Zorro mit der Maske
Es war nicht gerade üblich, dass man Warren persönlich ins Office rief, um einen Zwischenbericht abzugeben. War da was im Busch? Oder lag es schlicht daran, dass man die Ashera mit Argusaugen beobachtete?
Agent Warner, sein direkter Vorgesetzter, der ihn in den Security Service geholt hatte, sah sich nachdenklich die bisherigen Ergebnisse an. Er war früher oft bei ihnen gewesen, mit Warrens Vater regelmäßig zum Fischen gefahren, ab und zu hatten sie ihn sogar mitgenommen. Die beiden Männer kannten sich aus der Schulzeit und waren enge Freunde gewesen. Bis zu diesem furchtbaren Tag.
„Mhm!“
Der Laut riss Warren aus seinen Erinnerungen. „Ist etwas damit nicht in Ordnung, Sir?“
„Der erste Ermittlungserfolg kam sehr schnell. Und seitdem sieht es so aus, als drehten Sie sich im Kreis. Das beunruhigt mich.“
„Wir haben mehrere Spuren verfolgt, Sir, und bewachen die Mitglieder des House, die am meisten gefährdet sind.“
„Das ist es nicht, Warren. Ich traue diesem Orden nicht. Und diese Ravenwood? Sie ist die Tochter des Ordensleiters, macht sicher alles, was er sagt. Denken Sie nicht auch, dass da manches nicht koscher ist?“
„Nein, Sir. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass sie nicht gegen uns arbeitet. Das hätte ich gemerkt. Sie wissen, wie gut ich bin. Meine Quote liegt bei fast hundert Prozent. Miss Ravenwood ist eine große Unterstützung. Ich bedauere sehr, dass sie ein paar Tage an einem anderen Fall arbeiten muss und London verlassen hat.“
„Ach, hat sie das? Sehr seltsam.“
Warren zuckte die Achseln. „Der Orden ist vielbeschäftigt, wie ich mitbekomme. Und für Smithers scheint es nicht außergewöhnlich zu sein, für einige Zeit den Mitarbeiter auszutauschen. Also stört es mich nicht.“
„Warren“, aus der Stimme seines Vorgesetzten klang Sorge. „Passen Sie bitte auf sich auf. Diese Leute sind nicht ungefährlich. Sie sollten sie keinesfalls unterschätzen.“
„Die arbeiten auf unserer Seite. Und was mich betrifft, so halte ich sie inzwischen weit weniger für Spinner, als noch vor einigen Wochen. Man macht sich vielleicht einfach zuwenig Mühe, mal hinter die Kulissen zu schauen.“
Die Miene seines Gegenübers wurde noch besorgter.
„Das klingt nicht gut, mein Junge. Sie sind leichte Beute für die.“
Warren wollte etwas einwenden, doch Agent Warner hob abwehrend die Hand. „Hören Sie mir zu. Sie haben keine Familie, kaum Freunde. Es bindet Sie nichts in dieser Welt.“
Darüber musste er lachen. „Diese Welt, jene Welt. Sie tun so, als würde die Ashera in anderen Sphären schweben. Übertreiben Sie da nicht ein bisschen?“
Warner schüttelte den Kopf. „Warren, Sie haben eine glänzende Karriere vor sich. Ihr Vater wäre stolz auf Sie. Zerstören Sie sich das nicht.“
„Wie meinen Sie das? Wollen Sie mir drohen?“
Sein Vorgesetzter schüttelte den Kopf. „Nicht doch, mein Junge. Ich möchte Ihnen nur raten, sich nicht vom Orden einwickeln zu lassen. Sollten Sie die Seiten wechseln, sind Sie für das Office gestorben. Haben Sie das verstanden?“
Warren schluckte. Ja, das hatte er verstanden. Und zum ersten Mal, seit er dem Security Service beigetreten war, fragte er sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war.
Wie ein Besessener hackte Armand auf die Tastatur ein. Ein Passwort nach dem anderen wurde vom System geblockt. Er arbeitete fieberhaft, tippte immer neue Kombinationen in den Decoder, um sie zu prüfen, aber jedes Mal warf ihm der Zentralrechner, in den er einsteigen wollte, die Tür zu.
