"Sehen Sie, genau dieser Meinung bin ich auch, Miß Harris", erwiderte Cynthia und fügte hinzu: "Ich bin fest entschlossen, bis ins hohe Alter Mistreß McArthur zu bleiben." Es freute sie, daß Patricia errötete und mit einer Ausrede das Weite suchte.
Spät am Abend gingen Brian und sie noch ein Stückchen spazieren. Sie sprachen über die Hochzeitsfeier, und wie glücklich Marcella und Cedric ausgesehen hatten. "Ich bin überzeugt, daß die beiden sehr glücklich miteinander werden", sagte der Herr von Dundee-Castle. "Bitte, lach mich nicht aus, Darling, aber ich freue mich schon darauf, meine zukünftige Nichte oder Neffen in den Armen zu halten."
"Wenn ich ehrlich bin, so freue ich mich auch. Ich kann es kaum noch erwarten", gab Cynthia zu. "Zwar war ich zuerst ziemlich ärgerlich, als mir Cedric sagte, was er angestellt hat, aber er ist erwachsen. Selbst, wenn er sein Jurastudium nicht wieder aufnehmen sollte, werde ich mich dareinfügen müssen."
"Ich habe deinen Bruder früher nicht gekannt, aber ich finde, er ist ein ziemlich verantwortungsbewußter junger Mann."
"Das haben die letzten Monate aus ihm gemacht." Cynthia blickte aufs Meer hinaus. "Wie schön es hier ist", meinte sie. "Man sollte kaum glauben, wieviel Leid Dundee-Castle schon gesehen hat."
"Wir werden der Welt beweisen, daß damit für alle Zeiten Schluß ist", versprach Brian. Er nahm ein schmales Päckchen aus seiner Jackettasche und öffnete es. Cynthias Blick fiel auf einen wunderschönen Ring, dessen Stein im Mondlicht funkelte. Sanft strich er ihr den Ring über den Finger. Sekundenlang zuckte sie zurück.
"Was hast du?"
Sie berührte den Ring. "Sei mir nicht böse, Brian, aber plötzlich hatte ich Angst, den Ring der Bräute von Dundee-Castle zu tragen."
"Darling, glaubst du wirklich, ich würde dir diesen Ring überstreifen?" fragte er. "Nein, das würde ich niemals tun. Als ich gestern in Ayr war, habe ich ihn gekauft. Er soll ein Omen dafür sein, daß die Vergangenheit meiner Familie nichts mit dem Bund zu tun haben wird, den wir schließen werden."
Cynthia fühlte eine unendliche Liebe für Brian in sich. Erneut berührte sie den Ring. "Ich werde ihn in Ehren tragen", versprach sie.
"Das setze ich voraus", meinte ihr Verlobter lachend. "Nicht, daß ich eines Tages dazu komme, wie du auch diesen Ring in ein anderes Schmuckstück umarbeitest."
"Das wird niemals geschehen", versprach die junge Frau und schlang die Arme um seinen Nacken. "Niemals, Brian." Glücklich blickte sie ihm in die Augen. Alles, was sie eben noch bedrückt hatte, war von ihr abgefallen. Brian und sie würden eine lange, glückliche Ehe führen. Der Fluch von Dundee-Castle würde ihnen nichts anhaben können.
18. Kapitel
Cynthia fühlte sich auf Dundee-Castle ausgesprochen wohl. Sie dachte nicht länger über den Fluch nach, zumal alles seinen normalen Gang ging und es nichts gab, worüber sie sich hätte Sorgen machen müssen.
Während sich Brian um das Gut kümmerte, saß sie in ihrer kleinen Werkstatt, die er ihr im Erdgeschoß des Schlosses eingerichtet hatte, und arbeitete an einem Schmuckstück für die Tochter eines Industriemagnaten.
Das Personal von Dundee-Castle behandelte sie mit dem Respekt, der ihr als zukünftige Herrin zukam. Mrs. Enos erkundigte sich immer wieder nach ihren Lieblingsgerichten, während Mrs. Garrett sie in die Führung eines so großen Haushalts einwies.
An diesem Nachmittag hatte die junge Frau keine Lust, in ihrer Werkstatt zu sitzen. Sie schloß die wertvollen Steine im Safe ein und ging zu ihrem Zimmer hinauf, um sich andere Schuhe anzuziehen. Kurz darauf trat sie auf die Terrasse.
Marcella lag unter einem riesigen Sonnenschirm in einem Liegestuhl und häkelte an einem Babyjäckchen. Cedric saß neben ihr und las ihr vor. Als er seine Schwester bemerkte, blickte er auf. "Hast du nicht Lust, dich zu uns zu setzen?" fragte er.
"Vielleicht nachher", erwiderte Cynthia. "Ich muß mir etwas die Füße vertreten. Immerhin habe ich fast drei Stunden in der Werkstatt verbracht."
