Siebtes Kapitel
Judes Hände umklammerten das Lenkrad. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
Obwohl er ruhig sprach, verspannten sich Erins Schultern. »Es ist die richtige Stelle.«
Sie hatte diesen Straßenabschnitt deutlich gesehen – diese Bäume und die umgeknickte Kiefer.
Das war die Stelle.
»Wie lange hast du schon solche Träume?«
Erin zögerte. »Seit fast siebzehn Jahren, aber ich … ich habe sie nicht oft.« Hätte sie jede Nacht solche Visionen, würde sie durchdrehen. »Ich habe sie nur, wenn ich … wenn ich jemanden kenne …« Sie musste mit der betreffenden Person nicht vertraut sein, lediglich in irgendeiner Form mit ihr zu tun haben. Die Träume handelten ausschließlich von Leuten, die sie emotional berührt hatten, ob im positiven oder negativen Sinne.
Sobald sie emotional auf jemanden reagierte, rastete eine Verbindung zu demjenigen ein, oder wie immer man das nennen wollte. Und wenn diese Menschen sich dem Tode näherten, kamen Erins Träume.
Ihr Dad hatte ihr gesagt, es wäre eine Gabe, die einst die Götter seiner Familie verliehen und die seither von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Eine Gabe? Wohl eher ein Fluch.
Ihre Träume hatten ihn jedenfalls nicht retten können.
»Also wenn du jemanden kennst und der …«
»Er muss im Sterben liegen.« Damit die Träume kamen, mussten sie den Todesgruß vernommen haben.
»Hmm.«
Sie stutzte, denn sie hatte keine Ahnung, was dieser Laut heißen sollte. Ich hab ihm doch gesagt, dass ich beschädigt bin. Und dieser Todestraumirrsinn ist bloß die Spitze des Eisbergs.
Sie spürte, dass er sie fragend, abwägend ansah.
Darüber konnte sie sich jetzt keine Gedanken machen, nicht wenn … »Halt!«
Er trat auf die Bremse.
Erin stieß die Tür auf und sprang aus dem Truck. Das hier war die Stelle in ihrer Vision, kein Zweifel. Ihr Körper summte vor Energie. Hier!
»Erin, warte!« Die Reifen knirschten, als Jude den Wagen an den Straßenrand lenkte. Dann knallte eine Autotür.
Erin schaute sich um. Es hatte die ganze Nacht geschüttet, so dass alle Spuren längst weggewaschen sein dürften.
»Scheiße!«
Jude entdeckte es als Erster. Kein Wunder, denn seine Wahrnehmung war sehr viel besser als ihre.
Drei Meter weiter, dann direkt über die Kante.
Gleichzeitig liefen sie los und direkt den Abhang hinunter.
Der Schlamm sog schlürfend und quatschend an ihren Turnschuhen, als wollte er sie verschlingen, aber Erin stürmte weiter durch den aufwabernden Dunst. Inzwischen konnte sie das Auto sehen.
Unmöglich kann er noch am Leben sein.
Der Wagen war zerbeult und eingedellt, als hätten ihn Riesenpranken zusammengedrückt und weggeworfen.
In der Ferne waren Sirenen zu hören. Hilfe kam. Es musste der Rettungswagen sein, den sie angerufen hatte, bevor sie das Haus verließen, und er näherte sich schnell.
Jude erreichte das Wrack kurz vor ihr. Das Fenster war zerborsten, und drinnen sah Erin den blutüberströmten Lee.
»Lee!« Er rührte sich nicht.
»Er atmet«, sagte Jude. »Aber ich weiß nicht, wie lange noch.« Er packte den Türrahmen und riss.
Die Tür brach heraus und fiel zu Boden.
Erin krabbelte in den Wagen. »Lee! Es ist alles okay. Hilfe ist unterwegs!« Er lebt noch. Endlich war sie rechtzeitig.
Lee zuckte und stöhnte.
»Alles ist okay«, wiederholte sie. Stimmen wehten über sie hinweg. Die Sanitäter. Sie kamen den Hang hinuntergelaufen und hatten ebenfalls Mühe mit dem tiefen Schlamm. Aber sie würde ihn aus dem Wagen holen und ihn retten. Sie konnte die Blutungen stoppen.
Denn sein Hemd war vollständig durchtränkt.
Das war zu viel Blut. Es rann ihm aus einer großen Platzwunde übers Gesicht.
Erin schluckte. »Es wird wieder, Lee«, log sie.
Er öffnete die Augen. »T-Tommy?«, murmelte er schwach.
»Was?« Erin strengte sich an, ruhig zu bleiben. »Lee, wer …«
»Ich liebe dich, S-Sohn …« Dann fielen ihm die Augen wieder zu und er atmete leise pfeifend aus.