Das Gespräch mit Warren hatte ihn auf eine Idee gebracht. Fingerabdrücke war das Stichwort gewesen. Dracon. Er hatte dessen Fingerabdrücke von den Tasten des Flügels und der Whiskyflasche. Es war so leicht gewesen, sie zu sichern und nach einigen Versuchen hatte er sogar gute Latexkopien davon erstellen können. Dracon würde seine Spuren jetzt an vielen Orten hinterlassen, den passenden. Aber all das nutzte nichts, wenn man ihm diese Spuren nicht zuordnen konnte.
Endlich erschien das ersehnte Pop-up auf dem Bildschirm. ‚Access granted’! Er war drin.
„Ha!“ Er grinste zufrieden. „Wollen doch mal sehen. Wo habt ihr denn eure Akten mit den Schwerverbrechern?“
Die Dateilisten waren ein Kinderspiel für ihn. Er fand sich sofort zurecht. Neben ihm lagen die Fingerabdrücke von Dracon als Kohleabdruck und in Latex.
„Alors, mon copain. Dann verpassen wir dir doch mal einen netten Background.“ Sein hochauflösender Scanner kopierte die Kohleabdrücke perfekt. Das File fügte Armand an der vorgesehenen Stelle im Steckbrief der Schwerverbrecherdatei ein.
„Jetzt zu deinen zahlreichen Vergehen. Als da wären: Vergewaltigung, bewaffneter Raub, Mord, Körperverletzung, Diebstahl, nein, schwerer Diebstahl in Verbindung mit Körperverletzung. Noch mal Mord, Einbruch mit Mord.“
Armand musste sich beherrschen, um nicht zu übertreiben. Sonst hätte es unglaubwürdig gewirkt. Die einzelnen Vergehen passte er sowohl datumsmäßig wie örtlich an. Einen Teil in den Staaten, die beiden aktuellsten hier in London. Auch die Erstanlage der Akte an sich datierte er in die Vergangenheit. Zufrieden lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Blieb nur noch eins. Dracons Fingerabdrücke am nächsten Tatort zu verteilen. Armand nahm die Schatulle mit den Latexabzügen in die Hand. Er hatte sie nur an Handschuhen befestigen müssen, und schon konnte er unbegrenzt Abdrücke seines Erzfeindes an jedem beliebigen Tatort dieser Welt verteilen.
„Tu es mort. Du bist schon so gut wie tot.“
Wie gerne hätte er ihm eigenhändig den Hals umgedreht. Aber er musste diesen Forthys mit einbinden, damit Mel nicht Lunte roch. Mit etwas Glück würde er sie beide aus dem Weg räumen. Diesen Teufel Dracon und diesen arroganten Agenten, der seiner Liebsten schöne Augen machte. Dieser crétin. Glaubte allen Ernstes, er hätte genug Klasse für eine Frau wie Mel. Es war ihm längst aufgefallen, auch wenn Mel es ignorierte.
Die Hintergründe waren nun erstellt. Jetzt musste er Warren lediglich noch auf die Spur ansetzen. Das sollte leicht sein, bei dem Halfblood hatte sich der Security Service Mann auch gleich drauf gestürzt, ohne nachzudenken. Die Befürchtung war gering, dass es jetzt anders lief. Er war zu karrieregeil.
Also musste es einen Mord geben, der den anderen zumindest ähnelte und wo man ausreichend Spuren des ungeliebten Nebenbuhlers am Tatort fand. Armand hatte sich die Handschuhe mit den hauchfeinen Latexkopien von Dracons Fingerabdrücken angezogen, die mit speziellem Kleber daran fixiert waren. Außerdem hatte er sie vorher in Talg getaucht, damit die Spuren auch authentisch und deutlich waren.
Jetzt fehlte ihm nur noch das passende Opfer. Nein, er würde sich nicht in den Reihen der Lords umschauen. Und auch ein x-beliebiger unschuldiger Mensch kam nicht infrage. Ein wenig Moral besaß er noch. Darum suchte er sich eine dunkle Seele für seinen Plan. Jemanden, der den Tod verdient hatte, um den es nicht schade war.
