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Dienstag, 13. April, 9.45 Uhr
ABN Gebäude
Madison Avenue, New York

 

 

»Guten Morgen, Miss Meena. Das Übliche?« Abdullah, der Mann in dem verglasten Kaffeestand vor ihrem Bürogebäude, schaute sie fragend an, als sie an der Reihe war.

»Guten Morgen, Abdullah«, sagte Meena. »Nein, heute besser einen großen. Ich habe eine lange Sitzung vor mir. Und Sie brauchen heute den Bagel nicht zu toasten. Ich bin sowieso schon ziemlich spät dran.«

Abdullah nickte und machte sich an die Arbeit. Meena musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen. Sie konnte sehen, dass er wegen seines Blutdrucks immer noch nicht beim Arzt gewesen war, obwohl sie in der Woche zuvor mit ihm darüber geredet hatte.

Im Ernst, eines Tages bekam sie noch einen Schlaganfall, wenn die Leute ihr nicht endlich zuhörten.

Sie wusste, wie lästig es war, sich freizunehmen, um zum Arzt zu gehen. Aber wenn die Alternative war, dass man starb?

Vorausahnungen.

Außersinnliche Wahrnehmung.

Zauberei.

Es war ganz egal, wie man es nannte. In Meenas Augen war es als Fähigkeit völlig nutzlos.

War es etwa besonders hilfreich gewesen, als es ihr endlich gelungen war, ihren langjährigen Freund David davon zu überzeugen, dass er einen Gehirntumor hatte, den sie spüren konnte?

Klar, sie hatte David das Leben gerettet (wenn der Tumor später entdeckt worden wäre, wäre er inoperabel gewesen, hatten die Ärzte gesagt).

Aber direkt nach seiner Genesung hatte David Meena für eine seiner kecken Krankenschwestern verlassen. Brianna mache Menschen gesund, die krank seien, hatte er gesagt. Sie sei kein Freak, der ihnen sagte, sie würden sterben.

Was also hatte Meena davon gehabt, dass sie David gerettet hatte? Nichts als Kummer.

Und die Hälfte der Hypothek für die Wohnung, die sie zusammen gekauft hatten. Sie schuldete ihm das Geld noch, das er unbedingt zurückhaben wollte.

David und Brianna kauften nämlich gerade ihr erstes gemeinsames Haus. Und sie erwarteten ein Baby.

Natürlich.

Aus dieser Erfahrung – und den anderen davor – hatte Meena gelernt, dass niemand wissen wollte, wie und wann er sterben würde.

Außer ihrer besten Freundin Leisha natürlich, die Meena immer zuhörte … seit der neunten Klasse, als Rob Pace sie gefragt hatte, ob sie mit ihm zum Aerosmith-Konzert ginge. Meena hatte ihr gesagt, sie solle nicht mitgehen, und deshalb hatte Rob Angie Harwood mitgenommen.

Und so wurde Angie Harwood, und nicht Leisha, geköpft, als das Rad eines Traktoranhängers sich löste und auf Robs Camaro landete, der gerade auf dem Heimweg vom Konzert war.

Als Meena am Morgen nach dem Unfall davon erfuhr (wie durch ein Wunder war Rob mit einem gebrochenen Schlüsselbein davongekommen), hatte sie prompt ihr Frühstück erbrochen.

Warum war ihr nicht klar gewesen, dass sie ein anderes Mädchen dem sicheren Tod ausgeliefert hatte, indem sie ihrer Freundin das Leben rettete? Sie hätte auch Angie warnen und alles tun sollen, um Rob davon abzuhalten, an jenem Abend zu dem Konzert zu fahren.

Damals hatte sie sich geschworen, dass sie so etwas nie wieder zulassen würde. Nicht, wenn sie es verhindern konnte.

Es war kein Wunder, dass die Highschool für Meena die reinste Quälerei gewesen war.

Und so machte sie Karriere als Drehbuchautorin fürs Fernsehen. Echte Teenager mochten vielleicht nicht so gerne mit der Todesprophetin zu tun haben wollen, aber die Leute in den Soap Operas, die ihre Mutter sich gerne anschaute – Eternity war eine ihrer Lieblingssendungen –, waren immer freundlich zu ihr.

Und als die Geschichten in den Soaps, die ihr gefielen, sich nicht so entwickelten, wie sie es wollte, begann Meena, ihre eigenen Drehbücher zu schreiben.

Überraschenderweise zahlte dieses Hobby sich aus. Jedenfalls wurde Meena Dialogschreiberin für die zweitbeliebteste Soap in Amerika. Sie wusste, dass sie einen Traumjob hatte, für den Millionen von Menschen töten würden …

Und was ihre »Gabe« betraf, hätte ihr Leben noch viel, viel schlimmer sein können. Man brauchte sich ja nur zu überlegen, was mit Johanna von Orléans passiert war. Oder mit Cassandra, der Tochter des trojanischen Königs Priamus. Auch sie war eine Prophetin gewesen. Und weil sie die Liebe eines Gottes nicht erwidert hatte, hatte der Gott diese Gabe in einen Fluch verwandelt, so dass Cassandras Prophezeiungen nie geglaubt wurden, obwohl sie wahr waren.

Meena glaubte auch kaum jemand. Aber deswegen gab sie noch lange nicht auf. Sie versuchte es immer weiter. Mit Mädchen, denen sie in der Subway begegnete. Und mit Abdullah. Sie würde ihn schon noch zum Arzt bekommen.

Es war nur schade, dass sie ihre eigene Zukunft nicht voraussehen konnte.

Bis jetzt jedenfalls. Allerdings wusste sie eines: Wenn sie noch später zur Arbeit kam, würde sie jede Chance verlieren, Sy von ihrer Fassung der Story zu überzeugen.

Und die Beförderung zum Head-Autor konnte sie sich dann an den Hut stecken. Um das zu wissen, brauchte sie keine Wahrsagerin zu sein.

Eternity
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