»Lee? Lee!«
»Sein Herz schlägt nicht mehr«, raunte Jude, der zurücktrat und brüllte: »Bewegt eure Ärsche hierher, sofort! Der Mann braucht Hilfe!«
»Lee?«, flüsterte sie.
Dann legten sich Judes Arme um sie und zogen sie vom Wagen weg. Eine Frau in blauer Rettungssanitäterkleidung drängte sich an ihr vorbei, dicht gefolgt von zwei Männern.
Doch Lee bewegte sich nicht.
Er atmete nicht.
Zu spät.
Wieder einmal.
Das war die Geschichte ihres Lebens – und die von Lees Tod.
Erin beobachtete, wie sich die wirbelnden roten Lichter entfernten. Die Rettungsleute hatten Lees Herz wieder zum Schlagen gebracht, schätzten seine Überlebenschancen allerdings nicht sehr hoch ein.
»Woher in aller Welt wusstet ihr zwei überhaupt, dass er da unten war?«, fragte Antonio. Er war vor knapp zehn Minuten hier angekommen.
Erin schüttelte den Kopf. Der Krankenwagen verschwand hinter der Biegung. »Wir … sahen den Wagen, als wir hier vorbeikamen.« Sie hatte den Notruf vom Handy aus gewählt, folglich konnte Antonio ihr nicht beweisen, dass ihre Geschichte falsch war. Vorausgesetzt natürlich Jude deckte sie.
»Mhm«, machte Antonio. »Und ihr beide hattet beschlossen, um diese nachtschlafene Zeit ein bisschen hier draußen herumzufahren?«
»Ja, so in etwa«, murmelte Jude.
Danke! Er erzählte Antonio nichts von ihrem Traum. Sehr gut. Je weniger Leute es wussten, umso besser.
Wann werde ich sterben, Erin? Du weißt das doch, oder? Du kannst alles sehen.
Wann werde ich sterben? Als sie bei der Familie ihrer Mutter lebte, war sie eine wandelnde Freak-Show gewesen.
Die Stimmen aus ihrer Vergangenheit sollten dringend lernen, wann sie die Klappe zu halten hatten.
»Ähm …« Antonio rieb sich das Kinn. »Diese verdammten Haarnadelkurven hier! Bei denen sind Katastrophen quasi vorprogrammiert, vor allem wenn es so gießt wie letzte Nacht.«
Erin verkrampfte sich. Nein, das stimmte nicht.
Beschädigt.
Ihr Vater konnte alle erdenklichen Todesarten sehen: die sanften, die im Schlaf kamen, die tränenreichen letzten Momente umgeben von Verwandten und Freunden.
Sie nicht.
Erin sah ausschließlich gewaltsame Tode, die durch andere herbeigeführt wurden. Blutdurchtränkte.
Morde.
»Sie sollten lieber die Unfallstelle überprüfen.« Das war kein Unfall, sonst hätte sie nicht hiervon geträumt.
»Wieso? Was wissen Sie, was ich nicht weiß, Jerome?«
Sie hielt seinem Blick stand. »Überprüfen Sie einfach die Unfallstelle.« Falls sie Recht hatte, und Erin wusste, dass sie Recht hatte, musste es Spuren geben, zum Beispiel Bremsspuren auf der Straße, Lackspuren von einem anderen Wagen an Lees Auto. Irgendwas.
Lee war von der Straße abgedrängt worden, und dann ließ man ihn hier liegen, damit er allein starb.
Es war kein Unfall, kein böser Schicksalsschlag.
Dies hier geschah absichtlich. Es war ein kaltblütiger Mord.
Der Mann hatte Feinde, wie jeder wusste. Doch Antonio musste herauskriegen, wer den Anwalt genügend hasste, um ihn zu ermorden.
Antonio zog eine dunkle Braue hoch. »Man erzählt sich, dass Sie und der gute Lee gestern vor Richterin Went einen heftigen Streit hatten.«
In dieser Stadt sprach sich alles zu schnell herum. »Wir sind Anwälte. Es ist unser Job, dass wir streiten.«
»Na ja …«
Was sollte das jetzt heißen?
