Erster Teil

Ein kleines Stück Mitternacht

1. Kapitel

Ich betrete den Eingangsbereich des Apartmenthauses, in dem Claire Nightingale lebt. Ich will ihr sagen, dass ich ihren einzigen Sohn umgebracht habe. Wie immer liegt der Eingangsbereich zwischen seinen Marmorwänden gedämpft und schummrig da, einem Grab ähnlich, und wie immer versehen zwei Wachmänner den Spätdienst. Derjenige, der mir die Tür öffnet, heißt Victor. Victor erkennt mich. Natürlich erkennt er mich. Schließlich arbeitet er hier schon seit Jahren. »Lassen sie dich am College verhungern?«, will er wissen. »Ich kann ja schon deine Rippen zählen, Kumpel.«

»Hungerstreik«, antworte ich und versuche zu lächeln. Aber die Stimme entfährt mir zu laut und hallt polternd durch die Leere. Mein Mund fühlt sich immer noch neu an. Diese Lippen, diese fleischige Zunge. Ich räuspere mich, um meinen Missgriff zu überspielen, und steuere auf den Aufzug im hinteren Bereich der Eingangshalle zu. Der zweite Wachmann sieht von seiner Zeitung hoch. Unsere Blicke treffen sich, bevor er sich gleichgültig wieder seiner Lektüre zuwendet. »Miss Nightingale ist gerade zurückgekommen«, ruft Victor mir nach. »Sie wird sich freuen, dich zu sehen. Sie redet die ganze Zeit von dir.«

Ich will ihm erklären, dass ich bereits weiß, dass sie oben ist, dass ich aus meinem Versteck auf der anderen Seite der Central Park West Avenue beobachtet habe, wie sie vor einer Viertelstunde aus dem Taxi gestiegen ist. Stattdessen winke ich ihm nur kurz zu und drücke den Fahrstuhlknopf. Stunden hatte ich auf einer Parkbank zugebracht, gewartet, dass Claire endlich von wo auch immer zurückkehrte – sei es, dass sie sich in ihrem Büro verkrochen, ein Date durchlitten hatte oder allein im Kino gewesen war –, und der Novemberkälte getrotzt. Als schließlich ein Taxi vor dem Gebäude hielt und ich sah, wie Claire ausstieg, ihre schlanke, vertraute Silhouette im Widerschein der Empfangshalle, unterdrückte ich den Drang, über die Straße zu preschen und sie gleich dort auf dem Bürgersteig zu packen. Schließlich waren da noch die Wachmänner, die Nachbarn, die Hundebesitzer, die ihre Vierbeiner ausführten, die Fremden, die zum U-Bahn-Eingang an der Ecke eilten, und die Touristen, die sich nach ihrem Besuch des Museum of Natural History verlaufen hatten. Das hier war eine rein private Angelegenheit. Und die ging niemanden etwas an.

Von meiner Bank aus konnte ich sehen, wie sie Victor eine Ledertasche reichte, über etwas lachte, das er gesagt hatte, ihm auf die Schulter tippte. Selbst wenn sie an einem Tiefpunkt angelangt ist, ist sie immer in der Lage, sich für die Dauer kurzer Begegnungen, dieser einstudierten artigen Auftritte, zusammenzureißen. Immer anständig, immer nett.

Vierzehn Jahre lang habe ich mit Claire und Luke, ihrem Sohn, zusammengelebt. Und ich weiß, dass es immer ein Fehler ist, einer Claire zu trauen und zu lang mit ihr herumzuhängen. Luke hat es nicht gerne zugegeben, vor sich selbst oder anderen, deshalb habe ich es ihm immer ins Gesicht gesagt: Du bist nicht dumm, nur unheilbar naiv. Während ich auf meiner Bank saß, öffnete Victor Claire die Tür und zog sie hinter ihr wieder zu. Der Central Park hinter mir fröstelte mit, kahle Zweige und spindeldürre Büsche raspelten aneinander im Wind. Ich stand auf und trampelte mit den Füßen auf den Boden, um wieder Gefühl in den Beinen zu bekommen, noch immer verblüfft über die Fragilität meines neuen Körpers.