Er kannte die Bars und illegalen Spielhöllen in London, wo sich der Abschaum traf. Die halbe Nacht verbrachte er damit, von einem miesen Loch zum nächsten zu wandern, und nach jemandem Ausschau zu halten, der ihm geeignet erschien. Dann endlich, es war schon gegen drei, wurde er fündig. Dem Kerl fehlte ein Auge, das er bei einer Schlägerei eingebüßt hatte. Wunderbar, dann musste er nur noch eines entfernen. Er war ein Einzelgänger, hatte weder Freunde noch Handlanger, die für ihn arbeiteten. Perfekt. An den Spieltischen kannte man ihn als den, der einem noch Geld gab, wenn man nirgends sonst mehr kreditwürdig war. Aber viele, die ihre Schulden nicht zurückzahlen konnten, sah man nie wieder. Der Einäugige war kein Freund, auch wenn seine Masche so aussah. Die Scheine verteilte er großzügig an Bedürftige, und beim ersten Zahlungsverzug brach er seinem Klienten ein oder zwei Finger. Sehr geduldig.
Der Kerl, den er gerade in seiner Wohnung festhielt, war schon mehrere Raten im Rückstand. Allmählich riss auch Mr. Einauge der Geduldsfaden. Er hatte den arbeitslosen Bäcker auf seiner morgendlichen Zeitungstour, mit der er versuchte, seine Spielsucht zu finanzieren, abgefangen und ihn in seine Wohnung gebracht. Finger brechen war nicht mehr, das hatte er bei ihm schon erfolglos getan. Die Zahlung war dennoch ausgeblieben. Jetzt wollte er ihm eine richtige Lehre erteilen. Angefangen hatte er heute, indem er ihn geknebelt und gefesselt zusammengeschlagen hatte, bis er das Bewusstsein verlor. Jetzt hoffte er, dass er wieder wach war, bis er nach Hause kam.
Der Typ hatte eine Fahne, dass Armand schon von Weitem schlecht wurde. Ruhig wartete er in einer Nische des Clubs, bis sein Opfer sich auf den Heimweg machte. Er folgte ihm wie ein Schatten, immer gut zwanzig Schritt hinter ihm.
Schwankend bewegte er sich über die Gehwege. Armand wunderte sich, dass er den Weg nach Hause überhaupt fand. Er schätzte, dass es nicht weit sein konnte, sonst hätte er ein Taxi angehalten, aber der Weg zog sich endlos hin. Immer wieder bog der Einäugige mal links, mal rechts ab, durch schmale Gassen, überquerte Straßen, völlig ziellos. Als er endlich vor einer Haustür stehen blieb und den Schlüssel ins Schloss steckte, hätte Armand beinah laut gelacht. An diesem Haus waren sie bereits viermal vorbei gelaufen, es befand sich nur zwei Straßen von dem Club entfernt.
Schon auf der Straße konnte Armand die Angst im Inneren der Wohnung riechen. Schweiß, Adrenalin, Blut und Urin. Die Gedanken des Geknebelten schwemmten über ihn hinweg. Er war erst siebenundzwanzig. Zu jung zum Sterben, entschied Armand. Er wollte nur den Einäugigen.
Eine gute Tat rechtfertigte so manches. Natürlich durfte der Befreite ihn später nicht erkennen, für den Fall, dass man die Spur zu ihm verfolgen und ihn verhören würde. Es war sehr unwahrscheinlich, dass man unter den derzeitigen Umständen auf die Idee käme, in anderer Richtung statt der offensichtlichen zu ermitteln, aber man wusste ja nie.
Darum setzte Armand die Augenmaske auf, die er eigens dafür mitgebracht hatte. Er kam sich vor wie Zorro. So langsam fing die Sache an, ihm Spaß zu machen.
Er huschte durch die sich schließende Tür, drückte sich im Hausflur an die Wand, aber der Einäugige hätte ihn ohnehin nicht bemerkt. Er war zu sehr vom Alkohol benebelt. Zu besessen von seinen sadistischen Fantasien.