»Mir kam es bloß komisch vor. Erst endet der Perverse, hinter dem Sie her sind, zerschlitzt und grinsend, und jetzt liegt der Anwalt, der Sie geärgert hat, in den letzten Zügen.«
Ihr stockte der Atem. »Denken Sie, ich habe was damit zu tun?«
»Sie war mit mir zusammen«, sagte Jude finster. »Die ganze Nacht.«
Antonios Augen weiteten sich kaum merklich. Er wirkte kein bisschen verlegen, eher beeindruckt, und musterte sie. »Ach so, ja? Jäger, du bist echt schnell.«
Erin spürte, wie sie knallrot wurde. »Sie sind ein Arsch, Antonio.«
»Tja, ich muss Fragen stellen, Ma’am, vor allem nach dem Bericht, der auf meinem Schreibtisch landete, unmittelbar bevor ich von diesem Unfall informiert wurde.«
Jude machte einen Schritt auf ihn zu. »Geht es um das Blut an der Wand?«
»Mhm. Es gibt eine Übereinstimmung, genau wie du dachtest.«
Erin blickte von einem Mann zum anderen und wieder zurück. »Eine Übereinstimmung?« Das war gar nicht gut, wie Erin auch ohne die eiserne Faust begriff, die sich in ihrem Magen bildete. Verdammter Mist!
»Das Blut an der Wand gehörte Bobby Burrows.«
Sie schloss die Augen.
»Also, wieso sollte dieser Stalker – Sie sagten ja, dass es ein Stalker war – den alten Bobby umbringen und dessen Blut anschließend auf Ihrer Wand und dem hübschen Dielenboden verteilen?«
»Weil er ein kranker Irrer ist!« Und Bobby war sein Geschenk an mich.
Sie hatte schon hinreichend Geschenke von ihm erhalten, um seine Handschrift zu erkennen. Machte jemand sie wütend oder verletzte sie, schritt er ein.
Ich beschütze dich, ohne dass du es weißt.
Erin wurde schlecht. Sie hatte mit Lee gestritten, was sie nicht leugnen würde. War der perverse Stalker in der Nähe gewesen, hatte alles beobachtet, ohne dass sie es auch nur ahnte?
Und war er hinter Lee hergefahren? Ihretwegen?
»Es muss einen Grund geben, weshalb der Kerl Bobby umgebracht hat«, fuhr Antonio fort. »Solche Taten sind nie willkürlich.«
Nein, waren sie nicht. Erin öffnete die Augen und stellte fest, dass der Captain sie ansah.
Er betrachtete sie sogar sehr aufmerksam.
»Fällt Ihnen vielleicht ein Grund ein, Jerome?«
Sie öffnete den Mund, ohne einen Mucks von sich zu geben.
»Das reicht, Tony«, sagte Jude, der noch näher an Antonio herantrat. »Dies ist wohl kaum der geeignete Zeitpunkt. Ich komme später aufs Revier, sehe mir den Bericht an und …«
»Lieber möchte ich ihre Geschichte hören«, fiel Antonio ihm ins Wort. »Hier läuft ein Killer frei herum, Frau Staatsanwältin, und der scheint für Sie zu töten.«
Ja, und nicht zum ersten Mal.
»Gibt es sonst noch etwas zu dem Fall, das Sie mir erzählen können?«
Nun sah auch Jude sie an.
Erin schüttelte den Kopf. Die anderen Cops, die zwischenzeitlich eingetroffen waren, beäugten sie neugierig, und sollte das mit Bobbys Blut zur Presse durchsickern, was es würde, konnte sie sich von ihrem neuen Leben verabschieden.
Dabei waren gerade erst alle Kartons ausgepackt.
Er hatte sie viel zu schnell gefunden.
Oder aber er hatte sie nie verloren. Erin bekam eine Gänsehaut.
Antonio verengte misstrauisch die Augen. »Ich will alles über diesen Mistkerl wissen, verstanden?«
»Jetzt krieg dich ein, Tony!«, fuhr Jude ihn an. »Das müssen wir nicht hier besprechen. Wir kommen beide zu dir ins Büro.«
Momentan hatten sie entschieden zu viel Publikum.
Antonio nickte kurz, machte auf dem Absatz kehrt und rief seinen Uniformierten zu: »Durchkämmt alles hier! Ich will jeden Millimeter überprüft haben.«
Nach einem Moment wandte Jude sich wieder zu Erin. »Noch mehr Geheimnisse, was, Süße?«
Es brach ihr fast das Herz, doch sie reckte trotzig ihr Kinn. »Wir wissen nicht mit Sicherheit, dass der Kerl, der hinter mir her ist, mit Lees Unfall zu tun hat.« Auch wenn ihr Instinkt ihr sagte, dass er hatte. »Lee ist Strafverteidiger. Opfer, Kriminelle, viele könnten was gegen ihn haben.«
»Genug, dass sie ihn umbringen wollen?«
Vielleicht.
Oder ihr Romeo war dort draußen und grinste sich eins. »Verschwinden wir von hier.« Sie wollte weg von den Cops und dem Autowrack. Sie drehte sich um und stapfte los, ohne auf Jude zu warten.