"Darf ich mir den Schmuck heute abend einmal anschauen?" fragte Marcella und ließ ihre Arbeit sinken. "Du weißt, wie ich für Schmuck schwärme."
"Nichts dagegen einzuwenden." Cynthia trat zu ihr und griff nach dem Jäckchen. "So etwas könnte ich nie", meinte sie.
"Wenn es einmal bei dir soweit ist, werde ich für dich mithäkeln", versprach ihre Schwägerin und zwinkerte Cedric zu.
"Da wirst du dich noch etwas gedulden müssen", erwiderte Cynthia. "Noch sind Brian und ich nicht einmal verheiratet."
"In wenigen Wochen werdet ihr es sein", bemerkte Cedric. Er drehte sich um und schaute an dem Schloß hinauf. "Ich hätte niemals gedacht, daß ich mich hier so wohl fühlen würde", bekannte er. "Dundee-Castle macht einen derart düsteren Eindruck, daß ich, als ich es zum erstenmal sah, davon überzeugt war, es hier höchstens ein, zwei Wochen aushalten zu können. Und jetzt kommt es mir fast so vor, als sei ich hier zu Hause."
"Ihr wißt, daß dies auch euer Heim sein könnte", sagte seine Schwester. "Brian würde sich freuen, und ich natürlich auch."
"Wir werden es uns überlegen", versprach Marcella. "Um ehrlich zu sein, mich beunruhigt etwas der Fluch. Das Personal spricht zwar nicht offen mit mir darüber, aber ich höre doch, was die Leute hin und wieder sagen." Sie nahm Cynthias Hand. "An deiner Stelle wäre ich sehr vorsichtig."
"Weder Cynthia noch ich glauben an diesen Fluch", erklärte Cedric. "Bitte, mach dir keine Sorgen, Darling." Er beugte sich über seine Frau und küßte sie auf den Haaransatz.
Cynthia stieg die Terrassenstufen hinunter. Während sie sich den Klippen zuwandte, dachte sie über Marcella und Cedric nach. Sie war überzeugt, daß die beiden eine sehr glückliche Ehe führen würden. Sie schienen wie füreinander geschaffen zu sein.
Marcellas Kind sollte in einer Woche zur Welt kommen. Am Montag wollte Cedric mit seiner Frau nach Ayr fahren, um mit ihr die letzten Tage vor der Geburt in einem Hotel zu verbringen. Es erschien ihm sicherer, als auf Dundee-Castle abzuwarten, bis die Wehen einsetzten.
Wie besorgt er um sie ist, dachte Cynthia versonnen. Ihr Bruder war bedeutend ängstlicher als Marcella. Erst am Vorabend hatte sie ihn scherzend Hasenfuß genannt. Immerhin würden Frauen seit vielen tausend Jahren Kinder bekommen.
"Aber nicht meine", hatte Cedric bemerkt.
Cynthia liebte es, durch den Park zu gehen, vor allen Dingen am späten Nachmittag. Sie schien dann durch eine Märchenwelt zu laufen. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Es war, als wäre sie völlig alleine auf der Welt.
Die junge Frau träumte von ihrer Zukunft mit Brian. Sicher würde er ein wunderbarer Vater werden. Sie hatten zwar noch niemals über Kinder gesprochen, aber sie war überzeugt, daß er sich mindestens zwei wünschte.
Vor ihr lagen die Klippen. Cynthia beschattete die Augen mit der Hand. Es war herrlich, hier zu stehen und in die Ferne zu sehen. Mehrmals war Brian schon mit ihr aufs Meer hinausgefahren, hin und wieder saßen sie auch unten am Strand und unterhielten sich.
So schön habe ich es in London nicht gehabt, dachte sie. Allerdings gab es auch Zeiten, in denen sie die Großstadt mit all ihrer Hektik vermißte, doch meistens war sie überzeugt, würde man sie jemals vor die Wahl stellen, hier oder in London zu leben, sie würde Dundee-Castle wählen.
Plötzlich hörte sie Stimmen. Es klang, als würden eine junge und eine ältere Frau miteinander streiten. Neugierig trat Cynthia etwas näher an den Abgrund heran, aber durch die hervorspringenden Felsen gelang es ihr nicht, den Strand völlig zu überblicken.
Die junge Frau fragte sich nicht, weshalb es ihr möglich war, die beiden Frauen zu hören. Immerhin lag der Strand über dreißig Meter unter ihr, zudem hätten die Stimmen eigentlich von der lauten Brandung übertönt werden müssen. Ohne nachzudenken ging sie einige Meter weiter zu einer Stelle, an der die Sicht auf den Strand nicht durch Felsvorsprünge verdeckt wurde.
Cynthia hatte schon oft hier gestanden, sich an die alte Kiefer gelehnt und ihren Träumen nachgehangen. Diesmal konnte sie sich nicht an die Kiefer lehnen. Der Baum war bei einem Sturm umgestürzt und zum Teil entwurzelt worden. Bedauernd strich sie über einen der knorrigen Äste.
