Hinein in den Park
Nachdem Remi die blaue Kiste im Entenaufzug verstaut hatte, kehrte er gerade noch rechtzeitig in die Lobby zurück, um Mrs Sparks die Tür zu öffnen.
»PHIPPS!«, rief sie, und Mr Phipps, der bestenfalls als langsamer Geher bezeichnet werden konnte, kam auf die Eingangshalle zu. Sein Gang war unsicher, und Blop fing sofort an, in so rätselhaften medizinischen Begriffen darüber zu faseln, dass nur ein Rückenchirurg ihn hätte verstehen können.
Mrs Sparks bedachte den kleinen Roboter mit einem eisigen Blick, obwohl sie wusste, dass es nichts nützen würde. Sie konnte nicht viel unternehmen, um ihn zum Schweigen zu bringen, es sei denn, sie hätte ihn auf den Rasen geworfen.
»… und verstehen Sie, Gehen ist ein viel komplizierterer Vorgang, als man zunächst annehmen möchte. Stimmen Sie mir nicht auch zu?«, fragte Blop und sah Mrs Sparks hoffnungsvoll an, als sei sein einziger Wunsch auf dieser Welt, eine Antwort von ihr zu erhalten.
Stattdessen drehte sie sich zu dem Gärtner um, der gerade an der Türschwelle eintraf.
»Sie müssen den Empfangstresen übernehmen, bis ich zurückkomme«, befahl sie. »Es ist etwas passiert.«
Es war ein heißer Tag. Mr Phipps zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn. »Wenn Sie unbedingt wollen.«
Mrs Sparks ekelte sich vor Schweiß und machte ein säuerliches Gesicht, doch sie musste fort und Pilar hatte erst um zwei Uhr Zeit. Sie sah auf ihre Uhr – es war zwölf – und eilte auf das Einfahrtstor zu.
»Ich bin vor dem Aufruf zum Abendessen um sechs zurück. Ich hoffe nur, dass das Gebäude nicht einstürzt, ehe ich zurück bin!«
Remi und Mr Phipps sahen ihr wortlos nach, wie sie über die gewundenen Wege verschwand. Sobald sie außer Hörweite war, wandte sich Mr Phipps nach Remi um.
»Ich mache mit dem Puzzle weiter. Stell du keinen Unsinn an!«
»Hier an der Tür kann man ja keinen Unsinn machen«, sagte Remi. »Es sei denn, dass STERBEN vor LANGEWEILE dazugehört.«
»Wer hat was von Türstehen gesagt?«, fragte Mr Phipps. Er war schon durch die Tür und ging in Richtung Puzzle-Zimmer. Ihm war es völlig egal, wer möglicherweise ins Hotel eindrang, ohne den Hotelpagen an der Tür und den Gärtner am Empfang.
Remi sah Blop an, der hoffnungsvoll zu ihm aufblickte, und grinste übers ganze Gesicht.
»Lass uns nachsehen, was in der blauen Kiste ist.«
»Was soll das heißen, du bist im fünften Stock? Ich dachte, du würdest an der Eingangstür festsitzen?«
Leo stand vor einem Gewirr von Drähten am Sicherungskasten im Sechsten. Die Rohre daneben waren alle in unterschiedlichen Farben gestrichen und so verschlungen und verzwirbelt, dass sie wie ein geflochtener Regenbogen aussahen, bei dessen Anblick Leo ganz schwindelig wurde. Dazu noch die Drähte, die kilometerlang wirkten und aus der Decke hingen. Es war ein Wunder, dass sich der ganze Laden nicht selbst kurzschloss vor lauter Chaos. Die Installationen gehörten zu den komplizierteren Stellen im Wartungstunnel und erforderten seine ganze Aufmerksamkeit, damit er überhaupt etwas ausrichten konnte.
Da es mit seiner Konzentration vorbei war, trat er von dem Sicherungskasten zurück und hörte zu, wie ihm Remi erzählte, dass Mrs Sparks vorzeitig verschwunden sei und er die blaue Kiste in Augenschein genommen habe. Als Leo richtig begriff, was Remi gemacht hatte, war er verärgert. Es war doch seine Kiste, nicht Remis, und nun hatte Remi sie ohne ihn geöffnet!
»Ich hab im Gästebuch nachgeschlagen. In der Central Park-Suite hat seit dem Verschwinden von Mr Whippet niemand mehr gewohnt«, berichtete Remi. »Was ist da drin?«
Leo wollte jedoch nicht über die Central Park-Suite reden.