Der Wohnungseigentümer suchte erst einmal das Badezimmer auf. Der Uringestank in der Wohnung verstärkte sich kurzzeitig, bis die Klospülung gezogen wurde. Als er wieder herauskam, stand seine Hose noch offen und gab den Blick auf fleckige Boxershorts frei. Mon Dieu, dieser Kerl war wirklich entsetzlich.
Er torkelte in den Raum, wo sein Schuldner in einer gelben Pfütze auf dem Boden lag. Seine Hände waren so eng zusammengeschnürt, dass die Finger bereits dick geschwollen und blau verfärbt waren. Die Schnüre rochen nach Blut. Auch sonst hatte er aus unzähligen Wunden geblutet, die jetzt verkrustet waren. Der Einäugige stieß den Bewusstlosen unsanft mit dem Stiefel an. Als er nicht reagierte, trat er ihm in den Bauch. Der am Boden Liegende keuchte und würgte. Der Knebel in seinem Mund färbte sich rot, er rang nach Luft, weil die Magensäure nicht aus dem Mund fließen konnte.
Ein tiefes Knurren bildete sich in Armands Kehle. Er mochte ein Mörder sein, keine Frage. Und mit manchen Opfern ging er nicht gerade zartfühlend um. Aber das hier war ein Schauspiel, das er sich nicht länger anzusehen gedachte.
Der Einäugige drehte sich zu dem unerwarteten Geräusch um, rätselte, woher der Hund in seiner Wohnung kam. Sein Blick fiel auf einen großgewachsenen Mann im dunklen Umhang, mit einem Schleier aus nachtschwarzem Haar und einer Maske im Gesicht.
„Wäh bist du dän? Wie kommsch in meine Woh-ung?“
Seine Zunge war so schwer vom Alkohol, dass er kaum zu verstehen war. Selbst seine Gedanken ergaben kaum Sinn.
„Du wirst heute Nacht sterben. Alles andere muss dich nicht mehr kümmern, mon ami.“
Der Mann wich zurück, Speichel tropfte ihm aus dem offenen Mund. Der andere am Boden schaute aus seinen zugeschwollenen Augen nach oben. Ein Angstlaut drang durch den Knebel hindurch. Armand gebot ihm mit einer Geste Ruhe.
„Scht! Du hast nichts zu befürchten. Bleib ruhig, dann wirst du leben.“ Er wandte sich an den Einäugigen. „Diese Hoffnung gibt es für dich nicht.“
Hinter der Maske funkelten seine eisgrauen Augen, fixierten sein Opfer mit tödlicher Präzision. Er wusste, dass der Mann eine Waffe aus der Schublade des Sideboards holen wollte, noch eher er den Schrank erreicht hatte. In dem Moment, als er sich umdrehte, um in das Fach zu greifen, schoss Armand einem schwarzen Raubvogel gleich auf ihn zu. Er brach den Arm, der die Waffe hielt. Elle und Speiche durchstachen die Haut, der Kredithai schrie wie am Spieß. Aber der Schrei ging unter in dem Gurgeln aus seiner Kehle, als Armand ihm Luftröhre und Halsschlagader zerriss, sodass der entweichende Lebenssaft direkt in seinen Mund sprudelte. Die Schreie vom Boden wurden trotz des Knebels immer lauter. Armand brach das Genick seines Opfers und warf den toten Körper achtlos beiseite. Blitzschnell kniete er neben dem Wehrlosen nieder, der verzweifelt versuchte, über den Boden fortzurobben.
„Scht!“, machte Armand noch einmal und hielt sich einen blutverschmierten Finger an die Lippen. „Je t‘avais dit, ich sagte dir doch, dass du nichts zu befürchten hast.“ Der Mann erstarrte vor Angst. „Ich werde dir jetzt den Knebel aus dem Mund nehmen und deine Fesseln lösen. Aber du musst schwören, dass du weder schreien, noch fliehen wirst. Tust du das?“ Hektisches Kopfnicken. „Bien! Dann halt still.“
Er zog die Handschuhe aus und verstaute sie in seiner Hosentasche. Dann löste er zuerst den Knebel. Ein Schwall von Blut und Erbrochenem ergoss sich auf den Fußboden. Ein Wunder, dass der Kerl nicht längst erstickt war. Es stank bestialisch, der Mann hustete, würgte, spuckte ein paar Mal aus.
