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»Ich werde nächste Woche in die Schweiz fahren und Sterbehilfe in Anspruch nehmen« – mit diesem Satz meldete sich vor vielen Jahren Hanna (45) in meiner Sendung.
Die Themen »Sterbehilfe« und auch »Aktive Sterbehilfe« kommen in meiner Telefon-Talkshow immer wieder zur Sprache. Mit großer Resonanz übrigens, die TV-Einschaltquoten sind beeindruckend und die Zahl der Zuhörerreaktionen liegt bei dieser Thematik weit über dem Durchschnitt. Dies ist sicher damit zu erklären, dass »Sterbehilfe« in Deutschland nach wie vor ein großes Tabuthema ist und in der Öffentlichkeit wenig darüber gesprochen wird. Die Menschen aber wollen sich damit auseinandersetzen und sind mit der aktuellen Rechtslage zu diesem Thema nicht zufrieden. Das ist zumindest meine Einschätzung.
In Deutschland ist aktive Sterbehilfe verboten. Darunter versteht man im juristischen Sinne »Tötung auf Verlangen«, was mit bis zu fünf Jahren Gefängnis geahndet wird. In Luxemburg, Belgien und den Niederlanden ist diese Art der Sterbehilfe straffrei. Der Arzt verabreicht dem Patienten ein tödlich wirkendes Medikament, meist in Form einer Spritze. Dafür allerdings müssen strenge Voraussetzungen erfüllt sein.
Die wichtigste ist der eindeutige und nachweisliche Wille des Betroffenen. Zudem muss sich der Patient in der Endphase seines Lebens befinden oder wegen unerträglicher Leiden, für die es keine Linderung mehr gibt, eine aussichtslose Notlage für sich reklamieren. Des Weiteren ist vorgeschrieben, dass immer zwei Ärzte entscheiden, ob aktive Sterbehilfe geleistet werden darf. Sie müssen sich in der Beurteilung des Patienten und seines Krankheitszustandes einig sein. Nach dem Tod des Patienten besteht die Pflicht, den Fall einer Kommission zu melden, die die Rechtmäßigkeit der durchgeführten Sterbehilfe prüft.
Ebenfalls in Deutschland verboten ist die so genannte Beihilfe zur Selbsttötung, auch begleiteter Suizid genannt . In diesem Fall wird dem Patienten ein tödlicher Trunk bereitgestellt, den er aber völlig eigenständig zu sich nehmen muss. Dabei ist er der Aktive. Niemand darf ihm das Gift einflößen, es ist nicht einmal gestattet, ihm das Glas an den Mund zu führen. In der Schweiz ist diese Variante der Sterbehilfe erlaubt, ebenso in einigen Bundesstaaten der USA. Die Organisation und Durchführung dieses begleiteten Freitodes übernehmen in der Schweiz Sterbehilfeorganisationen wie Exit oder Dignitas. Diese arbeiten nach klar umrissenen Vorgaben. So muss, wer zum Beispiel bei Dignitas Sterbehilfe in Anspruch nehmen will, dort Mitglied sein, muss dem Verein ausführliche medizinische Informationen, wie Befunde, Gutachten und ärztliche Dokumente, zukommen lassen, und man muss sowohl telefonisch als auch schriftlich den Sterbewunsch detailliert darlegen können.