»Erin! Erin, verdammt!« Er kam ihr nach, packte sie und riss sie herum, so dass sie ihn ansehen musste. »Warte.«
Wütend, weil er sie zu dicht an sich hielt, starrte sie zu ihm auf. »Jetzt nicht, Jäger.«
»Ja, das sagst du dauernd.« Seine Nase rieb fast an ihrer. »Kleine Kurzmeldung, Süße, das Arschloch, das hinter dir her ist, hat einen Mann ermordet. Das ist kein Spiel!«
»Ich hielt es auch nie für eines!«
»Ich bringe das Schwein zur Strecke, aber du musst mir alles erzählen, was du über ihn weißt, alles, was dir seinetwegen passiert ist.«
Erin atmete langsam aus. Ihr war klar, dass sie keine andere Wahl hatte. »Okay.«
Wie würde er sie ansehen, wenn er die Wahrheit erfuhr?
Wenigstens hatte ich eine Nacht mit ihm.
Eine wilde Nacht.
Wie viele Geheimnisse schleppte die Frau eigentlich mit sich herum?
Jude saß an seinem Schreibtisch und sah blind auf den Computermonitor vor sich.
Erin.
Die Frau war Feuer in seinen Händen, das Heißeste, Schärfste, was er je im Bett erlebt hatte.
Und sie war gefährlich. So gefährlich.
Denn sie hatte ihn belogen.
Die Frau hatte einen durchgeknallten Killer auf den Fersen, den die Cops weder schnappen noch aufhalten konnten, also, ja, sie hatte allen Grund, ein bisschen schreckhaft zu sein.
Aber da war noch mehr. Eindeutig.
»Du hast also letzte Nacht bei deiner Freundin geschlafen, was?«, fragte Zane, der in Judes Büro geschlendert kam. Zane machte es sich sofort bequem, denn Grenzen existierten für ihn im Grunde nicht.
Jude rieb sich knurrend über die müden Augen. Er war am Unfallort geblieben, um den Uniformierten und den Spurensicherern auf die Finger zu gucken, und tatsächlich hatten sie schwarze Lackspuren an Lee Givens‘ Wagen gefunden.
Er war von der Straße abgedrängt worden. Kein Zweifel.
Aber wie hing das mit Erin zusammen?
»Kann ich dir nicht verdenken.« Zane verschränkte die Arme und lehnte sich in den Fensterrahmen. »Die Frau ist echt scharf.«
Jude nahm eine Hand herunter. »Hör auf.« Ein Fauchen stieg ihm in die Kehle. Zane spielte unbeschwert mit den Frauen in der Stadt, den menschlichen wie den anderen.
Erin jedoch war tabu für ihn.
»Uuuh, ein wunder Punkt, was?« Zane grinste.
Jude überlegte, dem Dämon die Faust ins Gesicht zu knallen. Nicht dass er ihm damit dauerhaften Schaden zufügen könnte, aber er würde sich definitiv besser fühlen, könnte er Zane das Grinsen aus dem Gesicht klatschen.
»Hast du rausbekommen, was genau sie ist?«
Eine Frau. Das war sie. Zane war ein guter Jäger, aber er konnte auch ein Idiot erster Güte sein.
»Ich denke, ich fahre nachher beim Gericht vorbei und sehe sie mir mal näher an.« Zane nickte. »Da werde ich schon sehen, was sie ist.«
Ja, Jude wollte wetten, dass er sie sich sehr viel näher ansehen würde. »Sie benutzt keinen Blendzauber.« Ein Blendzauber war die Magie, mit der Dämonen ihr wahres Aussehen vor der Welt verbargen.
Eigentlich sahen Dämonen ziemlich menschlich aus. Der einzige äußere Unterschied waren gewöhnlich die Augen, denn Dämonenaugen waren vollständig schwarz. Bei Dämonen war der Ratschlag, »erst schießen, wenn ihr das Weiße in den Augen sehen könnt«, mithin eher kontraproduktiv.
In ihren Augen gab es nichts als Finsternis, die sie mit dem Blendzauber überspielten, so dass sie sich nahtlos in die Menge einfügten.
Den uralten Dämonen sagte man allerdings noch ein paar andere, offensichtliche Merkmale nach. Aber Jude war nie einem der gehörnten Kerle mit Schwanz begegnet, von denen manche des Nachts tuschelten. Also existierten sie wohl nicht.
Andererseits konnte man das in dieser Welt nie wissen.
»Du hast immer noch keine Peilung, Donovan, also lass mich nachgucken«, sagte Zane achselzuckend. »Ich erkenne es garantiert.«
Erin war eine Hybride. So viel wusste er. Sie hatte gesagt, ihr Vater wäre ein Hellseher gewesen – kein Dämon, bloß hellsehend.