„Ich bringe dir gleich Wasser. Aber erst die Fesseln.“
Er schrie tatsächlich nicht, schaute nur ungläubig zu, wie Armand behutsam die Fesseln an den Händen und Füßen löste, prüfend die geschwollenen Gliedmaßen betastete und dann mit dem Kopf schüttelte.
„Der Tod kam viel zu schnell für ihn. Er hätte verdient, noch viel länger zu leiden.“
Der junge Mann schluckte.
„Wie heißt du?“, wollte Armand wissen.
„Dominik, Dominik Webber.“
Seine Stimme klang rau und gepresst. Vermutlich war sein gesamter Rachen verätzt. Wortlos erhob sich Armand und ging in die Küche. Nachdem er ein halbwegs sauberes Glas gefunden und es mit Wasser gefüllt hatte, ging er zu Dominik zurück, der es inzwischen wenigstens geschafft hatte, sich aufzusetzen. Mit zitternden Gliedern lehnte er an der Wand, seine Haut wächsern bleich und von unzähligen blauschwarzen Verfärbungen überzogen. Die Lider waren derart zugeschwollen, dass er sicher kaum etwas sehen konnte. Auch ohne Maske wäre es unwahrscheinlich, dass er seinen Retter später wiedererkennen würde. Das Glas konnte er mit seinen tauben Händen nicht halten, darum ließ Armand ihn schluckweise trinken.
„Danke. Sie … Sie sind mein Retter.“
Armand grinste und zeigte dabei seine langen Reißzähne. Dominiks Augen konnten sich im derzeitigen Zustand nicht weiten, sonst hätten sie es sicher getan.
„Kannst du laufen?“
„Ich denke schon.“
„Dann geh nach Hause, sobald du wieder aufstehen kannst. Ich bringe den Abfall weg. Du hast nichts und niemanden gesehen heute Nacht, ist das klar?“
„Absolut klar“, versicherte Dominik eilig.
Armand nickte zufrieden. Er schulterte den Leichnam des Einäugigen, an der Tür drehte er sich noch mal um.
„Du wirst nie wieder spielen, verstanden?“
Der Tonfall, die stechenden Augen und blitzenden Fänge ließen keinen Widerspruch zu. Dominik beteuerte, dass er in seinem ganzen Leben keinen Spieltisch mehr aufsuchen würde.
„Keine Karten, keine Kugeln, keine Würfel. Gar nichts, Sir. Überhaupt nichts. Ehrenwort. Beim Leben meiner Mutter.“
„Bien! Ich werde ein Auge auf dich haben, Dominik Webber.“
Damit verließ Armand die Wohnung. Machten Helden das nicht auch immer so? Die Geretteten nebenbei noch schnell auf den richtigen Weg bringen. Vielleicht sollte er öfter solche Aktionen unternehmen, irgendwie gefiel ihm der Heldenstatus.
Armand brachte seine Fracht in die Nähe des Towers, er wollte, dass der Tote möglichst schnell gefunden wurde. Der Plan hatte vorgesehen, ihn in der Wohnung zu lassen. Aber Dominik war ein zu großes Risiko. Nachdem er den Einäugigen platziert hatte, streifte er die Handschuhe wieder über, verteilte Dracons Fingerabdrücke großzügig auf der Leiche und in der gesamten näheren Umgebung. Er fügte noch ein paar weitere Bissverletzungen hinzu, dann kam der ekligste Teil. Das Entfernen des verbliebenen Augapfels. In Ermangelung eines passenden Werkzeuges nahm Armand die behandschuhte Hand zur Hilfe. Ein unangenehmes Gefühl, von dem Geräusch ganz zu schweigen. Angewidert warf er das Auge in die nächste Mülltonne.
Mit Speck fängt man Mäuse
In der nächsten Nacht hatte er bereits eine SMS von Forthys auf dem Handy. Er wählte dessen Nummer und hörte sich einige Minuten die Fakten aus Sicht des MI5-Agenten an. Ein diabolisches Grinsen spielte um seine Mundwinkel. Die Fingerabdrücke hatten ihn sofort zu Drake Brown geführt, der alles andere als ein unbeschriebenes Blatt war. Das Einzige, was nicht recht ins Bild passte, war die Tatsache, dass Drake Brown seinen Wohnsitz in den Staaten hatte.