Die letzten zwei Tage im Leben eines schwerstkranken Menschen folgen dann einem streng geregelten Ablauf: Der Betroffene muss einen Tag vor der geplanten Selbsttötung bereits in der Schweiz vor Ort sein, um ein Gespräch mit dem Arzt zu führen, der am nächsten Tag das Rezept für das tödlich wirkende Medikament Natrium-Pentobarbital ausstellt. Dieser Arzt kennt bereits sämtliche Krankenakten und ist über den körperlichen und seelischen Zustand des Patienten informiert. Am Todestag sucht der Betroffene eine von Dignitas angemietete Wohnung auf, wo er von Mitarbeitern der Organisation empfangen wird. Sie führen ihn in ein nüchtern eingerichtetes Sterbezimmer mit Bett, Sesseln, Stühlen und einem Tisch. Ein letztes Mal muss der Todkranke seinen Willen zu sterben bekunden, indem er diese Erklärung unterschreibt: »Nach reiflicher Überlegung mache ich, der ich hoffnungslos krank bin, heute von meinem Recht Gebrauch, selbst über die Beendigung meines Lebens zu bestimmen.« In Anwesenheit der begleitenden Angehörigen und mindestens zweier Dignitas-Mitarbeiter nimmt der Betroffene den tödlich wirkenden Trunk zu sich. Dies wird aus juristischen Gründen von einer Videokamera dokumentiert. Der folgende Sterbeprozess allerdings nicht. In der Regel dauert es zwei bis fünf Minuten, bis der Kranke das Bewusstsein verliert, und insgesamt etwa zwanzig Minuten, bis dann der Tod eintritt.
Dignitas werden immer wieder kommerzielle Interessen vorgeworfen, kostet doch eine Freitodbegleitung mittlerweile zwischen sechs- und siebentausend Euro. Der Verein bestreitet dies allerdings vehement und unterstreicht, dass alle Mitarbeiter ehrenamtlich tätig seien und selbst die für Dignitas arbeitenden Ärzte auf ihr Honorar verzichteten. Gezahlt werde für die Mitgliedschaft im Verein, für das Medikament, für die Verbrennung im Krematorium und gegebenenfalls für die Heimführung der Urne.
In Deutschland dürfte man zwar dem Kranken ebenfalls eine tödlich wirkende Arznei bereitstellen, müsste dann aber sofort den Raum verlassen, da man sonst, nachdem der Patient das Mittel zu sich genommen hat, eine strafrechtliche Verfolgung wegen unterlassener Hilfeleistung zu fürchten hätte.
Im Klartext: Ich stelle dem Kranken den Todestrunk hin, er trinkt ihn – und sofort muss ich den Krankenwagen anrufen, damit dem Sterbewilligen der Magen ausgepumpt wird. Eine absurde Rechtslage.
In Deutschland erlaubt ist die passive Sterbehilfe. Hier verzichten die Ärzte wegen der Schwere des Falles auf lebensverlängernde Maßnahmen, stellen zum Beispiel die künstliche Ernährung ein oder schalten lebenserhaltende Apparate ab. Zulässig ist diese Form der Sterbehilfe nur, wenn sie dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht.
Ebenfalls in Deutschland erlaubt ist die indirekte Sterbehilfe. Darunter versteht man die optimale und fachgerechte Behandlung von Schmerzen unter Inkaufnahme eines früher eintretenden Todes. In dieser Situation sind bereits alle lebensverlängernden Maßnahmen eingestellt worden und der Patient bekommt zum Beispiel ein hoch dosiertes Morphiumpräparat, das die Atemtätigkeit beeinträchtigt und somit zu einem schnelleren Tod führen kann. Auch hier ist das Einverständnis des Patienten unbedingte Voraussetzung.