Vorsichtig spähte Cynthia nach unten. Der Strand schien menschenleer zu sein. Wo waren die Frauen geblieben? Sie beugte sich etwas weiter vor. Im selben Moment brach ein Stück vom Klippenrand ab. Sie fühlte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Alles ging so schnell, daß sie in diesem Augenblick nicht einmal Angst empfinden konnte. Noch während sie stürzte, warf sie ihren Körper zur Seite und bekam einen Ast der Kiefer zu fassen. Die Arme wurden ihr fast aus den Gelenken gerissen. Vor Schmerz schrie sie auf, aber sie klammerte sich noch fester.
Es dauerte einige Sekunden, bis der jungen Frau völlig bewußt wurde, in welch verzweifelter Lage sie sich befand. Tief unter ihr lag der Strand, vor ihr gab es nur die fast glatte Felswand. Ihr einziger Halt bildete die am Boden liegende Kiefer.
Ich müßte mich doch hochziehen können, dachte Cynthia und bedauerte, sich niemals sonderlich für Sport interessiert zu haben. Vergeblich versuchte sie, sich mit den Beinen an der Felswand hinaufzuarbeiten. Jedesmal, wenn sie es geschafft hatte, ein paar Zentimeter nach oben zu kommen, rutschten ihre Füße wieder ab.
"Hilfe!" schrie sie ohne Hoffnung, daß man sie hörte. Die Brandung war einfach zu laut.
Tief unter ihr erklang ein meckerndes Lachen. Cynthia blickte nach unten und sah sekundenlang dieselbe Frau, die sie bei der Trauung ihres Bruders vor dem Altar bemerkt hatte.
"Hilfe!" schrie sie erneut. "Hilfe!" Aber nur das Tosen der Brandung antwortete ihr.
Die Schmerzen in ihren Armen wurden unerträglich. Die junge Frau wußte, daß sie sich nicht mehr sehr lange halten konnte. Wieder blickte sie nach unten, überlegte, ob sie es wagen konnte, die Kiefer loszulassen. Aber es bestand keinerlei Aussicht, daß sie bei einem Sprung in die Tiefe mit dem Leben davonkommen würde. Unter ihr auf dem Strand lagen nichts als Felsbrocken.
Ich will nicht sterben, dachte sie verzweifelt. Ich will nicht. Erneut versuchte sie, sich nach oben zu ziehen.
Plötzlich tauchte Brian McArthur oberhalb der Klippe auf. Entsetzt starrte er auf seine Verlobte. Er war gerade vom Gut gekommen und hatte seinen Wagen vor dem Schloß parken wollen, als er das Gefühl gehabt hatte, daß Cynthia Hilfe brauchte. Etwas, was er sich selbst nicht erklären konnte, hatte ihn zu den Klippen getrieben.
"Halt durch, Darling!" schrie er nach unten, dann legte er sich flach auf den Boden und umfaßte ihre Hände.
Obwohl Cynthia wußte, daß Brian ihr helfen wollte, klammerte sie sich noch immer an der Kiefer fest und wagte nicht, sie loszulassen.
"Laß los, Darling", befahl ihr Verlobter. "Cynthia, laß los."
Es kostete die junge Frau eine unendliche Überwindung, seinem Befehl nachzukommen. Vorsichtig löste sie ihre Finger. Ihr ganzes Gewicht hing jetzt an Brians Händen. Sie schloß die Augen, wagte nicht mehr, sie zu öffnen, aber sie spürte, wie ihr Verlobter sie Zentimeter für Zentimeter nach oben zog.
Endlich hatte es Brian geschafft. Minutenlang lagen sie erschöpft im kühlen Gras. Langsam richtete er sich auf. Seine Finger berührten sanft ihr Gesicht. "Ich bringe dich ins Haus, Darling", sagte er. "Cynthia, hörst du mich?"
Die junge Frau blickte auf. "Danke", hauchte sie. "Danke." Sie versuchte, auf die Beine zu kommen, aber es gelang ihr nicht. Widerstandslos ließ sie es zu, daß Brian sie hochhob und auf seinen Armen ins Schloß trug.
19. Kapitel
Mrs. Garrett hatte Cynthia geholfen, sich auszukleiden und zu duschen. Die junge Frau war seelisch und körperlich völlig erschöpft. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie es kaum schaffte, das Glas warme Milch zu halten, das ihr Daisy brachte. Aber sie weigerte sich, sich von der Wirtschafterin füttern zu lassen.
"Es wäre vernünftiger, Sie würden mich das Glas halten lassen, Miß Moore", meinte Mrs. Garrett.
"Nein, es geht schon." Cynthia schüttelte den Kopf. "Ich bin doch kein Baby."