„Mhm! Drake Brown. Der Name sagt mir etwas“, gab sich Armand nachdenklich. „Ich bin gleich bei Ihnen, Warren. Vielleicht fällt mir mehr ein, wenn ich die Unterlagen über ihn sehe. Gibt es auch Bilder?“
„Ja, eins.“
„Gut, das sollte reichen. Bis gleich.“
Eine Schauspielkarriere in Hollywood hätte durchaus im Bereich des Möglichen gelegen, so gut spielte Armand seine Rolle. Er durchforstete die gesamte Akte, die er zwei Nächte zuvor selbst angelegt hatte. Dann betrachtete er nachdenklich das Foto, schaute immer mal wieder aus dem Fenster, rieb sich das Kinn, ganz so, als würde er angestrengt überlegen. Dann schien ihm etwas aufgefallen zu sein, er blätterte hektisch wieder in den Unterlagen und tippte dann mit dem Finger auf ein ganz bestimmtes Vergehen.
„Hier, jetzt weiß ich es wieder. Diese Drogenlieferung, ich hatte am Rande mit dem Fall zu tun. Jetzt weiß ich auch, warum mir der Name und das Bild so bekannt vorkommen. Er hat sich damals viel in den Szeneclubs herumgetrieben. Hauptsächlich im Blue Moon, im Sunset und im Devil’s Inn. Ich würde vorschlagen, dass wir dort für ein paar Nächte Stellung beziehen. Wenn er in London ist, wird er sicher früher oder später in einem auftauchen.“
„Dass so einer nicht längst hinter Gittern sitzt.“
„Tja, er ist gewitzt. So schnell kriegt man den nicht. Sie sehen ja in der Akte, dass die Indizien fast nie für eine Verurteilung reichten.“
Warren war wie erwartet sofort auf Armands Vorschlag eingegangen. Während er das Devil’s Inn überwachte und einer seiner Kollegen im Sunset Dienst schob, hatte es sich Armand in einer Nische im Blue Moon bequem gemacht. Seit über einer Stunde schon beobachtete er Dracon, wie er tanzte, flirtete, Cocktails trank. Wohin der Drache zum Tanzen ging, hatte er im Vorfeld abgecheckt. Alles war perfekt eingefädelt. Er zog sein Handy aus der Tasche und wählte Warrens Nummer.
„Mr. Forthys? Ich hab ihn. Er ist tatsächlich im Blue Moon. Nein, kein großes Aufgebot. Wir machen das besser allein. Sonst wittert er vielleicht die Gefahr und türmt. Ja, gut, ich bleibe hier und halte die Stellung. Wenn sich was Neues ergibt, bis Sie hier sind, melde ich mich wieder.“
Er nannte ihm die Adresse des Clubs und klappte das Handy zu. Diese Falle würde zwei fette Ratten fangen.
Alles lief wie am Schnürchen. In einer halben Stunde würde Forthys ebenfalls vor Ort sein. Egal, ob der Kerl wirklich der gesuchte Serienmörder war oder nicht, in Warrens Augen war er ein zu großer Fisch, um ihn durchs Netz schlüpfen zu lassen.
Einen passenden Lockvogel hatte Armand auch schon gefunden. Der Verstand einer Blondine in hohen Pumps und ultrakurzem Minirock war so von Drogen benebelt, dass sie Armands Marionette wurde, die er Dracon zum Spielen gab. Der Nebenbuhler schöpfte keinen Verdacht, Armand verbarg seine Präsenz so gekonnt, dass der Drache ihn nicht wittern konnte. Sobald Forthys da wäre, würde er die Kleine nach draußen dirigieren, in den Hinterhof. Wenn der Drache zum Todesbiss ansetzte, hätte der Agent seinen großen Auftritt. Entweder würde Dracon ihn dann platt machen und Armand musste nur noch den Vampir beseitigen. Mit einer hervorragenden Begründung, schließlich galt es, diesen Forthys zu retten, was dann eben Bedauerlichweise misslang. Oder, im ungünstigsten Fall, musste er bei beiden selbst Hand anlegen, um ihr Ableben zu gewährleisten. Die Story, die er Franklin und Mel auftischen wollte, war in beiden Fällen dieselbe.