Für meine Anruferin Hanna kamen die letzten beiden Varianten der Sterbehilfe nicht in Frage. Sie war bestens informiert. Für die passive Sterbehilfe ging es ihr noch nicht schlecht genug, auf die indirekte Sterbehilfe zu hoffen war sie nicht bereit. Hanna litt seit zehn Jahren an Krebs und war Parkinson-Patientin. Alle medizinischen Möglichkeiten hatte sie ausgeschöpft. »Ich bin voller Metastasen und mein Körper ist eine Ruine«, sagte sie zu mir. Sie erzählte von den Kämpfen, die hinter ihr lagen, von den vielen Operationen, den für sie grauenvollen Chemotherapien, den Bestrahlungen, den immer höher dosierten Medikamenten, den Rückschlägen, den gescheiterten Hoffnungen, den furchtbaren Schmerzen, den schlaflosen Nächten und der Endgültigkeit ihrer tödlich verlaufenden Erkrankungen. Sie war austherapiert, es gab überhaupt keine Hoffnung mehr. Hanna sprach klar und schien mit sich im Reinen zu sein. Seit mehr als einem Jahr hatte sie sich mit allen Aspekten der in der Schweiz praktizierten Sterbehilfe auseinandergesetzt und war sich der Tragweite ihrer Entscheidung voll bewusst. Sie hatte sich vom Leben verabschiedet und machte einen beinahe heiteren Eindruck, was mich zunächst irritierte. Im Verlaufe des Gespräches allerdings konnte ich sie verstehen. Nachdem sie die Zusage erhalten hatte, in der Schweiz sterben zu können, war die große Angst von ihr abgefallen, noch länger und vielleicht noch schlimmer leiden zu müssen und völlig abhängig von anderen Menschen zu werden. Dann fiel der Satz, den fast alle, die zu dieser Thematik anrufen, in ähnlicher Form sagen: »Ich will in Würde sterben und ich will selbst entscheiden, wann es genug ist.« Der Fall war für mich so eindeutig, dass ich nicht den geringsten Versuch unternahm, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Das ist nicht die Regel, wenn ich mit Sterbewilligen spreche; denn viele Schwerkranke sind durchaus erreichbar und oft gelingt es im Gespräch, doch noch Perspektiven zu erarbeiten.
Hannas Perspektive war ein von ihr festgelegter, schmerzfreier und baldiger Tod. Wie anmaßend wäre es von mir gewesen, hätte ich ihre schwer errungene Entscheidung in Frage gestellt.
Ich muss gestehen, dass ich erst durch meine Sendung und die damit verbundene Konfrontation mit so vielen sterbewilligen Menschen angefangen habe, mich intensiv mit der Problematik der aktiven Sterbehilfe auseinanderzusetzen. Was schon etwas verwunderlich ist, hatte ich doch in den Jahren zuvor das Thema Tod immer und immer wieder von so vielen Seiten beleuchtet. Meine Meinung zur aktiven Sterbehilfe kristallisierte sich aber sehr schnell heraus. Mein Standpunkt heute ist eindeutig, ohne Wenn und Aber. Ich bin Befürworter sowohl der aktiven Sterbehilfe, als auch der Beihilfe zur Selbsttötung bzw. des begleiteten Freitodes. Dabei beziehe ich mich auf Artikel 1 unseres Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Dieser Artikel ist von außerordentlicher Bedeutung, er schützt meine Person von der Geburt bis zum Tod. Das heißt, meiner Auffassung nach, ich habe ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben – und eben auch ein Recht auf ein menschenwürdiges Sterben. Und zwar selbstbestimmt. Ich möchte schlichtweg die letzte große Freiheit haben, als Schwerkranker aus dem Leben scheiden zu können, wann ich es für richtig halte. Und ich will in dieser Situation nicht gezwungen sein, mir die Pulsadern aufzuschneiden oder aus dem Fenster zu springen. Ebenso darf niemand kriminalisiert werden, der mir in tiefer Mitmenschlichkeit den tödlichen Trunk reicht und anschließend meine Hand hält. Und ich möchte nicht, dass mir als Schwerkranker noch eine weite Auto- oder Bahnreise zugemutet wird, um in einem fremden Land, in fremder Umgebung die Gnade des Todes zu erfahren.