"Das hat doch damit nichts zu tun." Die Wirtschafterin lächelte ihr zu. "Mir erscheint es wie ein Wunder, daß Mister McArthur ausgerechnet im richtigen Moment kam." Ihre Stirn umwölkte sich. "Aber ich verstehe nicht, wie ein Stück der Klippe abbrechen konnte. Der verstorbene Mister McArthur hat alle paar Wochen den Klippenrand untersuchen lassen. So etwas ist noch niemals passiert. Wenn..." Sie sprach es nicht aus, aber ihr Gesicht zeigte deutlich, was sie dachte.
"Mein Unfall hat nichts mit dem Fluch zu tun, Mistreß Garrett", bemerkte Cynthia. Sie stellte das Milchglas auf den Nachttisch und lehnte sich zurück. "Ich war unvorsichtig. Ich hätte nicht ganz so nah an den Abgrund gehen dürfen." Sie dachte an die beiden streitenden Frauen. Inzwischen war sie sich ganz sicher, daß sie nicht von dieser Welt gewesen waren. Maureens Mutter, und sie hielt die Frau mit der Haube für die Mutter der Selbstmörderin, hatte sie absichtlich zu dieser Stelle gelockt, doch davon sollte das Personal nichts erfahren. Die Leute waren ohnehin schon viel zu abergläubisch.
Es klopfte.
"Bitte!" rief Mrs. Garrett an Cynthias Stelle.
Brian trat ein, blieb jedoch bei der Tür stehen. "Kann ich schon kommen?" fragte er.
"Natürlich." Cynthia streckte die Arme nach ihm aus.
"Ich werde dann gehen", sagte Mrs. Garrett. Sie griff nach dem leeren Milchglas. "Gute Nacht, Miß Moore. Falls Sie irgend etwas wünschen, so klingeln Sie nur."
"Das werde ich tun", versprach die junge Frau.
Mrs. Garrett nickte dem Schloßherrn zu und verließ das Zimmer.
Brian McArthur setzte sich auf das Bett seiner Verlobten. Sein Gesicht war noch von dem ausgestandenen Schrecken und der Anstrengung gezeichnet. Er umfaßte Cynthias Hände. "In meinem ganzen Leben habe ich nicht solche Angst empfunden wie in dem Augenblick, als ich dich an dem Ast der Kiefer hängen sah", sagte. "Ich begreife das alles nicht. Wie konnte der Boden unter deinen Füßen so einfach abbrechen?" Er schüttelte leicht den Kopf. "Aber eines steht fest: Ich werde dafür sorgen, daß so etwas nie wieder passieren kann. Im Abstand von einem Meter zum Abgrund werde ich einen Zaun anbringen lassen."
"Ich habe ganz deutlich das Lachen einer Frau gehört", erzählte Cynthia. "Als ich nach unten blickte, bemerkte ich für einen kurzen Augenblick eine altmodisch gekleidete Frau mit einer riesigen Haube. Es war dieselbe Frau, die ich während der Trauung von Marcella und Cedric in der Kapelle gesehen habe." Sie blickte ihm in die Augen. "Ich weiß, es klingt unsinnig, Brian, und im Grunde genommen kann ich auch nicht recht daran glauben, aber ich halte die Frau für Maureens Mutter."
"Es kann nicht sein. Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, Darling", gab ihr Verlobter zu bedenken. "Derartige Geschichten gehören ins Mittelalter."
"Das sagt uns unser Verstand. Aber warst du nicht stets davon überzeugt, daß Maureen bei dir ist? Bedenke doch nur, was während der letzten Wochen alles passiert ist. Und dann dieser Schatten, den ich auch jetzt noch immer wieder bei dir sehe." Sie blickte auf ihren Verlobungsring. "Warum warten wir mit unserer Heirat noch bis Ende Oktober? Laß uns wie Cedric und Marcella in aller Stille heiraten."
"Dann willst du es wirklich wagen?" fragte er.
"Hast du jemals daran gezweifelt?"
"Ich könnte durchaus verstehen, wenn du nach London zurückkehren wolltest."
"Wenn ich jemals nach London zurückkehren will, dann nur mit dir, Brian." In ihre Augen trat ein Anflug von Schalk. "Verlaß dich darauf, niemand wird mich jemals daran hindern können, dich zu heiraten, und schon gar nicht Gestalten aus der Vergangenheit." Sie legte die Arme um seinen Nacken. "Dazu liebe ich dich viel zu sehr, Brian. Ich könnte ohne dich nicht mehr leben. Du..."
Brian lachte leise auf. "Warum lachst du?" fragte sie.
"Ich dachte nur daran, wie entschieden du es damals abgelehnt hast, mit mir auszugehen, weil du Angst vor einer Bindung hattest."
"Es gibt Menschen, an die man sich gerne bindet", erwiderte Cynthia. Jetzt im nachhinein konnte sie nicht mehr verstehen, wie sie jemals Angst davor gehabt hatte, Brian näher kennenzulernen. Sie wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment klopfte es.
"Ja, bitte!" rief Brian.