Er beobachtete seinen Konkurrenten genau, während er auf die Ankunft des Agenten wartete. Dracon war eine Augenweide, das konnte Armand nicht bestreiten. Das nachtschwarze Haar, dieser sehnige Körper, der sich so perfekt zur Musik bewegte, wie eine Schlange wand. Er weckte Sehnsüchte in dem Mädchen, wusste, wie er sie berühren musste. Seine Lippen strichen über ihre Kehle, während seine Hände ihren Bauch und ihre Brüste streichelten. Beide waren völlig in der Musik und ihrem Liebesspiel gefangen. Ein äußerst anregender Anblick. Wären die Umstände andere gewesen, hätte Armand sich gut vorstellen können, ebenfalls bei diesem Vampir schwach zu werden. Einen Atemzug lang, gab er sich der Vorstellung hin, seine Hände über diesen sinnlichen Körper gleiten zu lassen und ihn in Besitz zu nehmen. Aber da war Vangelis, den dieser Kerl getötet hatte. Und Mel, die er ihm wegnehmen wollte. Von allen anderen Dingen mal abgesehen, die er in seinem schwarzen Leben schon angestellt hatte. Vampire waren von Natur aus keine Unschuldslämmer, aber auch unter ihnen gab es solche und solche. Dracon gehörte zum Abschaum, mochte er noch so schön und begehrenswert sein.
Sein Handy klingelte. Es war Warren.
„Ich bin jetzt vor dem Club. Wo sind Sie?“
„Drinnen. Aber kommen Sie nicht rein. Der Kerl geht gerade zum Hinterausgang. Und er hat ein Mädchen bei sich. Ich glaube, wir werden ihn auf frischer Tat ertappen.“
Ohne die Antwort abzuwarten, klappte er das Mobiltelefon zu, widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Pärchen auf der Tanzfläche.
„Nach draußen“, sandte er der Blondine zu. „In den Hinterhof. Da sind wir ungestört.“
Ihre Lippen bewegten sich, formten die soufflierten Worte. Dracon grinste breit, nahm sie in den Arm und verschwand mit ihr Richtung Notausgang.
Auch Armand lächelte, folgte ihnen aber nicht, sondern ging stattdessen zum Haupteingang. Er grüßte die Türsteher, schlug den Weg zu den Parkplätzen ein. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, sprang er mit einem gewaltigen Satz auf das Dach des Clubs. Von hier aus hatte er eine gute Übersicht. Er hörte Dracon flüstern, aber auch unterschwellig knurren. Der Biss stand kurz bevor. Wo war Forthys? Ein Blick über den Rand des Daches zeigte ihm, dass der vorsichtig und an die Hauswand gedrückt zum Ende des Hinterhofes schlich, die Waffe im Anschlag. Armand roch seine Angst. Alles nur Show, seine Coolness, seine Souveränität, pure Maskerade. Er wollte um jeden Preis nach oben, dabei machte er sich in Wahrheit in die Hosen. Mit abfälligem Schnauben wählte Armand seine Position so, dass er beide Parteien im Auge hatte. Hoffentlich warnte der Schweiß in Forthys’ Händen den Drachen nicht vor. Vermutlich würde ihm die Waffe entgleiten, ehe er dazu kam, einen Schuss abzufeuern.
Zumindest Dracons Aufmerksamkeit wurde nicht abgelenkt. Er war ganz auf seine Eroberung konzentriert. Sein leidenschaftlicher Kuss ließ das Mädchen stöhnen, seine Lippen glitten an ihrem Hals hinunter bis zu ihren Brüsten, die aus dem engen Top quollen. Reißzähne blitzten auf, der Griff des Vampirs wurde fester, dann folgte der Biss. Genau in dem Moment kam Warren um die Ecke.
„Warren Forthys, MI5, lassen Sie sofort die Frau los und nehmen Sie die Hände hoch.“
Es knackte unschön, die Frau sank zu Boden, Dracon wirbelte herum.