»Das ist doch nicht deine Kiste. Du hättest sie nicht aufmachen sollen.«
»Aber du hast mir doch gesagt, dass ich sie holen soll«, sagte Remi flehentlich, und die begeisterte Erregung war ganz aus seiner Stimme gewichen, als er sich klarmachte, dass Leo sauer war.
»Ich hab dir aber nicht gesagt, dass du sie öffnen sollst. Das hättest du nicht machen dürfen.«
»Ich hab dir nur helfen wollen.«
Leo warf einen Blick auf das Durcheinander von Drähten und durchgebrannten Sicherungen und wusste, dass er die Klimaanlage niemals in weniger als einer halben Stunde reparieren konnte. Danach würde er etwas Zeit haben – vielleicht eine Stunde – und sich im Labyrinth des Hotels verkrümeln können.
»Ist schon okay«, sagte er und versuchte, etwas loszulassen, das er ganz ausschließlich für seine eigene Angelegenheit gehalten hatte. »Frag das nächste Mal vorher.«
»Das nächste Mal?« Remi schöpfte wieder Hoffnung. »Es gibt hier noch mehr Kisten? Sagenhaft!«
»Wir sollen eine Ente mitbringen«, sagte Leo. Das war doch der perfekte Auftrag für Remi und Blop, während er seine Arbeit am Sicherungskasten erledigte. »Geh aufs Dach und hol Betty – sie ist die Klügste von allen. Dann warte an der Tür zur Central Park-Suite auf mich. Wir gehen hinein.«
»Super!«, rief Remi. »Hast du gehört, Blop? Wir gehen rein!«
Leo machte sich wieder an den Drähten zu schaffen. Er zog kristallklare Sicherungen und Isolierband aus seiner Werkzeugtasche. Während sich Remi zum Dach aufmachte, berichtete er Leo, was in der blauen Kiste war.
»In erster Linie Eisenbahnzüge und Gleise«, sagte er.
»Eisenbahnzüge?«
»Ja, komisch, was? Im Central Park gibt es doch keine Züge, aber innen auf dem Deckel steht: ›Eingang durch Central Park im Fünften unter dem Pfeil‹.«
»Warst du schon mal im Central Park?«, fragte Leo. Er hatte das Funkgerät auf ein Sims gestellt und drückte nur auf den Knopf, wenn es nötig war, sonst arbeitete er rasch an den Drähten und Sicherungen.
»Klar war ich da schon. Wer war da noch nicht?«, sagte Remi. Dann fragte er Leo, warum Blop wohl auf einmal so schweigsam war.
»Wenn er in weniger als einer Stunde zehntausend Wörter runterrasselt, schaltet sich sein Stimmen-Chip meistens für ’ne Weile aus. Ihr habt ja wohl ganz schön viel gequatscht heute Morgen.«
»Ja, genau, wir haben über alles Mögliche geredet. Er ist mein Reisebegleiter.«
Leo stellte sich Remi in dem kleinen Aufzug vor, auf dem Boden sitzend, mit Blop in dem Pappkarton auf dem Schoß. Die beiden Jungen waren wie Geheimagenten, die sich durch eine verborgene Welt kämpften und nicht wussten, was sie hinter der nächsten Biegung erwartete.
»›Unter dem Pfeil‹«, sagte Leo und umwickelte einen Strang roter und gelber Drähte mit dem Isolierband. »Von einem Pfeil im Park ist mir nichts bekannt. Wir müssen vielleicht ziemlich suchen, um den Eingang zu finden.«
»Ich bin auf dem Dach«, sagte Remi. »Aber Betty will nicht einsteigen. Sie hat schlechte Laune. Soll ich eine andere Ente mitnehmen?«
Leo stellte sich vor, mit einem Roboter, einer Ente und einem Kumpel durch die Central Park-Suite zu streunen, und besann sich eines Besseren.
»Ich glaube, wir schaffen es diesmal auch ohne Betty«, sagte er, schraubte die letzte Sicherung ein und knipste den elektrischen Schalter an. Es folgte ein surrendes Geräusch, und er wusste, dass die Klimaanlage wieder angesprungen war. Jetzt hatte er Zeit, zumindest, bis sein Vater herausfand, dass er die KA in Rekordzeit repariert hatte. »Komm runter zur Central Park-Suite und klopfe an. Ich lass dich von innen rein.«
»Wie stellst du das denn an?«
Leo antwortete nicht. Es war das Beste, wenn nur er und sein Vater über die geheimen Zugänge zu den Suiten im Hotel Bescheid wussten. Merganzer hatte das sehr deutlich gemacht, als er Clarence Fillmore eingestellt hatte: Einige Orte waren nur einigen wenigen, den Auserwählten, den Wartungsleuten vorbehalten.