Cynthias Bruder trat ein. "Störe ich?" fragte er und kam zum Bett seiner Schwester. "Wie fühlst du dich?" Er blickte auf sie hinunter. "Dich kann man wirklich keine zehn Minuten alleine lassen." Er wandte sich an Brian. "Du übernimmst eine schwere Aufgabe, mein lieber Schwager. Meine Schwester ist unberechenbar."
"Das habe ich inzwischen auch festgestellt", bemerkte Brian.
"Verschwört euch nur gegen mich." Cynthia drohte den beiden mit dem Finger. "Aber wartet, ich werde mich bei Gelegenheit rächen."
"Wir werden daran denken", antwortete Cedric. "Ich muß Marcella ins Krankenhaus bringen. Die Wehen haben begonnen." Er seufzte laut auf. "Dabei sollte das Kind doch erst nächste Woche zur Welt kommen. Was nützt jetzt alle Planung?" Er wandte sich direkt an Brian. "Ist es möglich, daß uns Fred fährt?"
"Selbstverständlich, Cedric", antwortete der Herr Schloßherr. "Am liebsten würde ich euch ja begleiten, aber ich möchte Cynthia nicht alleine lassen."
"Um mich braucht ihr euch nicht zu sorgen", warf Cynthia ein. "Wie geht es Marcella?" fragte sie ihren Bruder.
"Sie sagt, ganz gut. Sie hat nur Angst, zu spät ins Krankenhaus zu kommen."
"Dann solltet ihr sofort fahren", meinte die junge Frau. "Brian, mir wäre lieber, du würdest die beiden begleiten."
"Nein, laß nur, wir kommen schon zurecht, Brian", versicherte Cedric. "Aber danke." Er legte eine Hand auf die Schulter seines Schwagers.
"Bitte, ruft sofort an", bat seine Schwester. Cynthia war es gar nicht recht, daß sie die beiden, nur von Fred Blair begleitet, nach Ayr fahren lassen sollte. Am liebsten wäre sie aufgestanden und mitgefahren, aber sie wußte auch, daß sie im Moment diese Fahrt nicht durchgestanden hätte. Noch immer saß der Schrecken in ihrem Körper. Sie mußte sich Mühe geben, ihre Hände nicht zittern zu lassen.
"Worauf ihr euch verlassen könnt", versicherte der junge Mann und kehrte zu seiner Frau zurück.
Cynthia schloß die Augen. "Hoffentlich geht alles gut", meinte sie. "Ich mache mir solche Sorgen."
"Es wird gutgehen", versprach Brian und drückte ihre Hand.
20. Kapitel
Marcella schenkte einem Sohn das Leben. Sie nannten ihn Felipe, nach ihrem verstorbenen Vater. Als sie und Cedric mit ihrem Söhnchen nach Dundee-Castle zurückkehrten, veranstaltete Brian eine kleine Feier. Er war ganz vernarrt in das Kind, hätte es am liebsten von morgens bis abends herumgetragen. Cynthia freute sich darüber, zeigte es ihr doch, daß er eines Tages ein guter Vater werden würde.
"Vielleicht werden wir auch bald einen kleinen Sohn haben", sagte Brian am Abend vor ihrer Hochzeit. "Um ehrlich zu sein, ich kann es kaum noch erwarten, ihn in meinen Armen zu halten."
"Jetzt weiß ich wenigstens, warum du mich unbedingt heiraten willst", scherzte seine Verlobte. "Du willst nur einen Erben für Dundee-Castle."
"Wie bist du dahintergekommen?" fragte er und nahm sie in die Arme. "Aber um ehrlich zu sein, über ein Töchterchen wäre ich genauso glücklich. Allerdings müßte es so hübsch wie seine Mutter sein."
"Ich werde mir Mühe geben", versprach Cynthia verliebt.
Sie sagten einander gute Nacht. Es war noch reichlich früh, aber sie wollten am nächsten Morgen ausgeschlafen sein.
Versonnen betrat die junge Frau ihr Zimmer. Ihr Blick fiel auf das Hochzeitskleid, das am Schrank hing. Leicht strich sie mit dem Zeigefinger über den feinen Stoff.
Anstatt sofort zu Bett zu gehen, saß Cynthia an diesem Abend noch lange auf der Fensterbank und schaute auf das Meer hinaus. Sie dachte über die letzten Monate nach.
Was hatte sie früher für ein ruhiges, beschauliches Leben geführt. Sie hatte sich damit begnügt, ihre Arbeit zu haben, hin und wieder in ein gutes Konzert zu gehen und alle paar Monate eine Reise zu unternehmen. Nun war alles anders geworden. Sie lebte auf Dundee-Castle und sollte in wenigen Stunden Herrin dieses Besitzes werden. Sie fragte sich, ob sie Brian nicht enttäuschen würde. War sie überhaupt fähig, an seiner Seite diesem Besitz vorzustehen?
Seit wann hast du Minderwertigkeitskomplexe? dachte sie leicht amüsiert. Warum solltest du es nicht schaffen? Zudem kommt es doch in erster Linie auf Brian an und darauf, daß wir uns lieben.