Das will ich aber nicht als Klage verstanden wissen. Schließlich kann ich mir jetzt eine Kaffeetasse vom Tresen nehmen und sie zum Tisch am anderen Ende des Raums bringen. Ich kann jemandem die Hand geben. Ich kann Auto fahren. Ich kann meine Handfläche in nassen Zement drücken und einen Abdruck hinterlassen. Ich habe eine Stimme, die jeder hören kann, der sie gerne hören möchte. Da bin ich, auf der Welt, im richtigen Leben, ein Körper, der sich im Raum bewegt. Und natürlich kann mich Claire nun nicht länger ignorieren. Sie hat es nie gemocht, dass Luke so viel Zeit allein mit mir verbrachte. Selbst als wir Kinder waren, hegte sie immer den Verdacht, dass unsere Freundschaft im Zeichen von etwas Dunklem und Verborgenem stand. Heute Abend aber wird sie mir zuhören müssen. Das ist der Augenblick, auf den ich so lange gewartet habe. Vierzehn Jahre! Ein Teil von mir giert danach, wie besessen auf den Aufzugknopf zu hämmern, die drei Stockwerke zu ihrem Apartment in einem Zug hochzufahren, zu schreien und zu brüllen und den Kopf gegen die Marmorwände der Eingangshalle zu knallen.

Aber ich tue es nicht. Ich stehe dort, die Hände hinter dem Rücken ineinandergekrallt, mein Körper starr und reglos, den Wahnsinn unter Kontrolle. Über meinem Kopf leuchten in umgekehrter Reihenfolge die Stockwerknummern auf. In den Messingtüren sehe ich mein Spiegelbild trüb und verzerrt, als wäre ich in ein Schmutzwasserbecken abgetaucht. Draußen auf der Straße ruft jemand, eine Autotür schlägt zu. Der zweite Wachmann blättert raschelnd in seiner Zeitung. Ich warte und beobachte, wie die Nummern heruntertaumeln.

 

An dem Tag, als ich Luke getroffen habe, war ich allein auf dem Spielplatz, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte. Ich drehte mich um und sah sein Gesicht direkt vor mir. Er war damals sechs Jahre alt. Seine Haut war blass, seine Gesichtszüge filigran und akkurat geschnitten, wie die seiner Mutter. Das linke Auge grün mit gelben Einsprengseln, das rechte braun, als hätten sich die Gene seiner Eltern jeweils auf ein Auge verteilt, anstatt sich in beiden zu verschmelzen. Später erinnerte ich ihn gern daran, dass er mich zuerst angesprochen hatte. Ich habe das alles nicht gebraucht.

»Hallo«, sagte er. »Ich bin Luke. Willst du ein Spiel spielen?«

Er erklärte die Regeln: »Die Dinosaurier wollen uns fressen. Aber wir verstecken uns und benutzen diese hier.« Er fuchtelte mit einer Wasserkanone in schrillem Neonorange herum. »Damit können wir sie erschießen. Alles klar, Daniel?«

Ich nickte langsam. Daniel? Es stimmte, das war mein Name. So war es am Anfang: Luke sagte es, und deshalb war es auch so. Er sah mich an, war aber noch nicht ganz zufrieden. »Du brauchst auch noch eine Laser-Pistole. Hier.« Ich spürte etwas Kaltes, Schweres in meiner Hand. Ich sah auf meine Waffe. Eine doppelläufige Snubnose, aus gebürstetem Metall. Auf den Läufen befand sich ein Zielfernrohr. »Dadurch zielst du«, erklärte Luke und deutete auf das Fernrohr.

Wir waren auf dem Spielplatz gegenüber dem Metropolitan Museum. Auch damals war es November, und es war kalt. Wir standen in einem Sandkasten im Schatten einer Kletterpyramide aus Stein, an der höchsten Stelle viereinhalb Meter hoch und übersät mit Fußstützen, über die die Kinder an den schrägen Seiten hochklettern konnten. Ich sah zu, wie sich zwei ältere Jungen nach oben kämpften. Sie klammerten sich an das rauhe Gestein und aneinander, bis einer von ihnen ausrutschte, ein Loch in das Knie seiner Khakihose riss und herunterrutschte. Luke zuckte zusammen, der Junge weinte und hielt sich das Knie, während sein Rivale von der Pyramidenspitze auf ihn herabsah. Ich musste lachen. Dieses zerknitterte Gesicht des Jungen, was für eine Übertreibung. Das theatralische Getue eines Verlierers.