Meine Angst vor Sterben und Tod ist nicht allein auf die Ungewissheit zurückzuführen, was mich denn nun nach dem letzten Atemzug erwartet. Meine Angst wird auch sehr von der Sorge genährt, vor dem Ende furchtbar leiden zu müssen und unter Umständen völlig hilflos in einem Pflegebett zu liegen. Natürlich kann man heute einiges über Patientenverfügungen regeln und eine gewisse Vorsorge treffen. Das aber reicht mir nicht. Es gibt Krankheitsverläufe, die so dramatisch sind, dass sie trotz bester Schmerztherapie und der klaren Willensbekundung des Patienten in unvorstellbarem Leid und Elend münden, ohne dass der erlösende Tod rasch eintritt. Ich habe mit vielen Betroffenen gesprochen – nie möchte ich Derartiges am eigenen Leib erleben müssen. Ich glaube meine Angst vor dem Sterben wäre um einiges geringer, wenn ich die Gewissheit hätte, definitiv auf das Recht zurückgreifen zu können, an einem bestimmten Punkt zu sagen: Erlöst mich. Ich will nicht mehr. Schenkt mir den Tod.
Vielleicht würde ich dieses Recht, das Recht auf meinen eigenen Tod, niemals in Anspruch nehmen – aber zu wissen, es existiert, hätte eine ungemein beruhigende Wirkung auf mich.
Viele Umfragen belegen, dass die überwältigende Mehrheit der Deutschen genauso denkt und argumentiert. Was sich übrigens auch in meinen Sendungen widerspiegelt. Umso erstaunlicher finde ich, wie schwer sich die Parteien, die Sozialverbände, die Ärzteschaft und allen voran die Kirchen mit dieser Thematik tun. Da wird zunächst immer auf die deutsche Vergangenheit und die Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten verwiesen, was ich, gelinde gesagt, eine Unverschämtheit finde. Ich möchte als Befürworter der aktiven Sterbehilfe nicht in Verbindung gebracht werden mit den Nazis. Es gibt nicht die geringste inhaltliche Nähe zwischen der Euthanasie, wie die Nationalsozialisten sie praktiziert haben, und den Aspekten der Sterbehilfe, wie sie heute diskutiert werden. Damals wurden behinderte Menschen systematisch ermordet, weil sie in den Augen der NS-Machthaber »unwertes Leben« darstellten. Es handelte sich also um einen Gewaltakt des Staates. Bei der Sterbehilfe entscheidet ein Einzelner, auf der Grundlage streng formulierter Gesetze, über sich selbst und sein eigenes Schicksal.
Ein gewichtiges Argument der Sterbehilfegegner ist die Sorge vor Missbrauch: Sehr kranke Menschen könnten von ihren Angehörigen massiv unter Druck gesetzt werden, ihr Leben frühzeitig zu beenden. Weil man vielleicht der Pflege überdrüssig ist oder auf eine lukrative Erbschaft schielt. Auch bestünde die Gefahr, so die Kritiker, dass Menschen allzu leichtfertig und schnell nach Sterbehilfe rufen würden, wenn noch gar nicht alle schmerztherapeutischen und seelsorgerischen Möglichkeiten ausgeschöpft wären. Was ich im Übrigen nicht glaube. So, wie sich kaum eine Frau leichtfertig für eine Abtreibung entscheidet, so entscheidet sich auch kein Schwerkranker unüberlegt für den eigenen Tod.
Dennoch sind natürlich alle Gegenargumente ernst zu nehmen und müssen wohlbedacht werden. Geht es doch in dieser Debatte um eine ethische Grundsatzfrage: Was hat Vorrang – das Selbstbestimmungsrecht oder der Lebensschutz?
Ich hoffe sehr, dass es in Deutschland bald zu einer großen Diskussion zu diesem Thema kommen wird. Denn so, wie es ist, kann es nicht bleiben. Wir benötigen ein neues Sterbehilfegesetz, das so streng und präzise formuliert sein muss, dass es einen Missbrauch weitgehend ausschließt. Hundertprozentige Sicherheit wird es natürlich nicht geben. Jedes Gesetz, und sei es noch so klar formuliert, kann umgangen oder missbraucht werden. Dies ist jedoch kein Argument gegen ein Gesetz.