Und plötzlich mußte die junge Frau auch wieder an den Fluch denken. Sie spürte eine unbestimmte Angst in ihrem Herzen, obwohl sie sich einzureden versuchte, daß sie diese Angst überhaupt nicht empfand. Sie hatte niemandem etwas getan. Sie... Aber hatte Maureens Mutter nicht bereits versucht, sie umbringen? Cynthia glaubte, wieder über dem Abgrund zu hängen und dieses Lachen zu hören. Es dröhnte durch das Zimmer, schmerzte in ihren Ohren.
Sie zwang sich, nicht mehr daran zu denken. Es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Sie würde Brian McArthur heiraten, gleich was dann geschah. Ihre gegenseitige Liebe war wichtiger, als die Bedrohung aus der Vergangenheit.
Die junge Frau ging zu Bett und versuchte, noch etwas zu lesen. Aber schon nach wenigen Seiten fielen ihr die Augen zu. Sie träumte von ihrer Hochzeit, sah sich bereits mit Brian vor dem Altar stehen. Cedric und Marcella würden ihre Trauzeugen sein.
Plötzlich hörte Cynthia in ihren Traum hinein das leise Weinen eines Kindes. "Was hast du denn, Felipe?" flüsterte sie im Schlaf. Sie sah ihren Neffen vor sich. Er hatte die Händchen geballt. Sein Gesicht war vom Weinen krebsrot geworden.
Das Kind weinte noch immer. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß es nicht Felipe war, den sie hörte. Er hatte noch keine so kräftige Stimme. Zudem wohnten ihr Bruder und Marcella jetzt in einer Suite, die auf der anderen Seite der Galerie lag.
Ich will nicht aufwachen, dachte sie. Ich will schlafen... schlafen...
Aber das Weinen wurde immer lauter. Cynthia konnte es nicht mehr ignorieren. Obwohl sie noch immer die Augen geschlossen hielt, war sie hellwach. Widerwillig tastete sie nach dem Schalter ihrer Nachttischlampe und schaltete sie ein.
Die junge Frau erinnerte sich, daß sie in ihrer ersten Nacht auf Dundee-Castle ebenfalls vom Weinen eines Kindes geweckt worden war. Damals hatte es für dieses Weinen keine Erklärung gegeben. Sie fühlte, daß es besser sein würde, im Bett liegen zu bleiben und nicht nach dem Kind zu suchen, aber sie brachte es nicht fertig.
Cynthia verließ das Zimmer und ging zur Treppe. Das Weinen schien immer intensiver zu werden. Langsam stieg sie Stufe für Stufe zur Halle hinunter. Sie hatte Angst, sogar entsetzliche Angst, aber statt zu Brian zu gehen und ihn zu wecken, folgte sie dem Weinen bis zur Waffenkammer.
Als Brian ihr, Cedric und Marcella das Schloß gezeigt hatte, waren sie auch in der Waffenkammer gewesen, einem schaurigen Ort, in dem noch mehr Ritterrüstungen standen als in der Halle. An den Wänden hingen Helebarden, Speere, Schwerter und altmodische Gewehre. Es gab Armbrüste, Morgensterne und dergleichen und zudem noch einige Folterwerkzeuge, die in grauen Vorzeiten von den McArthurs benützt worden waren, um aus ihren Gegnern Geständnisse herauszupressen.
"Du siehst, wir McArthurs sind früher ziemlich ein wildes Geschlecht gewesen", hatte Brian zu ihr gesagt. "Es gibt in unserer Geschichte Zeiten, auf die weder mein Bruder noch ich jemals stolz waren." Sein Blick war über die von Waffen strotzenden Wände geglitten, und er hatte hinzugefügt: "Ich spiele mit dem Gedanken, dieses ganze Zeugs einem Museum zu schenken."
Cynthia öffnete die Tür zur Waffenkammer und schaltete das Licht ein. Das Weinen kam aus einer Nische am Fenster. Langsam stieg sie die beiden Stufen hinunter, die in den Raum führten, und durchquerte ihn.
Die junge Frau hatte fast die Mitte des Raumes erreicht, als die Uhr in der Halle Mitternacht schlug. Mit einem lauten Knall flog die Tür zu und verlöschte das Licht bis auf eine winzige Lampe, die einen Glaskasten beleuchtete, in dem mehrere uralte Dokumente lagen.
Cynthia blieb abrupt stehen. Sie erkannte, daß sie erneut in eine Falle geraten war und rannte zurück. Vergeblich versuchte sie, die Tür zu öffnen. Im selben Moment erklang ein meckerndes Lachen.
Entsetzt drehte sich die junge Frau um. Ein Morgenstern flog auf sie zu. Gerade noch im letzten Moment konnte sie sich ducken. Die mit Eisenspitzen versehene Holzkugel schlug scheppernd gegen die Tür.