»Hör auf zu lachen«, fuhr Luke mich an. »Das ist nicht komisch.« Er winkte mich zu zwei Reifenschaukeln, in denen ein kleines Mädchen träge Kreise drehte und vor sich hin summte. Sie sah uns aus wässrigen Augen an und sagte: »Ich wollte sowieso gehen«, sprang herunter und verschwand hinter einer Gruppe von Betonschildkröten. Wir legten uns in den kalten Dreck und zwängten uns unter die Reifen. Heckenschützen gleich, lagen wir auf dem Bauch und rammten unsere Gewehre in den Wüstensand. Ich sah mich um, während wir warteten. Ungelenke Babysitter schoben Kinderwagen und führten kleine Kinder in unförmigen Anoraks an ihren Händen. Mädchen in zartblauen Röcken rauchten Zigaretten und beäugten die Jungen, die sich in ihren kastanienbraunen Jacken an der Bushaltestelle drängelten. Dinosaurier sah ich nicht.

»Da!«, flüsterte Luke und zeigte in Richtung Museum. »Ein Tyrannosaurus Rex. Sei ganz still und schieß erst, wenn ich es sage.«

Ich folgte seinem Finger. Zunächst sah ich nichts bis auf die gleißende Aureole, die die Sonne an die Glasfassade des Museums warf. Doch dann, allmählich, zeichnete sich ein über zwei Stockwerke reichender Umriss ab und nahm vor der Wand auf dem Rasen zunehmend Gestalt an. Zwei monströse, von sehniger Muskulatur durchzogene Beine endeten in mit drei Krallen bewehrten Klauen. Winzige, fast zierliche Ärmchen lagen eng an einem massiven Rumpf an. Ein dreieckiger Kopf öffnete sein Maul und legte Reihen faustgroßer Zähne frei. Alte weiße Kerben verunstalteten die braune narbige Haut, und eine scheinbar frische rote Wunde klaffte über dem Oberschenkel wie Kriegsbemalung.

»Siehst du ihn?«

Ich nickte. Der Tyrannosaurus schlingerte gemächlich Richtung Spielplatz. Der Boden unter unseren Bäuchen vibrierte. Die Bäume wirkten in seinem Schatten wie Spielzeug. Das Spiegelbild seines dornigen Rückens verschwand von der Glasfassade, als er über die Straße zwischen dem Museum und dem Spielplatz stolzierte, nach vorn gebeugt, den Bereich zu seinen Füßen mit schwarzen Augen absuchend. Ein Polizeiauto jagte heulend zwischen seinen Beinen hindurch, als er über den Zaun des Spielplatzes hinwegtrat. Ich sah durch das Zielfernrohr und erfasste den Koloss im Fadenkreuz.

»Los!«, schrie Luke. Wir rollten unter den Schaukeln hervor, rappelten uns hoch und rannten zur Kettenbrücke. Der Tyrannosaurus erspähte uns vom Rande des Spielplatzes aus und wurde schneller. Er senkte den Kopf und zeigte uns seine Zähne. Armdicke Speichelfäden waberten in der Höhle zwischen den beiden Reihen seiner Vorderzähne. Ein Fleischbrocken löste sich und klatschte nass in den Sand. Wir hatten die Brücke fast erreicht, als ich ihre Stimme hörte, scharf, eindringlich, jaulend wie eine wellige Schallplatte. »Luuuke!«

Der Name passte zu ihr. Claire Nightingale war von zierlicher Statur, wie ein Vogel mit präzisen, schnellen Bewegungen. Sie stand am entgegengesetzten Ende des Spielplatzes. Die untergehende Sonne schien ihr direkt ins Gesicht, der Schatten teilte ihren Körper in zwei Teile. Sie fuchtelte mit ihren Händen in unsere Richtung. »Wir müssen gehen.« Luke bewegte sich nicht. Ich sah über meine Schulter: Der Tyrannosaurus war nirgends zu sehen. Claire hatte ihre Arme in die Hüften gestemmt. »Luke!« Sie trug einen marineblauen Hosenanzug und schwarze flache Schuhe. Trotz der beißenden Kälte an diesem frühen Winternachmittag trug sie keinen Mantel. Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden und deutete auf den Platz vor sich. »Du kommst jetzt augenblicklich her.«

Luke seufzte, sah mich an und zuckte die Schultern. Mein Gewehr verschwand, als er zu seiner Mutter ging. Auf halbem Weg blieb er stehen und drehte sich zu mir um. »Komm. Du willst doch nicht allein hierbleiben, oder?«

Als Luke in ihrer Reichweite war, gab Claire ihm einen Kuss auf die Wange und fasste ihn streng am Handgelenk. »Ich habe vergessen, auf die Uhr zu sehen. Wir kommen zu spät.«

»Daniel kommt mit«, sagte Luke. »Er ist mein neuer Freund.«

Ich nickte Claire zu, aber sie warf mir nur einen flüchtigen Blick zu. »Ist das wahr?«

»Ich möchte Ihnen keine Umstände machen«, antwortete ich.

