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Nord-Nepal
Trotz der extremen Kälte erwies ihnen ihre Ballongondel gute Dienste. Das mit Schnee bedeckte Dach schützte sie nicht nur vor dem Wind, sondern speicherte auch einen beträchtlichen Teil ihrer Körperwärme. Eingehüllt in den Fallschirm, ihre Parkas, Mützen und Handschuhe hatten sie einen, wenn auch gelegentlich gestörten, tiefen Schlaf, bis die Sonne, deren Strahlen durch die Lücken im Aluminiumdach drangen, sie weckte.
Obwohl sie ständig mit einem weiteren Besuch der Chinesen rechneten, wussten Sam und Remi, dass sie, um zu überleben, einen Weg aus diesem Tal finden mussten.
Sie kletterten aus der Gondel heraus und trafen Vorbereitungen für ein Frühstück. Aus dem Wrack des Bell hatten sie neun Teebeutel und eine halb zerrissene Packung Filet Stroganoff retten können. Aus dem Z-9 hatte Sam unwissentlich eine Packung Reiskräcker und drei Konservendosen mitgehen lassen, die, wie sie glaubten erraten zu können, gebackene Mungobohnen enthielten. Sie teilten sich eine solche Dose und eine Tasse Tee, den sie mit Wasser aufbrühten, das sie in der leeren Konservendose zum Sieden gebracht hatten.
Beide waren sich darin einig, dass dies eine der besten Mahlzeiten war, die sie je eingenommen hatten.
Sam trank den letzten Schluck Tee, dann sagte er: »Ich habe in der vergangenen Nacht nachgedacht …«
»Und im Schlaf gesprochen«, fügte Remi hinzu. »Du möchtest irgendetwas bauen.«
»Unsere mumifizierten Freunde in der Gondel sind per Heißluftballon hierhergekommen. Warum verlassen wir diesen Ort nicht auf dem gleichen Weg?« Remi öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Sam fuhr fort: »Nein, ich denke nicht daran, ihren Ballon wieder instand zu setzen. Ich meine eher so etwas wie einen …« Sam suchte nach dem richtigen Wort. »Frankenstein-Ballon.«
Remi nickte. »Einen Teil von deren Takelage, etwas von unserer …« Ihre Augen leuchteten auf. »Der Fallschirm!«
»Du liest meine Gedanken. Wenn wir ihn in Form bringen und dicht machen können, dann glaube ich, dass ich eine Möglichkeit weiß, wie man ihn füllen könnte. Alles, was wir brauchen, ist genug Auftrieb, um uns aus diesem Tal heraus und zu einer dieser Wiesen zu tragen, die wir im Süden gesehen haben – das wären höchstens acht oder neun Kilometer. Von dort sollten wir eigentlich zu Fuß ein Dorf erreichen können.«
»Aber es ist trotzdem ein ziemlich gewagtes Unternehmen.«
»Gewagte Unternehmen sind unsere Spezialität, Remi. Außerdem darfst du eine Tatsache nicht vergessen: Bei diesen Temperaturen würden wir höchstens noch fünf Tage durchhalten. Durchaus möglich, dass in diesem Zeitraum eine Rettungsmannschaft hierherfinden könnte, aber ich habe nie viel davon gehalten, mich an solche vagen Hoffnungen zu klammern.«
»Zudem dürfen wir die Chinesen nicht vergessen.«
»Genau. Ich sehe keine andere Möglichkeit. Entweder wir hoffen weiter auf Rettung, oder wir befreien uns selbst aus dieser Klemme – oder wir sterben bei dem Versuch.«
»Keine Frage: Wir werden es versuchen. Wir brauchen uns doch nur ein Luftschiff zu bauen, mehr nicht.«
An erster Stelle ihres Vorhabens stand eine sorgfältige Inventur. Während Remi umsichtig zusammenstellte, was sie alles zusammengetragen hatten, holte Sam vorsichtig die alte Takelage aus der Gletscherspalte. Er fand nur noch Fetzen von dem, was einst ein Ballon – oder, in diesem Fall, mehrere Ballons – gewesen war.
»Es waren mindestens drei Stück«, vermutete Sam. »Wahrscheinlich sogar vier. Siehst du all das gekrümmte Flechtwerk, das offenbar in einem Punkt zusammenläuft?«
»Ja.«
»Ich vermute, das sind die Käfige für die Ballons gewesen.«
»Die bestanden aus Seide«, fügte Remi hinzu. »Ein eher dickes Material.«
»Stell dir Folgendes vor, Remi: eine zehn Meter lange Gondel, die an vier, von Weidenkäfigen umschlossenen Ballons hängt … Weiden-und Bambusstäbe, Leinen und Schnüre aus Tiersehnen … Ich frage mich, wie sie das Ding in die Luft bekommen haben. Wie haben sie die erhitzte Luft in die Ballons geleitet? Wie konnten sie …«
Remi drehte sich zu Sam um, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn. »Träum später, okay?«
»Okay.«
Gemeinsam begannen sie, das verschlungene und verknotete Durcheinander zu ordnen, und legten Leinen und Schnüre auf die eine Seite, Bambus-und Weidenverstrebungen auf die andere. Danach hoben sie die Mumien behutsam aus der Gondel und befreiten sie von den restlichen Leinen.
»Ich würde gern ihre Geschichte kennen«, sagte Remi.
»Es ist offensichtlich, dass sie die umgekippte Gondel als Unterschlupf benutzt haben«, sagte Sam. »Vielleicht hat sich die Spalte plötzlich unter ihnen geöffnet, und die beiden waren die Einzigen, die sich rechtzeitig noch hatten festhalten können.«
»Warum sind sie dann bei der Gondel geblieben?«
Sam zuckte die Achseln. »Vielleicht waren sie zum Zeitpunkt ihrer Havarie schon zu schwach. Sie haben mit den Bambusstangen und der Takelage eine kleine Plattform gebaut.«
Während sie sich neben die Mumien kniete, sagte Remi: »Schwach und verkrüppelt. Dieser dort hat sich den Oberschenkel gebrochen – so wie es aussieht, ist es ein komplizierter Bruch – und der dort … Siehst du diese Einkerbung in Höhe der Hüfte? Entweder ist sie ausgekugelt oder gebrochen. Sie haben dort gelegen und auf den Tod gewartet.«
»Das wird nicht unser Schicksal sein«, erwiderte Sam. »Ein Ballonabsturz vielleicht, aber nicht dies.«
»Sehr lustig.«
Remi bückte sich und hob eins der Bambusrohre auf. Es war so dick wie ein Baseballschläger und gut anderthalb Meter lang. »Sam, irgendetwas ist darauf geschrieben. Es wurde in die Oberfläche gekratzt.«
»Bist du sicher?« Sam schaute ihr über die Schulter. Er erkannte die Sprache als Erster. »Das ist Italienisch.«
»Du hast recht.« Remi fuhr mit den Fingerspitzen über die eingravierten Worte, während sie das Bambusrohr mit der anderen Hand drehte. »Das aber nicht.« Sie deutete auf eine Stelle dicht unterhalb des Rohrendes.
Nicht größer als anderthalb Zentimeter, bildeten vier asiatische Schriftzeichen ein Quadrat. »Das ist doch nicht möglich«, murmelte Remi. »Erkennst du die Zeichen nicht?«
»Nein, sollte ich?«
»Sam, es sind die gleichen vier Symbole, die auf dem Deckel der Theurang-Truhe eingraviert waren.«