Leo schaute in der Kuchensuite im Sechsten vorbei und klopfte an, in der Hoffnung, niemand darin vorzufinden. Doch seine Hoffnung zerschlug sich, als Jane Yancey öffnete. Sie hatte Zuckerguss an der Nase.
»Das hat ja vielleicht gedauert«, sagte sie. Sie plusterte sich furchtbar auf, biss in einen Muffin und redete mit vollem Mund, so dass die Krümel über den Boden sprühten. »Wir sind hier fast verkocht. Mein Vater verlangt eine Kostenerstattung.«
»Kann ich kurz reinkommen und ein paar Dinge überprüfen?«, fragte Leo.
Zu seiner Überraschung hörte er die entnervte Stimme von Mr Yancey aus dem Zimmer dringen.
»Lass ihn rein, Schätzchen. Der Junge muss ja seine Arbeit tun.«
Widerwillig trat Jane Yancey zur Seite und wischte sich den Puderzucker an ihrem pinkfarbenen T-Shirt ab. Es wurde rasch kühler im Zimmer, wie Leo beim Eintreten merkte. Dabei fiel ihm auf, dass er Mr Yancey eigentlich noch nie gesehen hatte. Der Typ war wie ein Geist und in der Regel gar nicht da, sondern bei irgendeiner Sitzung. Das Einzige, was Leo sicher wusste, hatte ihm Mrs Sparks erzählt: Mr Yancey war ein Milliardär, der mit Edelmetallen und Erdöl handelte und den man nicht stören durfte.
Die Suite selbst war atemberaubend, voller riesiger Modelle reich verzierter Torten und Süßigkeiten, auf denen man herumklettern und herumrutschen und spielen konnte. Da und dort gab es Glastüren, hinter denen sich begehbare Schränke mit echten Kuchen und Leckereien befanden, die jeden Morgen von dem Restaurant neu aufgefüllt wurden.
»Haben Sie was dagegen, wenn ich in die Wandschränke schaue?«, rief Leo in Richtung Schlafzimmer. Er hoffte, dass Mr Yancey herauskommen und sich vorstellen würde.
»Nur zu, aber lass Jane nicht hinein. Sie hat genug in sich reingestopft für einen Tag.«
Jane machte ein finsteres Gesicht, während Leo einen der Kühlräume betrat. Als er wieder herauskam, stand Mr Yancey neben seiner Tochter.
»Ihre Mutter macht einen Einkaufsbummel und gibt mein ganzes Geld aus«, sagte er. Es fiel Leo sofort auf, wie dunkel der Mann vor den bunten Farben der Suite aussah: schwarzer Anzug, schwarze Haare, schwarze Schuhe, einen schwarzen Kaffeebecher. Er war massig und hatte ein breites Gesicht und eine Glatze. Leo konnte sich gut vorstellen, wie er auf einer Ölplattform stand und Befehle gab. Ob er seine Karriere wohl so angefangen hatte? Leo fand nämlich, dass Mr Yancey eher aussah, als wäre er der Typ für schmutzige Flanellhemden und grobe Arbeitshosen mit schwarzen Ölflecken, der in Hunderten von Metern Erde nach Schätzen bohrte.
Leo hatte vergessen, sein Funkgerät abzustellen, ehe er die Suite betreten hatte, und zu seinem Entsetzten hörte er plötzlich Remis Stimme aus dem Walkie-Talkie dringen.
»Okay, Leo, wo bist du? Hier gibt’s Ärger. Blop wacht wieder auf.«
»He, die Stimme kenne ich«, sagte Jane Yancey. »Das ist doch der blöde Junge aus der Lobby?! Was macht der denn hier? Und wer ist Blop?«
Leo machte sich zur Tür auf. Mr Yancey beobachtete ihn neugierig.
»Alles in bester Ordnung«, sagte er mit nervösem Lächeln. »Aber wenn es wieder Probleme geben sollte, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«
Leo war aus der Tür hinaus, ehe Jane Yancey ihm weitere Fragen stellen konnte. Jane drehte sich mit verschränkten Armen nach ihrem Vater um.
»Die zwei führen was im Schilde.«
Mr Yancey hingegen nahm einen Schluck von seinem schwarzen Kaffee und überlegte, wie gut Leo Fillmore tatsächlich über das Whippet Hotel Bescheid wusste. Er zuckte die Schultern und zog sich wieder in sein Zimmer zurück. Dabei sagte er noch: »Mach bitte keinen Blödsinn, bis deine Mutter wieder da ist.«
Doch Jane hatte eine bessere Idee. Kurz darauf war auch sie aus der Tür, ohne dass ihr Vater es gemerkt hatte.