Claire lächelte, eine private Abmachung. »Ich denke, das ist in Ordnung.«

Luke verstaute die Wasserpistole in seiner Tasche, nahm meine Hand und bildete so eine Brücke zwischen seiner Mutter und mir, während wir die Fifth Avenue entlanggingen. Ein zweiter Polizeiwagen und ein Rettungswagen jaulten hinter uns auf und bahnten sich ihren Weg durch den Straßenverkehr der Innenstadt. Ich sah über die Schulter, um ihren Weg zu verfolgen. Einige Straßenzüge weiter in südlicher Richtung kamen sie zum Stehen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich dort auf dem Bürgersteig gegenüber dem Museum eingefunden. Aber dann zog Luke mich fort, und ich sah nicht mehr zurück.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du dich nicht in diesem schmutzigen Sand herumwälzen sollst.« Claire blickte auf die feinen Partikel, die auf dem Sweatshirt ihres Sohnes ein Streifenmuster gebildet hatten. »Du könntest dir eine Krankheit einfangen.«

»Wie?«

»Alles, was im Sand lebt, lebt auch in deinem Körper, wenn es dort hineingelangt. Ich versuche, dich zu beschützen, Luke.« Er nickte, aber ich hatte den Eindruck, dass er es nicht verstanden hatte. »Ich meine Lebewesen, die du nicht sehen kannst. Die sind überall an deinem ganzen Körper, und du kannst sie nicht einmal fühlen. Und wir Menschen sind anfällig, selbst für die Kleinsten von ihnen. Unsere Haut ist durchlässig. Weißt du, was das bedeutet?« »Porös«, sagte ich, aber sie fuhr fort, als hätte sie mich nicht gehört: »Das bedeutet, dass wir mit Löchern übersät sind. Wie ein Mulltuch. Siebe. Und dann dringen diese Dinger in uns ein und vermischen sich mit dem, was unsers ist. Und wir können nicht mehr zwischen den beiden unterscheiden.« So ging das den ganzen Weg. Während ihrer Ansprache versuchte ich zu sortieren, wusste aber nicht, was wichtig und was überflüssig war.

Das Nightingale-Apartment befand sich in der 106. Straße, gegenüber der Fifth Avenue und dem Conservatory Garden, der so gut wie nie überfüllt war, auch im Frühling nicht, wenn prächtige Tulpen und Rosen aus dem Rasen schossen. Im Winter beschränkte sich der Garten auf eine Anordnung präzise winklig geschorener Hecken, eine Hommage an Disziplin und Ordnung. Bänke duckten sich im dichten Brombeergestrüpp; geschützte Ecken boten eine Fülle an Verstecken. Schon dieses erste Mal spürte ich eine starke, naive Bewunderung für den Garten, während wir drei an den Toren vorbeigingen und die Straße zum Apartmenthaus der beiden überquerten.

Der Aufzug setzte uns im Penthouse-Geschoss ab, wo sich die Türen direkt in das vornehme, aber beengte Apartment öffneten. Über Lukes Schulter im Wohnzimmer sah ich einen massiven Holzschrank, der an einer verspiegelten Getränkevitrine lehnte, die wiederum einen niedrigen Glastisch beherbergte, der mit Bambuskörbchen vollgestopft war. In der Diele sah eine Aquarell-Landschaft auf einen Rattanschaukelstuhl hinab. In dem Schaukelstuhl saß Lukes Vater. Die Füße verschränkt, Hände hinter dem Kopf, streckte er sich zu seiner vollen Länge aus. Die Luft in dem Apartment war drückend und schwül. Ich folgte Luke und Claire, unsicher, wo mein Platz hier sein sollte.

James Tomasi richtete sich auf. »Ich meine mich zu erinnern, dass du vier Uhr dreißig gesagt hast.«

Claire nickte in Lukes und meine Richtung. »Dein Sohn war dabei, Freunde auf dem Spielplatz zu finden. Das war alles, was ich tun konnte, um ihn von dort wegzubekommen.«

»Natürlich hattest du nichts damit zu tun.« Wie ein Pantomime zwinkerte er Luke mit einer Hälfte seines Gesichts zu. »Stimmt’s, Chef?« Luke nahm seinen Finger in den Mund und sah seine Mutter an. »Ich sage nur, dass ich es irgendwie geschafft habe, mein Büro zu verlassen und rechtzeitig hier zu sein. Es wäre nett gewesen, wenn du das auch versucht hättest.«