Ich würde es schon als großen Fortschritt bewerten, käme es in Deutschland zu Legalisierung des begleiteten Suizids. Durchgeführt jedoch nicht von einer Sterbehilfeorganisation, sondern von Ärzten. Entweder, je nach Wunsch des Patienten, in einer Klinik oder aber zu Hause. Ich sehe nichts Verwerfliches darin, dass der Arzt sowohl Geburts- als auch Sterbehelfer sein kann.
Eine besondere Provokation stellt für mich die Haltung der Kirchen dar. Vehement wehren sie sich gegen eine Liberalisierung der Sterbehilfe in Deutschland.
So erklärte die Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands: »Jede Form der Tötung auf Verlangen ist aus grundsätzlichen Erwägungen abzulehnen. Die aktive Beendigung des Lebens, auch wenn es schmerzgeplagt ist, verstößt gegen Gottes Gebot. Kein Arzt, Sterbebegleiter oder Angehöriger darf sich zum Herrn über Leben und Tod aufschwingen ... Zum Humanum gehört es, sich auch dem Elend zu stellen, das mit dem Sterben verbunden sein kann.«
Ähnlich äußerte sich von katholischer Seite der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker: »Jeder Suizid, auch die Beihilfe zum Suizid, stellt nicht nur eine Entwertung des menschlichen Lebens dar, sondern ist auch ein Angriff auf die unveräußerliche Würde des Menschen.«
Die Stigmatisierung der Selbsttötung hat in der Kirche eine lange und traurige Tradition. So wurden im Mittelalter die Leichname von Menschen, die sich selbst getötet hatten, entehrt und verstümmelt. Man hackte ihnen, quasi als nachträgliche Strafe, die Hände ab – oder trieb ihnen einen Holzkeil durch den Kopf oder die Brust. Noch bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein gewährte die Kirche so genannten Selbstmördern kein kirchliches Begräbnis und auch keine Grabstelle neben den »guten Christen«. Die Leichname wurden diskret in einer Ecke oder am Rande des Friedhofs beerdigt, oftmals in der Nähe totgeborener oder ungetaufter Kinder, denn diese waren nach damaliger Auffassung mit der Erbsünde behaftet und gehörten nicht in die Gemeinschaft der Christen. Diese radikale Haltung gegenüber der Selbsttötung wirkt bis heute, wenn auch stark abgemildert, in den Kirchen nach. Man stürzt die Menschen in einen ungeheuren Gewissenskonflikt, obwohl in der Bibel keine einzige Stelle zu finden ist, die den Suizid ausdrücklich verurteilt. Die Kirchenvertreter beriefen und berufen sich stets auf das fünfte Gebot: Du sollst nicht töten.
Ich möchte mich hier auf keine weiteren theologischen Argumentationen einlassen, die mich im Grunde auch nicht interessieren. Ich bin kein Christ mehr und ich wünsche mir ohnehin weniger Einfluss der Kirchen auf gesellschaftlich relevante Prozesse und Entscheidungen. Dennoch stehen mir die christlichen Grundwerte, allein schon wegen meiner Vergangenheit, sehr nahe. Zum Beispiel die Tugend der Barmherzigkeit. Sie hat mich immer beeindruckt, und ich habe höchsten Respekt vor Menschen, die sich barmherzig verhalten.
Daher vertrete ich heute eine Auffassung, die ich auch damals als Christ vertreten hätte: In Ausnahmesituationen steht das Gebot der Nächstenliebe über dem Gebot »Du sollst nicht töten«.
Gesprächsprotokoll
Bevor wir uns weiter unterhalten, möchte ich dich noch etwas Persönliches fragen.
Bitte.
Du erscheinst mir allwissend. Auf alle Fragen, die ich dir bisher gestellt habe, gabst du mir sofort eine Antwort. Weißt du wirklich alles?