Wo konnte sie sich verstecken? Verzweifelt ließ Cynthia ihren Blick durch den Raum wandern. Vielleicht in der kleinen Nische. Es mußte ihr gelingen, dorthin zu gelangen. Sie griff nach einem Schild, das neben ihr an der Wand hing, und riß es herunter.
Erneut flog der Morgenstern auf sie zu. Wieder wollte sie ausweichen, doch sie reagierte nicht schnell genug. Die Kugel streifte sie und riß ihr die Schulter auf. Erneut erklang das meckernde Lachen.
Cynthia sah das Blut, spürte es warm über ihren Arm rinnen. Sie wunderte sich, daß sie keinen Schmerz empfand, dann wurde ihr bewußt, daß sie unter Schock stand, denn sie war unfähig, sich zu bewegen.
"Flieh!" schrie plötzlich eine Stimme und sie glaubte, Maureens Schatten zu sehen. Im selben Moment flog erneut der Morgenstern auf sie zu, doch Cynthia war aus ihrer Erstarrung erwacht. Sie flüchtete quer durch den Raum zu der kleinen Nische.
"Es hilft dir nichts, Täubchen." Die Frau mit der Haube tauchte für den Bruchteil einer Sekunde auf. Sie schleuderte erneut den Morgenstern. Maureen fiel ihr in den Arm. "Hau ab, du dumme Gans!" schrie die Alte. "Weg!"
Cynthia hielt das Schild so vor sich, daß ihr Gesicht und ihr Oberkörper geschützt waren. Die Wunde an ihrer Schulter begann zu brennen, doch sie hatte keine Zeit, darauf zu achten. Wichtig war jetzt einzig und alleine, irgendwie zu überleben. Sie konnte nur hoffen, daß der Krach, den der Morgenstern verursachte, wenn er gegen eine Wand schlug, die Bewohner von Dundee-Castle alarmierte.
Cynthia kam es vor, als seien alle ihre Wünsche erfüllt worden, denn den plötzlich hörte sie Brians Stimme. Er versuchte, die Tür der Waffenkammer aufzubrechen. "Brian!"
schrie sie. "Brian, hilf mir."
"Was ist denn da drinnen los, Darling?" fragte er verzweifelt und warf sich erneut gegen die Tür.
"Cynthia! Cynthia, was ist?" hörte sie Cedric.
"Ich bin gefangen!" schrie sie. "Maureens Mutter versucht, mich zu ermorden. Helft mir, so helft mir doch!" Sie duckte sich hinter das Schild, weil erneut der Morgenstern auf sie zusauste.
Es dauerte fast zehn Minuten, bis es den beiden Männer gelang, die Tür aufzubrechen. Im selben Moment fiel der Morgenstern zu Boden und die Lichter in der Waffenkammer gingen wieder an.
Brian McArthur und Cedric bot sich ein Bild der Verwüstung.
Doch sie achten nicht darauf. Über die am Boden liegenden Waffen hinweg eilten sie zu Cynthia, die sich noch immer in die Nische drängte. Sie ließ das Schild sinken und brach bewußtlos in Brians Armen zusammen.
21. Kapitel
"Sie sehen wunderschön aus, Miß Moore", meinte Daisy, nachdem sie Cynthia geholfen hatte, ihr Hochzeitskleid anzulegen. "Wie schade, daß Sie sich letzte Nacht verletzt haben." Neugierig blickte sie die junge Frau an, erwartete, daß diese ihr mehr über ihre Verletzung sagen würde, als die Dienerschaft erfahren hatte.
Cynthia dachte nicht daran, Daisys Neugier zu stillen. Sie waren alle sehr froh gewesen, daß die Dienerschaft in einem entfernten Flügel des Hauses wohnte und nichts von dem Krach in der Waffenkammer mitbekommen hatte. Sie hatten den Leuten erzählt, daß sie nachts ein Geräusch gehört hätte und auf dem Weg in die Halle die Treppe hinuntergestürzt sei. Dabei hätte sie sich die Schulter aufgeschlagen.
Natürlich hatte man die aufgebrochene Tür der Waffenkammer und das Tohuwabohu, das in ihr herrschte, nicht verbergen können. Brian hatte es so hingestellt, als sei in der Nacht jemand eingebrochen und Cynthias Auftauchen hätte den Einbrecher vertrieben.
"Was wirklich passiert ist, geht niemanden etwas an", hatte er zu ihr gesagt. "Auch wenn ich meinen Leuten absolut vertraue, ich weiß, sie könnten nicht darüber schweigen, wüßten sie die Wahrheit. Und dieses Gerede vom Fluch muß ein für allemal ein Ende haben."
Cynthia war damit einverstanden gewesen. Auf der Fahrt nach Ayr waren sie übereingekommen, daß trotz allem die Hochzeitsfeier stattfinden sollte. Es wäre sinnlos gewesen, sie zu verschieben. Zudem war sie ja nicht schwer verletzt; der Morgenstern hatte sie nur gestreift. Die Wunde war mit einigen Stichen in der Klinik genäht worden. Gleich danach hatten sie nach Dundee-Castle zurückkehren können.