»Oh, diese Opfer, die du bringst. Ich bin glücklich, mit einem Helden wie dir verheiratet zu sein.«

James warf den Kopf zur Seite und schnaubte wie ein Pferd. Von meinem Platz hinter Luke beobachtete ich ihn genau. Er war groß und schlank, langfingrig und behende. Schwarze drahtige Haare sprossen in Büscheln auf dem Rücken seiner Finger. Er trug ein blau-weiß gestreiftes Oxford-Hemd, der oberste Knopf über dem gelockerten Krawattenknoten war geöffnet. Über seiner Nase, die er sich schon einmal gebrochen hatte, zogen sich zwei schwarzbraune Augen tief in ihre Höhlen zurück. Von ihm hatte Luke das eine seiner Augen. Weitere Ähnlichkeiten zwischen Vater und Sohn gab es aber kaum. Lukes Gesichtszüge waren filigran und akkurat, während alles an James eher langgezogen und derb war. Trotz der Straffheit seines Körpers wirkte Lukes Vater eher resigniert, gerade so, als sei der Ausgang der Schlacht, die er gerade schlug, bereits entschieden. Er fingerte nach seiner Brieftasche neben dem Rattansessel. »Ich habe alles mitgebracht.« Sein flatternder Blick fiel auf Luke und mich und wanderte dann zurück zu Claire. »Ich glaube nicht, dass einer von uns jetzt groß etwas sagen sollte.«

»Deine Uneigennützigkeit verschlägt mir die Sprache.« Claire zog ihr Jackett aus und hängte es an einen Haken nahe der Wohnungstür. Zum ersten Mal sah ich ihre dünnen Ärmchen, die fast durchscheinende Haut, die blauen Venen, die wie Tattoos auf der weißen Haut leuchteten. Sie hockte sich vor ihren Sohn hin. »Luke, dein Vater und ich möchten ein paar Dinge allein besprechen. Willst du nicht mit deinem neuen Freund für einen Augenblick in dein Zimmer gehen? Tust du das für mich?«

Die letzten dünnen Sonnenstrahlen fielen durch die Schlitze der herabgelassenen Bambusrollos ins Schlafzimmer. Luke versetzte einen riesigen freistehenden Globus in Rotation und ließ seine Finger über die Ozeane und Kontinente gleiten, die zu einem unscharfen Farbband verschmolzen. Ein antikes Himmelbett stand an der einen Wand, während ein detailverliebt nachgebautes Puppenhaus sich in eine Ecke zwängte. Luke bemerkte, wie ich das Puppenhaus ansah, und sagte entschuldigend: »Das ist für Mädchen, aber meine Mutter sagt, dass es dafür keinen anderen Platz gibt.«

Niedlich angezogene Porzellanpüppchen mit bemalten Gesichtern saßen in den Miniaturzimmerchen, tranken Tee und spielten Schach. Jedes Mal, wenn ich in das Haus hineinsah, schien es, als hätten die Puppen geringfügig veränderte Positionen eingenommen, auch wenn ich niemals eine Bewegung ausmachen konnte. Luke warf sich auf einen gepolsterten Lederstuhl und schleuderte seine Sneakers von sich. Seine Füße reichten nicht bis auf den Boden, aber er hatte sich aus einem Stapel alter gebundener Kriminalromane eine Fußstütze gebastelt. Mit den bloßen Zehen nestelte er am Deckblatt des obersten herum und vermeldete: »Mein Vater schläft nicht mehr hier. Aber er kommt manchmal noch zum Abendessen. Montags und donnerstags, glaub ich. Meine Mutter ändert ständig die Tage.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. »Und heute Abend?«

Luke runzelte die Stirn. »Ich habe meine Mutter gefragt, und sie sagte, dass sie bei Delphi streiken. Da kann man nur raten. Hast du eine Ahnung, was das heißt?«