Der schnellste Weg hinunter in den fünften Stock war über das Treppenhaus. Leo rannte und hoffte, dass Jane Yancey ihm nicht folgte. Als er vor der Tür zur Central Park-Suite ankam, war Remi fort.
»Na wunderbar, das hab ich gerade noch gebraucht.«
Leo hatte keine Schlüsselkarte für die Tür, und es war etwas kompliziert, von dort, wo er sich befand, durch den Wartungstunnel hineinzukommen. Er zog sein Funkgerät heraus und hörte gerade noch Jane Yanceys Stimme oben im Treppenhaus.
»Wartungsjunge?« Sie war ihm also gefolgt, wie er befürchtet hatte, und es würde nicht lange dauern, bis sie im Fünften ankam und ihm alle möglichen Fragen stellte.
Ohne Vorwarnung flog die Tür zur Central Park-Suite auf und Leo hörte Blops Stimme.
»Ah, Mr Fillmore, willkommen im Park. Wir haben Sie schon erwartet.«
Leo schoss hinein und die Tür schloss sich leise hinter ihm. Er musste Remi nicht fragen, wie er sich Einlass verschafft hatte, denn der hielt eine grüne Schlüsselkarte in der Hand. Die hatte er sich geschnappt, solange Mrs Sparks fort und der Empfangstresen nicht besetzt war.
Nicht schlecht, dachte Leo. Wirklich nicht schlecht.
An der Tür wurde geklopft. Das war bestimmt Jane Yancey. Die beiden Jungen reagierten jedoch nicht auf ihr Bitten und machten sich auf.
»Ich weiß, dass ihr da drin seid! Lasst mich rein!«, schrie sie aus dem Flur.
»Die wird noch Ärger machen«, sagte Blop, der ausgeruht und wieder überaus gesprächig war. »Sehr typisch für eine Sechsjährige, vor allem, wenn es sich um so ein verwöhntes Blag handelt.«
Leo sah, dass Remi die blaue Kiste mitgebracht hatte. Blop trug er in der Tasche seiner roten Jacke. Der Roboter spähte neugierig heraus.
»Eine Hand wäscht die andere«, sagte Leo, denn Remis grüne Schlüsselkarte hatte ihnen ja Zugang zur Central Park-Suite verschafft. Er öffnete seine Werkzeugtasche und zog einen etwas zerdrückten Muffin heraus, den er aus dem Kühlraum der Kuchensuite gemopst hatte.
»Lecker!«, sagte Remi. Er stellte die blaue Kiste ab und schob den Deckel auf. Dann brach er den Kuchen in zwei Teile, während sie sich setzten und in die Kiste starrten.
»Dieser Merganzer war ein bisschen plemplem«, sagte Remi und reichte Leo eine Kuchenhälfte. Beide Jungen waren halb verhungert und jeder verschlang sein Stück mit einem Bissen.
»Du hast ja keine Ahnung«, versuchte Leo zu sagen, aber es hörte sich an wie uuh haft ja cheine aaahnug, denn er redete ja mit vollem Mund. Das fand Remi urkomisch und fing zu lachen an, dann kugelte er sich prustend auf dem Boden herum. Leo wurde angesteckt, und beide lachten sich kaputt, was Jane Yancey leider draußen hören konnte. Sie marschierte davon, wild entschlossen, ihnen das Leben zur Qual zu machen, auch wenn sie selbst dabei umkam.
Als sich Leo und Remi wieder beruhigt hatten, sahen sie in die Kiste und stellten fest, dass darin die kunstvollste Anlage einer Modelleisenbahn war, die sie je gesehen hatten. Sanfte Hügel, Tunnel, Bäume, Bauernhöfe. Die Lokomotive war so klein wie Leos Daumen und zog zwei silberne Waggons.
»Pass mal auf«, sagte Remi. Er griff hinein und drückte auf einen kleinen Hebel und der Zug begann zu fahren. Leo hätte das gerne als Erster entdeckt, aber der Anblick der Miniatureisenbahn, die durch die Kiste fuhr, war so faszinierend, dass er einfach nicht böse sein konnte.
»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Remi, während der Zug ständig im Kreis fuhr.
»Das können wir nur auf eine Art herausfinden«, sagte Leo. Er stand auf und sah sich in der Central Park-Suite um. »Wir müssen die Eisenbahn finden und einsteigen.«
Remi lächelte. Er hatte noch Zuckerguss zwischen den Zähnen. Wieder fingen beide Jungen zu lachen an. Dann machten sie sich auf.
Irgendwo in der Central Park-Suite war ein Pfeil verborgen und der würde nicht leicht zu finden sein.