Oh nein, ich bin doch nur der Tod.
Sehr kurze Gesprächspause
Aber ich weiß alles, was euch Menschen betrifft. Dir mag das viel erscheinen, im Ozean des Wissens jedoch ist es nicht mehr als ein Regentropfen.
Darf ich fragen, was du nicht weißt?
Fragen darfst du es – aber es gibt darauf keine Antwort. Man kann mit keinem Menschen über transzendente Geheimnisse sprechen. So wie du mit keiner Ameise über Kants Kategorischen Imperativ reden kannst – selbst, wenn du es wirklich wollen würdest.
Mit wem sprichst du denn, wenn es um diese überirdischen Geheimnisse geht?
Mein Freund, so kommen wir nicht weiter. Ich muss dich enttäuschen, denn all das entzieht sich vollkommen deiner Vorstellungskraft. Sprechen gehört übrigens nicht zu meiner Natur. Der Tod ist stumm. Nur hier und jetzt bediene ich mich der menschlichen Sprache, deinetwegen. Bleiben wir also bei den menschlichen Angelegenheiten.
Gut. Dann möchte ich auf einen Satz zu sprechen kommen, den du im Laufe unseres Gespräches geäußert hast: Es gibt keine Gegensätze ... alles beinhaltet auch immer das Gegenteil.
Genau so ist es.
Das verstehe ich aber nicht. Es gibt doch zum Beispiel den eindeutig guten Menschen – und den eindeutig bösen Menschen. Also sind sie Gegensätze!
Beide jedoch sind sie Menschen.
Und somit vollkommen gleichwertig?
Natürlich.
Du stellst Mutter Teresa und Hitler auf eine Stufe?
In ihrem Menschsein ja, in ihrem Handeln nicht.
Warum gibt es das Böse?
Das, was du das Böse nennst, ist die Kehrseite des Guten, beides aber ist Ausdruck des Seins – und im Sein gibt es keine Wertung. Es gibt auch keine gute oder böse Natur. In der duftenden Frühlingswiese vollzieht sich das Sein ebenso wie in einem Tsunami. Alles ist richtig.
Kurze Gesprächspause
Heißt das etwa, auch in einem Atomkrieg vollzieht sich das Sein? Genauso wie in der Barmherzigkeit eines fürsorglichen Menschen?
Ja.
Das kann ich nicht glauben. Das ist ja schrecklich.
Lange Gesprächspause
Was heißt überhaupt »Sein«? Reden wir von der absoluten Wirklichkeit, also von Gott?
Ja.
Das verstehe ich nicht. Vielleicht will ich es auch nicht verstehen. Ich weigere mich. Ich finde es grausam.
Meine Stimme wurde lauter und mein Puls beschleunigte sich.
Weil du immer und immer wieder mit dem Verstand an die Fragen herangehst. Verlasse deinen Verstand!
Gesprächspause
Gut und Böse sind natürlich wichtige Kategorien für das menschliche Zusammenleben. Darüber hinaus aber spielen sie keine Rolle.
Gesprächspause
Ich tue mich so schwer mit dem, was du sagst. Was ist denn das Böse in einem Menschen? Wie kann man es erklären?
Es ist Mangel an Erkenntnis. Je mehr der Mensch seine Ratio und sein Ich überwindet, je tiefer er eintaucht in die Stille seines Herzens, desto mehr entfernt er sich von all dem, was böse und schlecht zu nennen ist. Ein Wissender, ein Weiser hat das Böse hinter sich gelassen.
Dann will ich noch einmal zusammenfassen. Das, was wir das Böse nennen, ist also von der absoluten Wirklichkeit nicht zu trennen, es existiert nicht eigenständig?
Ja, so ist es.
Darf ich als Mensch denn werten? Oder ist letztendlich alles entschuldbar, weil alles eben ist, wie es ist?
Du darfst nicht nur werten, du musst es sogar. Fange damit aber bei dir selbst an. Erkenne zunächst das Böse in dir selbst.