Ich wollte sagen: Das bedeutet, dass dein Vater wahrscheinlich nicht zum Essen bleibt. Da ich aber nicht erklären konnte, warum ich das wusste, zuckte ich nur die Schultern. Im Augenwinkel bemerkte ich eine Bewegung. Ich drehte mich zum Puppenhaus um. »Was ist los?«, wollte Luke wissen. Die Püppchen hatten sich bewegt. Ich war ganz sicher. Eine Frau hing an den Füßen vom Kronleuchter herab, ihr kleines rosa Abendkleid bauschte sich um ihren Kopf, zwei Männer lagen mit dem Gesicht nach unten im Salon auf dem Boden, die Hände hinter dem Rücken über Kreuz, als seien sie zusammengebunden. »Oh, das tun sie immer«, erklärte Luke. Er rutschte vom Stuhl und ging einen Schritt auf das Haus zu. Ich folgte ihm. Das Haus ragte bedrohlich aus seiner Ecke hervor. Ich machte noch einen Schritt, und Lukes Schlafzimmer und alles, was sich darin befand, entschwanden. Ich betrat die weißgestrichene Veranda, das Holz knarrte unter meinen Füßen, und ging in die Diele, in der Luke bereits auf mich wartete. Meersalz und Pinien verströmten ihren Duft durch die offenen Fenster; eine Standuhr hielt die Zeit fest.

»Wo sind wir?«, wollte ich wissen.

»In Newport«, sagte Luke. »Rhode Island. Im Haus meiner Großmutter. Willst du sie kennenlernen?«

Die Frau im Esszimmer hing immer noch vom Kronleuchter herab. Ihr Porzellankopf drehte sich und sah uns an. Ihr umgekehrter Mund bewegte sich, brachte aber nichts heraus. »Ich nehme an, sie spricht heute nicht.« Die Füße der Frau lösten sich von den Eisenarmen des Lüsters, so dass sie zu Boden krachte. »Na ja«, sagte Luke, »dann vielleicht ein anderes Mal.« Im angrenzenden Kinderzimmer stand eine Wiege, marineblau mit weißem Rand. Darin lag ein Baby, in Decken gehüllt. Ungerührt sah es uns mit großen Augen an. »Das ist meine Mutter«, sagte Luke. »Nach ihr haben sie keine mehr gemacht.« Über Baby Claire baumelte ein Mobile mit Sternen und Halbmonden. Helles Licht löschte jede Szenerie auf der anderen Seite der Fenster aus.

»Luke?«

Wände, Böden und Decken flogen plötzlich auseinander, und James stand im Türrahmen des Schlafzimmers in der Fifth Avenue. »Spielst du schon wieder mit diesem grauenhaften alten Ding?«

»Ich habe es nur Daniel gezeigt«, sagte Luke. Sein erhitztes Gesicht lief rot an.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also hielt ich den Mund. James sah in meine Richtung und dann wieder zu Luke. »Wir werden uns in Zukunft nicht mehr so oft sehen wie bisher. Du musst verstehen, dass ich nicht will, dass es so ist.«

Luke zögerte einen Augenblick und fragte dann: »Wer denn?«

»Was?«

»Wer will, dass es so ist?«

James zerrte am Knoten seiner Krawatte. »Niemand will das, Luke. Das passiert eben so.«

Gespenstische Stille machte sich im Raum breit. Luke war unentschlossen und ließ die Leere zwischen ihnen wirken. Ich wusste, dass jeder den anderen enttäuscht hatte, wusste aber nicht, wie oder warum. Ich wollte jetzt lauter sprechen, die Hand nach James’ Wangen ausstrecken, sie kneifen, ihm die Haare kraulen, Luke einen Klaps auf den Hinterkopf geben, ihm sagen, dass er sich wieder einkriegen solle. Aber ich war unfähig, zu sprechen oder irgendetwas zu tun.

James setzte ein gekünsteltes Lächeln auf. »He, entspann dich, Mann. Das ist nicht das Ende der Welt. Soviel wird sich gar nicht ändern.«

Du musst nicht lügen, wollte ich sagen.

Luke schüttelte den Kopf. »Sie sind jetzt anders«, sagte er.

Claires Stimme drang jäh durch das Apartment. »Alles in Ordnung bei euch?«

»Nein, das Dach ist eingestürzt, wir wurden alle erschlagen«, rief James zurück. »Lieber Gott«, murmelte er vor sich hin. Dann gab er Luke einen Kuss auf die Stirn und verließ den Raum, während er sich den Schweiß seines Sohnes von den Lippen wischte. Luke und ich warteten einen Augenblick, bevor wir ihm durch den Flur hinterherschlichen. Von der Tür bis zum Foyer sah ich, wie er irgendetwas Leises, scheinbar Zärtliches zu Claire sagte. Er berührte mit der Hand ihren Ellbogen, doch sie zog ihn ruckartig zurück und ging in die Küche. Einen Augenblick lang stand er allein im Foyer. Dann nahm er seine Aktentasche und machte sich, ohne ein Wort zu sagen, davon.