Aber sie hatte gelogen, denn Schatten hatten sich über ihre goldenen Augen gelegt.
Heute Nacht würde er die Wahrheit von ihr erfahren.
»Hast du schon irgendwas über ihren Hintergrund?«, fragte er den Dämon.
Das Grinsen schwand. »Du weißt, wie ich solche Kleinkramarbeiten hasse.«
Richtig. Zane war am liebsten draußen auf der Straße, wo er allen in den Hintern trat, die es verdienten. »Ja, aber ich bin ranghöher als du.« Das Leben konnte wahrlich mies sein.
»Idiot.« Zane schüttelte den Kopf. »Ihre Mom hat sie im Stich gelassen, als sie fünfzehn war. Hat sie bei ihrem Vater vor der Tür abgestellt und ist auf und davon.«
Jude merkte auf. Erin wurde verlassen? Das passte nicht zu Gestaltwandlern. Sogar die verfluchten Kojoten behielten ihre Kleinen in der Nähe.
Wieso sollte ihre Mutter sie verlassen?
Mit fünfzehn. Mitten in der Pubertät, der Zeit der ersten Wandlung.
»Ihr Dad nahm sie auf, aber er starb in ihrem ersten Collegejahr.«
So viel zu herben Schicksalsschlägen. Ein Elternteil verließ sie, den anderen nahm ihr der Tod. »Sonstige Verwandte?«
»Nicht, dass ich wüsste. Es könnte welche auf der mütterlichen Seite geben.«
Jude trommelte mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. »Spür die Mom auf und sieh, was du über sie in Erfahrung bringst.« Eine Gestaltwandlermutter? Und ein Gestaltwandler-Stalker. Die Spur musste er weiterverfolgen.
»Mach ich.«
»Wo ist Dee?«, fragte Jude, denn er hatte sie den ganzen Vormittag noch nicht gesehen.
»Pak hat sie zu einem Vampirfall gerufen.« Zane blickte auf seine Uhr. »Ich tippe, dass sie gerade irgendeinem armen Unsterblichenidioten die Rübe absäbelt.«
Wahrscheinlich. Dee liebte ihren Job. Und wenn sie tagsüber jagte, war sie im Vorteil gegenüber der Beute.
Am Tage waren Vampire schwach, fast menschlich.
Wie Dee stets sagte, machte diese Schwäche das Kräfteverhältnis ausgewogener. Dabei war Jude überzeugt, dass Dee Vampire ebenso leicht zur Strecke brächte, wären sie bei vollen Kräften. Sie besaß schlicht das nötige Talent.
Jude stand auf. Es war Zeit, dass er ein bisschen jagte. Dee sollte schließlich nicht den ganzen Spaß für sich haben.
»Wohin willst du?«, fragte Zane, der sich gleichfalls aufrichtete.
»Ich gehe an ein paar Käfigen rütteln.« Und warte ab, was bei der Gelegenheit so rausplumpst.
Wenn Jude wollte, konnte er den netten Burschen mimen. Aber auch nur mimen.
Und er konnte richtig mies sein.
Mit dem Unterarm an Michael McQueens Kehle, drückte er seine Beute an die Wand. »Versuchen wir’s nochmal, Mickey«, sagte er lächelnd und zeigte dem Hyänen-Wandler seine Zähne. »Ich suche den neuen Gestaltwandler in der Stadt.«
Mickey spuckte ihn an.
Ach, ganz falsch! Jude schleuderte den Idioten quer durch den Raum und wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken. »Willst du mich sauer machen?«
»Mich lochst du nicht ein!« Mickey sprang auf die Füße. Ein flinker kleiner Mistkerl.
»Doch, tue ich.« Mickey wurde gern mal etwas grob bei seinen Freundinnen, und er ließ sich grundsätzlich mit menschlichen ein. Offenbar machte es ihm mehr Spaß, sie grün und blau zu prügeln, als es mit einer aufzunehmen, die genauso stark war wie er. »Aber ehe ich deinen Arsch in den Knast schleife, beantwortest du mir meine Fragen.«
Mickeys blutunterlaufene Augen blickten zur Tür. Er stank nach Alkohol, nach Tequila, der in Wellen von ihm ausstrahlte. Es war kaum ein Uhr mittags, und Jude hatte ihn in Delaneys Bar gefunden, wo sich der Wandler ein Glas nach dem anderen reinkippte.
Delaneys war oberflächlich eine Kneipe wie jede andere, doch die Besitzerin war eine echte Hexe.
Mickey griff sich einen Tisch und warf ihn nach Jude. Der wich fluchend zur Seite und fuhr seine Krallen aus.
»Hey! Ihr Idioten bezahlt mir alles, was ihr hier zerdeppert!«, rief Catalina wütend.