Und wenn ich es erkannt habe?
Dann siehst du den Schaden, den das Böse allein schon in dir anrichtet. Du erkennst es als Verblendung und du wirst dich davon abkehren.
Das heißt, ich werde, wenn mir Böses angetan wird, selbst nicht mit Bösem darauf reagieren?
Ja, denn es würde nur Zerstörung mit sich bringen.
Gesprächspause
Ich möchte auf den Alltag der Menschen zurückkommen, in den du ja beständig eingreifst. Wie ist es für dich, wenn du gezwungen wirst, dein Handwerk zu tun, ohne dass du dich dazu entschieden hast?
Du meinst, wenn ein Mensch von einem Menschen ermordet wird?
Ja, zum Beispiel.
Ich entscheide immer, wann ein Leben zu Ende geht.
Der Mensch hat keine Macht über den Tod.
Der Mörder aber begeht ein großes Unrecht, da er ein fremdes Leben auslöscht.
Und wenn ich jemanden aus Mitgefühl, aus Barmherzigkeit, aus Liebe töte?
Es ist der größte Liebesbeweis, den es gibt. Wäre ich nicht der Tod, so wäre ich in solchen Fällen gerührt.
Ja, aber du hast ja keine Gefühle.
So ist es.
Kannst du eigentlich die große Angst der Menschen vor dir verstehen?
Natürlich. Es sind im Laufe der Menschheitsgeschichte zu viele Gerüchte und Phantastereien über mich entstanden. Wobei ich in den Eindruck habe, dass gegenwärtig die Menschen mehr Angst vor dem Sterben als vor mir persönlich haben.
Das mag wohl sein. Warum machst du es manchen Menschen so schwer, bis sie dann endlich in deine Arme sinken können?
Oh, was für ein poetisches Bild. So poetisch ist der Vorgang gar nicht.
Also, warum müssen Menschen oft so sehr leiden?
Es ist weder eine Strafe noch eine Prüfung. Das Sterben, auch das leidvolle Sterben, ist Teil eines für Menschen nie zu begreifenden komplexen Zusammenhangs, der weit über eure Welt hinausgeht.
Muss man Leid ertragen?
Nein. Entscheidet der Mensch, sein Leid selbst zu beenden, so soll es sein Weg sein.
Kurze Gesprächspause
Du bist auf Erden allgegenwärtig. Wunderst du dich ab und zu über die Menschen?
Ja, seit Jahrtausenden. Und zwar darüber, wie sehr sie sich fremdbestimmen lassen. Alle Menschen werden als Originale geboren, die meisten aber sterben als Kopien.
Vielleicht liegt es daran, dass die Menschen sich in ihrem Menschsein so einsam fühlen. Niemand weiß, warum er lebt, wie lange er lebt – wir wissen ja nicht einmal, wo wir leben. Ja, auf einem Staubkorn inmitten der unfassbaren Weite des Kosmos. Aber wo und warum existiert dieser Kosmos?
Die Menschen suchen Orientierung.
Sie sollten Orientierung in sich selbst suchen. Alles, was von außen kommt, verführt die Menschen.
Kurze Gesprächspause
Warum nur ist alles so schwierig? Manchmal wünsche ich mir so sehr eine einfache und klare Welt, ohne Angst, Druck, Erwartungen, Fragen, Sorgen und Leid.
Diese Welt gibt es.
In dir.
Und zu dieser Welt habe selbst ich keinen Zugang.
Du lieferst mir mit dieser Aussage ein gutes Stichwort. Du bist mir ganz zu Beginn unseres Gespräches ausgewichen, als ich dich fragte: Gibt es eine Seele? Gibt es ein Leben nach dem Tod? Jetzt will ich es wissen, jetzt musst du mir Rede und Antwort stehen.
Das werde ich. Nur lass uns eine kleine Pause machen.