Daisy verließ das Zimmer. Cynthia drehte sich noch einmal vor dem Spiegel. Sie war glücklich, auch wenn die Gefahr noch nicht ausgestanden war. Aber sie wußte, Maureen stand auf ihrer Seite, und wenn sie Glück hatten, dann würden sie an diesem Morgen dem Spuk ein Ende bereiten können.
Um zehn verließ sie ihr Zimmer und stieg langsam die Treppe hinunter. Unten in der Halle hatten sich die wenigen Hochzeitsgäste versammelt. Cedric und Marcella standen mit Dr. Harris und dessen Tochter zusammen. Brian ging ihr entgegen. Auch er war bereits für die Trauung angekleidet.
"Wunderschön siehst du aus", meinte er und nahm sie in die Arme.
"Dasselbe Kompliment hat mir bereits Daisy gemacht."
"Ich hoffe, aus meinem Mund weißt du es tausendmal mehr zu schätzen."
"Wie kannst du nur daran zweifeln?" fragte Cynthia und sah ihm in die Augen. Dann ließ sie ihren Blick durch die Halle wandern. Sie bemerkte, daß Patricia Harris sie abschätzend beobachtete. Ob sie sich ausrechnete, wie schnell Brian zum Witwer werden würde?
"Seid ihr soweit?" fragte Brian.
"Ja, der Pfarrer wartet bereits draußen in seinem Wagen", antwortete Cedric.
"Was soll das Ganze eigentlich?" erkundigte sich Patricia. "Warum müssen wir vor der Trauung noch wegfahren?"
"Weil wir noch eine wichtige Aufgabe zu erfüllen haben", sagte Cynthia. "Die wichtigste Aufgabe, die jemals eine Braut von Dundee-Castle erfüllt hat."
Gefolgt vom Personal des Besitzes verließen sie das Schloß und gingen zu den wartenden Wagen. Brian und Cynthia stiegen in den Wagen des Pfarrers, denn sie mußten ihm den Weg zeigen.
Sie folgten der Straße, die ins Tal führte, fuhren am Dorf vorbei und wandten sich dem Meer zu. Kurz vor dem Strand hielten sie an und stiegen aus. Hintereinander kletterten sie die Anhöhe wieder ein Stückchen hinauf. Vor ihnen erhob sich ein grobes Holzkreuz, neben dem ein Rosenbusch wuchs, der jetzt allerdings keine Blüten mehr trug.
"Wo sind wir hier?" fragte Patricia Harris.
"An Maureens Grab", antwortete ihr Brian. "Ich habe es als Kind entdeckt, als ich auf unserem Besitz herumstreifte. Auf einem halb vergrabenen Stein hatte jemand ungeschickt ihren Namen eingeritzt vermutlich ihre Mutter. Man weiß von ihr, daß sie etwas lesen und schreiben konnte."
"Bitte." Der Pfarrer wies sie an, sich im Halbkreis um das Grab zu stellen. Dann weihte er die Erde, in der Maureen mit ihrem Kind verscharrt worden war. Keiner außer ihm wagte ein Wort zu sprechen. Brian hielt Cynthias Hand. Sie fühlten sich Maureen verbunden, wußten, daß der Schatten, der hinter dem Kreuz auf dem Hügel lag, zu ihr gehörte.
"Nun laßt uns für ihre Seele beten", sagte der Pfarrer und faltete die Hände. Leise sprach er die Worte vor, die sie wiederholen sollten.
Als das "Amen" erklang, begann plötzlich der Rosenstock zu blühen. Fassungslos sahen alle einander an. Sie konnten nicht begreifen, was geschah. Nur Brian und Cynthia wurde bewußt, daß nun der Fluch für alle Zeiten aufgehoben war. Maureens Schatten verblaßte. Eine der Rosenblüten fiel zu Boden. Brian bückte sich und reichte sie seiner Braut.
Schweigend kehrten sie zu den Wagen zurück. Brian hatte seinen Arm um Cynthia gelegt. Maureen selbst schien ihren Segen zu ihrem Bund gegeben zu haben. Nie wieder würde sich eine Braut von Dundee-Castle vor ihr fürchten müssen. Nie wieder würde ein McArthur gezwungen sein, zweimal zu heiraten, weil der Fluch, der Frau, die er liebte, das Leben gekostet hatte.
"Nun wird alles gut", meinte Cynthia, als sie Hand in Hand in die Kapelle traten. Mit strahlenden Augen schaute sie nach vorn. Nur noch wenige Minuten, und Brian und sie würden verheiratet sein. Die Zukunft lag wie ein leuchtendes Band vor ihr. Sie wußte, sie würden miteinander sehr glücklich werden. In Brian hatte sie den Mann gefunden, der ihr bereits bei ihr Geburt bestimmt worden war.
E n d e
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