Klar doch. Viel wäre es ohnehin nicht, denn Jude wollte sich vor allem die Hyänenfratze vornehmen.
Mickey schrie schrill und hoch, während er einen zweiten Tisch hochhob.
Jude machte einen Satz durch den Raum und schlug Mickey den Tisch aus den Händen. Dann stieß er den Kerl an die Wand und hielt ihn dort mit seiner Pranke fest.
Noch ein verzweifelter Schrei ertönte, bei dem Jude die Ohren klingelten. Verfluchte Hyänen! Diese Stimmen waren eine Zumutung.
Jude drehte seine Krallen ein wenig, und Mickey wimmerte. »Wer ist der neue Gestaltwandler, Mickey?« Der Typ war Abschaum, aber er wusste alles über die Wandlergeschäfte, die in der Stadt liefen. Hyänen und Füchse waren immer auf dem Laufenden, schnappten jeden Klatsch, jedes Flüstern auf.
Mickey schüttelte den Kopf. »Kein … neuer Wandler.«
Das war nicht die Antwort, die Jude wollte. Er seufzte. »Ach, Mickey, wieso müssen wir das auf die harte Tour durchziehen?«
Die Hyäne zuckte, und ein zarter, vertrauter Duft neckte Judes Nase.
Nein, ausgeschlossen. Sie konnte nicht hier sein. Auf keinen Fall.
Aber dieser Duft machte ihn hart.
Sie musste es sein.
»Jude?«
Oh Mann, es gab schlechtes Timing, und es gab grottenschlechtes!
»Jude, was machst du denn?«
Ziemlich genau das, wonach es aussieht. Ich fixiere meine Beute.
»Hilfe!«, brüllte Mickey der Schwachkopf. »Dieser Irre will mich um…«
Jude drehte seine Krallen wieder, und die letzten Silben der Hyäne wurden erstickt.
Absätze klackerten über den Holzboden. »Du bist in einer öffentlichen Bar, da kannst du nicht einfach …«
Genervt blickte er sich zu Erin um: gerötetes Gesicht, kussrote Lippen und ein Bist-du-bekloppt-Ausdruck in den Augen. »Bleib cool. Die Tussi hinterm Tresen ist eine Hexe, der Idiot da hinten, der im Halbdämmer, ist ein Zauberer, und dieser Wichser hier ist ein …«
»Gestaltwandler«, hauchte sie, wobei ihre Nasenflügel kaum merklich zitterten.
Natürlich erkannte sie es. Gleich und gleich.
Mickey jammerte und bemühte sich, Mitleid zu erregen. Eines musste Jude ihm lassen: Er sah wirklich bedauernswert aus. Aber das tat er immer.
»Das kannst du nicht machen«, sagte Erin leise. Vielleicht kaufte sie ihm die Die-Bedienung-ist-eine-Hexe-Geschichte nicht ab. »Egal, was er ist, du kannst nicht einfach …«
Ein Knurren regte sich in seinem Brustkorb. Der aromatische Geruch von Mickeys Blut reizte ihn. Womöglich war es angebracht, Erin begreiflich zu machen, mit wem, vielmehr mit was sie es zu tun hatte.
Und nachts schläft.
»Ich bin kein Cop, Süße. Deren Regeln gelten nicht für mich.« Und was wollte sie überhaupt in dieser Spelunke? Delaneys war nicht unbedingt der angesagte Laden. Eher eine Art Paranormalenclub.
Catalinas Magie hielt die Menschen draußen. Sie wussten nicht, warum, aber sie gingen grundsätzlich an dem Gebäude mit der verwaschenen blauen Fassade und den weißen Glasflügeltüren in der Louis Street vorbei.
»Ma’am!«, quiekte Mickey. »Sie müssen mir helfen! Dieser Scheißtyp ist wahnsinnig. Sie müssen …«
Jude hörte, wie Erin Luft holte. »Mickey McQueen.«
Die Hyäne blinzelte.
»Gegen Sie laufen drei Verfahren wegen tätlichen Angriffs und schwerer Körperverletzung.«
Ja, und Jude würde bald die Kaution dafür kassieren. »Ich will den Namen, Mickey«, brüllte Jude über Erins Worte hinweg. Er brauchte seine Antwort, ehe Erin den Kerl ins Gefängnis verfrachten ließ.
Mickey schüttelte panisch den Kopf. »M-Ma’am …«
»Wie du willst.« Das Brennen seiner sich verlängernden Zähne füllte Judes Mund aus. Er blickte auf Mickeys Hals, wo der Puls flatterte – schneller und schneller. Dann neigte Jude den Kopf, entblößte seine Zähne und schmeckte fast …
»Keine neuen Wandler! Gar keiner!«, schrie Mickey voller Angst. Mickey, der so genüsslich Schmerzen bereitete, war nicht sonderlich gut darin, selbst welche auszuhalten.