„Très bien“, murmelte Armand an seinem Platz auf dem Dach. „Komm schon, schieß, du Idiot“, sandte er den stummen Wunsch an Warren.
Warum ging Dracon nicht einfach auf ihn los? Das wäre typisch für ihn gewesen. Stattdessen verharrte er starr und blickte ihm entgegen. Aber wenn Warren schoss, würde er gewiss nicht zögern.
„Oh Shit!“ hörte Armand die Stimme des Vampirs. „Wo kommt der denn jetzt her?“
Verwundert schaute Armand zwischen den beiden Männern hin und her. Nichts geschah.
„Sorry“, sagte Dracon plötzlich an Forthys gewandt. „Hab noch nen dringenden Termin. Man sieht sich.“
Er verschwand wie ein Schatten in der Nacht. Warren erbleichte, strauchelte. Armand sah, wie die Waffe in seiner Hand zitterte. Verdammt, was war hier schief gegangen? Warum haute der Kerl einfach ab? Warum tötete er den Agenten nicht?
„Merde! Das kann doch alles nicht wahr sein.“
Fluchend sprang er vom Dach. Sein schöner Plan. Gründlicher konnte er kaum in die Hose gehen. Das war ihm unerklärlich. Beide Konkurrenten hätten jetzt tot auf dem Pflaster liegen sollen. Stattdessen war der eine getürmt, der andere zur Salzsäule erstarrt und Armand blieben zwei Probleme. Er musste alle Informationen, die er Warren gegeben hatte, inklusive des gerade Erlebten in dessen Gehirn löschen, und außerdem die Leiche dieses Mädchens verschwinden lassen. So hatte er sich diesen Abend nicht vorgestellt.
Warren konnte kaum glauben, was er da gerade gesehen hatte. Dieser Typ war einfach verschwunden. Nicht weggerannt, sondern puff und weg. Vor seinen Augen. Zurück blieb das tote Mädchen. Er verharrte unschlüssig, wusste nicht, was er jetzt tun sollte. Seine Leute rufen? Und wo war Armand? Der hatte doch hier auf ihn warten wollen.
Da hörte er plötzlich ein Knacken hinter sich. Er fuhr herum, ein Schuss zerriss die Stille. Verdammt, er hatte heute seine Nerven nicht unter Kontrolle. Der Fall wurde immer mysteriöser. Melissa mit ihrem übersinnlichen Gerede, dieser ganze undurchsichtige Orden und jetzt auch noch Menschen, die sich in Luft auflösten. Außerdem hasste er es, wenn er seine Waffe benutzen musste. Töten machte ihm keinen Spaß. Dennoch hatte er gerade geschossen und offenbar auch getroffen. Der Mann, der aus dem Dunkeln auf ihn zukam, zuckte zusammen und krümmte sich. Er hörte ein Stöhnen, einen Fluch, den er nicht verstand. Großer Gott, er hatte einen Unschuldigen verletzt, der zufällig hier vorbei kam. Hoffentlich nicht allzu schwer. Das konnte ihn seinen Dienstausweis kosten. Zumindest würde es ihm eine Suspendierung einbringen. Er musste den Mann sofort in ein Krankenhaus schaffen. Hastig steckte er die Waffe weg und eilte zu dem inzwischen am Boden Hockenden.
„Hey, Sie. Ist alles in Ordnung?“ Er machte ein paar Schritte auf das vermeintliche Opfer zu, das immer noch vornüber gebeugt verharrte. „Ich … das wollte ich nicht. Der Schuss hat sich einfach gelöst. Sind Sie schwer verletzt?“
Er hatte den Mann jetzt erreicht, legte ihm die Hand auf Schulter. In dem Moment schoss eine eiskalte Klaue nach oben und packte seine Kehle. Er schaute in Augen, die er kannte, nur hatten sie beim letzten Mal nicht so kalt und wild geblickt. Die weichen Lippen öffneten sich, etwas Raubtierhaftes blitzte auf, im nächsten Moment spürte er einen unerträglichen Schmerz an seiner Kehle, dann wurde alles dunkel.