Jude verharrte. Das kleine Arschloch musste die Wahrheit sagen. Mickey war noch nie gut darin gewesen, etwas vorzuspielen.
Keine neuen Wandler. Aber ein neuer war direkt neben ihm, wieso schnallte Mickey das nicht?
Erin packte Judes Schulter, riss ihn zurück und schleuderte ihn beiseite, dass er gegen einen Tisch krachte.
Das Holz gab nach, krachte unter ihm ein und ließ ihn auf dem Hintern landen. Unsanft.
»Den bezahlt ihr mir auch«, sagte Catalina. Es war mehr eine Feststellung, denn sie klang nicht, als würde sie das Chaos ernsthaft kümmern.
Dann trat Stille ein.
Jude sah zu Erin, die nicht einmal schwerer atmete.
»Nicht schlecht.« Diese beeindruckten Worte kamen von – auch das noch – Zane. Er stand in der offenen Tür, die Hände in die Hüften gestemmt, und beobachtete Erin mit geschürzten Lippen.
Tja, wenigstens wusste er jetzt, warum Erin im Delaneys aufgekreuzt war.
Mickey rannte zur Tür, seine Krallen ausgefahren, als er auf Zane zustürzte.
Der Dämon verpasste ihm einen beachtlichen Haken, und Mickey ging zu Boden, wo er mit einem zittrigen Pusten das Bewusstsein verlor.
Problem gelöst.
Jude rappelte sich hoch und blickte zur sichtlich wütenden Erin. »Du kannst nicht einfach einen Verdächtigen angreifen!«, schimpfte sie.
Mit wenigen Schritten war er bei ihr, ergriff eine ihrer trügerisch zarten Hände und küsste sie. Die Frau hatte ihn eben drei Meter weit geworfen, das machte ihn scharf. Sie war sexy, stark und hatte diese dunkelgoldenen Augen. Mit anderen Worten: Sie war vollkommen.
Beschädigt? Wohl kaum!
Der Tiger in ihm leckte sich bereits die Lefzen.
»Mickey ist schuldig in jedem Sinne der Anklage«, erwiderte er. »Wie wir beide wissen.«
»Ja, ist er«, pflichtete Zane ihm bei, der über den ausgeknockten Gestaltwandler stieg und seine Schultern streckte. Er musterte Erin von oben bis unten, wobei sein Blick ein bisschen zu lange bei ihren Brüsten pausierte, was Jude nicht gut aufnahm.
Erin indes ignorierte den Dämon und achtete nur auf Jude. »Es gibt Gesetze, klar?«
»Menschliche Gesetze sind nicht immer auf uns anwendbar.« Wie sie eigentlich wissen sollte.
»Du wolltest ihm an die Gurgel!«
Und sie hatte den Abschaum beschützt. Mickey war ihr einiges schuldig. »Ich hätte nicht zugebissen, Süße.« Er ließ ihre Hand los, bedauerte allerdings sogleich, sie nicht mehr zu fühlen. Aber Zane beobachtete sie. Und Catalina, die vorgab, ein Glas zu spülen, bekam ebenfalls alles mit. »Ich wollte ihm lediglich ein paar Informationen entlocken.« So arbeitete er nun mal. Er würde sich sicher nicht entschuldigen, weil er die Hyäne bedrohte. Es war ja nicht so, als gehörte Mickey zu den Guten. Oh nein.
Erin überkreuzte die Arme vor der Brust. »Mir schien deine Methode nicht besonders effektiv.«
Mag sein. Oder nicht. »Wieso konnte er dich nicht erkennen?«
Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Brauen. »Was?«
Jude sah wütend zu Zane, der noch näher kam.
Endlich drehte Erin sich zu dem anderen Jäger um.
»Eindrucksvoller Schwinger, junge Frau.« Zane lächelte. Dasselbe Anbaggergrinsen, das er jeder Frau schenkte, die ihm über den Weg lief, und das normalerweise sehr erfolgreich war. Die meisten lächelten zurück, gaben ihm ihre Telefonnummern, und einige schenkten ihm auch gleich ihren Slip.
»Sie!« Sie atmete hörbar aus. »Ich erkenne Ihre Stimme!« Kein Wunder, Gestaltwandler waren sehr gut darin, Tonlängen und Kadenzen in Stimmmustern zu erkennen. Das verdankten sie ihrem überdurchschnittlichen Gehör. »Sie sind der, der angerufen hat und sagte, ich soll hierherkommen.«
Klar, das dachte Jude sich schon. »Hattest du nicht vor, zum Gericht zu fahren?«, fragte er Zane scharf.
Der Dämon zuckte nur mit der Schulter. »Sie hatte heute keinen Verhandlungstermin. Da musste ich improvisieren.«
Improvisieren. Natürlich. Zane hatte sie direkt hinter ihm hergehetzt, damit Erin ihn zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt überraschte.
Nun ja, technisch gesehen hätte es schlimmer kommen können. Immerhin hatte Mickey noch geatmet.
»Sie haben behauptet, dass Jude mich braucht«, sagte Erin erbost. »Dass es dringend wäre, dass ich sofort in diese Spelunke kommen soll.«
»Wir sind die beste Bar in der ganzen Stadt«, murmelte Catalina.
Erin blinzelte.
»Er hat Sie gebraucht«, verteidigte Zane sich. »Haben Sie etwa nicht verhindert, dass unser Jude eine Grenze überschreitet? Fast hätte das wilde Tier in ihm angegriffen und getötet.«
Jude schwieg. Er hatte seine Bestie immer unter Kontrolle. Seit Jahren.
Denn einmal war der Tiger in ihm ausgebrochen, und manchmal hörte er die Schreie bis heute. Seine Beute war nicht sang- und klanglos erlegt gewesen.
Er schlich sich näher zu Erin.
Zanes Kopf war leicht nach rechts geneigt, und er blickte Erin direkt ins Gesicht. »Sie scheinen nicht besonders beunruhigt«, stellte er nachdenklich fest. »Ah, Sie haben das Tier schon gesehen, habe ich Recht, Miss Jerome?«
Sie sah kurz zu Jude.
»Und Sie hatten kein bisschen Angst, vermute ich.«
Nein, hatte sie nicht gehabt, als sie ihn in Tigergestalt sah. Erin war nicht einmal einen halben Schritt zurückgewichen. Nein, sie hatte nicht ängstlich ausgesehen. Sie wirkte eher …
Fasziniert.
Erregt.
Nicht im Mindesten wie eine Frau, die sich vor Gestaltwandlern fürchtete.
Und als er nach der Jagd zu ihr zurückkam, hatte sie eine Hundertachtzig-Grad-Wendung vollzogen und ihn verführt.
Von wegen »Finger weg von …«
Nein, definitiv Finger drauf.
Keine Angst.
Bedachte man, dass ihr ein richtig übler Gestaltwandler nachstellte, war ihr Verhalten ein wenig … überraschend gewesen, gelinde ausgedrückt.
»Ich fürchte mich nicht vor einer kleinen Katze«, sagte Erin leise.
Klein?
Zanes lautes Lachen hallte durch die Kneipe, und Jude wollte schwören, dass er Catalina nasal kichern hörte.
Der Dämon konnte gar nicht aufhören zu lachen. Dann, nach mehreren Atemzügen, japste er: »Tja, ich schätze, wenn ich die Kraft hätte, ihn quer durch einen Raum zu schmeißen, hätte ich auch keinen Schiss.«
Der Mann konnte Jude quer durch einen Raum schmeißen! Hatte er schon. Jude fielen mindestens drei Gelegenheiten ein, und zwei von ihnen waren hier im Delaneys gewesen. An manchen Abenden ging es hier recht wild zu.
Erin warf einen Blick auf Mickey. Die Hyäne war immer noch weggetreten. »Ich muss die Wache anrufen, dass eine Streife ihn abholt«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Ich … ich brauche …« Ihre Stimme klang belegt, als sie eine Hand hob und die Finger gegen ihre Schläfe presste. »Das … ahh…«
Jude erschrak und sah zu Zane. Das Dämonenlachen war fort, und Zane konzentrierte sich vollkommen auf Erin.
Mistkerl! Er hatte abgewartet, bis er sie in einem Moment erwischte, in dem sie nicht auf der Hut gewesen war.
Das richtig Üble bei Dämonen war deren hellseherische Kraft. Sie konnten sich direkt in das Denken von Menschen einschleichen.
Falls Erin zur Hälfte menschlich war, könnte Zane also …
»Raus mit dir!«, befahl Jude ihm wutbebend. Erins Kopf ruckte in Zanes Richtung, und sie bleckte ihre Zähne. Teuflisch scharfe Zähne.
Im nächsten Augenblick entfuhr Zane ein tiefer, schmerzerfüllter Schrei. Seine Lippen waren plötzlich weiß, und seine Knie knickten unter ihm ein. Ehe er mit dem Gesicht voran auf dem Boden aufschlug, war die Hexe bei ihm, die beide Arme fest um ihn schlang und ihn auffing.
Dann starrte Catalina ängstlich zu Erin.
Ach du Sch…